Die Melodie von Gut und Böse – Das Theater der Welt, des Himmels und der Hölle in drei Akten - Jannik Böker - E-Book

Die Melodie von Gut und Böse – Das Theater der Welt, des Himmels und der Hölle in drei Akten E-Book

Jannik Böker

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Beschreibung

Henriette H. programmiert an einer ganz großen Sache, die die Welt in eine bessere Zukunft führen soll. Als ihr seltsame Dinge widerfahren, glaubt sie, auserwählt zu sein. Und tatsächlich steht die junge Frau unter Einfluss von ganz oben (und ganz unten). Doch dazwischen lauert Bobubert, der Gott des Schabernacks: In der Hölle geboren, in die Menschheit verliebt, treibt er ein listiges Spiel, um Gott und Teufel zu entthronen – und sich selbst zum König der Anarchie zu krönen. Mit „Die Melodie von Gut und Böse“ gelang Jannik Böker ein unorthodoxer Urban Fantasy Roman über zeitlos aktuelle Themen und Archetypen, voll smoother Sprachpoesie und gewürzt mit der Raffinesse eines undurchschaubaren Tricksters.

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periplaneta

JANNIK BÖKER: „Die Melodie von Gut und Böse“Das Theater der Welt, des Himmels und der Hölle in drei Akten 1. Auflage, November 2023, Periplaneta Berlin, Edition Drachenfliege

© 2023 Periplaneta - Verlag und MedienInh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

PPM & Lektorat: Marion A. Müller Cover: Nicole Altenhoff Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-201-8epub ISBN: 978-3-95996-202-5

Jannik Böker

Die Melodie von Gut und Böse

Das Theater der Welt, des Himmels und der Hölle in drei Akten

periplaneta

Erster Akt

Kapitel 1

Valentin der Clown

Henriette H. stand da, schwarzes Haar, blaues Abendkleid und Turnschuhe.

Lange nicht mehr so lebendig gefühlt, dachte sie und nahm tiefe Atemzüge – durch die Nase ein, den Mund wieder aus – und spürte den sauren Geschmack des Center Shock auf der Zunge. Der war auszuhalten. Aber dann, plötzlich: eine ekelhafte Explosion. Die Füllung quoll aus dem Kaugummi und strömte über die Zähne, zu süß, zu künstlich. Zur Sicherheit schaltete der Körper erstmal alles aus.

Es wurde still um Henriette H. und dunkel, nur dieser Geschmack blieb da: Er pulsierte und hüpfte und kroch den Gaumen hinauf, hinter die Augen, irgendwie, die dann auch tränten.

Wahnsinn, dachte Henriette H. und ihr wurde übel. Aber sie lachte, weil Soraya lachte und weil Sorayas Lachen ansteckend war. Tanzend sprang sie um H. herum, bis Soraya ihren Center Shock schließlich auf den Boden spuckte. Da blieb er liegen und glänzte in der Sonne. So zäh und unverdaulich, wie dieser pinke Flatschen wirkte, würde er wohl irgendwann zu einem Teil des Asphalts werden. Henriette H. fragte sich, wie viele Center Shocks wohl schon in die Straßen der Stadt eingearbeitet waren. Sie legte ihr eigenes Kaugummi auf den Boden. Betrachtete es. Und fühlte sich gut dabei, einen Beitrag zur Infrastruktur der Stadt geleistet zu haben.

Soraya summte einen Jingle, während Henriette H. ungeduldig wurde. Seit 25 Minuten hatten sie Feierabend. Sie hätte bereits zuhause an ihrem Schreibtisch sitzen und weitermachen können, nebenbei ein schneller Teller Nudeln im Bildschirmlicht. Da wäre es kühl und ruhig gewesen. Stattdessen war es heiß und hektisch auf dem Firmenparkplatz von ICNFSE, dem internationalen Kommunikationsunternehmen: „Ich strahle, lächle, grinse: Ich bin Kunde bei ICNFSE.“

Ins Theater wollten sie gehen, um einen weltbekannten Clown zu sehen, den Meister der fehlenden Worte: den Clown Valentin. Doch H. überlegte, den Abend abzusagen. Am besten verabschiedete sie sich jetzt, bevor ihre Schulfreundin Frau Katara sie abholen würde. In ihrer überschwänglichen Art. Mit ihrem herzlichen Gelächter. Doch H. zögerte, denn sie wusste, Soraya würde jede Ausrede als die typische Unlust der Henriette H. durchschauen. In letzter Zeit reagierte sie zunehmend gereizt, wenn H. ihre Einladungen ausschlug, und fragte nur noch selten, ob H. nach der Arbeit denn noch irgendwohin mitkommen wolle.

Henriette H. litt deswegen unter einem schlechten Gewissen, einem allgegenwärtigen Nagen in ihrer Brust. Aber heute war ihr Geburtstag! Wollte sie sich vorschreiben lassen, was sie zu tun hatte, ausgerechnet an ihrem Tag? Sie musste sich nicht zu etwas zwingen, dass sie nicht wollte. Und *Tada*: Henriette H.s Laune stieg mit dem sich manifestierenden Vorsatz, den Abend abzusagen und nach Hause zu verschwinden. Eben wandte sie sich an Soraya, um ihr die gute Nachricht mitzuteilen, da fuhr ein schnittiger Stadtflitzer vor. Es hupte zweimal, die Tür schwang auf. Zu spät.

Henriette H. seufzte und setzte sich auf den Vordersitz.

Frau Katara hupte und schimpfte im Feierabendverkehr: „Hat der seinen Führerschein im Internet gemacht oder was!“, „Rechts vor links, du Idiot!“, und so weiter. Den durch Soraya von der Rückbank angebotenen Center Shock lehnte sie höflich ab mit der Bemerkung, sie müsse ja noch fahren.

„Freut mich aber ungemein, dich endlich kennenzulernen, Soraya, und dass wir unsere Henriette mal aus dem Haus bekommen! Und ihr arbeitet zusammen? Also meine Kollegen sind Holzköpfe, da will ich mit keinem ins Theater gehen. Wir haben auch großes Glück, noch Karten bekommen zu haben, der Clown Valentin ist nur eine Woche in der Stadt und alles ist ausverkauft. Ich bin echt froh, dass wir das zusammen machen, Henriette, ich weiß, dass du deinen Geburtstag nicht magst. Wir müssen’s ja nicht an die große Glocke hängen, aber einmal will ich es doch sagen, also: Happy Birthday, Henriette, schön, dass es dich gibt. Und jetzt werd ich kein Wort mehr darüber verlieren, versprochen!“

„Danke“, bedankte sich Henriette H.

Es stimmte: Henriette H. hasste ihren Geburtstag. Seit sie denken konnte, hatten ihre Eltern Überraschungspartys organisiert. Doch niemand war je gekommen. Nur Frau Katara, ihre einzige Freundin, war immer da gewesen: in der Bowlinghalle, im Kino, im Schrebergarten, einen Partyhut auf dem Kopf und eine Tröte zwischen den Lippen. Ihr Blick voll Mitleid für ein miserabel gelauntes Geburtstagskind.

Henriette H.s Eltern hatten es jedes Jahr aufs Neue versucht. Sie schienen nicht begreifen zu wollen, dass keines der anderen Kinder kommen würde. In den ersten Jahren war H. noch verletzt gewesen von ihrer gespielten Fröhlichkeit, später fühlte sie sich gedemütigt. An ihrem 14. Geburtstag war sie weggelaufen, sodass Frau Katara allein mit den Eltern feiern musste. Es war eine Genugtuung gewesen und H.s bislang bester Geburtstag. Eine kleine Rache an ihren Eltern. Und an Frau Katara, die sie stets mit den Peinlichkeiten ihrer Kindheit in Verbindung brachte.

H. wusste, dass Frau Katara keine Schuld trug, doch das Mitleid in ihren Augen war nicht auszuhalten. Es hatte sich auf ewig in Henriette H. eingebrannt und das war der Grund – das wusste H. – , dass sie sich nach der Schule aus den Augen verloren hatten. Erst seit einem Jahr hatten sie wieder mehr Kontakt.

„Von mir übrigens auch danke für die Einladung“, warf Soraya ein, bevor Frau Katara wieder Luft geholt hatte. „Hab schon öfter versucht, Karten für den Clown Valentin zu bekommen. Erfolglos.“

„Ja, das haben wir dem Thomas zu verdanken. Kennst du den noch, Henriette? Doch, der war in der C-Klasse, so ein Langer, war immer total gut in Physik. Der ist dann Pfarrer geworden. Und dazu habe ich tolle Neuigkeiten. Nächstes Jahr werden wir … jetzt fahr doch endlich!“ Frau Katara hämmerte auf die Hupe. „Hallo! Wartest du auf die Erlaubnis vom Straßenverkehrsamt? Es ist grün!“

Henriette H. bekam Kopfschmerzen. Das war ihr zu hektisch. Sie wollte nach Hause. Sie erinnerte sich an Thomas. „Ja, Thomas,“ sagte Henriette H. „Tommy the Schnitzel wurde der immer genannt. Weil der 23 Schnitzel beim Schnitzelwettessen verdrückt hat. Der Dulli ist Pfarrer geworden? Kann der überhaupt was anderes als Schnitzel essen?“

„Ist euch mal aufgefallen“, sagte Soraya, „dass so Gottesleute immer absurd weiche Hände haben? Gruselig.“

Frau Katara überging den Kommentar. Sie wirkte gekränkt. „Ja, der kann so einiges! Und, was ich eigentlich erzählen wollte: Wir sind verlobt, der Thomas und ich.“

„Du heiratest?“ Henriette H. war fassungslos. „Schnitzel Tommy aus der C und einen Pfarrer noch dazu? Verarsch mich doch nicht.“

Soraya murmelte auf der Rückbank: „Dürfen Pfarrer überhaupt heiraten?“

„Natürlich dürfen Pfarrer heiraten“, schnappte Frau Katara in den Rückspiegel. „Und eigentlich wollte ich dich fragen, Henriette, ob du meine Trauzeugin sein willst. Weil du meine älteste Freundin bist. Aber das spar ich mir erstmal.“

Es wurde still auf den vorderen Plätzen. Auf der Rückbank kicherte Soraya leise. Sie fand die Vorstellung wohl witzig: ein Pfarrer, der heiratet. H. wünschte, sie würde damit aufhören.

Frau Katara sah angestrengt auf die Straße. An der Hand, die das Lenkrad hielt, bemerkte H. den Verlobungsring: Er war schlicht, aber fein gearbeitet, in Gold und Altrosa, glänzend wie ein Center Shock in der Sonne. H. spürte wieder den künstlichen Geschmack der Füllung im Mund, ihr wurde übel und sie konnte den Blick nicht vom Ring wenden, der sie vorwurfsvoll anzustarren schien. H. wusste, dass sie etwas sagen sollte, konnte aber nicht. Die Stille zwischen ihr und Frau Katara drückte auf ihr Gehirn und wurde mit jeder Sekunde schwerer, dazwischen drängte sich das Kichern Sorayas, es wurde immer lauter, schriller, blähte sich in H.s Kopf auf und H.s Ohren begannen zu sausen. Sie musste nachdenken, was sie sagen könnte, doch ihre Synapsen verknoteten sich, verkanteten sich ineinander, rissen entzwei, der Ring blinzelte sie wütend an und sie wünschte, er würde sich Beinchen wachsen lassen und kopfüber aus dem offenen Fenster springen.

Frau Katara hupte. Und fluchte. Und H. war wieder da. Sie murmelte eine Entschuldigung. Beglückwünschte zur Verlobung. Soraya schloss sich an.

Doch Frau Katara winkte ab. „Schon gut, er war ja auch ein Trottel, früher. Du musst ihn halt erstmal kennenlernen. Jedenfalls hat er uns die Karten umsonst geklärt, es hat schon Vorteile, einen Geistlichen zu daten. Leider kann er heute nicht, aber dafür habe ich Herrn Varga eingeladen, ein alter Freund von mir, den treffen wir vorm Theater. Ich hoffe, das ist in Ordnung, Henriette, aber ich glaube, ihr beiden werdet euch gut verstehen. Der hat den Clown Valentin vor Jahren schonmal gesehen und ist begeistert. Herr Varga ist übrigens auch ein toller Mensch, ihr werdet den ja gleich kennenlernen. Freu mich richtig, dass der mitkommt. Der Mann ist ungemein tierlieb und super sensibel …“

Sie fanden Herr Varga wie versprochen auf dem Vorplatz des Theaters, allerdings entsprach er gerade nicht Frau Kataras Beschreibung. Er kochte offenbar vor Wut und schrie herum. Seine tellergroßen Pranken stießen in die Luft, wedelten vor dem Gesicht eines verdutzten Mannes, der die Leine eines pinkelnden Hundes in seiner viel kleineren Hand hielt, und packten ihn am Kragen. Eine Umstehende mischte sich ein, der bärenhafte Herr Varga schob sie beiseite und schon bildete sich eine Traube um die Streitenden.

Henriette H. konnte fast die Speichelspritzer sehen, die auf die Zuschauenden niederregneten und auf den Hund, der zu jaulen begann.

„Schonmal drüber nachgedacht, du Arschloch, wie es dem armen Tier da drin geht? Mit den Lichtern, oder was, und der Dunkelheit und dem Lärm? Meinst du, das macht dem Spaß, unterm Sitz zu hocken und das auszuhalten, wenn der Saal klatscht, wenn die Leute mit den Füßen trampeln. Was soll denn ein Hund im Theater, oder was!“

„Ich … will doch gar nicht ins Theater … nur mal raus gehen“, kam es von dem Herrchen.

„Was hat sein Aussehen damit zu tun? Ist dir wohl nicht schön genug, dein kleines Spielzeug! Nur schöne Hunde dürfen ins Theater, oder was!“

Jetzt wurde der andere doch säuerlich: „Rausgehen! Nicht Aussehen! Gassi!“

„Ach so.“

Frau Katara hatte Herrn Varga erreicht. Sie drehte seinen Kopf zu sich und redete beruhigend auf ihn ein. Henriette H. hielt sich einige Schritte entfernt in dem Versuch, unbeteiligt zu wirken. Soraya hatte sich lachend unter die Menge gemischt und buhte, wenngleich auch nicht ersichtlich war, wen sie damit meinte.

Als sich die Situation beruhigt hatte, zerstreuten sich die Leute. Herr Varga stellte sich tatsächlich als sensibler, ruhiger (und sehr tierfreundlicher) Mensch heraus. Mit der Wut ließ seine Körperspannung nach, sodass er um zwei Köpfe schrumpfte und eine gebeugte Haltung einnahm, die er für den Rest des Abends beibehalten sollte. Falten knitterten um seine Augen, als er den Hundebesitzer abermals um Verzeihung bat: Er wisse nicht, was in ihn gefahren sei, er sei doch sonst so friedvoll, habe einen ganz schlechten Tag gehabt, es sei natürlich gutes Recht, einen Hund ins Theater zu begleiten.

„Ich will ja gar nicht ins Theater!“, schnauzte der Hundebesitzer und zog ab.

Soraya organisierte Getränke und die Gruppe versammelte sich an einer der Fensterbänke des Gebäudes, um die Gläser darauf abzustellen. Frau Katara rauchte eine dünne Zigarette. Henriette H. betrachtete die Leute. Soraya fragte Herrn Varga, was da los gewesen war. Der erzählte von den Meerschweinchen seiner Kindheit, von den Geschwisterchen frisiert und geföhnt, gebadet und angekleidet, dass er Mitleid gehabt hatte mit den armen Tierchen, aber niemand auf ihn gehört hätte. Das eine war in einer Tür eingeklemmt gestorben, das zweite ertrunken, ein anderes war auf einem Regenbogen ins gelobte Land geritten. Zumindest war ihm das so zugetragen worden. Danach hatten sie drei neue Meerschweinchen bekommen, doch auch die waren auf kuriose und grausame Weise gestorben und Herr Varga entschuldigte sich erneut, erklärte, dass ihn Tiermisshandlung so wütend mache und dass er an sich arbeiten wolle.

Alle nickten und sagten: „Ist ja gut.“ Und Henriette H. hoffte, dass dieser Clown Valentin keine Tiere im Repertoire hatte. Die Glocke erklang und die Menge strömte in das Gebäude. Das Stück sollte beginnen.

Henriette H. war schon einmal hier gewesen, erkannte den Theatersaal aber kaum wieder. Die Bühne war verschwunden, die Sitze reihten sich wie in einem Zirkuszelt rund um die Manege. Henriette H. wählte den Platz am Gang, damit sie abhauen konnte, wenn sich die Unlust einschlich. Herr Varga blickte ehrfürchtig auf die Engel an den Wänden und den Kronleuchter an der Decke. Neben ihm berichtete Frau Katara, was sie über die Show Valentins gehört hatte. Soraya snackte Popcorn aus einer Papiertüte.

Henriette H. fühlte sich hier nicht wohl. Es ist mein Geburtstag. Ich entscheide. Nicht Frau Katara. Was bildet die sich ein, über meinen Geburtstag zu bestimmen. Und wieso ist Soraya der Meinung, von mir enttäuscht sein zu dürfen, wenn ich absage, ausgerechnet heute? An meinem Tag. Henriette H. wurde sauer auf die beiden und stemmte sich in den Sitz, um aufzustehen und hinauszuschleichen, durch den Gang, das Foyer, die Straßen nach Hause, als die Lichter erloschen. Wieder zu spät.

Das Getuschel auf den Rängen erstarb. Spotlights warfen ihr Licht in die Manege. Wogende Nebelschwaden. Einiges Herumleuchten. Endlich fanden die Scheinwerfer jemanden: eine Person, die im Rauch nur als Schemen erkennbar war.

Person: „Verehrte Leute! Ihr seid heute hier erschienen, um mir als Publikum zu dienen, tausend Jahre blieb ich stumm, doch ab heute will ich singen, und beginne mit einigen Dingen, die mir auf dem Herzen liegen: Ihr Menschen seid schrecklich dumm, und doch muss ich euch lieben. Ihr wohnt im Delirium seit den Tagen im Garten, nicht ahnend, dass sie euch die Freiheit nahmen.

Betend auf den Knien wollt ihr bei Gott über Satan klagen, obwohl sie euch beide fleißig plagen. Ihr müsstet ihnen auf ewig entsagen, um ihnen ein wenig zu schaden, doch so beengt ist euer Verstehen, zu beschränkt die menschliche Sicht, um mehr als Schemen zu sehen.

Und deswegen bin ich da, will einen Teil des Weges mit euch gehen, wir wollen gemeinsam wagen, ihnen ein Schnippchen zu schlagen, setzen heute Abend in einem Theater den ersten Stich: Wir brauchen eine Maria, in der Mitte platziert zwischen Schatten und Licht. Wer meldet sich freiwillig?“

Niemand meldete sich freiwillig.

Person: „Ah, da haben wir sie ja: Einen warmen Applaus für Henriette H.!“

„Auf keinen Fall“, sagte Henriette H. und lachte. Doch schon wurde sie am Arm gepackt und vom Sitz gezogen. Sie konnte nicht erkennen, wer das war, doch als sie die Hand abschütteln wollte, die sie mit festem Griff hielt, fühlte sie, dass sie weich war und haarig.

Vielleicht ein Wollhandschuh, dachte sie noch, während sie schon auf einem sandigen Boden landete. Sie rappelte sich auf und eine Musik erklang, anders als sie je eine gehört hatte. Die Töne flossen in ihren Mund, schabten über die Zunge und die Kehle hinunter, bis in ihr Herz drangen sie und setzten sich dort fest, krallten sich an schleimige Innenwände, bauten kleine Nester und schlummerten ein – so ungefähr fühlte sich das an. Die Melodie wurde leiser und verschwand.

H. blinzelte. Das Publikum war nicht mehr zu sehen, bloß das Licht, sich durch dichte Nebelschwaden kämpfend, von links hörte sie ein Geräusch und schreckte herum. Nichts zu sehen. Aber etwas knurrte: grollend und bedrohlich und brachte den Brustkorb zum Erbeben.

Henriette H. spähte in den Nebel. Zuerst wurde die Schnauze sichtbar, dann der Kopf mit der Mähne, der muskulöse Körper. Ein Löwe schlich auf H. zu. Und er fauchte gefährlich, dann knallte es hinter ihm und H. erkannte eine kleine Gestalt, die eine Peitsche über dem Löwen schwang. *Zitsch!*

Was Herr Varga dazu wohl sagt, dachte sie, dass hier Löwen ausgepeitscht werden, doch schon sprang sie zur Seite, als etwas scheppernd auf dem Boden landete: Zu ihrer Linken stand nun ein runder Käfig mit offener Tür, drei Meter hoch, aus hellblauen Metallstangen, in dessen Mitte eine Holzbank an zwei Seilen hing. Der Löwe, unbeeindruckt, taperte weiter auf sie zu, den peitschenden Dompteur hinter sich. *Zitsch!*

H. wich langsam zurück, um das Tier nicht zu erschrecken, und blickte sich um. Zu ihrer Rechten stand ein kleiner Tisch. Sie trat näher und sah, dass darauf ein Jagdgewehr mit einem verzierten Holzschaft lag.

„Was zum Teufel …“, sagte Henriette H. laut.

Person: „Ganz richtig erkannt! Alle warten gespannt, welche Wahl Maria wird treffen: den Löwen töten oder in den Käfig sich retten? Befreiung durch Mord oder Sicherheit in Ketten?“

H.s Blickfeld verzerrte sich mit dem Klang der Stimme. Ein Bild drängelte sich vor, verschwommen und zittrig. Eine Gestalt, boshaftes Grinsen, Zylinder auf dem Kopf. Schon verblasste es und H. hörte das Knurren des Löwen, den Knall der Peitsche. „Was soll denn das?!“, rief sie. Ihre Stimme weit entfernt. „Hör doch auf zu peitschen, du Arschloch! Ich mach nicht mit bei eurem perversen Spiel. Ich gehe!“

Niemand reagierte. Der Löwe schlich auf und ab, H. fest im Blick, und undeutliche Schemen waberten im Nebel.

Person: „Maria, du musst dich entscheiden. Lass das Raubtier leiden, versenke die Kugel in seinen Eingeweiden. Oder sperr dich in den Käfig ein.“

„Was ist das hier für ein Zirkus!“, schrie Henriette H. aus voller Kehle. Dumpf hallte ihr Schrei wider (und wider und wider) und verging. Sie schrie noch einmal. Zur Antwort brüllte der Löwe so laut, dass H.s Körper bis in die Haarspitzen vibrierte, dahinter knallte die Peitsche und die Bestie duckte sich zum Angriff.

H. packte das Gewehr und zielte. Im Visier konnte sie den Dompteur klar erkennen: Es war ein kleiner nackter Mann. Seine Haut fluoreszierte in Grün und Blau, unterbrochen von ockerfarbenen Flecken. Doch es war keine Haut, sondern … Fell? Schiefe, ungleichmäßige Zähne – Hauer? – ragten aus seinem Maul nach oben. Die feucht glänzende Nase zuckte und ein dreieckiges Ohr wedelte vor und zurück. Grimmig schwang er die Peitsche. Doch in dem schielenden Blick lag etwas Sanftes …

„Ich schieße!“, rief H. und wieder wurde ihre Stimme vom Nebel verschluckt. „Auf den Dompteur!“

Alles löste sich auf. Der Löwe verschwand, der Käfig verpuffte in pinken Rauchwolken. Jemand nahm ihr das Gewehr aus der Hand, als der Nebel sich lichtete und das Publikum wieder sichtbar wurde. Eine fellige Pfote ergriff H.s Arm und geleitete sie zu ihrem Platz zurück. Sie setzte sich. Das Publikum applaudierte. Der Dompteur verschwand. Der Theatersaal erhellte sich wieder.

„Da bist du ja wieder. Die Vorstellung fängt gleich an“, flüsterte Frau Katara, über Soraya gebeugt. Herr Varga lächelte freundlich. Soraya warf ein Popcorn in die Höhe, um es mit dem Mund aus der Luft zu fangen. Sie taten, als sei nichts gewesen.

Henriette H. atmete tief durch. „Was soll der Mist!“, zischte sie. „Ihr wisst doch, dass ich sowas hasse. Du hast mir versprochen, zu meinem Geburtstag nichts weiter zu unternehmen, Frau Katara. Gerade von dir hätte ich Besseres erwartet.“

Herr Varga sah an den Wänden empor. Soraya tat unbeteiligt und aß ihr Popcorn. Frau Katara aber blickte fragend zurück. Warum stellst du dich so an, schien ihr Blick zu sagen, ist doch halb so wild.

Wieder sah Henriette H. diesen verständigen, mitfühlenden Blick vor sich, den Blick ihrer Kindheit. Dass die anderen Kinder nicht zu ihren Geburtstagen gekommen waren, hatte H. nie gestört. Sie hatte die Blagen genauso wenig gemocht wie andersrum. Was sie verletzte, war das Mitleid ihrer Eltern, die immer wieder versuchten, ihr die unliebsame Gesellschaft aufzudrängen. Und das Mitleid Frau Kataras, deren eigene Geburtstage stets fröhliche Feste gewesen waren.

Das heute war auf ihrem Mist gewachsen, das war klar. Schon als Kind hatte sie Entscheidungen für H. getroffen. Frau Katara konnte nicht akzeptieren, dass H. ihren Geburtstag nicht mochte und wollte ihn neu besetzen, positiv. Warum konnte sie es nicht einfach gutsein lassen? Wieso musste sie sich immer einmischen? Und was sollte das für eine Überraschung gewesen sein? Spaß hatte sie dabei keinen gehabt. Im Gegenteil, Henriette H. fühlte sich gedemütigt wie damals als Kind.

H. wollte gerade fragen, warum sie jetzt alle so taten, als sei nichts gewesen, und ob Herr Varga nichts dagegen gehabt hätte mit dem Löwen, von wegen Tierschutz, und ob sie denn alle den Arsch offen hätten, und so weiter. Doch zu spät, wieder einmal: Der Saal wurde abgedunkelt. Spotlights auf den Clown. Ein Winken ins Publikum. Das Stück begann.

Die Menge tobt, allseits Trubel, der Clown wird gelobt und bejubelt, während er holpert und stolpert, geschickt jongliert und geniert blickt er in die Menge, wenn er über die Füße fällt und so gekonnt seine Würde verliert: Die Tribüne brüllt, das Publikum lacht laut, der Clown so brillant, es ihnen die Fassung raubt, kurz: Die Menge ist begeistert.

Nur einer, der lacht leiser. Ein Mann im Anzug, das Sakko ist grün, das Hemd lila und hin und wieder huscht ein Lächeln über sein Gesicht, von dem niemand je sagen könnte, wie alt es ist; faltig, glatt, jetzt uralt und gleich wieder jung, wenn in seinen Augen der Schalk aufblitzt, als hielte er alle anderen für dumm, als verstünde er als einziger den Witz: als wüsste er, was andere nicht wissen.

Dort sitzt er in seiner komischen Montur, ausgeblichen und verschlissen, trägt über dem wirren schwarzen Schopf einen Zylinder auf dem Kopf, burgunderrot; in der Hand einen Spazierstock, mit dem er statt zu klatschen auf den Boden klopft als Zeichen seines Lobs. Denn er liebt die Albernheit, sie ist ihm eine Wonne, er liebt Musik und Spaß und Heiterkeit, und seine Zeit ist fast gekommen.

Was er tief begehrt, ist bald so weit – er hört sie schon, die Trommeln. Der Blick jetzt von der Bühne schweift, zur wütenden Frau im blauen Kleid: Ihr Geist ist grau und fast bereit für den großen Umbruch der kommenden Zeit.

Ein wenig Geduld noch, ein bisschen unterwürfig sein, es braucht Beherrschung und Geschicklichkeit, doch dies Theater bereitet ihm auch einiges Entzücken. Ein wenig List, ein bisschen Tücke und es wird ihm nicht missglücken, denn sein Element ist der Hokuspokus. Er will das Ende seiner Knechtschaft und das Chaos noch als Bonus, die Kamera richtet ihren Fokus nun auf ihn, den Harlekin der Nacht, der jetzt irrsinnig lacht, ein Meister seines Fachs: der Gott des Schabernacks.

Kapitel 2

Ora et labora

An Henriette H.s Arbeitsstätte waren die Telefone im Dauerbetrieb. „Willkommen bei ICNFSE: International Consulting Networks Flexible Services for Everyone, mein Name ist Hein, was kann ich für Sie tun?“

„Willkommen bei ICNFSE: International Consulting Networks …“

„… mein Name ist Klein, was kann ich für Sie tun?“

„… Flexible Services for Everyone …“

„… was kann ich für Sie tun?“

Ein gigantischer Saal mit einer Wendeltreppe in der Mitte. Kreuz und quer laufen Personen von Tisch zu Tisch. Ihre lauten Stimmen vermischen sich zu einem chaotischen Gewirr. Telefone klingeln schrill aus allen Ecken. Wer zum ersten Mal diesen Raum betritt, bleibt unwillkürlich eine Weile wie angewurzelt stehen, während die Sinne versuchen, das hektische Treiben zu verarbeiten.

Nach einigen Momenten heben sich gewisse Muster heraus, die das Chaos in eine Ordnung überführen: Die Stimmen werden zu einem Chor, in geübtem Kanon sich unablässig wiederholend. Das Klanggewirr hebt und senkt sich im wellenförmigen Rhythmus wie ein pulsierender Herzschlag. Immer wieder ebbt es ab. Plötzlich ist einen Atemzug lang nichts zu hören als das leise Tippen auf Tastaturen, bis ein Telefon die Stille durchschneidet und die nächste Flut eingehender Anrufe einläutet. Innerhalb weniger Sekunden schwillt die Geräuschkulisse kräftig an, Angestellte rufen sich etwas zu, lachen womöglich über das Gesagte, während sie die Mikrofone ihrer Headsets mit der Hand abschirmen.

An einigen der grauen Stellwände, welche die einzelnen Arbeitsplätze voneinander trennen, kleben Fotos von Kindern und Erwachsenen, an anderen wiederum hängen Postkarten: „Der schönste Abend ist der Feierabend!“ Und: „Alles muss man selber machen lassen.“ Manchmal Eintrittskarten: Zwei-Personen-Ticket für die Minesweeper-WM in Rostock.

Hunderte solcher Schreibtische füllen den Saal, wirken wie zufällig platziert. Zu jedem gehört ein eigener Computer, eine kleine Lampe und ein Telefon, das frustrierend antik wirkt im Kontrast zu den modernen Bildschirmen. Das hat einen einfachen Grund: Die Telefone werden nicht mehr lange gebraucht. Der Fünf-Jahres-Plan des Unternehmens sieht vor, jedes Telefon – wie im Übrigen auch jeden Drucker – überflüssig zu machen.

Die gemauerte Rückwand des Saals wird von Seitenwänden flankiert, in denen jeweils eine breite Doppeltür eingelassen ist. An den Wandflächen hängen riesige Poster: „Ein Tag ohne Lächeln ist wie ein Bürostuhl ohne Lehne.“ Oder: „Freundlichkeit im Übermaß ist der Firma größter Schatz.“

Nur an der Stirnseite wird graues Tageslicht durch die beiden Fensterfronten hereingelassen, die wie zwei gigantische Augen in den Saal blicken. Scheint an seltenen Tagen einmal die Sonne und droht, den Arbeitsfluss zu stören, verfärbt sich das Glas auf Knopfdruck milchig-weiß.

Folgt der Blick der Wendeltreppe in der Mitte des Saals nach oben, hängt dort ein ovaler Raum einige Meter unter der Decke, zugänglich nur über die metallenen Stufen. Die Kapsel ist rundum verglast, allerdings bleibt ihr Inneres verborgen.

Merke: Kontrolle lässt sich nicht überwachen.

Hier sitzt das Gehirn des Unternehmens, von hier aus lässt sich der gesamte Saal überblicken und die räumliche Ordnung der darunterliegenden Ebene wird offenbar. Sie ist kreisförmig organisiert. Im Zentrum, direkt unter der Kapsel, hebt sich ein Tisch durch seine Größe und die vielen Bildschirme von den übrigen ab: Dort sitzen die drei Supervisors. Umringt wird dieser erste Zirkel von dem zweiten Zirkel, der sieben Gruppen mit jeweils zwölf Arbeitsplätzen umfasst. In jeder der Gruppen sitzen mittig die Gruppen-Coaches; ihre Stühle drehen sich häufig auf der Stelle, um Nachfragen aus ihrer Abteilung zu beantworten und Aufträge zu verteilen.

Hinter dem zweiten Zirkel bilden mehr und kleinere Teams den dritten Zirkel, der wiederum vom vierten Zirkel umschlossen wird, der aus noch mehr und noch kleineren Gruppen besteht, und so weiter.

Von der Kapsel aus betrachtet erschließt sich der Organismus in seiner Vollständigkeit. So ergeben die Bewegungsabläufe plötzlich Sinn: Alle neuen Anfragen, die bei ICNFSE eintreffen, werden zuerst von den Mitarbeitenden im äußersten Ring bearbeitet. Die Leiter und Leiterinnen der peripheren Gruppen laufen mit Papierstapeln beladen emsig zwischen ihrem und dem nächstgrößeren Zirkel hin und her. Die Coaches dieser Gruppe wiederum bewegen sich zwischen ihrer und der nächstgrößeren, wenngleich nicht gar so oft. Je näher die Gruppen der Mitte des Saals sind, desto seltener macht sich jemand auf den Weg.

Im innersten Zirkel schließlich verlässt fast nie jemand den Arbeitsplatz. Nur äußerst selten erhebt sich ein Supervisor, nimmt einen Stapel Dokumente und steigt kreiselnd die Wendeltreppe hinauf, um in der Kapsel etwas abzugeben, zu erfragen, zu beraten.

Henriette H. nahm von der 1st-Circel-Führungskraft die Dokumente entgegen, besah sie sich in Ruhe, beantwortete und fragte nach, bedankte sich und entließ die Person wieder in das Treiben dort unten. „Wir müssen unbedingt etwas gegen diese Papierflut tun“, sagte sie.

Ihre Kollegin Soraya, die an dem anderen der beiden großen Schreibtische saß, die sich in der Mitte der Kapsel gegenüberstanden, erwiderte: „Wir sind doch auf einem guten Weg, Henriette. Du hast schon einiges erreicht in den letzten Monaten, es werden täglich weniger Blätter.“

Henriette H. setzte zur Erwiderung an, wobei Soraya sie sogleich unterbrach: „Ja, ich weiß. Die Zukunft ist papierfrei, kostet alles Geld, Umwelt, ich weiß. Du sagst das jeden Tag. Aber das funktioniert halt nicht von heut auf morgen. Sag mal, sollen wir noch mal über gestern reden? Du warst verschwunden nach dem Stück. Ist alles in Ordnung?“

„Ja“, sagte Henriette H. langsam. „Ach, ich hatte einfach keine Lust mehr. War müde und das war mir alles zu viel da.“

Noch im Abschlussapplaus des Stücks war Henriette H. vom Sitz in den Gang gehuscht. Sie war durch das Foyer nach draußen und auf direktem Weg zu ihrer Wohnung gelaufen. Ohne Umschweife hatte sie sich an den Schreibtisch gesetzt und sich bis in die tiefe Nacht mit ihrer eigenen Arbeit beschäftigt.

Auf dem Weg zu ICNFSE am Morgen war ihr klargeworden, dass sie auf Soraya nicht sauer sein wollte. Zum einen saßen sie den ganzen Tag zusammen in einer Glaskapsel. Zum anderen lag die Schuld an dem schrecklichen Theaterbesuch bei Frau Katara. Sie hatte die Überraschung geplant, das lag auf der Hand. Als Henriette H. in die Manege geführt worden war, hatte sie Soraya und Herrn Varga gebeten, so zu tun, als sei nichts gewesen. Soraya wollte sich da nicht einmischen und hatte mitgespielt. Das verstand Henriette H. und nahm es ihr nicht übel. Aber sie fühlte sich auch angegriffen und verletzt. Sie wollte nicht darüber reden, würde Frau Katara aus dem Weg gehen und die Geschichte vergessen. Sie sagte: „Entschuldige, dass ich dich da alleingelassen habe.“

„Alles gut.“ Soraya lächelte. „Ich habe noch ein Bier mit den beiden getrunken. Glaube, Frau Katara war beleidigt, dass du abgehauen bist. Und dann hat sie elendig lange von ihrem Priester erzählt, dem Schnitzel Tommy.“

Henriette H. verdrehte die Augen.

Soraya grinste. „Und Herr Varga hat eigentlich kaum mehr geredet. Seltsamer Typ. Aber nett.“

„Wie er den Hundebesitzer angeschnauzt hat. Ein Hund im Theater!“ Sie lachten gemeinsam. Henriette H. war froh, dass sich ihre befreite Stimmung wieder eingestellt hatte. „Aber das Stück von Valentin war klasse! Dachte nicht, dass es so originelle Clowns gibt.“

„Stimmt“, sagte Soraya begeistert, „der hat überraschend wenig Klischees benutzt, von wegen so einer Mann-Frau-Masche oder dem dummen August. Und diese Sache mit dem verlorenen Gesicht. Hammer.“

„Oh, da musste ich fast weinen. So eine Geschichte zu erzählen, ohne ein einziges Wort zu benutzen. Das ist schon beeindruckend.“

„Und was für eine Körperspannung der haben muss … Och!“, rief Soraya plötzlich aus. „K12 ist schon wieder offline. Sorry, aber langsam nervt es.“ Soraya starrte auf ein großes Pult, das neben ihrem Schreibtisch stand. Darauf waren unzählige Lämpchen reihenförmig angebracht. Jedes Licht war einer Person zugeteilt: Leuchtete es grün, wartete das Telefon auf einen Anruf, gelbe Lämpchen befanden sich gerade im Gespräch. Rot bedeutete, dass das Telefon ausgeschaltet war. Soraya tippte etwas in die Tastatur und besah sich auf einem ihrer Bildschirme das Protokoll der K12 genannten Person.

„So häufig kann doch niemand pinkeln!“ Sie stand auf, ging zur Wand und blickte durch das Glas nach unten. „Die sitzt sogar noch da. Was macht die denn, spielt Solitär oder was?“

„Geht nicht“, sagte Henriette H., „Habe ich auf allen PCs gesperrt. Außer auf meinem.“ Sie lächelte.

Soraya kicherte. „Dreist. Irgendwas muss ich mit der machen, wenn K1 sie nicht in den Griff bekommt. Der ist zu nett zu seinen Leuten.“

„Schreib ihr doch eine Warnung auf den Bildschirm.“

„Ja … hab ich schon öfter gemacht, das scheint nicht zu wirken. Außerdem sind wir immer noch Menschen. Ich finde es besser, wenn K1 das persönlich regelt.“ Einen Moment lang sah Soraya nachdenklich aus dem Fenster. Dann setzte sie sich zurück an den Schreibtisch. „Ich gebe F1 Bescheid. Soll sie Druck auf K1 ausüben. Der soll das endlich regeln, sonst fliegt K12 halt.“

„Mmh“, antwortete Henriette H. Gedankenverloren starrte sie auf einen ihrer Bildschirme. Es war ein Problem der Kontrolle. Kein unmittelbares Problem, aber doch eines, mit dem sie sich früher oder später beschäftigen musste. Sie stand auf und ging zum Fenster, sah hinab auf das Heer aus Angestellten. Tausende Anrufe gingen hier täglich ein, Henriette H. wusste die genaue Zahl, musste sie sogar wissen, das war ihr Job. Dieser Saal war ein internationaler Knotenpunkt der Kommunikation, verbunden mit verschiedensten Orten auf der ganzen Welt. Als Henriette H. vor einigen Jahren hier angefangen hatte, saß sie an einem Schreibtisch der unteren Ebene und beantwortete Anrufe aus neun verschiedenen Ländern. Damals hatte sie sich nicht viel aus dem Job gemacht, aber weil sie mehrere Sprachen sprach und ein Talent für Organisation hatte, war sie schnell aufgestiegen. Schließlich wurde sie beauftragt, ebenjenes System zu entwerfen, das sich hier in der räumlichen Ordnung wiederfand.

Manchmal, wenn Henriette H. aus einer konzentrierten Arbeitsphase schreckte, hielt sie den Rhythmus der eingehenden Anrufe für ihren eigenen Herzschlag. Dann stand sie auf, blickte auf die Struktur, die sie erschaffen hatte und merkte, dass sie selbst ein Teil davon war. Der Gedanke, dass es so viel größer war als sie, machte H. Angst und Hoffnung.

Auch das Chatsystem entstammte Henriette H.s Feder: Für jede Firma, die von ICNFSE betreut wurde, gab es eine eigene Maske, einen Chatbot, der die einfachsten Anfragen automatisch beantwortete, alle weiteren vorsortierte und in einen Live-Chat weiterleitete.

Organisation bedeutet Effizienz: den Massen helfen mit Informationen, die sie genauso gut selbst hätten suchen können; wer allerdings ein spezifisches Problem hatte, wurde in die nächste Kommunikationsstufe verwiesen.

Der Weg einer Anfrage führte durch den Chatbot in den Live-Chat, von dort zu einem Telefonat. Wusste die zuständige Person keine Lösung, gab sie das Problem an die Gruppenleitung, die es unter Umständen an die nächstgrößere Zentrale weiterschob. Bis eine ungelöste Fragestellung bei Henriette H. und Soraya im Kontrollzentrum landete, konnte es mitunter sehr lange dauern. Denn je weiter eine Bitte um Auskunft in die inneren Kreise vorstieß, desto langsamer kam sie voran. Für die Anfragenden war es ein zäher Kampf gegen die Bürokratie, dessen war sich Henriette H. bewusst. Aber so war es eben effizient – zumindest für das Gros der Anfragen.

Die entscheidende Herausforderung für Henriette H. war die Vielfalt der Sprachen. Nicht bei allen Unternehmen, die von ICNFSE betreut wurden, war Englisch die Hauptsprache. Für eine optimale Organisation war allerdings Vereinheitlichung notwendig. Die Einbindung verschiedener Sprachen aber schränkte Henriette H. immens dabei ein, das System effizienter zu gestalten. Seit geraumer Zeit arbeitete sie daher an einem umfassenden Übersetzungsprogramm. Es waren zwar bereits einige im Umlauf, auf die H. ihre Arbeit stützte. Doch wollte sie über die Übersetzung von einzelnen Wörtern hinausgelangen – das Programm sollte auch Sinnzusammenhänge einbeziehen und verarbeiten, es sollte lernen und sich autark verbessern. Für diese Programmentwicklung wurde H. von ICNFSE mit reichlich Geldern ausgestattet.

Für Henriette H. allerdings war ihr Projekt längst über den Zweck bei ICNFSE hinausgewachsen und die dadurch entstandenen Fragen beschäftigten sie in jeder freien Minute: Wer definierte bei Übersetzungen die damit verbundenen Bedeutungsinhalte? Lag darin nicht auch eine gewisse Macht, eine Form der Kontrolle? Das Wort Versicherungsschutz zum Beispiel konnte in verschiedenen Sprachen und Kontexten eine unterschiedliche Konnotation haben. Er konnte als gut oder schlecht wahrgenommen werden, freiwillig oder unter Zwang umgesetzt, wurde als Auswuchs korrupter Strukturen gesehen oder als Ausdruck gesunder, staatlicher Fürsorge. Irgendwo anders bedeutete es: Schutz vor der Versicherung.

Um einen Begriff in alle Sprachen übersetzbar zu machen, musste es daher vorher eine einheitliche Definition geben. Doch wer bestimmte das? War es überhaupt möglich, eine flächenübergreifende, einheitliche Definition durchzusetzen? Und wie veränderten sich dadurch die Sprachen, die sich einer solchen Definition anpassten? Wurden sie reicher, ärmer, klarer verständlich oder gar gefährlich?

H. sah durch die blank geputzte Glasfront und entdeckte Soraya, die dort unten eindringlich mit der ausdauernd nickenden F1 sprach und anschließend wieder die Wendeltreppe hinaufstieg. H. hatte gar nicht bemerkt, dass Soraya den Raum verlassen hatte. Sie schüttelte die Fragen ab, die sie beschäftigten: Sie waren für ICNFSE nicht wichtig und konnten auf die kommenden Abende verschoben werden.