Die mallorquinische Herberge - Thomas Heckler - E-Book

Die mallorquinische Herberge E-Book

Thomas Heckler

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Beschreibung

Eine schwüle Sommernacht im Südosten Mallorcas. Eine Gruppe entschlossener Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Persönlichkeiten kommt zusammen und besetzt ein leerstehendes Haus. Dieses Haus wird für sie in den kommenden Wochen Rückzugsort und Fixpunkt ihres Lebens, ihre mallorquinische Herberge. Zwölf Apartments, zwölf Personen, Paare oder Familien, zwölf Tage in einem heißen Juli. Aber in einem der apartamentos scheint niemand zu wohnen. Oder vielleicht doch? Der senegalesische Strandverkäufer Amadou, die peruanische Hotelreinigungskraft Rosa und die deutsch-russische Immobilienmaklerin Irina, sie und einige weitere Bewohner des besetzten Hauses, mitten in einem Urlaubsort auf Mallorca, müssen ihr Leben von Tag zu Tag neu meistern. Die Umstände scheinen manchmal gegen sie zu sein, aber mit viel Mut und Optimismus ausgestattet, gelingt es ihnen sich in einer Umgebung zu behaupten, die vom Tourismus lebt.

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Über den Autor

Thomas Heckler, gebürtiger Franke, ist bekennender Mallorca Fan. Er lebt mit seiner Familie in Oberbayern und verbringt seit mehr als fünfzehn Jahren regelmäßig längere Aufenthalte auf der Baleareninsel. Der Diplompsychologe beobachtet aufmerksam die Menschen und sucht sich seine Anregungen aus den Begegnungen mit ihnen. Dies ist sein erster veröffentlichter Roman.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Vorwort

Prolog

Escalera 1, planta baja, apartamento A

Escalera 1, planta baja, apartamento B

Escalera 1, apartamento 1A

Escalera 1, apartamento 1B

Escalera 1, apartamento 2A

Escalera 2, apartamento 2B

Escalera 1, apartamento 2B

Escalera 2, planta baja, apartamento A

Escalera 2, planta baja, apartamento B

Escalera 2, apartamento 1A

Escalera 2, apartamento 1B

Escalera 2, apartamento 2A

Escalera 2, apartamento 2B

Epilog

08:00 Uhr

08:15 Uhr

08:30 Uhr

09:00 Uhr

09:30 Uhr

09:35 Uhr

11:00 Uhr

13:00 Uhr

15:00 Uhr

17:00 Uhr

18:00 Uhr

Am gleichen Tag …

Nachwort

Danksagung

Kapitel

Vorwort

Prolog – Die Hausbesetzung

Erste Geschichte – Amadou

Zweite Geschichte – Irina

Dritte Geschichte – Jens und Ludwig

Vierte Geschichte – Rosa

Fünfte Geschichte – Carmen, Pablo und Chico

Sechste Geschichte – Leo

Siebte Geschichte – Michael

Achte Geschichte – Hassan

Neunte Geschichte – Anh

Zehnte Geschichte – Die Familie Lopez

Elfte Geschichte – Jonas und Kathi

Zwölfte Geschichte – Das leere apartamento

Epilog

Nachwort

Vorwort

Über Mallorca, die größte der Baleareninseln, wurden schon viele Bücher geschrieben. Meist handelte es sich um Reiseführer und Bildbände, ein paar Liebesromane und natürlich den heutzutage obligatorischen Mallorca-Krimi. Nicht zu vergessen George Sands »Ein Winter auf Mallorca«, eine literarische Liebeserklärung an Mallorca und ihren Geliebten, den Komponisten Frédéric Chopin. Weniger im literarischen Fokus standen bisher die Einwohner Mallorcas, seien es die hier Gebürtigen, die Zugereisten oder die hier Gestrandeten, residentes oder sogenannte ilegales.

Jeder scheint Mallorca zu kennen, viele waren schon ein oder mehrmals dort. Jeder hat seine eigene Meinung über die Insel, jeder kennt sie aus einem anderen Blickwinkel. Meist ist dieser Blickwinkel jedoch durch die touristische Brille.

Dieses Buch ist eine Hommage an die Insel und ihre Bewohner. Diejenigen, die wir als Kurzzeitbesucher meist gar nicht, oder nur am Rande, wahrnehmen. Die im Maschinenraum der Tourismusindustrie arbeiten und dafür sorgen, dass wir unseren Urlaub genießen können.

Zwölf fiktive Geschichten, die die menschliche Seite der im Schatten Lebenden aufzeigt, ihre Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihre Liebe, ihr Mallorca. Die hier aus diesem Schatten heraustreten und sichtbar werden. Es sind Geschichten, die genauso gut auch wahr sein könnten und vielleicht sogar so oder so ähnlich schon stattgefunden haben.

Mallorca, die Wunderschöne, die für jeden eine Projektionsfläche für eigene Wünsche bietet. Mallorca, die wie eine Süchtige am Tropf des Massentourismus hängt. Ohne ihn nicht mehr kann. Oder vielleicht doch? Corona hat den Mallorquinern gezeigt, wie wunderschön ihre Insel ohne Touristen sein kann. Und gleichzeitig hat Corona ihnen auch ihre wirtschaftliche Abhängigkeit vom Strom der jährlich wiederkehrenden Touristen aufgezeigt.

Mallorca kann Herberge für so viel sein.

In den folgenden zwölf Geschichten füllt sich Die mallorquinische Herberge mit Leben …

Prolog

Einen Monat zuvor

Ich war spät dran, hatte die Zeit aus dem Blick verloren. Eine meiner vielen Schwächen. Schon oft hatte mir das einen Rüffel meines Vorgesetzten eingebracht. Und das eine oder andere geplatzte Date, weil meine Dating-Partnerinnen nicht auf mich warten wollten. Heute durfte mir das nicht passieren, es ging einfach um zu viel.

Ich legte einen Zahn zu und trat in die Pedale meines klapprigen Rades. Ab und zu war das Bellen eines streunenden Hundes zu hören. Ich fuhr an den geschlossenen Läden vorbei. Es waren nur ein paar Straßenzüge. Und dann hatte ich es geschafft. Der Stadtteil, der eigentlich mehr eine Ansammlung von Hotels und Ferienwohnanlagen für sonnenhungrige Nordeuropäer war, lag in nächtlicher Stille vor mir. Noch hatte die Touristensaison nicht ihren Höhepunkt erreicht, noch waren die Tagestemperaturen erträglich und die Nächte angenehm frisch. Erst in den kommenden Monaten würde die Insel unter dem Strom der Millionen Touristen ächzen und die drückende Schwüle des Hochsommers einkehren.

»Komm heute Nacht um elf auf den Parkplatz am colegio und bring das Geld mit«, hatte es geheißen. Ein Name wurde nicht genannt. Ich würde den Vermittler schon erkennen. Der Deal war am Telefon ausgemacht worden. Es war die Nummer eines Prepaid-Handys, so viel hatte ich herausfinden können. Über den Rest würde ich mir Gedanken machen, sobald ich im Haus angekommen war.

Der staubige Parkplatz lag am Rande der Stadt. Um diese Uhrzeit war er verlassen, ein perfekter Ort für die Art von Geschäft, das hier stattfinden sollte. Eine vereinzelte Laterne tauchte den Parkplatz in ein dämmriges, milchiges Licht.

Da standen sie. Sicherlich mehr als zwanzig Personen, manche einzeln, andere in Kleingruppen. Unschlüssig. Die Anspannung war spürbar. Sie hatten noch nicht angefangen. Gut.

Ich entdeckte den Vermittler sofort. Ein junger Kerl, vielleicht um die zwanzig, an den Armen großflächig tätowiert, eine Rolex am Handgelenk, vermutlich eine Fälschung, und in dem offensichtlichen Bestreben, Coolness zu zeigen und hier den Chef zu spielen. Dabei war er sicher das kleinste Rädchen in diesem Gewerbe und hatte von seinem Boss den Auftrag erhalten, es nicht zu verkacken. Vielleicht sein erstes Mal.

»Okay, lasst uns anfangen, chicos«, sagte der Grünschnabel. »Ich kann mich nicht die ganze Nacht mit euch beschäftigen, ¿vale?«

Zustimmendes Nicken allseits, keiner hatte Lust, lange zu bleiben. Sie alle hatten das gleiche Ziel, obwohl sie sich untereinander nicht kannten. Das würde sich in den nächsten Wochen ändern. Da war ich mir sicher.

»Ich rufe jetzt jeden einzeln auf, ich bekomme das Geld und ihr die Schlüssel, ¿claro?«

Claro, was sonst. Sie wussten Bescheid.

»Lopez«, rief der Grünschnabel und erschrak sichtbar über seine eigene Lautstärke.

Eine Familie, Vater und Mutter in den Vierzigern mit ihren zwei kleinen Töchtern, rückten näher heran. Die Mädchen wirkten müde und drückten sich eng an ihre Eltern.

»Escalera 2, apartamento 1B.«

»Schönes Apartment«, fügte er unnötigerweise hinzu und versuchte es mit einem Lächeln.

Die Mädchen reagierten nicht. Ihr Vater gab ihm seinen Umschlag mit der vereinbarten Vermittlungsprovision und erhielt dafür den Wohnungsschlüssel. Mit einem Nicken gab er seiner Familie das Zeichen zum Aufbruch. Mehr gab es nicht zu tun. Sie wollten schnell weg.

»Weiter, Rosa Flores.«

Eine kleine, gedrungen wirkende Frau, den Gesichtszügen nach vermutlich aus Südamerika stammend, schritt zu dem Vermittler.

»Auf meiner Liste stehen drei Personen, wo sind die anderen?«

»Meine Kinder schlafen heute Nacht bei meiner Schwester, oder soll ich sie vielleicht nachts hier mit rumschleppen? Eh? Sie sind noch klein! Was glaubst du denn?«

Der Typ war überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion und verlor für einen Moment seine zur Schau gestellte Selbstsicherheit.

»Mir egal, ihr bekommt Escalera 1, apartamento 1B.« Dass es auch ein schönes Apartment sei, sparte er sich zu sagen.

Wieder wechselte ein Umschlag mit Geld im Austausch gegen einen Wohnungsschlüssel den Besitzer.

Ich betrachtete die weiteren Umherstehenden. Seit der Jungspund mit seinem Job losgelegt hatte, war Bewegung in die Gruppe gekommen.

Wir alle hatten das gleiche Ziel, eine Unterkunft zu bekommen, in die wir einziehen konnten. Eine, die nicht für Feriengäste vorgesehen war. Das war ein Problem auf Mallorca.

Es gab keine bezahlbaren Wohnungen für die Einheimischen.

In unserem Fall handelte es sich jedoch nicht um Wohnungen mit Mietvertrag. Alle hier auf diesem staubigen Parkplatz Anwesenden hatten sich nach monatelanger und erfolgloser Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft darauf eingelassen, als okupas, als Hausbesetzer, in ein momentan leerstehendes Haus einzuziehen. Ausgekundschaftet durch einen ortsansässigen Clan, der praktischerweise in einer vorangegangenen Nacht-und-Nebel-Aktion sämtliche Schlösser der Wohnungstüren aufgebrochen und durch neue ersetzt hatte. Quasi ein Upgrade für das sie eine extra Summe gezahlt hatten.

»Amadou.«

Ein schlaksiger Mann aus Afrika war als nächster dran. Vermutlich aus Westafrika, vielleicht Elfenbeinküste. Ich würde das in den kommenden Wochen herausfinden.

»Escalera 1, planta baja A.«

Bingo. Eine Wohnung im Erdgeschoss. Eine, die deswegen nicht besonders begehrt war. Auch in der Hierarchie der okupas gab es also eine Klassengesellschaft. Menschen aus Afrika ganz unten. Dem Mann schien das egal zu sein, er zeigte keine Regung. Das Geschäft wurde abgewickelt.

Am Rand der Gruppe stand eine einzelne Frau. Ich schätzte sie auf Mitte vierzig, auch wenn sie schminktechnisch einiges aufgeboten hatte, um jünger auszusehen. Rote High Heels, kurzer Rock. Alles an ihr passte irgendwie nicht zusammen. Sie gehörte nicht an einen Ort wie diesen. Wie sie wohl in diese Gruppe hineingeraten war?

»Los alemanes«, rief der Grünschnabel.

Zwei Männer, die mir gleich bei meinem Eintreffen aufgefallen waren, weil sie nur aus Deutschland stammen konnten. Der eine mit einem Aufdruck auf seinem T-Shirt, das für eine örtliche deutsche Sportsbar Werbung machte, der andere trug weiße Tennissocken und Birkenstocksandalen an den Füßen.

Mit dem Wohnungsschlüssel in der Hand verschwanden sie in ihr neues Zuhause, das nur wenige Straßenzüge vom Parkplatz entfernt war.

»Sánchez«

Ich hätte den Namen fast überhört. Sánchez hatte ich gewählt, da es ein Allerweltsname ist. Keiner über den man sich wunderte. Meinen echten Namen hätte ich nicht nennen können. Ich wäre vermutlich aufgeflogen. Daher Sánchez. Ich trat aus dem nächtlichen Schatten der umherstehenden Bäume auf den Kerl zu.

»Du bekommst escalera 2, apartamento 2B.«

Gut so, von oben würde ich am besten beobachten können.

»Hast du die fünfhundert Euro drin?«

»Du kannst ja nachzählen.«

Darauf war er bisher anscheinend noch gar nicht gekommen. Eilig zählte er die Geldscheine im Briefumschlag und tat dies anschließend ebenfalls mit den Umschlägen, die er bereits bekommen hatte. Das Ergebnis schien ihn zufriedenzustellen. Er atmete tief durch.

»Hier, dein Schlüssel.«

Die Umherstehenden waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als damit, mich genauer zu betrachten. Das machte es leichter. Sie würden mich schon morgen vergessen haben. Ein Allerweltsname, ein Allerweltsgesicht. Mittelgroß, mittelschwer, keine besonderen Auffälligkeiten.

Ich verließ den Parkplatz und schob mein Fahrrad auf das Haus zu, das in den kommenden Wochen meine Herberge sein sollte. Im Hintergrund hörte ich den Grünschnabel rufen: »Die Nächste, Garcia.«

Der Weg zum Haus führte mich durch enge, im Zickzack verlaufende Einbahnstraßen und schmale, von dichten Bougainvilleas gesäumte Fußwege. Der nächtliche Geruch des anbrechenden Sommers lag bereits jetzt in der warmen Nachtluft. Ein vorbeifahrender Müllwagen unterbrach urplötzlich die Stille und kam scheppernd an einigen am Rand der Straße stehenden Müllcontainern zum Stehen, um seine, die Nachtruhe störende, Tätigkeit zu erledigen.

Ich war an meinem Ziel angekommen. Ich ging durch den kleinen Vorhof auf das in der Dunkelheit liegende Haus zu, schloss die Wohnungstür auf und betrat mein Apartment.

Die Anwohner der angrenzenden Häuser würden sich am kommenden Morgen mit der veränderten Situation eines nun besetzten Nachbarhauses konfrontiert sehen.

Escalera 1, planta baja, apartamento A

11. Juli – Wetterbericht für Mallorca: tagsüber Temperaturen bis 32 Grad, 11 Stunden Sonnenschein

»Amadou, geht es dir gut?«

Ihr täglicher Anruf am frühen Morgen. Er rieb sich die Augen. Aminata machte sich ständig Sorgen um ihn. So wie das ältere Schwestern tun, hatte sie ihm geantwortet. Dabei war er bereits einundzwanzig und der Meinung, das mit dem sich Sorgen machen könnte sie nun langsam lassen.

»Ja, mir geht es gut, das weißt du doch«, lautete wie immer seine Antwort.

»Mach keine Dummheiten, hörst du? Nur noch zwei Wochen und du hast es geschafft.« Aminata rechnete also mit.

Nur noch zwei Wochen, dann hatte er sein Ziel erreicht. Den Status des Geduldeten. Danach konnten ihn die spanischen Behörden nicht mehr so einfach ausweisen und in den Senegal zurückschicken. Zumindest nicht, wenn er bis dahin keine illegalen Geschäfte machen würde. Das war der Haken.

Nur zwei Wochen und er müsste nicht mehr bei jedem Polizisten, den er auf der Straße sah, von Panik gepackt werden. Müsste nicht mehr fürchten, so kurz vor seinem Ziel zu scheitern. Und nicht befürchten, damit seine Familie im Senegal zu enttäuschen.

»Es wird alles gut werden, mach dir keine Sorgen um mich.« Er legte auf.

Aminata hatte ja recht. Er musste jetzt geduldig sein. Die zwei Wochen würde er auch hinter sich bringen. Er hatte schon so vieles geschafft. Die gefährliche Fluchtroute vom Senegal nach Algerien, die sprichwörtliche Todesroute über das Mittelmeer bis hier nach Mallorca und anschließend im Verborgenen leben, nicht auffallen, überleben.

Mehr als drei Jahre waren vergangen, seit er seine Heimat verlassen hatte. Dakar, die chaotische Millionenstadt an der Küste Senegals. Eingetauscht gegen eine ciudad, wie es hier hieß, die nur in der Touristensaison so etwas wie Leben ausstrahlte. Aber was war das für ein Leben?

Heute würde er wieder Ware kaufen müssen. Sein Bestand an Sonnenbrillen neigte sich dem Ende zu. Uhren hatte er noch genug, zu viele, die waren den Touristen in diesem Jahr, in dem alles teurer geworden war, nicht billig genug. Nur selten gelang es ihm, eine echte Swatch oder Casio zu verkaufen. Wobei das mit dem echt so eine Sache war. Immerhin bot er seinen Kunden eine lebenslange Garantie an, wie er ihnen erklärte. Unklar blieb, um wessen Leben es sich handelte. Es fragte allerdings auch nie jemand nach.

Amadou genoss den Morgen. Im Hochsommer war die Stadt in einer ruhigen Stimmung, erwartungsfroh, was der Tag bringen würde. So als ob sie noch einmal tief durchatmete, bevor die Touristen zu den Stränden pilgerten und dort jeden Quadratzentimeter in Besitz nahmen.

Die Sonne schien durch den zerschlissenen Fenstervorhang in den einzigen Raum, der Wohn- und Schlafraum zugleich war, und machte ein Weiterschlafen unmöglich.

Vierzehn Tage noch.

Heute musste er endlich eine Entscheidung treffen. Das Angebot war verlockend. Ein einziger Deal und er könnte Aminata das Geld schicken, das auch sie nach Europa, in eine bessere Zukunft bringen würde.

Amadou stand auf, stellte den alten Espressokocher auf die Herdplatte und ging ins fensterlose Bad.

Eine halbe Stunde später verließ er sein apartamento und schlenderte pfeifend in Richtung des Bazar Chino, um dort seinen Bestand an Sonnenbrillen aufzufüllen.

Der Bazar Chino erinnerte ihn an die Märkte in Dakar. Auch wenn es dort viel lebendiger und lauter zugegangen war. Das fehlte hier gänzlich. Und dennoch, die Auswahl an Produkten, die angeboten wurde, beeindruckte ihn immer wieder. Ein einziger Verkaufsraum, bis an die Decke gestapelt mit allem, was man irgendwie brauchen konnte. Plastikgeschirr neben Gartenmöbeln und Kinderbekleidung. Billig aussehende Hemden neben chinesischen Elektronikprodukten. Und eben Sonnenbrillen. Die echten Markenbrillen, die er hier für zehn Euro einkaufte und für fünfzehn oder zwanzig Euro am Strand an die Touristen verkaufen würde. Kein wirklich gutes Geschäft, aber er musste nehmen, was der Bazar anbot, denn nach Palma zum Großhändler fahren ging mitten in der Saison nicht. Jeder Tag war ein Verkaufstag für einen Helmut wie ihn.

Der Geruch nach billigem Plastik fuhr ihm beim Eintreten in das schmucklose Gebäude sofort wieder unangenehm in die Nase.

»¡Hola, chico! ¿Qué tal?« Li begrüßte ihn mit ausdruckslosem Gesicht. »Was brauchst du heute? Ich habe eine Lieferung hundert Prozent echter Fan-T-Shirts der deutschen Fußballnationalmannschaft bekommen. Eins-a-Qualität und billig, billig. Willst du mal sehen?«

»No, gib mir einfach zwanzig von den Gucci-Sonnen-brillen und zehn Ray-Ban und mach mir einen guten Preis, ¿vale?«

»Bei mir ist immer der beste Preis.«

»Immer noch zehn Euro pro Sonnenbrille?«

»Jetzt zwölf Euro, die Inflation … du weißt doch … auch ich muss leben und meine drei Töchter kosten Geld. Die Schule, ihre Kleidung …« Dabei machte Li das Gesicht eines Unschuldslammes. Er hätte einem fast leidtun können, dabei hatte Amadou ihn kürzlich in einem großen SUV auf der Straße gesehen. Arm war Li sicher nicht.

Aber Amadou brauchte die Sonnenbrillen heute, deswegen stimmte er zu. Verhandeln würde er dann mit den Touristen.

Sein Handy klingelte. Auf dem Display erschien die Telefonnummer, auf die er seit Tagen wartete. Seine Chance endlich auf der Gewinnerseite zu stehen. Dennoch drückte er den Anruf weg.

Später.

»Denk an Aminata«, flüsterte er leise vor sich hin, verließ das Geschäft und ging in Richtung playa.

Sein Revier lag am äußersten nördlichen Rand der Strandpromenade, in unmittelbarer Nähe der zahlreichen Cafés und Restaurants.

»Ein gutes Revier«, hatte sein Landsmann aus dem Senegal gesagt, dem er es vor einigen Monaten abgekauft hatte. »Viele Deutsche und Engländer.« Wobei er mit Engländern offenbar alle Englischsprachigen meinte. »Die vertragen die Sonne nicht und sie brauchen immer wieder neue Sonnenbrillen, weil sie ihre am Strand verlieren. Und sie haben jede Menge dineros. Auch für Uhren.«

Zumindest das mit dem vielen Geld schien in dieser Saison nicht zu stimmen. Es war kein gutes Jahr für Uhren. Für Sonnenbrillen schon eher. Die Sonnenhungrigen grillten wie eh und je am Strand, bis sich ihre Haut abschälte. Den einzigen Schutz, den viele von ihnen zu akzeptieren schienen, war eine Sonnenbrille mit coolem Design. Sein Geschäft.

Amadou ging die Strandpromenade entlang. Nur nicht direkt am Strand. Das ging nicht. Immer wenn er zu nah am Meer entlanglief, sträubten sich seine Nackenhaare und ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper. Nur nicht aufs Meer schauen. Früher war das anders gewesen. Wie so vieles früher anders gewesen war.

Amadou setzte sich im Schatten einer Palme auf die Mauer der Strandpromenade und breitete seine Sonnenbrillen auf einer Decke auf dem Boden vor sich aus.

Die Uhren hatte er auf eine lange Verpackungsrolle drapiert. Sein Geschäft war geöffnet und im Falle, dass sich Polizisten näherten, konnte er schnell das Weite suchen.

Der späte Vormittag war eine gute Zeit, um Sonnenbrillen zu verkaufen. Die Touristen strömten wie eine Welle von Lemmingen aus ihren Hotels und Ferienwohnungen an den Strand. Vollbepackt mit allem, was sie für einen ausgedehnten Tag am Strand zu benötigen glaubten. Dazu gehörten auch seine Sonnenbrillen.

Amadou wunderte sich oft über die Touristen und was sie alles mit sich herumschleppten.

Da war ein Vater, der, mit mehreren IKEA-Taschen beladen, schwitzend hinter seiner Frau und den zwei kleinen Kindern herlief. Die Frau mahnte ihn, er solle sich beeilen, sonst seien die besten Liegen direkt am Meer schon wieder vergeben. Ein Mann der hinter seiner Frau läuft! Amadou schüttelte sich. Das würde ihm nicht passieren.

Ein junges Pärchen kam als nächstes. Eindeutig Briten. Er mit einem T-Shirt von Arsenal London und einem Basecap in den gleichen Farben. Sie mit hellen, enganliegenden Shorts, die kaum ihre Figur verhüllte, und auf der britischen Insel vermutlich immer noch als modisch galt. Beide hatten blasse Haut, aber die war von den Strandtagen zuvor feuerrot. Und sie trugen keine Sonnenbrillen auf ihren Nasen.

Hier könnte er es versuchen.

»Hi, you are from London?«, begann er sein Verkaufsgespräch. »Arsenal fan?«

»Yeah, you know Arsenal?«

Der Köder war ausgeworfen.

»Great team! I like your shirt!« Jetzt galt es dranzubleiben. Er lächelte die junge Frau mit seinem strahlendsten Lächeln an. »What´s your name?« Darauf antworteten die meisten der von ihm Angesprochenen fast automatisch.

»Sally.«

»Hi Sally. You look great! You are going to the beach? It will be very sunny today. You will need sunglasses. Look here, the Guccis are great. Try!« Er reichte ihr zwei seiner Gucci-Modelle.

Jetzt noch ihren Freund überzeugen.

»Sally looks beautiful with the Gucci. And I give you my best price today.« Das zog fast immer. »Only twenty-five Euro, original Gucci!«Ihr Freund war noch nicht so recht überzeugt, er wiegte mit dem Kopf hin und her.

Dranbleiben.

»Sally, I make you a special price. Only for you and only because I love your look. The Gucci is made for you. And you will need them today. The sun!« Amadou blickte sorgenvoll in den wolkenlosen Himmel. Der Trick wirkte meistens.

Sally ließ die zwei Sonnenbrillen abwechselnd von einer Hand in die andere wandern, sie war offensichtlich interessiert.

Er musste den Fisch an Land ziehen.

»Hey, I see you are a wonderful couple. I like you two. My best offer for you. Twenty Euro. You will not get the Gucci cheaper here in town.«

Sally und ihr Freund blickten sich an. Er nickte ergeben und sagte: »Okay, give us the Gucci.« Dabei kramte er einen Zwanzigeuroschein aus seinen Badeshorts hervor.

Sally lächelte verlegen und gab ihrem Freund einen Kuss.

Ein lupenreines Verkaufsgespräch. Wie aus einem Lehrbuch. So, wie man es ihm hier auf Mallorca beigebracht hatte.

Die beiden Briten waren sichtlich zufrieden mit ihrem Kauf. Sie lächelten ihm zu, reihten sich wieder in den Strom der Sonnenhungrigen ein und gingen die Stufen zum Strand herunter. Amadou blickte ihnen nach.

Im Hintergrund hörte er eine Sirene. Sein Körper flutete mit Adrenalin, seine Aufmerksamkeit war instinktiv auf einhundert Prozent.

Nein, sie sind nicht hinter mir her.

Die Sirene verstummte. Amadou wartete ein paar Sekunden, bereit zu fliehen, aber nichts war mehr zu hören. Er konnte tief durchatmen. Trotzdem, er musste vorsichtig sein, nur noch zwei Wochen.

Mit den nächsten potenziellen Käufern hatte er weniger Glück. Viele Touristen blickten bewusst an ihm vorbei. Keine Chance für ihn, Kontakt aufzunehmen.

»Du musst ihnen in die Augen blicken, ihnen eine Frage stellen, auf die sie antworten werden«, hatte man ihm beigebracht.

Dass die Erfahreneren unter den Touristen hierauf eine erfolgreiche Gegenstrategie hatten, musste er schmerzhaft in den ersten Wochen seiner Arbeit feststellen.

»Billig, billig«, versuchte er es bei zwei älteren Deutschen. »Gute Qualität.«

Billig und Qualität, das wollten vor allem die Deutschen. Als ob das zusammen ginge.

Die zwei Frauen schlenderten vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»¡Hola Amadou! ¿Todo bien?«, hörte er eine Stimme hinter sich sagen.

Hassan.

Amadou drehte sich um. »Mir gehts gut, und dir, Hassan?«

»Mir geht es immer gut.« Hassan lächelte ihn an.

»Salam aleikum.«

»Maleikum salam.«

Hassan wohnte, so wie Amadou, in einem der apartamentos im Erdgeschoss des besetzten Hauses. Er kam aus Marokko und lebte, im Gegensatz zu ihm, legal auf Mallorca. Vor zwei Jahren hatte er den Status des Geduldeten erhalten und verdiente inzwischen sein Geld während der Saison mit der Vermietung von Sonnenliegen und Sonnenschirmen am Strand. Ein geregelter Job. So einen würde Amadou hoffentlich auch in der nächsten Saison bekommen. Hassan hatte gesagt, er würde bei seinem Chef ein gutes Wort für ihn einlegen.

»Wo gehst du hin?«, wollte Amadou wissen.

»Ich hole für zwei ältere englische Ladies eine Flasche Cava aus dem Eroski Markt und bringe sie zu ihren Strandliegen. Dafür gibt es ein dickes Trinkgeld!« Hassan strahlte ihn an.

»Ein guter Job«, pflichtete Amadou ihm bei.

»Na dann, ich muss weiter. Die Ladies haben Durst.« Hassan hob zum Abschied die Hand und eilte zum nahegelegenen Supermarkt.

Amadou blickte Hassan hinterher. Ja, Hassan hatte es schon geschafft.

Sein Handy brummte erneut. Er hatte es auf lautlos gestellt. Ein Anruf und wieder die gleiche Nummer. Er ließ das Handy weiterbrummen. Der Anrufer gab auf. Kurz darauf blinkte eine SMS auf. »Ruf mich zurück, sonst wird es nichts mit dem Deal. P.«

Amadou zögerte, er war noch nicht bereit. Er würde sich später damit beschäftigen.

Mittagszeit, die Sonne stach unvermindert mit voller Kraft vom Himmel. Kein Wölkchen zu sehen. Wie zu Hause in Dakar, dachte er. Was Aminata jetzt wohl gerade machte? Nein, er hatte keine Zeit, zu viele Gedanken darauf zu verschwenden oder Heimweh aufkommen zu lassen. Amadou musste einen Zahn zulegen, wenn er sein Tagessoll erreichen wollte. Mindestens fünf Sonnenbrillen oder zwei Uhren. Aber die Touristen brauchten anscheinend keine Uhren mehr. Vielleicht sollte er von Uhren auf Smartphones umsatteln. Das wäre doch etwas! Ein anderes Kaliber von Geschäft.

Amadou sah sich schon als Geschäftsmann mit einem kleinen Laden in der Fußgängerzone der Stadt. »Amadou Cisse, Smartphones jeder Art«, murmelte er still vor sich hin. »Und das Wort billig sollte ich hinzufügen.« Ein Schritt nach dem anderen, jetzt nur keinen Fantasien hinterherjagen. Erst einmal musste er noch ein paar Sonnenbrillen verkaufen.

Ein Ehepaar flanierte Hand in Hand auf ihn zu, oder genauer gesagt auf den Treppenabgang zum Strand neben ihm. Sie mussten an ihm vorbei.

Amadou setzte wieder sein strahlendstes Lächeln auf.

»Original Gucci and Ray-Ban, billig, billig.«

Der Mann schaute ihn an.

»Des isch do älles unechde Billigware«, sagte der Mann.

»Ja, billig, billig, twenty-five Euro only«, antwortete Amadou.

Er hatte den Mann zwar nicht verstanden, konnte sich aber vorstellen, was er gesagt hatte. Die Zweifel hatte er in dessen Augen gesehen.

»Wirklich billich ond schee«, pflichtete ihm dessen Ehefrau bei.

Amadou verstand kein Wort. Das war nicht weiter schlimm, er durfte jetzt nur nicht aufgeben.

»I give you ten Euro.« Der Mann hatte auf einen gemeinsamen Kommunikationskanal umgestellt, auch wenn sein Englisch für Amadou ähnlich unverständlich klang wie sein Deutsch.

Amadou schüttelte den Kopf. »Twenty Euro, very good quality, try!«, sagte er und reichte dem an den Armen großflächig tätowierten Mann eine Ray-Ban.

Der Deutsche nahm die Sonnenbrille, setzte sie auf und blickte seine Frau fragend an. »Wie der Dom Hanks, odr?«

»Ned der Dom Hanks. Der Dom Cruz«, stellte sie fest und nickte anerkennend.

»Fifteen Euro«, versuchte es der Mann.

»Eighteen.«

Der Mann verdrehte die Augen. Er gab auf. »Okay, eighteen.«

Bingo. Er nickte dem Mann zu und lächelte ihn an. »Very good quality and billig.«

Das Ehepaar trottete zufrieden weiter die Treppenstufen hinunter zum Strand. Wie Tom Cruise sah der Mann von hinten nicht aus. Tom Cruise würde keine Sandalen am Strand tragen, da war sich Amadou sicher.

Die Sonne stand immer noch im Zenit. Amadou nahm einen Schluck Wasser aus seiner Flasche. Das Meer hinter ihm glitzerte. Nur nicht aufs Wasser schauen. Seine Nackenhaare sträubten sich bei dem Gedanken an das viel zu kleine und seeuntaugliche Schlauchboot, mit dem die Schlepper ihn und etwa dreißig weitere Wagemutige über das Mittelmeer in Richtung Spanien gebracht hatten. In den Tagen auf hoher See hatte er mehr als einmal sein letztes Stündchen kommen sehen. Es war gut ausgegangen. Er war jetzt hier. Andere nicht. Amadou verscheuchte die aufkommenden Gedanken an seine Flucht. Diese Gedanken, die ihn immer wieder heimsuchten.

Mittags war die beste Zeit für sein Geschäft. Die Touristen, die es schon mehrere Stunden in der brütenden Sonne am Strand ausgehalten hatten, brauchten Nachschub.

Nachschub an Bier, Eis für die Kinder und all die Dinge, die sie in ihren Hotelzimmern und Apartments heute Morgen bei ihrem täglichen Gang an den Strand vergessen hatten. Sonnencremes, Kopfbedeckungen aller Art und Sonnenbrillen. Nichts Teures, etwas, dass sie mit ihren Zehn- und Zwanzigeuroscheinen, die sie mit an den Strand genommen hatten, kaufen konnten.

Jetzt war es leicht. Die Kunden kamen unaufgefordert zu ihm. Für ein langes Handeln hatten sie nicht genügend Ausdauer, sie wollten schnell wieder auf ihre Liege oder ihr Strandhandtuch zurück.

Amadou verkaufte vier Guccis an eine Gruppe gutgelaunter, deutschsprechender Mädchen und als Zugabe baten sie ihn, ein Foto von sich mit den neuerworbenen Sonnenbrillen zu machen. »Pay for three, get four«, hatte er ihnen angeboten. Schließlich waren sie hübsch und noch dazu ungefähr in seinem Alter, auch wenn er sich hierzu keine Hoffnung machte. Das funktionierte nicht.

Zwei Ray-Ban gingen an Franzosen. Sie zahlten, ohne zu verhandeln. Auch gut.

Amadou war mit sich und dem bisherigen Tag zufrieden. Bald würde er Aminata wieder Geld senden können.

Langsam, aber unaufhaltsam, versiegte der mittägliche Strom der Touristen zu den Cafés und Bars der Strandpromenade. Am Strand machte sich die bleierne Mittagshitze breit. Die Touristen standen regungslos im Meer, um sich abzukühlen oder hatten es sich auf ihren Liegen zu einer Siesta bequem gemacht. Alle versuchten sich möglichst wenig zu bewegen. Kein Windhauch war zu spüren. Die grüne Flagge der Strandaufsicht hing schlaff von ihrem Beobachtungsturm herunter.

Zeit, einen Ortswechsel vorzunehmen.

Amadou packte seine verbliebenen Sonnenbrillen und die Uhren zusammen, nickte den zwei Zopfflechterinnen gegenüber von ihm zu und machte sich auf den Weg zur Sportsbar Die roten Teufel, die in einer Seitenstraße gelegen war.

Es war Montag. Nachmittags kamen manchmal Rennradgruppen von ihrer täglichen Tour zurück und nahmen einen Absacker, so hatte man ihm das erklärt, bevor sie wieder in ihren Hotels verschwanden. Montag war besonders gut, denn das war in der Woche der erste Tag, an dem die Radgruppen eine komplette Tour unternommen hatten. Anreise am Samstag und eine kurze Einradeltour am Sonntag, so lief das. Wobei dieses komplett bei manchen Gruppen eine Strecke von über einhundert Kilometern bedeutete. An einem Tag. Mit dem Fahrrad. Amadou schüttelte es, wenn er daran dachte. In dieser Hitze. Im Juli. Verrückt.

Er sah sie schon von weitem. Eine Gruppe von etwa zehn Personen, alles Männer, saß mit einem Guide im Außenbereich der Sportsbar. Sie waren einheitlich mit den gleichen gelb-roten Trikots bekleidet. Ihre Räder waren schön säuberlich auf der Radstange vor der Bar aufgebockt.

»Hey, Helmut, komm mal her«, rief einer der Radfahrer ihm entgegen.

Helmut, so hatte er bei seinen ersten Jobs an der playa gelernt, war die Bezeichnung für Straßenverkäufer wie ihn. Vor vielen Jahren hatten seine senegalesischen Straßenverkaufsbrüder alle männlichen Touristen mit Helmut angesprochen. Eine deutsche Zeitung hatte davon Wind bekommen und hierzu einige Artikel veröffentlicht. Seitdem nannten die deutschen Touristen nun ihrerseits alle Straßenverkäufer Helmut.

Ihm war das egal, Hauptsache, die Deutschen kauften.

Den Guide der Rennradgruppe, der ihm freundlich zunickte, kannte er gut. Michael, muy simpático.

»Hey Leute, das ist Amadou. Er hat die besten Uhren hier an der playa«, sagte Michael. »Show us your watches.« Michael zwinkerte ihm zu und forderte ihn auf, sich neben ihn zu setzen. »Schöne Uhren hast du, die Casio von dir läuft immer noch einwandfrei. Hey Leute, wer will eine Uhr von Amadou kaufen?«

Seine Uhren wurden von einem Radfahrer zum anderen herumgereicht.

»Einen café solo für meinen Freund Amadou«, rief Michael dem Kellner hinterher. »Good business today?«

»Todo bien, as always«, erwiderte Amadou. Für heute stimmte das sogar. Vielleicht würde er sogar noch eine Uhr an den Mann bringen.

»How much for the Casio?«, versuchte es ein rotblonder Hüne, der schwitzend vor einem halbleeren Glas Bier saß.

»Thirty Euro only.«

»Zu teuer.«

»Der Preis ist schon okay«, sprang ihm Michael bei.

Der Angesprochene schüttelte den Kopf und gab die Uhr weiter. »Maybe next time, mañana.«

»Claro, mañana«, erwiderte Amadou. Ein mañana, das es oft nicht gab.

Michael klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und flüsterte ihm zu: »Wait a bit, two more beers and he might redecide.«

Er hatte recht. Mit ausreichend Absackern würde die Stimmung gelöster werden und er könnte sein Glück noch einmal versuchen. Einfach die Uhren und ein paar der Ray-Ban auf dem Tisch liegen lassen. Er hatte das schon öfter erlebt. Die Voraussetzung allerdings war, dass jemand wie Michael ihn an den Tisch holte und ein Getränk ausgab. Dann konnte ihn der argwöhnisch blickende Barbesitzer nicht verjagen.

Mit Michael ging das gut. Amadou mochte ihn, wenn er auch nicht verstand, wie es ein Beruf sein konnte, jeden Tag stundenlang auf dem Fahrrad zu fahren. Immer umgeben von einer Herde kilometerfressender Radverrückter, deren Leidenschaft offenbar darin bestand, sich körperliche Leiden zu schaffen. Manche von ihnen hatten heute vermutlich zu wenig Wasser getrunken und waren auf der Tour von ihrem Guide an ihre Leistungsgrenze gebracht worden. Der immer noch schwitzende Rotblonde sicher auch darüber hinaus.

Michael hatte ihm einmal erzählt, dass er seine Gruppen am ersten Tag immer hart herannehme, damit sie es an den darauffolgenden Tagen ruhiger angehen lassen wollten. Was es einfacher für ihn machte. So wie man einem Pferd den Respekt beim Zähmen beibringt, hatte Michael ihm schmunzelnd und halb im Spaß anvertraut.

Die Gruppe löste sich langsam auf, einige waren bereits wieder unterwegs zu ihren Hotels, wo sie nach einer ausgiebigen Dusche den Abend in einer der unzähligen Bars der Stadt abfeiern würden, bevor sie am nächsten Tag eine weitere Etappe auf ihren Rennrädern erwartete.

Der Rotblonde war ebenfalls auf dem Weg zu seinem Fahrrad, drehte sich nochmal um und rief ihm zu: »Give me the Casio.« Die dreißig Euro kramte er umständlich aus seiner enganliegenden Rennradhose hervor.

Ein guter Tag.

Amadou wollte nochmal zu seinem Stammplatz, um den Strom der vom langen Strandtag erschöpften Touristen, die sich auf dem Weg zurück zu ihren Hotels befanden, abzufangen. Er verabschiedete sich von Michael und den wenigen verbliebenen Radfahrern und machte sich auf den Weg.

Schon von weitem sah er sie. Zwei Uniformierte, die ihm auf der Strandpromenade entgegenkamen.

Kein Risiko eingehen, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht jeder der Männer der Policia Local war den Strandverkäufern gegenüber aufgeschlossen. Viele lokale Händler fürchteten um ihre eigenen Geschäfte und es gab Druck auf die Polizei, die Illegalen von den Strandpromenaden zu vertreiben.

Amadou entschloss sich, für heute sein Geschäft zu schließen, wie er es nannte. Das gab ihm das gute Gefühl, ein wahrer Geschäftsmann zu sein und er saugte den Stolz hierüber innerlich ein. Manchmal benötigte er diese Art der Selbstmotivation. In letzter Zeit immer häufiger.

Inzwischen wurde es Zeit für sein tägliches Abschlussritual. Das Treffen mit den anderen am Auditòrium Sa Màniga. Allesamt Straßenverkäufer wie er, nur auf anderen Strandabschnitten. Jeder mit eigenem Revier. Ganz legal