Die Mars-Anomalie - Joshua Tree - E-Book
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Joshua Tree

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Beschreibung

Wissenschaftler der NASA schlagen Alarm, als sich ein massiver koronaler Massenauswurf der Sonne ankündigt. Als der Plasmasturm über die Erde hinwegfegt, sind Polarlichter bis zum Äquator zu sehen, und in Indonesiens Hauptstadt Jakarta kommt es zu einem merkwürdigen Phänomen: Obwohl landesweit der Strom zur Sicherheit abgeschaltet worden ist, glühen sämtliche Lampen der Stadt, als die Welt in Dunkelheit versinkt. Kurze Zeit später sendet der Mars Reconnaissance Orbiter (MRO) seltsame Aufnahmen vom Roten Planeten: eine wissenschaftlich nicht erklärbare Lichterscheinung auf dem Gipfel des Elysium Mons, die bis in den Orbit zu sehen ist. Handelt es sich um eine außerirdische Signalquelle oder eine physikalische Anomalie? Um der potenziell wichtigsten Entdeckung der Menschheit nachzugehen, schließen sich die Raumfahrtagenturen der Welt zusammen, um eine Mission zum Mars zu entsenden. Unter ihnen ist die Linguistin Dr. Rachel Ferreira von der Stanford University, die nicht bloß Expertin für die Sapir-Whorf-Hypothese ist, sondern auch einen Bestseller über mögliche Erstkontaktszenarien geschrieben hat - und die waren nicht sonderlich optimistisch ...

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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DIE MARS-ANOMALIE

HARD SCIENCE FICTION

JOSHUA TREE

INHALT

Prolog

Kapitel 1

2. Rachel

Kapitel 3

Kapitel 4

5. Rachel

6. Rachel

7. Rachel

8. Rachel

9. Rachel

10. Rachel

11. Christer

12. Rachel

13. Christer

14. Rachel

15. Christer

Kapitel 16

17. Rachel

Kapitel 18

19. Rachel

20. Christer

21. Rachel

22. Christer

23. Rachel

24. Christer

25. Rachel

26. Christer

27. Rachel

28. Christer

29. Rachel

30. Christer

31. Rachel

32. Christer

33. Rachel

34. Christer

35. Rachel

36. Christer

37. Rachel

38. Christer

39. Rachel

40. Christer

41. Rachel

42. Rachel

43. Christer

44. Rachel

Epilog: Rachel & Christer

Epilog: Liu

Nachwort

Bonuskapitel: Die faszinierende Welt der Photonen

PROLOG

Rachel streckte prüfend eine Hand nach oben aus. Sie fühlte sich kalt an. Ein Kribbeln lief über ihre Arme bis in ihn Nacken, als würde ein Schwarm Ameisen darüber laufen und sich unter ihrem Haaransatz versammeln.

Sie verspürte einen Anflug von Schuld, wegen dem, was sie im Begriff war zu tun. War es selbstsüchtig? Heldenhaft? Oder nichts von beidem und ein bloßer Impuls, ihrer Intuition folgend, diesem Wegweiser ihres Lebens, der sie noch nie im Stich gelassen hatte?

Vielleicht war jetzt das erste Mal? Es wäre ein schlechter Zeitpunkt für das Schicksal, sie hängen zu lassen.

Im Hintergrund hörte sie Stimmen über den Funk, vertraut, aber auch seltsam wirr, weil sie von intensiven Interferenzen verzerrt wurden. Hier und da drangen einzelne Wortfetzen zu ihr durch, mal ihr Name, mal ein »nicht« oder ein »zurück«. Doch Kratzen und Rauschen verschluckten fast alles und marginalisierten die Laute zu bloßen Störungen am Rande ihrer Wahrnehmung.

Über sich sah sie merkwürdigerweise nichts als diesen fremdartigen Himmel, der wirkte wie an einem besonders diesigen Tag, wenn bei ihr zu Hause der Bodennebel in die Höhe stieg.

Sie brauchte sich jetzt nur noch auszustrecken, um die Wahrheit zu erfahren, womöglich sogar die Wahrheit zu werden. Für immer. Aber sie tat es nicht für sich, sondern für alle, die nachfolgen würden, die das Ende erreichen wollten, nach dem jeder in seinem Herzen strebte.

Konnte sie überhaupt anders, als es zu tun? Sie dachte an Christer. Würde sie ihn sehen? Oder würde das gar keine Rolle mehr spielen, weil es keinen Christer mehr geben konnte, so, wie sie ihn kennengelernt hatte?

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die anderen sich näherten. Sie hatte keine Zeit mehr. Entweder sie löste das Mysterium für die Nachwelt, oder sie steckte jetzt zurück – aufgrund von Emotionen: Masha war in ihren Gedanken und ihrem Herzen ständig präsent. Aber sie musste es auch für sie tun, sogar wenn es das Ende für sie selbst bedeutete. Doch wohnte nicht jedem Ende ein Anfang inne?

1

GODDARD SPACE FLIGHT CENTER (GSFC), SCIENCE OPERATIONS CENTER, GREENBELT, MARYLAND

»Ich glaube, ich habe hier was«, sagte Rudy und wiederholte lauter: »Ich glaube, ich habe hier was!«

»Vom SDO?«, fragte seine Kollegin Samantha, die schon die zweite Nachtschicht mit ihm durchmachte. Anders als er selbst, war sie keine Doktorandin mehr, sondern bereits seit zehn Jahren hier am SOC – was ihn seit Antritt seiner Stelle verwunderte. Normalerweise bekamen nur die Neuen die unbeliebteste und langweiligste Schicht aufgedrückt. Vielleicht hatte sie es schlicht mit dem Chef vergeigt.

»Ja«, antwortete er und nickte. Den rechten seiner drei Monitore drehte er zu ihr und zeigte auf die Diagramme und Datenblöcke.

»Also gut, dann führ mich mal durch die Messdaten und interpretier sie für mich«, forderte Samantha ihn auf. Die Solarphysikerin rollte auf ihrem Stuhl zu ihm und gab ihm einen Wink, um loszulegen.

Rudy kam sich vor wie ein Schüler, der etwas aufsagen musste, aber er war sicher nicht der erste Doktorand, der sich so fühlte.

»Das links sind die UV und Ultra-UV-Bilder vom Atmospheric Imaging Assembly, AIA, ausgedrückt in Wellendiagrammen, die die Sonnenkorona und ihre Strukturdynamik zeigen. Rechts sind die Verlaufskurven der letzten achtundvierzig Stunden.« Er machte ein paar Eingaben auf seiner Tastatur und die Datensätze legten sich als verschiedenfarbige Kurven übereinander. Der Ausschlag wurde jetzt deutlich sichtbar. »Mit der Zeitkomponente würde ich sagen, dass das hier«, er hielt einen Finger direkt über die hochgeschossene Kurve, »ein beginnender koronarer Masseauswurf ist.«

»Eine CME«, sagte Samantha nachdenklich und schob sich näher an den Bildschirm. »Gut aufgepasst.«

»Was machen wir jetzt?«

»Wir schicken die Daten morgen ans ESOC und die Stereos.« Die Physikerin unterdrückte ein Gähnen.

»Äh.«

»European Space Operations Center in Darmstadt und die Stereos sitzen drüben im STEREO Science Center.«

Rudy räusperte sich etwas beschämt. Es war spät. Natürlich wusste er, wo die Daten der Sonnenbeobachtungssatelliten erfasst und interpretiert wurden, aber er war müde. Anders als das solar Dynamics Observatory, das als Satellit am Lagrange-Punkt 1 zwischen Erde und Sonne positioniert war, kreisten das Solar and Heliospheric Observatory (SOHO) und das Solar Terrestrial Relations Observatory (STEREO) im Orbit und wurden von anderen Kollegen überwacht.

»Klar«, sagte er schließlich, und sein Blick wanderte wieder auf die in Echtzeit eintreffenden Daten vom SDO. Die farblich abgegrenzte Kurve wuchs immer weiter an, wie die Welle einer Sturmfront, die sich nach und nach auftürmte. »Das sind ganz schön große Ausschläge in beinahe sämtlichen ultravioletten Wellenlängen.«

Samantha rieb sich die Augen und zog seine Tastatur an sich, um ein paar kurze Eingaben vorzunehmen, woraufhin sich die Parameter der y-Achse verschoben, als würden sie herauszoomen. Der Ausschlag hob sich jetzt noch deutlicher von den Daten der vergangenen Tage und Wochen ab.

»Ruf mal bitte die Spektrogramme auf.«

Rudy wechselte zu dem mittleren Monitor und ging durch die unterschiedlichen Tabs des Programms, bis er sie gefunden hatte. Sie zeigten die Verteilung der solaren Strahlung auf verschiedenen Wellenlängen und präsentierten rote, gelbe, grüne und blaue Ausschläge, wobei die roten im oberen Frequenzbereich deutlich überwogen. Schweigend verglichen sie x- und y-Achsen mit denen der als Wellendiagramm interpretierten UV-Bilder vom SDO.

»Ruf in Darmstadt an, ich gehe rüber zu den Stereos.«

»Jetzt?«

»Ja, in Deutschland dürfte gerade die Frühschicht angefangen haben. Das da könnte ein koronarer Masseauswurf von einem Ausmaß sein, wie ich es in meinen zehn Jahren hier noch nicht gesehen habe.« Sie stand auf und verließ das Büro, während Rudy bereits nach der Telefonliste in seiner Schublade suchte. Als er die richtige Rufnummer gefunden hatte, schnappte er sich den Hörer und begann zu wählen.

»ESOC, Martin Scherinski«, meldete sich eine raue Stimme.

»Hier ist Rudy Longstone vom SOC«, sagte Rudy nervös. »Wir kriegen hier Daten vom SDO rein, die verdächtig nach einer CME aussehen.«

»Wir wollten euch auch gerade anrufen«, gab Scherinski zurück. »Wir haben schon mehrere Durchläufe mit den 3D-Modellen und den farbkodierten Bildanalysen durchgeführt, um Messfehler auszuschließen. Habt ihr schon angefangen zu rechnen?«

»Zu rechnen?«, fragte Rudy.

»Ihr solltet euch die Position des Masseauswurfs genauer ansehen, mit der Sonnenrotation und unserer eigenen um die Sonne abgleichen. Ich schicke alles rüber, was wir haben. Wenn ihr zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, meldet euch bitte. Dann sollten wir ein paar Leute wecken.«

»Ist gut, danke.« Er legte auf und holte seinen Taschenrechner aus der Schublade. Dann betrachtete er die eintreffenden Daten aus Darmstadt im Posteingang und begann zu rechnen.

Als Samantha zurückkam, war er gerade fertig geworden und hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.

»Das STEREO hat ähnliche Messungen angestellt und die Jungs können … was ist?«, fragte die Physikerin, als sie seine blasse Miene sah.

»Darmstadt hat ebenfalls bestätigt und Daten rübergeschickt. Ein massiver koronarer Masseauswurf«, sagte Rudy mit belegter Stimme. »Wenn die ersten Berechnungen stimmen, bewegt sich die Plasmawolke mit etwa 2.400 Kilometern pro Stunde.«

»Das wäre eine der schnellsten, die wir je gemessen haben.«

»Ja, und sie könnte die Erde treffen.«

Samantha runzelte die Stirn und nahm den Zettel, den er ihr hinhielt. Darauf waren die entsprechenden Zahlen vermerkt, die er ausgerechnet und mit denen aus Darmstadt verglichen hatte. Sie waren identisch.

»Das ist ein Problem«, murmelte sie. »Das Ding ist riesig.«

»Und schnell.«

»Wir müssen sie wecken.«

»Wen?«

»Alle! Ich fange beim Büro des Direktors an.«

2

RACHEL

»… uns aus Houston zugeschaltet ist jetzt Roger Myers, Physiker und selbst Astronaut von drei ISS-Missionen«, sagte der Moderator von Good Morning America und wandte sich dem Display zu, auf dem das Gesicht des beliebten Astronauten zu sehen war, der anders als üblich nicht über beide Wangen lächelte. Roger Myers blickte im Gegenteil ernst drein und seine Augen wirkten müde und drückten Erschöpfung aus. Ins Bild war die Uhrzeit 6:33 Uhr in PST eingeblendet. »Hallo, Roger.«

»Guten Morgen, Andy.«

»Roger, was ist bislang über den Sonnensturm bekannt, der auf uns zukommt?«

»Erst einmal müssen wir die Begrifflichkeiten klären. Es handelt sich um einen sogenannten koronalen Massenauswurf, auch CME, das heißt, dass die Sonne Plasma ausstößt, das hauptsächlich aus Protononen, Elektronen und den Atomkernen schwererer Elemente besteht, beispielsweise Helium, Sauerstoff und Eisen. Solche Auswürfe sind grundsätzlich normal und hängen mit Veränderungen der Magnetfeldlinien auf der Sonne zusammen. Zu einem Sonnensturm werden solche Auswürfe erst, wenn das Plasma die Erde trifft und es zu einer Störung unserer Magnetosphäre kommt.«

»Nun hat das Heimatschutzministerium bekanntgegeben, dass diese Plasmawolke uns mit hoher Wahrscheinlichkeit treffen wird und es zu Störungen in den Stromnetzen und der Internetverbindung kommen kann«, erklärte der Moderator mit der getragenen Sorge von jemandem, der das Problem kaum verstand, weil er zu dieser Zeit normalerweise über die Schlaglöcher in Los Angeles oder kuriose Esswettbewerbe berichtete.

»Das ist korrekt«, bestätigte Roger Myers. »NASA und Pentagon sind gerade damit beschäftigt, unsere Satelliten darauf vorzubereiten. Einige müssen ihre Umlaufbahnen verändern, die meisten werden vorübergehend abgeschaltet, was der Sicherheit dient. Moderne Satelliten verfügen über Abschirmungen für solche Events, besonders die militärischen, aber wir wollen keinerlei Risiko eingehen. Die Störung von GPS- und Internetsystemen wird nur vorübergehend sein.«

»Wie lange wird der Sturm andauern?«

»Unseren aktuellen Berechnungen zufolge etwa drei Stunden. Es kann auf der gesamten südlichen Hemisphäre zu Polarlichtern kommen, wenn die geladenen Teilchen der Plasmawolke auf unser Magnetfeld treffen. Das ist kein Grund zur Besorgnis, denn die Protonen und Elektronen kollidieren lediglich mit Gasmolekülen, was zu Photonenemissionen führt. Trotzdem empfehlen wir jedem, auch bei uns auf der Nordhalbkugel, sämtliche elektronischen Geräte abgeschaltet zu lassen.«

»Also keine Erinnerungsphotos an dieses Schauspiel?«, scherzte der Moderator, doch die Miene des Astronauten blieb ernst.

»Nein. Es ist am sichersten, wenn wir alle ganz normal schlafen gehen und dieses Ereignis verschlafen, statt uns Sorgen zu machen.«

»Es gibt bereits Gerüchte, dass die Regierung sich über mögliche Plünderungen sorgt, da es zu Störungen von Internet, Stromversorgung und Radiokommunikation kommen kann. Können Sie dazu etwas sagen?«

»Nein, das müssten Sie einen Regierungsmitarbeiter fragen. Aber das halte ich für unwahrscheinlich. Die Ordnungskräfte bereiten sich auf alles vor und wurden frühzeitig von uns gewarnt. Der Alltag wird also weitestgehend weitergehen. Wir haben in unseren Zeitzonen das Glück, dass es bei uns in der Nacht stattfindet, wo die meisten von uns ohnehin schlafen.«

Rachel schaltete den Fernseher aus und stopfte die Tupperdosen mit dem Essen in ihre Tasche, das sie wie jeden Morgen parallel zum Frühstücksfernsehen vorbereitet hatte. Dann nahm sie die Schlüssel vom Küchentisch und ging in den Flur.

»Masha!«, rief sie die Treppe hinauf. »Kommst du?«

»Gleich!«, schallte es von oben zurück.

Sie sah auf ihre Armbanduhr und seufzte. »In fünf Minuten fahre ich los.«

»Ich bin müde«, beschwerte sich ihre sechsjährige Tochter und kam mit zerzausten Haaren die Treppe herunter. Dabei rieb sie sich die Augen. Der Schulranzen auf ihrem Rücken sah für ihre zarte Statur wie immer viel zu groß aus.

»Das kann ich verstehen. Bin ich auch.«

»Du siehst aber nicht müde aus.« Masha sah sie vorwurfsvoll an und gähnte, während Rachel ihr die strohblonden Haare zumindest halbwegs in Form brachte.

»Das liegt daran, dass ich schon eine Stunde wach bin und das hier vorbereitet habe.« Sie hob eine der Tupperdosen und steckte sie ihrer Tochter in den Ranzen.

»Ich mag kein Schwarzbrot«, mäkelte Masha.

»Irgendwann wirst du es mögen.«

»Ich mag es nicht.«

»Komm jetzt.« Rachel half ihr in ihr Jäckchen und drückte sie durch die Tür in Richtung Einfahrt. Die Sonne schob sich bereits gemächlich über den Horizont und ließ den Morgentau auf dem Gras ihres kleinen Vorgartens wunderschön glitzern. Nichts deutete auf die Urgewalt hin, die angeblich heute Nacht über die Erde hereinbrechen würde. Ob die Polarlichter auch hier in Kalifornien zu sehen sein würden?

»Heute habe ich Mathe«, murrte ihre Tochter, als sie im Auto saßen und rückwärts auf die Straße rollten.

»Ich dachte, dass du gerne rechnest.«

»Ja, aber das ist bei Mister Tinnerman, der stinkt aus dem Mund.« Masha verzog das Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.

»Dafür bist du heute Nachmittag bei Tante Anne«, versuchte Rachel ihre Tochter aufzumuntern, und tatsächlich hellte sich ihr kleines Gesicht rasch auf.

»Kann ich bei ihr schlafen?«

»Heute nicht, Liebes, heute nicht.«

»Warum nicht?«

Weil heute Nacht eine Plasmawolke die Erde trifft und ich mir Sorgen mache, dachte sie. Denn wenn sie sagen, dass du dir keine Sorgen machen sollst, dann bedeutet das meistens genau das Gegenteil.

Laut sagte sie: »Weil ich mit dir einen Film gucken werde.«

»Einen Film?« Masha klatschte in die Hände, wirkte ganz und gar nicht mehr müde. »Was denn für einen?«

»Du bist jetzt sechs. Das ist das Alter, in dem wir alle mit unserem ersten Kindheitstrauma konfrontiert wurden.«

»Hä?«

»My Girl, Liebes, wir gucken My Girl.«

»Das ist doof.«

»Woher willst du das wissen? Kennst du den schon?«

»Nein, aber das klingt doof.«

»An den Film wirst du dich ein Leben lang erinnern«, versprach Rachel ihrer Tochter und bog auf die Straße der Longwood Grundschule ein. Vor der Tür hielt sie an. Dutzende Schülerinnen und Schüler strömten bereits von den Bussen und Fahrradstationen zu dem unscheinbaren Plattenbau und schnatterten dabei so laut, dass es selbst durch die geschlossenen Fenster zu hören war wie das Summen eines Bienenstocks. »Bis heute Abend.«

»Okay.« Masha öffnete ihre Tür und rutschte vom Sitz. »Bye, Mom.«

Sie winkte und sah zu, wie ihre Tochter über den Rasen zu zwei ihrer Freundinnen lief, die auf sie warteten. Lächelnd verharrte Rachel, bis die drei durch den Eingang verschwunden waren und fuhr dann weiter zur Universität.

Sie würde heute das erste Mal im großen Hörsaal unterrichten, der normalerweise nicht von der Fakultät für Linguistik genutzt wurde. Also bog sie vor dem Flur ab, in den sie sonst hineingegangen war, um kleinen Gruppen von zwanzig, maximal dreißig Studierenden die Welt der Sprachwissenschaften näherzubringen. Als sie den Hörsaal erreicht hatte, verschlug es ihr fast den Atem. Vierhundert Sitze – und sie waren alle besetzt. Einige Studenten saßen sogar auf den Gängen zwischen den Sitzreihen auf den Stufen, und es war noch eine Viertelstunde bis zum Beginn der Vorlesung.

Bevor sie ganz durch die Tür ging, atmete sie tief durch und tauchte in den Lärm und die drückende Präsenz so vieler Menschen ein. Sie hatte noch nie vor so vielen gesprochen.

Für kurze Zeit wurde es still, als sie hereinkam, bis das anfänglich zaghafte Getuschel immer lauter wurde. Rachel legte ihre Tasche auf dem Tisch vor der dreiteiligen Tafel und dem Smartboard ab und begann sich um das Headset zu kümmern, das für sie bereit lag.

Sie tippte ein paarmal gegen das Mikrofon an ihrer Wange und hörte das entsprechende Scheppern aus den Lautsprechern.

»Guten Morgen, liebe Erstsemesterstudierende, willkommen zur Vorlesung über die Sapir-Whorf-Hypothese. In dieser Vorlesung werden wir die Grundlagen dieser faszinierenden und manchmal kontroversen Theorie in der Linguistik untersuchen. Die Sapir-Whorf-Hypothese ist nach ihren Hauptvertretern, den amerikanischen Linguisten Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf, benannt und beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Sprache und menschlichem Denken. Die Sapir-Whorf-Hypothese stellt die Idee in den Mittelpunkt, dass die Struktur einer Sprache die Art und Weise beeinflusst, wie ihre Sprecher die Welt wahrnehmen und denken. Es gibt zwei Hauptversionen dieser Hypothese: die starke Version, auch bekannt als linguistischer Determinismus, und die schwache Version, auch bekannt als linguistische Relativität.«

Die ersten Hände schnellten in die Höhe, ein Dutzend erst, dann beinahe alle.

Rachel seufzte und schob ihr Skript beiseite.

»Irgendeine Frage, die nichts mit E.T. zu tun hat?«

Sämtliche Hände gingen wieder herunter.

»Gut. Fahren wir also fort mit den beiden Versionen der Hypothese, die Ihnen zeigen werden, dass Sprachwissenschaft viel mehr kann, als bloß Entstehung und Entwicklung von Sprachen zu analysieren. Korrekt angewandt, dringt sie bis in die Philosophie vor und eröffnet uns ein Tor zum Verständnis der Realität in Form subjektiver Filter – Ohren und Zunge gleichermaßen. Beginnen wir mit dem linguistischer Determinismus, der starken Version: Sie besagt, dass die Sprache das Denken und die Wahrnehmung der Realität vollständig bestimmt. Das bedeutet, dass Sprecher unterschiedlicher Sprachen die Welt auf grundlegend unterschiedliche Weise erleben und denken, weil ihre Sprachen unterschiedliche Strukturen und Kategorien haben. Diese Ansicht wird jedoch in der modernen Linguistik als zu extrem angesehen und findet wenig empirische Unterstützung. Bislang. Die linguistische Relativität hingegen, also die schwache Version der Hypothese, ist weniger radikal und besagt, dass die Sprache die Denkweise und Wahrnehmung der Realität beeinflusst, aber nicht vollständig bestimmt. In dieser Sichtweise haben Sprecher verschiedener Sprachen unterschiedliche Denk- und Wahrnehmungstendenzen, die auf den Besonderheiten ihrer Sprache beruhen, aber sie sind dennoch in der Lage, über die Grenzen ihrer Sprache hinaus zu denken und ihre Wahrnehmung anzupassen.«

Sobald sie Atem holte, schnellten wieder sämtliche Hände in die Luft. Zuerst wenige, dann alle. »Irgendwelche Fragen, die sich nicht auf meine Tätigkeiten außerhalb dieses Hörsaals beziehen?«

Wieder gingen die Hände herunter.

»Wer von Ihnen war schon einmal in Japan?«, fragte sie.

Ein paar Hände zeigten sich wieder.

»Wer von Ihnen hat sogar japanische Vorfahren oder ist dort aufgewachsen?«

Zwei Hände verblieben.

»Lassen Sie mich die Sapir-Whorf-Hypothese an einem konkreten Beispiel darlegen.« Rachel ging zur Tafel. »Stellen Sie sich vor, ein japanischer und ein amerikanischer Sprecher sitzen im selben Raum und diskutieren die Anordnung der Möbel. Im Japanischen wird die räumliche Beziehung zwischen Objekten häufig durch Partikel ausgedrückt, die auf die relative Position Bezug nehmen, wie ue (上, oben), shita (下, unten), mae (前, vor) und ushiro (後, hinter).« Sie zeichnete die Schriftzeichen mit Kreide auf die Tafel. »Japanische Sprecher sind es daher gewohnt, sich auf die Position von Objekten in Bezug auf andere Objekte zu konzentrieren. Der amerikanische Sprecher hingegen«, sie machte eine Geste in die Ränge des Hörsaals, »spricht Englisch, eine Sprache, die sich stärker auf absolute Richtungen wie rechts und links verlässt, um räumliche Beziehungen zu beschreiben. In dieser Situation kann der amerikanische Sprecher die Anordnung der Möbel eher in Bezug auf die Himmelsrichtungen oder die eigene Position beschreiben. Nun stellen wir uns vor, beide Sprecher sollen gemeinsam entscheiden, wo ein neues Möbelstück im Raum platziert werden soll. Der japanische Sprecher schlägt vor, es mae (vor) des Fensters zu platzieren, während der amerikanische Sprecher darauf besteht, es rechts von der Tür zu positionieren. Da ihre Sprachen unterschiedliche räumliche Bezugssysteme verwenden, nehmen sie die Raumgestaltung auf verschiedene Weise wahr und haben Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame Lösung zu einigen – obwohl sie versuchen, über denselben, objektiven Raum und die selben objektiven Möbel zu sprechen. Durch die Brille ihrer Sprachen wird beides zu etwas Subjektivem, das sich nicht einfach subjektivieren lässt. In diesem Beispiel wird also verdeutlicht, dass die unterschiedlichen Sprachen der Sprecher ihre Wahrnehmung der Realität beeinflussen, indem sie unterschiedliche räumliche Bezugssysteme verwenden. Dies führt dazu, dass sie in der gleichen Situation unterschiedliche räumliche Beziehungen wahrnehmen und bewerten. Obwohl dies ein stark vereinfachtes Beispiel ist, zeigt es die möglichen Auswirkungen der Sapir-Whorf-Hypothese auf die Kommunikation und das Verständnis zwischen Sprechern unterschiedlicher Sprachen.«

Sie machte eine Pause und seufzte, als wieder alle Hände nach oben gingen. Betont langsam umrundete sie den Tisch und setzte sich auf die Kante.

»Also gut. Lassen Sie es raus.« Sie deutete auf einen jungen Mann in der letzten Reihe, der mit seiner Hornbrille eher wie ein schüchterner Nerd aussah, als einer der vorlauten Surfer-Typen weiter vorne. »Fragen Sie.«

»Äh, ich hoffe, die Frage ist in Ordnung, aber kennen Sie den Science-Fiction-Film Arrival?«, fragte der junge Mann und erntete dafür einen Sturm der Entrüstung von seinen Kommilitonen, da er offenbar nicht die offensichtlichste Frage gestellt hatte. Rachel mochte ihn sofort und lächelte.

»Ruhe bitte!« Sie wartete, bis ihr Folge geleistet wurde, und nickte dann. »Genau genommen ist das sogar mein Lieblingsfilm und wird vermutlich auch Ihrer, wenn Sie sich für eine Karriere in der Sprachwissenschaft entscheiden. Viele wissen nicht, dass der Film aus dem Jahr 2016 auf der Kurzgeschichte Story of Your Life von Ted Chiang basiert, die Sie alle lesen sollten.« Rachel lächelte. »Diejenigen von Ihnen, die den Film noch nicht gesehen haben, sollten sich jetzt die Ohren zuhalten, da ich ihn Ihnen sonst mit meinen Spoilern vermiesen werde. Die außerirdischen Heptapoden aus dem Film kommen auf die Erde, und die Linguistin Dr. Louise Banks versucht mit ihnen eine Kommunikation aufzubauen. Wie Sie sich alle vorstellen können, gibt es keine größere Diskrepanz zwischen den Sprachsystemen zweier Sprecher, als wenn sie von anderen Planeten stammen. Sämtliche Bezugssysteme sind anders. Die Heptapoden besitzen eine einzigartige Schriftsprache. Ihre Schriftzeichen, die kreisförmig und komplex sind, repräsentieren ganze Sätze oder Gedanken, anstatt eine lineare Abfolge von Wörtern oder Silben, wie es bei den meisten menschlichen Sprachen der Fall ist. Diese Schriftsprache ist nicht-linear und ermöglicht es, Informationen ohne Bezugnahme auf eine feste Zeitachse auszudrücken. Infolgedessen haben die Heptapoden eine völlig andere Wahrnehmung von Zeit und Kausalität im Vergleich zu menschlichen Sprachbenutzern. Im Laufe des Films lernt Dr. Banks die heptapodische Sprache und beginnt, die Welt durch ihre Augen zu sehen, wie es die Sapir-Whorf-Hypothese nahelegt. Ihre Wahrnehmung der Zeit verändert sich dramatisch, und sie gewinnt die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen und vergangene, gegenwärtige und zukünftige Ereignisse gleichzeitig wahrzunehmen. Diese Veränderung in der Wahrnehmung und im Denken von Dr. Banks ist ein direktes Ergebnis ihres Lernens der Heptapod B-Sprache und dient als eine kraftvolle Illustration der Sapir-Whorf-Hypothese im Film. Sie wird als ein Mittel verwendet, um die tiefgreifenden Auswirkungen von Sprache und Kommunikation auf das menschliche Denken und die Wahrnehmung der Welt zu erforschen. Der Film zeigt, wie das Erlernen einer völlig anderen Sprache – in diesem Fall die Sprache einer außerirdischen Spezies – die menschliche Wahrnehmung und das Verständnis der Realität grundlegend verändern kann.«

Der junge Mann mit der markanten Brille nickte fröhlich, und wieder gingen sämtliche Hände nach oben. Sie würde das hier wohl hinter sich bringen müssen, damit nicht jede Vorlesung so endete. Also zeigte sie mit dem Finger auf eine Frau weiter vorne, die besonders aufgeregt aussah. »Ja, bitte?«

»Ma’am, ich habe Ihr Buch gelesen, wie vermutlich die meisten hier, und erst mal will ich sagen, dass ich ein großer Fan bin«, rief die Studentin kurzatmig und viele Studierende klopften mit den Knöcheln auf ihre Tische. »Haben Sie mit so einem Erfolg gerechnet?«

»Nein, und ich schreibe Ihnen allen gerne Autogramme, wenn die Vorlesung beendet ist, aber bitte konzentrieren Sie sich auf Fragen zum heutigen Thema. Ich bin hier, um Ihnen etwas beizubringen und Linguisten aus Ihnen zu machen, damit wir uns und die Welt in der wir leben, etwas besser verstehen lernen«, erklärte Rachel freundlich aber bestimmt. Da kam ihr eine Idee. »Reden wir über mein Buch Warum E.T. uns fressen will. Warum ist es eine dumme Idee, Kontakt mit Außerirdischen aufnehmen zu wollen? Beziehen Sie sich bei Ihren Antworten bitte auf die Sapir-Whorf-Hypothese. Ja?«

»Wenn die Sapir-Whorf-Hypothese darauf hindeutet, dass die Struktur einer Sprache die Denkweise und Wahrnehmung ihrer Sprecher beeinflusst, kann es sein, dass eine völlig fremde außerirdische Sprache und Denkweise keine Grundlage für Kommunikation bietet, oder? Selbst wenn wir in der Lage wären, ihre Sprache zu lernen, könnten wir immer noch Schwierigkeiten haben, ihre Perspektive auf die Welt wirklich zu verstehen, und vice versa. Dies könnte zu Missverständnissen und Fehlkommunikation führen, die schwerwiegende Folgen haben könnten. So wie mit dem Beispiel der Axt, das Sie im Buch genannt haben«, erklärte die Studentin, auf die sie gezeigt hatte.

»Korrekt. Eine Axt ist ein Werkzeug, also etwas, mit dem ich die Funktionen meines Körpers erweitern kann, um ein unmittelbares Ziel zu erreichen. Grundsätzlich handelt es sich um ein friedlich-assoziiertes Wort, wenn wir Werkzeug sagen. Aber eine Axt ist auch eine Waffe, also eine Funktionserweiterung meines Körpers, um jemanden zu schädigen oder zu töten«, erklärte Rachel. »Wenn ich einem anderen Menschen eine Axt zeige, und er spricht nicht meine Sprache, wird er zwei Dinge denken können: Diese Person will mich töten, oder diese Person will einen Baum fällen, um es vereinfacht auszudrücken. Da wären wir bei 50-50, wenn wir Dinge wie Körpersprache erst einmal herauslassen. Was denken Sie, wie ein Außerirdischer reagieren würde? Könnte er es sich leisten, von der Werkzeug-Annahme auszugehen und fünfzig Prozent falsch zu liegen? Der Einsatz könnte sein Leben sein.«

»Aber was ist, wenn man über eine universale Verständigungsform kommuniziert? So etwas wie Mathematik, die als Grundlage des Universums funktioniert und von intelligenten Außerirdischen verstanden werden würde?«, rief jemand eine Frage in den Hörsaal.

»Gute Frage. Ist nicht das erste Mal, dass sie mir jemand stellt«, gab sie zurück und lächelte wissend. Einige Studenten kicherten verhalten. »Von wem kam die Frage?«

Ein dunkelhaariger Mann in der letzten Reihe meldete sich.

»Gut. Sie sind als Astronaut nach Alpha Centauri geflogen und treffen dort auf einen Außerirdischen von den Terraliern, er ist auch in einem Raumschiff gekommen und sie stehen sich gegenüber. Machen wir es einfach: Er ist bi-symmetrisch humanoid wie Sie. Wie fangen Sie an?«, fragte sie.

»Ich etabliere eine mathematische Verständnisgrundlage. Geometrische Formen, Primzahlen und so was.«

»Okay, gut. Der Alien gibt zu verstehen, dass er das versteht und revanchiert sich damit, dass er ihnen sein Zahlensystem klarmachen will. Es ist offenbar nicht metrisch – so wie es das imperiale System hier bei uns auch nicht ist. Es basiert auf historischen Größen, die keine mathematische Logik haben. Sagen wir, er rechnet in dodekadischen Einheiten, weil seine Welt zwölf Monde hat oder etwas in der Art. Das funktioniert, und es geht weiter mit mathematischen Operationen wie Addition, Substraktion und so weiter. Was haben Sie damit gewonnen?«

»Ich weiß, dass wir beide intelligente Wesen sind und könnten weitergehen zu physikalischen Größen wie Distanzen und seiner Heimatwelt«, schlug der Student vor.

»Gut, jetzt möchte der Alien wissen, wo die Erde ist und wie weit entfernt. Würden Sie es ihm sagen?«, fragte Rachel.

»Nein, vermutlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich nicht weiß, ob er gute Intentionen hat.«

»Ganz genau. Um die herauszufinden, müssen Sie was tun?«

»Mehr über sein Wertesystem erfahren?«

»Richtig. Was bildet das Wertesystem?«

»Seine Eltern?«

»Sicher. Aber bleiben wir erst mal bei der Kultur aus Definitionsrahmen innerhalb dessen sich seine Werte bewegen werden: Wie können Sie die abklopfen? Nicht mit Mathematik, so viel steht fest. Es gibt keine mathematische Größe für Werte, ganz zu schweigen von Empathie oder Mitgefühl. Aber Sie wollen es dennoch versuchen. Wie gehen Sie vor?«

»Ich würde versuchen herauszufinden, welche Umweltbedingungen auf seinem Planeten herrschen, weil das die Art der Kultur beeinflussen würde, die dort entstanden ist«, sagte der Student.

»Knappheit von Ressourcen könnte ein Indikator auf erhöhten Evolutionsdruck hinweisen. Ergo Gewalt.« Rachel nickte. »Aber wie machen Sie das?«

»Ich könnte versuchen, ihm die vier Jahreszeiten auf der Erde zu erklären anhand der Planetenkonstellation zur Sonne.«

»Gute Idee.« Sie klatschte in die Hände und stand auf. »Das Alien kommt aber von einem Planeten, der keine Jahreszeiten hat. Die Bedingungen sind immer mehr oder weniger gleich.«

»Okay, dann versuche ich, ihm extreme Wetterbedingungen zu erläutern. Hitze und Kälte zum Beispiel. Das sollte es verstehen, da es auf seinem Planeten sicher wärmer ist als im Vakuum.«

»Wie machen Sie das?«

»Ich reibe die Hände und über meinen Körper, um zu signalisieren, dass ich über Bewegung Wärme erzeugen muss.«

»Ja.« Rachel nickte erneut. »Sie zittern ein wenig, um ihm zu zeigen, dass Ihr Körper seine Kerntemperatur nicht mehr aufrechterhalten kann. Okay. In der Kultur der Terralier ist das Aneinanderreiben der Hände eine Geste der Aggression, die bei ihnen Teil eines rituellen Duells ist. Er macht unvermittelt einen Satz zurück. Adrenalin schießt durch ihre Adern wegen seiner plötzlichen, unerwarteten Bewegung.«

»Ich gebe ihm zu verstehen, dass ich keine Gefahr bin und strecke die leeren Hände nach vorne«, sagte der Student.

»Nein, das könnte auch als Aggression gesehen werden, als Abwehrhaltung«, rief eine Kommilitonin.

»Abwehr ist nicht aggressiv.«

»Doch«, meinte Rachel. »Wenn ich ein Schild habe, signalisiert es, dass ich mit einem Kampf rechne. Aber machen wir es trotzdem einfach. Sie sind ein Astronaut und bleiben cool. Senken schnell wieder die Hände, bleiben tatenlos um möglichst wenig Fläche für Missverständnisse zu bieten.«

Der Student nickte.

»Der Terralier ist ebenfalls einer der Astronauten seiner Art und darum gut ausgebildet, ein defensiver Teamplayer. Darum zeigt er Ihnen eine Besonderheit seiner Art: Den Paarungskamm, eine Art Federkleid, das sich aus seinem Genick auffächert in prachtvollem knallrot.«

»Wie bei Jurassic Park«, rief jemand, und alle lachten.

»Ja, die kleinen garstigen Biester, die den Verräter fressen, als er mit einer Probe verschwinden will.« Rachel lächelte breiter. »Für Sie eine Bedrohung, Sie rechnen durch Ihre Erfahrungen mit dieser Art von Körpersprache mit einem Angriff und laufen fort. Der Terralier folgt Ihnen, um Sie davon zu überzeugen, dass es keinen Grund dafür gibt und er Ihnen keine Angst machen wollte. Aber der menschliche Fluchtinstinkt setzt ein und Sie fühlen sich wie der Gejagte.«

»Das sind aber viele negative Annahmen«, beschwerte sich der Student.

»Zu viele positive, wenn Sie mich fragen. Es gibt Naturvölker auf der Erde, bei denen ein Grinsen ein Zeichen von Aggression und Kampfbereitschaft ist. Wenn Sie es bei denen mit einem entwaffnenden Lächeln versuchen, bringen die Sie um. Und die sind von derselben Spezies wie Sie. Noch ein anderes Beispiel: Intuition. Zu Beginn der Sprachwissenschaften wurden viele Interaktionen der Intuition überlassen. Wissen Sie, warum?« Da sich niemand meldete, fuhr sie gleich mit der Antwort fort: »Viele Naturvölker sind der Meinung, dass Intuition ein Einblick in vergangene und zukünftige Leben bedeutet. Dass wir mit dem, wer wir einmal waren oder noch sein werden, auf eine spirituelle Art und Weise verbunden sind und dadurch Eingebungen haben, die auf Erfahrungen basieren, die wir selbst gar nicht gemacht haben. Zumindest nicht in dieser Zeit. Heute ist Intuition einer der am schwierigsten linguistisch zu fassenden Begriffe, weil er so unterschiedliche Bedeutungen in den verschiedenen Sprachräumen zugemessen bekommt. Hier ändert sich der Zusammenhang von Begrifflichkeit und Bedeutung fließend. Wenn Sie einem Inder sagen, dass Ihre Entscheidung auf Intuition basiert, wird er das höchstwahrscheinlich hinnehmen oder sogar besonders wertschätzen. Wenn ein Inder dasselbe einem Europäer sagt, wird er sich vermutlich mit hochgezogenen Brauen konfrontiert sehen – genau wie wir würden die das als Esoterik abtun. Was ich damit sagen will, ist hier: Es ist äußerst schwer, sich hier auf unserem Planeten auf eine Bedeutung für eine Sache zu äußern, obwohl wir dieselben Sprachen sprechen können.«

3

MUARA KARANG POWER STATION, NORDEN VON JAKARTA, INDONESIEN

»Apa kamu sudah mematikan? Aku bisa melihatnya dari wajahmu, kamu belum melakukannya!« Budi beäugte seinen Kollegen misstrauisch. »Hast du oder hast du nicht?«

»Klar, ich habe alles abgeschaltet. Die Belegschaft ist drüben in den Arbeiterunterkünften.« Agus deutete hinter sich, wo sich der Komplex des Gaskraftwerks als Meer aus Lichtern zwischen Gerüsten und kleineren Gebäuden ausbreitete. Nach Süden hin hatten sie einen perfekten Blick über das Häusermeer der Metropole, die sich bis zum Horizont zu erstrecken schien. Die Nacht war beinahe vorüber, der Himmel färbte sich bereits dunkelblau. »Wann soll es losgehen?«

»Bald.« Budi zuckte mit den Achseln. Plötzlich gingen um sie herum die Lichter aus. Ein Abschnitt nach dem anderen wurde es finster unter ihnen, und die Stadtteile, die an das Kraftwerk angrenzten, folgten als Nächstes. »Bist du sicher, dass wir hier stehen sollten, wenn es passiert?«

»Es ist alles abgeschaltet, also kann auch nichts überladen. Jetzt sind sogar die Übergangsbatterien aus.« Agus zeigte nach unten. Sie standen jetzt in einem Meer aus Dunkelheit, da auch der Rest der Hauptstadt als Sicherheitsmaßnahme vor der Sonnenaktivität keinen Strom mehr zugeführt bekam. Selbst Dieselaggregate in den Krankenhäusern wurden abgeschaltet, um die elektrische Infrastruktur nicht zu zerstören.

»Dein Wort in Allahs Ohr.«

Sie blickten eine Weile schweigend auf die Metropole hinab. Es war ein befremdliches Gefühl, als würden sie im Nichts schweben, über einem Gebilde aus formgewordenen Schatten.

»Sieht geisterhaft aus«, befand Agus. »Irgendwie surreal. Jakarta ist so laut, so grell, so alles.«

»Jetzt ist es still wie auf dem Meer.«

»Nicht lange, so viel steht fest.«

»Ach, vielleicht ist das Ganze auch nur wieder eine dieser Schummeleien der Regierung, um irgendwas durchzuziehen.«

»Irgendwas durchzuziehen?«, fragte Agus seinen Freund und Kollegen und kratzte sich unter dem Helm.

»Du weißt schon, politische Gegner um die Ecke bringen oder so ein Scheiß«, meinte Budi nebulös.

»Du guckst zu viel Fernsehen.«

»Und du zu wenig.«

»Ich glaube nicht. Diesen NASA-Kram hätte ich nicht mitbekommen, wenn ich die Kiste einfach ausgelassen hätte, aber meine Frau kann einfach nicht anders. Sitzt den ganzen Tag nur vor der Mattscheibe wie die Ratte vor der Schlange, und … was?«

»Ich glaube, es fängt an«, sagte Budi ehrfürchtig und nahm wie in Zeitlupe den Helm vom Kopf. Die Augen hatte er nach oben gerichtet.

Agus folgte seinem Blick gen Himmel, und sein Mund klappte vor der ehrfurchtgebietenden Schönheit des Schauspiels, das sich dort abspielte, auf. Das gesamte Firmament, gestreift von den zarten Fingern des heranbrechenden Morgens, schien in perlmuttfarbenen Flammen zu stehen. Wie magische Manaentladungen funkelten beinahe stofflich anmutende Fäden aus tanzenden Pastelltönen in der Dunkelheit, gefangen in einem Tanz der Partikel. Die Aurora Australis erstreckte sich von Horizont zu Horizont – in jede Himmelsrichtung. Ein Kaleidoskop aus wechselnden Formen. Die Zeit schien stillzustehen unter diesem hypnotisierenden Licht, das alles Sterbliche winzig und unbedeutend erscheinen ließ.

»Meine Güte«, stammelte Agus atemlos und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter, ohne den Blick von der kosmischen Urgewalt abzuwenden, die den Himmel entflammte. Als Budi sich nicht rührte, runzelte er die Stirn, schluckte, um die plötzliche Trockenheit aus seinem Mund zu vertreiben. Dann sah er widerwillig zu ihm und bemerkte erst jetzt, dass sein Nachbar nicht mehr die kosmische Schönheit anstarrte, sondern die Stadt vor ihnen.

Sie erstrahlte im Licht sämtlicher Laternen und Glühbirnen, als wäre sie nie verdunkelt gewesen. Zuerst hielt er es für eine Illusion, blinzelte einige Male, doch es änderte nichts: Jede Lichtquelle Jakartas schien mit maximaler Intensität zu leuchten.

»Ich dachte, du hättest abgeschaltet«, murmelte er.

»Habe ich auch, ich schwöre es«, antwortete Budi heiser und drehte sich auf ihrem Gerüst im Kreis. Auch um sie herum leuchtete jede Lampe des Kraftwerkkomplexes, und sie alle gaben ein unterschwelliges Summen von sich.

»Ich hätte es überprüfen sollen«, knurrte Agus und lief runter ins Kontrollzentrum. Er hörte Budis Schritte hinter sich.

Im Kontrollzentrum war jedoch jeder Computer heruntergefahren, und es ließ sich auch nichts starten. Es gab keinen Strom.

»Wie ist das möglich?« Er ging wieder hinaus, diesmal aufs Dach und sah sich in dem Meer aus grellen Lichtern um.

»Ist es nicht, mein Freund«, sagte Budi andächtig. »Es ist ein Wunder von Allah.«

4

NASA-HAUPTQUARTIER, WASHINGTON D.C., BÜRO DES ADMINISTRATORS

»Wie sicher sind wir, dass es keine Stromzufuhr gab?«, fragte NASA-Administrator Stevens in die Runde aus müden Gesichtern, die einen Halbkreis um seinen Schreibtisch bildeten. Auf dem großen Fernseher an der rechten Wand waren wechselnde Aufnahmen vom hell erleuchteten Jakarta zu sehen. Mal waren es Straßenlaternen, die greller erstrahlten, als sie sollten, mit Menschen darunter, die auf der Straße standen und auf sie zeigten. Auf anderen waren Familien in ihren Wohnzimmern zu sehen, die zuerst stockfinster und dann plötzlich taghell waren, als verschiedene Lampen gleichzeitig angingen.

»Wir stehen in engem Kontakt mit dem Energieministerium Indonesiens und unserem Außenministerium. Uns wurde versichert, dass keines der Kraftwerke zu diesem Zeitpunkt Strom geliefert hat. Sie sind alle heruntergefahren worden«, erklärte Associate Administrator Lagarde. Sie scrollte auf einem Tablet und nickte immer wieder. »Dafür spricht auch, dass so gut wie keine Schäden am Stromnetz aufgetreten sind.«

»Könnte das nicht daran liegen, dass die CME uns nur gestreift hat und längst nicht so schwerwiegend war wie befürchtet?«, fragte Stevens’ Stabschef Mark Kelley.

»Im Grunde ja«, bestätigte Lagarde. »Allerdings war der Partikelansturm immer noch heftig genug, dass es auf Sumatra und den Philippinen Hunderte Transformatoren in Gegenden, die offenbar nicht oder nicht schnell genug heruntergefahren haben, zerstört hat.«

»Wir müssen also davon ausgehen, dass Jakarta keine Stromzufuhr hatte, darauf weißt aktuell alles hin«, fasste Administrator Stevens zusammen und rieb sich die müden Augen. Er hatte kein Auge zugedrückt in der Nacht, nicht einmal, als die CME vorüber war und er Gewissheit hatte, dass das amerikanische Satellitennetzwerk größtenteils unbeschädigt geblieben war. Viele hatten sie umpositioniert, andere schlicht abgeschaltet. Nur einige wenige Militärsatelliten waren aktiv geblieben, weil ihre Abschirmung als stark genug eingestuft worden war. Für die meisten hatte das auch gegolten. Auf den Bildern von einem von ihnen sah er auf dem Fernseher das nächtliche Südostasien in beinahe vollkommener Dunkelheit. Nur einige wenige Flecken aus Licht stachen aus der Schwärze hervor – und Jakarta, ein leuchtender gelber Ball im Nichts.

Ihm fiel auf, dass sein Beraterstab ihn noch immer fragend ansah.

»Also gut. Irgendeine Idee, was ich der Präsidentin beim Briefing sagen soll?«

»Ich würde Jakarta keine zu große Aufmerksamkeit zollen«, meinte Kelley. »Die Videos mögen auf Social Media viral gehen, ja, aber letztendlich glaubt die Mehrheit nicht an Märchen.«

»Aber das ist kein Märchen«, erinnerte Stevens seinen Stabschef. Zur Verdeutlichung deutete er auf den Fernseher. »Bislang konnte mir das da noch niemand erklären. Mir ist klar, dass ich der Einzige hier bin, der kein Naturwissenschaftler ist, aber wie kann eine Stadt leuchten, wenn sie keinen verdammten Strom hat? Ich brauche hier was, mit dem ich arbeiten kann, wenn ich bei der Präsidentin sitze.«

»Es gibt ein paar Erklärungsmöglichkeiten«, setzte Lagarde an. Die Physikerin holte tief Luft. »Es könnte sich um induzierte elektrische Ströme handeln. Durch den geomagnetischen Sturm, den die CME ausgelöst hat, wurden die elektromagnetischen Felder der Erde beeinflusst. Diese Felder könnten dann wiederum induzierte Ströme in den elektrischen Leitungen erzeugt haben, um die Glühbirnen zum Leuchten zu bringen. Das würde auch erklären, weshalb sonst keinerlei Geräte funktioniert haben.«

»Oder«, meinte Kelley, »das waren elektrostatische Entladungen. Dadurch, dass viele geladene Teilchen in die Atmosphäre geschleudert wurden, könnten sie zu einer erhöhten elektrostatischen Aufladung geführt haben, woraufhin sich die Glühbirnen entladen haben.«

»Wir können hier ewig spekulieren«, meldete sich Jonathan Walters zu Wort. Der Physiker und Deputy Administrator hatte bislang geschwiegen und seinen weißen Schnäuzer gezwirbelt, statt sich einzubringen. Jetzt hörten ihm alle zu, als sei er eine Art Orakel. »Es könnte sich um exotische Teilchen handeln, die wir noch nicht verstehen, weil wir in der Größenordnung noch nie einen koronalen Massenauswurf beobachtet haben, der uns trifft. Sogar dunkle Materie, die auf bislang unbekannte Art und Weise mit der Materie der Glühbirnen interagiert. Oder Quanteneffekte der CME, die eine Veränderung in den Quantenzuständen der Atome in den Birnen hervorgerufen haben.«

»Das ist aber – mit Verlaub – äußerst spekulativ«, sagte Lagarde und klang beinahe beleidigt.

»Genau das ist mein Punkt.« Walters nickte bedächtig. »Wir könnten hier ewig spekulieren, und je länger wir das tun, desto fantasievoller wird das Ganze. Überlassen wir das lieber der Forschung im Fahrwasser dieses Events. Für das Treffen mit der Präsidentin schlage ich vor, dass wir uns auf die Ergebnisse unserer Satellitenauswertung konzentrieren, weil es hier um die nationale Sicherheit geht.«

»Gute Idee«, stimmte Kelley zu. »Und darauf, dass wir verdammt Glück gehabt haben, dass die Schäden so minimal geblieben sind.«

»Minimal?«, fragte Lagarde und schnaubte.

»Die Schäden an den Stromnetzen in Südostasien gehen in die dreistellige Milliardenhöhe. Trotz allem.«

»Hätte uns diese Ejektion komplett getroffen, hätten wir wahrscheinlich keine Satelliten mehr, und die Weltwirtschaft würde gerade kollabieren, bevor wir in die Steinzeit zurückstürzen«, erinnerte Kelley sie. »Wir sind mit einem blauen Auge davongekommen.«

Eine junge Frau steckte ihren Kopf durch die Tür. Es war Stevens Assistentin.

»Sir? Ihr Wagen ist bereit.«

»Ich komme.« Er stand auf und glättete seinen Anzug, als das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Er ignorierte es und umrundete den Tisch. »Danke, gute Arbeit heute Nacht, und ...«

Weiter kam er nicht, da Lagardes Handy klingelte. Danach das von Kelley gefolgt von Walters’. Sie sahen einander stirnrunzelnd an, umgeben vom aufdringlichen Trällern vier verschiedener Telefone, die allesamt um ihre Aufmerksamkeit buhlten.

---ENDE DER LESEPROBE---