Die Menschheit hat den Verstand verloren - Astrid Lindgren - E-Book
SONDERANGEBOT

Die Menschheit hat den Verstand verloren E-Book

Astrid Lindgren

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein einzigartiges Zeitdokument von Astrid Lindgren "Wie ist es möglich, dass die Menschheit solche Qualen erleiden muss, und warum gibt es Krieg?" Astrid Lindgren hat unsere Kindheit geprägt. Mit Pippi Langstrumpf und Wir Kinder aus Bullerbü hat sie unseren Blick auf die Welt verändert. Ihre Geschichten handeln von Mut, Hoffnung, Liebe und Widerstand. Lange bevor diese Bücher entstanden, schrieb sie ihre Gedanken über das dunkelste Kapitel des 20. Jahrhunderts nieder: den Zweiten Weltkrieg. In ihren Tagebüchern schildert sie, wie Europa von Faschismus, Rassismus und Gewalt vergiftet wird. Nachdenklich und betroffen, aber auch mit dem so unverwechselbaren Tonfall stellt Astrid Lindgren in ihren Tagebüchern wichtige Fragen, die heute wieder von erschreckender Aktualität sind: Was ist gut und was ist böse? Was tun, wenn Fremdenfeindlichkeit und Rassismus das Denken und Handeln der Menschen bestimmen? Wie kann jeder Einzelne von uns Stellung beziehen? Neben dem Kriegsgeschehen erzählt sie von ihrem Familienleben und den ersten Schreibversuchen: 1944 schenkt sie ihrer Tochter das Manuskript von Pippi Langstrumpf zum Geburtstag. Das persönliche Zeitdokument einer sehr klugen Frau, die schon immer den Blick für das große Ganze hatte.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Astrid Lindgren

Die Menschheit hat den Verstand verloren

Tagebücher 1939–1945

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch und Gabriele Haefs

Ullstein

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Krigsdagböcker 1939-1945 bei Salikon Förlag, Stockholm mit einem Vorwort von Kerstin Ekman

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

Hinweise zu Urheberrechten

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten.

Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken, deshalb ist die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Widergabe ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Ullstein Buchverlage GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

ISBN 978-3-8437-1175-3

© 2015 by Astrid Lindgren / Saltkråkan AB © der deutschsprachigen Ausgabe 2015 by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin Umschlaggestaltung: Sabine Wimmer, Berlin Foto: © Anna Riwkin / Moderna Museet-Stockholm

E-Book: L42 Media Solutions Ltd., Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Astrid Lindgren, in den dreißiger Jahren.

Vorwort

Am 1. September 1939, als Deutschland Polen überfiel und den Zweiten Weltkrieg auslöste, schrieb Astrid Lindgren: »Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben.«

Damals war sie zweiunddreißig. Sie hatte zuvor als Sekretärin im »Königlichen Automobilclub« gearbeitet, wo sie ihren Ehemann Sture kennengelernt hatte, war Mutter zweier Kinder, und bis auf einige Kurzgeschichten in Zeitschriften hatte sie noch nichts veröffentlicht. Lindgren wohnte im Stadtteil Vasastan in Stockholm. Diese luftige, lichtdurchflutete Inselstadt versinnbildlicht das Lebensgefühl, das die sechs Kriegsjahre für Lindgren bestimmte. In den Tagebüchern beschreibt sie anschaulich ihr Oasen-Dasein, abgeschieden, aber halbwegs angenehm, eingeschränkt nur von Lebensmittelrationierungen, dem zeitweise lahmliegenden öffentlichen Verkehr, von Verdunkelungen, dem militärischen Bereitschaftsdienst des Mannes und steigenden Preisen. Sie lebte relativ sicher in einem Land, das der Krieg aussparte, vor dessen Grenzen die Tötungsmaschinerie haltmachte, obwohl die Fronten an allen Seiten näher rückten; durch den Überfall Polens, den sowjetischen Angriff auf Finnland, die Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Nazis, schließlich durch die sowjetische Übernahme des Baltikums, das vorher in deutscher Hand gewesen war. Überall hatte faschistischer und stalinistischer Terror Millionen ermordete Menschen zur Folge, Ausgebombte, Verhungerte, Gefallene. Aber Schweden, das auf einer der Landkarten, die Lindgren zur Orientierung dienten, unmarkiert blieb – eine helle Fläche –, war davon ausgenommen. Hier konnte man spazieren gehen im Park, Sonne und Frühlingsblüher genießen, Weihnachten feiern am festlichen, reichgedeckten Tisch. Und doch ist jeder Tag dieser Aufzeichnungen auch von der Angst geprägt, das friedliche Leben könnte jeden Moment ebenfalls der Krieg erfassen.

Die Neutralität Schwedens ermöglichte es Lindgren, eine Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg einzunehmen, die innerhalb des kriegsgeschüttelten Europas einzigartig war. Es ist der Blick derjenigen, die vom privilegierten Standpunkt der Verschonten aus die Katastrophe verfolgt und zugleich aus diesem unheimlichen Wunder des Verschontseins ein Gefühl der Verantwortung entwickelt: Lindgren hat sich lebenslang für den Frieden starkgemacht. Damit spiegelt sich in ihr die Rolle, die auch das politische Schweden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für sich angenommen hatte als unermüdliche Weltpolizei. »Über Frieden zu sprechen«, sagte Lindgren 1978, in ihrer Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, »heißt ja, über etwas zu sprechen, das es nicht gibt.«

Was Lindgren veranlasste, bei Ausbruch des Krieges ein Tagebuch anzulegen, ist aus den Aufzeichnungen nicht zu erfahren. In einem Interview gab sie später folgende Erklärung: »Zum ersten Mal hatte ich eine tiefe politische Überzeugung.« Die ganze Familie wurde in die Diskussion über das Kriegsgeschehen einbezogen, auch die Kinder sammelten Informationen, manchmal las Lindgren ihnen aus dem Tagebuch vor. Aus Zeitungen, dem Radio, mit Hilfe von Kartenmaterial und den Berichten von Flüchtlingen verschaffte sie sich ein Bild von Frontverläufen, scheiternden Friedensverhandlungen, Bombenangriffen. Die furchtbaren Auswirkungen, die das Kriegsgeschehen auf das Leben der Menschen hatte, führte ihr der »Schmuddeljob« vor Augen; seit 1940 arbeitete Lindgren abends in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes. Sie hatte in der Schule Deutsch gelernt und konnte die deutsche Post lesen, die aus den okkupierten Ländern kam oder aus Schweden. Ihre Aufgabe war es, die Briefe auf landeskritische Inhalte zu prüfen. Manchmal schrieb sie einen ab und nahm die Abschrift mit nach Hause, was streng verboten war.

»Niemand wollte es glauben.« Möglicherweise löste die Unvorstellbarkeit der Tatsache, in einem aufgeklärten Europa könne ein Land ein anderes einfach überfallen und annektieren, den Impuls aus, sich mit Hilfe eines Tagebuchs darüber klarzuwerden, was da eigentlich geschah. Denn schon damals, vor Beginn ihrer Karriere, hatte Lindgren die Begabung, auf scheinbar einfache Weise an Wesentliches zu rühren: »Deutschland und Russland haben das Land zwischen sich aufgeteilt. Man kann kaum glauben, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert passiert.« Eine Feststellung, die auch heute wieder, mehr als siebzig Jahre später, angesichts der Annektierung der Krim durch Russland erschreckend aktuell ist.

Der Satz, mit dem die Aufzeichnungen beginnen, nimmt den Tenor der späteren öffentlichen Debatte über den Zweiten Weltkrieg in Schweden vorweg. Denn trotz seiner Neutralität war das Land schuldhaft in den Krieg verstrickt. Und bis heute hat sich die schwedische Gesellschaft nicht ganz davon erholt. Man ist zu Recht stolz darauf, in den letzten fünfhundert Jahren keinen Krieg mehr auf dem eigenen Staatsgebiet erlebt zu haben. Das Land ist gewissermaßen geschichtsfrei in einer Welt, in der Geschichte sich als Abfolge kriegerischer Auseinandersetzungen darstellt. Ursache dafür ist ein tief im schwedischen Bewusstsein verankertes Prinzip des Maßhaltens, Abwägens und klugen Aushandelns, das sich mit dem Wort »undfallenhet« am besten beschreiben lässt; auf Deutsch Nachgiebigkeit, Wendigkeit, Entgegenkommen. Im Vergleich zu Deutschland, dessen Selbstverständnis gebrochen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts wahrgenommen werden muss, ist Schweden das unverletzte Land. Innerhalb Schwedens allerdings hatte man nach dem Zweiten Weltkrieg ein Schuldproblem, das gern beschwiegen wurde.

Angesichts der massenhaften Vernichtung der Juden in den Nachbarländern fiel die Rechtfertigung dafür schwer, die Kriegszeit nicht nur unbeschadet überstanden, sondern am Krieg sogar verdient zu haben. Schweden versorgte das faschistische Regime großzügig mit Krediten und Eisenerz. König Gustaf V. verlieh Hermann Göring höchste schwedische Militärorden. Auch für sich selbst stellt Lindgren Vorteile fest; der Aufstieg ihres Mannes und ihr gutes Einkommen seien nicht zuletzt dem Krieg in anderen Ländern geschuldet, schreibt sie. Obwohl die Regierung peinlich genau den Status der Neutralität aufrechtzuerhalten versuchte, genehmigte sie Urlaubertransporte von deutschen Soldaten aus dem besetzten Norwegen durchs Land und ließ im Mai 1941 eine Division deutscher Truppen von Norwegen nach Finnland an die finnisch-sowjetische Front marschieren. Sie schickte Flüchtlinge aus dem Baltikum zurück, die sich über die Ostsee vor den Sowjets zu retten versuchten, und trieb sie so in den sicheren Tod. Jüdischen Menschen wurde lange der Status von Flüchtlingen verweigert. Dass beispielsweise Nelly Sachs mit ihrer Mutter schon 1940 nach Schweden emigrieren konnte, ist allein dem Engagement der Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf zu verdanken, die sich auf Anregung einer Freundin kurz vor ihrem Tod noch für die deutsche Autorin einsetzte. Erst ab Herbst 1943 änderte sich der deutschlandfreundliche Kurs. Ilon Wikland, die später die Illustratorin von Astrid Lindgrens Kinderbüchern werden würde, gehörte zu jenen estnischen Flüchtlingen, die im letzten Kriegsjahr von Schweden aufgenommen wurden. Willy Brandt, Peter Weiss oder die Kernphysikerin Lise Meitner zählten zu den Flüchtlingen aus Deutschland.

In der öffentlichen Wahrnehmung Schwedens bleibt der Zweite Weltkrieg oft ausgespart. Auf die beinahe berühmte schwedische Ignoranz, die sich auch in der beschwichtigenden Floskel ausdrückt, von Konzentrationslagern habe man in Schweden erst nach Einmarsch der Alliierten gewusst, nimmt die große schwedische Autorin Kerstin Ekman Bezug. Im Vorwort zur schwedischen Ausgabe der Kriegstagebücher fragt Ekman, die Lindgren persönlich kannte: »Wie viele Mütter in Schweden wussten im Herbst 1943, welche Länder am Krieg beteiligt und welche verschont waren? Wie viele Schweden verfolgten die Operationen im Stillen Ozean und Feldmarschall Montgomerys und Rommels zweite Schlacht in Nordafrika?« Von den Konzentrationslagern habe man vor 1945 wissen können, schreibt Ekman, einfach durch das Lesen von Zeitungen und Büchern, wie das Kriegstagebuch beweise: 1940 erwähne Lindgren die KZs in Buchenwald und Oranienburg, ein Zeitungsartikel vom Juli 1941 mache ihr die Situation der Juden in Polen klar, 1943 habe sie in Büchern von Deportation und Vernichtung erfahren.

Das Besondere am Tagebuch ist, dass unmittelbar aus den Ereignissen heraus gesprochen wird. So eröffnet sich heutigen Lesern vor einem Wissenshorizont, den der Abstand von mehr als siebzig Jahren mit sich bringt, das Geschehen so, wie es sich Lindgren im schwedischen Inseldasein von Tag zu Tag darstellte: Zuvor Unvorstellbares erweist sich immer wieder als Wirklichkeit. Das Ausmaß der Gewalt, die täglichen Schreckensmeldungen übersteigen jede Vorstellungskraft. Unter anderem wird deutlich, wie stark sich die schwedische Bevölkerung vom stalinistischen Regime bedroht fühlte. Die Angst vor einer sowjetischen Invasion überstieg die Angst vor der Besetzung durch die Nazis; ein Verhältnis, das sich erst langsam änderte. 1940 bekannte Lindgren, lieber mit den Deutschen paktieren zu wollen, als sich den Sowjets auszuliefern.

Lindgren, geboren 1907, wurde als Kind und junge Frau von der Atmosphäre der 20er und 30er Jahre geprägt, einer Zeit gesellschaftlicher Demokratisierungsprozesse, emanzipatorischer Bewegungen, künstlerischer Experimente in Schweden und Deutschland. Beide Länder waren sich in ihrer gesellschaftlichen Offenheit und neuen moralischen Freizügigkeit nah. Hier wie da gewannen Gewerkschaften an Einfluss, erhielten Frauen endlich das Wahlrecht, gab es die »neue Frau« der Sachlichkeit, die sich über einen androgynen Kleidungsstil und Kurzhaarfrisuren ausdrückte, die auch Lindgren ausprobierte. In ihrer Jugend trug sie öfter Schlips, Anzug und Hut auf dem Bubikopf. Aus der Sowjetunion dagegen kamen seit der Oktoberrevolution Horrornachrichten. Russische und jüdische Künstler und Intellektuelle waren auf der Flucht. Der Rote Terror wütete, die Bolschewiki setzten ihren Machtanspruch mit Deportationen und Erschießungen durch. Im Zuge der sogenannten stalinistischen Säuberungen, die mit den Schauprozessen 1936 begannen, wurden etwa 1,5 Millionen Menschen umgebracht, Millionen andere in Gulag-Strafarbeitslager deportiert, darunter ganze Volksgruppen aus den von Stalin besetzten Ländern. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft führte zur Verfolgung und Ermordung Tausender Bauern und Gutsbesitzer und zu einer Hungersnot, in der etwa sechs Millionen Menschen starben. Die Sowjetunion war von Schweden aus gesehen sehr nah. Schweden hat eine gemeinsame Grenze mit Finnland, das, kaum unabhängig geworden, wiederholt von den Sowjets bedroht wurde. Die militärische Offensive der Roten Armee 1918 in Estland und Lettland war ebenfalls präsent im schwedischen Bewusstsein, vom Baltikum trennt Schweden nur die Ostsee.

Vor diesem Hintergrund werden die zunächst widersprüchlichen Reaktionen auf den faschistischen Terror nachvollziehbarer, auch das nur zögerliche Begreifen, dass nicht allein Hitler, »die Bestie«, und sein Regierungsapparat verantwortlich waren für die grausame Tötungsmaschinerie, sondern dass sie tatsächlich von einer Bevölkerung unterstützt wurde, die vor kurzem noch in einer jungen Republik mit einer Hauptstadt gelebt hatte, die mit ihren Charleston- und Tango-Tanzbars, den Stummfilmen der UFA, den Einflüssen des Bauhaus oder des Theaters Max Reinhardts als Kulturmetropole Europas galt. Zuweilen nimmt Lindgren die deutsche Bevölkerung gegen die Regierung in Schutz. Andererseits schreibt sie schon Pfingsten 1940 mit Rückblick auf den Ersten Weltkrieg: »Mit einem Volk, das im Abstand von etwa 20 Jahren so gut wie die ganze übrige Menschheit gegen sich aufbringt, kann etwas nicht stimmen.«

So macht Lindgrens Tagebuch auch deutlich, mit welcher Geschwindigkeit und Absolutheit sich kollektives Bewusstsein von Grund auf verändern kann, wie gefährdet offene Gesellschaften sind und wie wichtig das manchmal mühsam erscheinende demokratische Aushandeln politischer Entscheidungen ist.

Die Autorin der Kriegstagebücher war noch keine Schriftstellerin. Aber sie hatte schon angefangen, für ihre Tochter Karin die Geschichte der Pippi Langstrumpf zu erfinden. Der Name war ein Einfall der Siebenjährigen, die in den Kriegsjahren häufig krank war. Astrid Lindgren erfand am Krankenbett eine Figur zum Namen und eine Geschichte zur Figur. Was im Winter 1941 als Gutenachtgeschichte begann, schrieb Lindgren auf, als sie wegen eines verstauchten Fußes das Haus nicht verlassen konnte; vielleicht schon mit dem Gedanken an eine Veröffentlichung. In den Kriegstagebüchern lässt sich die Entwicklung zur Schriftstellerin gut beobachten. Ein starker Gestaltungswille ist erkennbar. Auch die für Lindgren später so typische direkte Sprache mit der ihr eigenen Komik und Melancholie und ihrer Art, Wut und Angst in Ironie aufzulösen, findet sich. Das Kriegsgeschehen wirkt neben kleinen, zuweilen idyllischen Szenen von Urlauben in Småland, unbeschwerten Mittsommernächten oder Ausflügen in den Skansenpark in Stockholm nur umso grotesker. Der beinahe zwanghafte Drang, Weihnachts- und Geburtstagsgeschenke zu notieren und die gehorteten Vorräte und Gerichte von Familienessen aufzulisten, spiegelt eine dauerhafte Sorge um die Kinder wider, die Angst, nicht mehr genug warmes Wasser, Gas und Lebensmittel zu haben, gibt aber auch Auskunft über Mentalität und Essgewohnheiten: Kaffee und Zucker spielen eine große Rolle. Kaffee ist in Schweden ein so wichtiges Grundnahrungsmittel, dass es ein Wort für die gängige Praxis gibt, im Café für eine Tasse zu bezahlen und so viel zu trinken, wie man möchte: »påtår«. Zucker haftet seit der schlimmen Armutsperiode Ende des 19. Jahrhunderts, in der ein Viertel der Bevölkerung in die USA auswanderte, die Aura von Reichtum und Wohlstand an. Auch heute kann es mitunter noch schwer sein, ungesüßtes Brot zu finden.

Eigene Gemütszustände dagegen erwähnt Lindgren selten. Nie gibt sie der düsteren Veranlagung nach, die manchmal unterschwellig zu ahnen ist und Lindgren von Kindheit an begleitet haben muss, wie die Literaturwissenschaftlerin Birgit Dankert in ihrer 2013 erschienenen Biographie zeigt. Lindgren hält keine Innenschau, macht sich fast nie zum Gegenstand der Betrachtung. Das mag zum Teil schwedischer Zurückhaltung geschuldet sein, der Maxime, sich nicht in den Vordergrund zu spielen. Zugleich zeigen sich hier das Formbewusstsein einer Schriftstellerin und Lindgrens spätere Eigenheit, die Bücher für sich sprechen zu lassen. Nur einmal, als ihr Ehemann sich 1944 in eine andere Frau verliebt und Lindgren verlassen will, notiert sie am 19. Juli, kurz nach der Invasion der Alliierten in der Normandie: »Blut fließt, Menschen werden zu Krüppeln, überall Elend und Verzweiflung. Und ich kümmere mich nicht darum. Nur meine eigenen Probleme interessieren mich. Sonst schreibe ich immer ein wenig darüber, was zuletzt passiert ist. Jetzt kann ich nur schreiben: Ein Erdrutsch ist über mein Leben hereingebrochen, und ich bleibe einsam und frierend zurück.«

Wie sehr Lindgren unter dem Ehezwist litt, wird an den langen Pausen zwischen den Einträgen am sichtbarsten – ausgerechnet in einer der entscheidenden Phasen des Krieges schreibt sie am wenigsten. Schlaflosigkeit, Nervosität, Traurigkeit erwähnt Lindgren in verharmlosender Beiläufigkeit. Dabei war Sture ein halbes Jahr lang kaum zu Hause, verfiel mehr und mehr dem Alkohol, der 1952 zu seinem frühen Tod führte. Lindgren gestattet sich weder Larmoyanz noch Selbstmitleid. Sie bleibt diszipliniert, schreibt nur umso pointierter. Und wenn sie wie von oben auf »die Lindgrens« schaut oder sich dafür entschuldigt, längere Zeit nichts berichtet zu haben, wendet sie sich bereits an imaginäre Leser. Schließlich kristallisiert sich die entscheidende Erkenntnis heraus: »Am glücklichsten bin ich, wenn ich schreibe.«

Es würde noch einige Jahre dauern, ehe sie mit Pippi Langstrumpf und Büchern wie »Ronja Räubertochter«, »Karlsson vom Dach« oder »Die Brüder Löwenherz« zu Weltruhm kommen und ganze Generationen mit Figuren prägen sollte, die ikonographisch sind für unser heutiges Verständnis von Kindheit und von Kindern: Menschen mit eigener Persönlichkeit und Anspruch auf eigene Rechte. Diese Kinder sind selbständig und betrachten Autorität mit Skepsis. Wenn nötig, rebellieren sie. Starke, eigensinnige Mädchen, tomboys, behaupten den Freiraum, eigene Fehler machen zu können; das dürfte eines der wesentlichen Elemente in dieser sensiblen Balance aus Gemeinschaftsgeist und Selbstbestimmung sein, die Lindgrens fiktive Welten ausmachen.

Heute werden sie öfter – durch touristische Vermarktungsstrategien verzerrt – als falsche Idyllen wahrgenommen, abgetan als Bullerbü-Kitsch. Vor dem Hintergrund der Kriegstagebücher tritt ihre ursprüngliche Kernaussage wieder deutlich zutage: Jedes Kind sollte das Recht haben und das Glück erfahren, in »Geborgenheit und Freiheit« aufzuwachsen. Als Lindgren 1978 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, gab es in der westdeutschen Gesellschaft noch das sogenannte »Elternrecht auf körperliche Züchtigung«. Lindgren wurde nahegelegt, ihre später berühmt gewordene Rede zu ändern. Sie ließ sich nicht beirren und hielt ein flammendes Plädoyer für eine gewaltfreie Erziehung.

Sie selbst war behütet aufgewachsen, von beiden Eltern geliebt, »geborgen und frei«. Ihr Sohn Lasse hatte es schwerer, und das markiert einen großen Bruch, eine Erschütterung in Lindgrens Leben.

Mit achtzehn, als Volontärin bei der Ortszeitung von Vimmerby, wurde sie vom Chefredakteur schwanger. Sie entschied sich gegen eine Heirat, verließ das dörfliche Småland, die idyllische Jugend und zog nach Stockholm, um das Kind allein zu bekommen; ein Skandal. Lindgren wandte sich an die Frauenrechtlerin Eva Andén, die ihr zu einer Entbindung in Kopenhagen riet. Dort blieben Geburten anonym; als alleinstehende Frau mit unehelichem Kind wäre sie sonst gebrandmarkt gewesen. Ihren Sohn musste sie zu einer Pflegefamilie geben, während sie in Stockholm die Ausbildung zur Sekretärin beendete. Obwohl sie ihn besuchte, sooft es ging, litt sie lebenslang an der Traurigkeit und den Schuldgefühlen, die diese drei Jahre in ihr auslösten (1931, nach der Heirat mit Sture, holte sie Lasse zu sich). Erst 1970 sprach Lindgren überhaupt zum ersten Mal darüber. Allerdings führte sie schon 1952 in einer eigenen Radiosendung Interviews mit unverheirateten Müttern und machte deren prekäre gesellschaftliche Stellung öffentlich zum Thema.

Das Kriegstagebuch beendete Lindgren Silvester 1945. Mit Blick auf die jüngste Politik heißt es dort hellsichtig: »Zwei denkwürdige Ereignisse hat das Jahr 1945 gebracht. Frieden nach dem Zweiten Weltkrieg und die Atombombe. Ich möchte wissen, was die Zukunft über die Atombombe sagen wird, ob sie eine ganz neue Epoche im Dasein der Menschen markiert oder nicht. Der Frieden bietet keine große Geborgenheit, die Atombombe wirft ihren Schatten auf ihn.«

Das Kriegsende fiel für Lindgren aber auch mit dem Beginn einer ungeheuer produktiven Schaffensphase zusammen. Nachdem der führende schwedische Verlag Bonniers das Manuskript von »Pippi Langstrumpf« als zu gewagt abgelehnt hatte und es 1945 bei Rabén och Sjögren erschien, löste das eine Energie aus, die es ihr ermöglichte, in den folgenden zehn Jahren immerhin zwanzig Bücher zu schreiben.

Erst im Oktober 1953, ein Jahr nach dem Tod ihres Mannes, bereiste Lindgren wieder das Land, das verantwortlich war für die europäischen Katastrophen, mit denen sie sich von ihrer schwedischen Enklave aus so intensiv beschäftigt hatte. Eine Lesereise führte sie nach Hamburg, Bremen und Berlin. Mit eigenen Augen sah sie die Spuren des Zweiten Weltkriegs. In Berlin traf sie die Kinder- und Jugendberaterin Louise Hartung wieder. Hartung schleuste Lindgren heimlich nach Ost-Berlin hinüber, und so war Lindgren auf einmal auch konfrontiert mit der Lebenswirklichkeit, die jene »Russen« aufzubauen begannen, die ihr immer die größte Angst gemacht hatten. Erst im Juni jenes Jahres war in der DDR der Volksaufstand durch sowjetisches Militär brutal niedergeschlagen worden. Lindgren wird die Atmosphäre der eisernen Indoktrinierung der kommunistischen Ideologie wahrgenommen haben, und vielleicht sah sie darin ein erstes Anzeichen für den Beginn des Kalten Krieges, jenen »Schatten, den die Atombombe wirft«.

Aus der Begegnung mit Louise Hartung entwickelte sich eine enge Freundschaft. Einmal im Jahr trafen sich die Frauen in Berlin, Schweden, der Schweiz oder auf Ibiza. Louise sandte Geschenke und Blumen und schrieb: »Ich möchte deinen wunderschönen Körper liebkosen und küssen. Dein ganzes Wesen hat mich schon in deinen Büchern fasziniert, überwältigt.« Obwohl Lindgren diese Liebe nicht körperlich erwiderte, unterhielten beide elf Jahre lang, bis zu Louises Tod, einen intensiven Briefwechsel, dessen mehr als sechshundert Briefe – sollten sie veröffentlicht werden – erneut eine unbekannte Seite aufdecken dürften an dieser scheinbar so vertrauten Persönlichkeit Astrid Lindgrens, so wie jetzt die Kriegstagebücher: Hinter der unbeschwerten, freundlichen, heiteren Schriftstellerin, als die Lindgren oft gezeichnet wird, zeigt sich hier auch ein desillusionierter Mensch, vielleicht zum ersten Mal in dieser Deutlichkeit. Lindgrens Desillusionierung führte zu einem untrüglichen Blick auf den Irrsinn jedes Krieges, an den sich die Notwendigkeit knüpfte, auf dem Unmöglichen zu bestehen; auf Gewaltlosigkeit und Frieden, »was es nicht gibt«.

Antje Rávic Strubel

Sture und Astrid Lindgren in ihrer Wohnung

1. SEPTEMBER

Oh! Heute hat der Krieg begonnen. Niemand wollte es glauben. Gestern Nachmittag saßen Elsa Gullander und ich im Vasapark, die Kinder liefen und spielten um uns herum, und wir schimpften ganz gemütlich auf Hitler und waren uns einig, dass es wohl keinen Krieg geben würde – und dann das! Die Deutschen haben heute früh mehrere polnische Städte bombardiert und dringen von allen Seiten in Polen ein. Ich habe bis jetzt vermieden, irgendetwas zu hamstern, aber heute habe ich doch ein wenig Kakao, Tee, Schmierseife und einiges andere besorgt.

Über allem und allen liegt eine furchtbare Beklemmung. Den ganzen Tag meldet das Radio in regelmäßigen Abständen die neuesten Nachrichten. Viele Wehrpflichtige werden einberufen. Private Autofahrten sind verboten worden. Gott bewahre unseren armen vom Wahnsinn heimgesuchten Planeten! (Zum Tagebucheintrag)

2. SEPTEMBER

Ein trauriger, trauriger Tag! Ich habe Kriegsbekanntmachungen gelesen und geglaubt, Sture würde einberufen werden, doch so wie es aussieht, wird er das nicht. Aber unzählige andere müssen heute und morgen ihr Zuhause verlassen. Im Land herrscht »erhöhte Alarmbereitschaft«. Es wird unglaublich gehamstert, wenn man den Zeitungen glauben kann. Besonders werden Kaffee, Seife, Schmierseife und Gewürze gekauft. Die Zuckervorräte hier im Land reichen angeblich 1 ¼ Jahr, aber wenn die Leute nicht aufhören zu hamstern, haben wir vermutlich bald Zuckermangel. Im Lebensmittelladen gab es heute nicht ein Kilo Zucker (aber natürlich wird wieder welcher reinkommen).

Als ich zu meinem Kaffeegeschäft kam, um ein gerade noch vertretbares 1/2 Pfund Kaffee zu kaufen, hing ein Zettel an der Tür: »Geschlossen. Für heute kein Kaffee mehr.«

Heute ist der Tag der Kinder, ach, was für ein Tag der Kinder! Am Nachmittag bin ich mit Karin in den Park gegangen, und da habe ich den Aushang entdeckt, dass Männer des Jahrgangs 1898 einberufen werden [Sture war 1898 geboren]. Ich wollte die Zeitung lesen, während Karin auf der Rutsche war. Aber ich konnte nicht, mir standen die Tränen in den Augen.

Die Leute sehen ungefähr wie immer aus, nur ein bisschen düsterer. Alle reden vom Krieg, auch Menschen, die einander gar nicht kennen.

3. SEPTEMBER

Die Sonne scheint, es ist warm und schön, die Erde könnte so ein herrlicher Ort zum Leben sein. Heute um 11 Uhr hat England Deutschland den Krieg erklärt, Frankreich desgleichen, ich weiß nicht genau die Uhrzeit. England hatte Deutschland ein Ultimatum gestellt, sich vor 11 Uhr bereit zu erklären, seine Truppen aus Polen abzuziehen und Verhandlungen aufzunehmen, dann würde man den Überfall auf Polen als nicht geschehen betrachten. Aber bis 11 Uhr war nichts passiert, keine Antwort war eingegangen, und, so erklärte Chamberlain am Sonntagmittag in seiner Rede an die englische Nation, »folglich befindet sich dieses Land im Krieg mit Deutschland«.

»Die Verantwortung ruht auf den Schultern eines einzigen Mannes«, hat Chamberlain im englischen Parlament gesagt. Das Urteil der Geschichte über Adolf Hitler wird fürchterlich ausfallen – wenn es nun zu einem neuen Weltkrieg kommt. Viele glauben, es sei ganz einfach der Untergang der weißen Rasse und der Zivilisation, der bevorstehe.

Schon jetzt zanken sich die Regierungen, wer die Schuld daran trägt. Deutschland behauptet, Polen habe zuerst angegriffen und dass sich die Polen im Schutz der englisch-französischen Garantie alles erlauben könnten. Aber hier in Schweden können wir es nicht anders sehen, als dass Hitler den Krieg will oder jedenfalls der Meinung ist, ihn nicht vermeiden zu können, ohne sein Gesicht zu verlieren. Dass Chamberlain sich bis aufs Äußerste bemüht hat, den Frieden zu erhalten, ist ziemlich sicher; nur deswegen hat er in München nachgegeben. »Danzig und den Korridor« hat Hitler diesmal verlangt, aber sein innerster Wunsch ist vermutlich, die ganze Welt zu beherrschen. Wie werden sich Italien und Russland dazu stellen? Nach polnischen Angaben haben die ersten beiden Kriegstage 1.500 Todesopfer in Polen gefordert.

4. SEPTEMBER

Anne-Marie war abends bei mir, und so eine düstere »Sitzung« hatten wir noch nie. Wir haben versucht, über anderes als den Krieg zu reden, aber das war unmöglich. Schließlich haben wir uns einen Cognac genehmigt, um etwas fröhlicher zu werden, doch auch das hat nichts geholfen.

Ein großes englisches Passagierschiff mit 1.400 Personen an Bord ist von den Deutschen torpediert worden, die das jedoch verneinen und behaupten, es müsse auf eine Mine gelaufen sein. Aber nordwestlich von Schottland werden die Engländer doch wohl keine Minen gelegt haben. Ich glaube, dass alle Passagiere gerettet wurden (60 Umgekommene, nein, mehr, 128?), unter anderen von Wenner-Gren auf der »Southern Cross«, die mit einer Menge gehamstertem Öl auf Vergnügungsfahrt unterwegs ist. Er hat in den Zeitungen viel Schelte für seine wahnsinnige Hamsterei bekommen.

Die Engländer haben bei einem Blitzangriff auf Deutschland – keine Bomben abgeworfen, sondern Flugblätter, auf denen stand, dass das englische Volk keinen Krieg mit dem deutschen Volk will, sondern nur mit der Nazi-Regierung. Die Engländer hoffen anscheinend auf eine Revolution in Deutschland. Auf jeden Fall wird es Hitler wurmen, der mit Zuchthaus bestraft, wer ausländische Sender hört, und sogar die Todesstrafe verhängt, wenn jemand Nachrichten von ausländischen Sendern an andere Mitbürger weitergibt.

Im kleinen friedlichen Dänemark ist eine Bombe eines unbekannten Flugzeugs gefallen und hat ein Haus in Esbjerg zerstört, zwei Menschen sind umgekommen, davon eine Frau.

Der Busverkehr in Stockholm wird ab morgen eingeschränkt. Unsere Straßen sehen schon jetzt verlassen aus, seitdem die Privatautos nicht mehr fahren dürfen.

Heute habe ich meinen kleinen Hamstervorrat in einer Küchenecke untergebracht, um ihn später auf den Dachboden zu befördern. Er besteht aus: 2 kg Zucker, 1 kg Würfelzucker, 3 kg Reis, 1 kg Kartoffelmehl, 1 ½ kg Kaffee in verschiedenen Dosen, 2 kg Schmierseife, 2 Paketen Persil, 3 Stückchen Seife, 5 Packungen Kakao, 4 Packungen Tee und einigen Gewürzen. Mit der Zeit will ich versuchen, etwas mehr zu beschaffen, denn die Preise werden sicher bald steigen.

Gestern Abend wollte Karin, als sie im Bett lag, Wasser haben. »Wasser brauchen wir jedenfalls nicht zu sparen.« Sie glaubte, wir müssten von Wasser und Marmelade leben, wenn es Krieg gibt.

5. SEPTEMBER

Chamberlain hat im Radio zum deutschen Volk gesprochen – das ihn nicht hören darf.

An der Westfront geschieht nach wie vor nichts. Aber die Deutschen haben offenbar beschlossen, Polen völlig fertigzumachen.

Ich habe Schuhe für mich und die Kinder gekauft, bevor die Preise steigen: zwei Paar für Karin, 12,50 das Paar, ein Paar für Lasse, 19,50, und ein Paar für mich, 22,50.

6. SEPTEMBER

Es wird behauptet, die Franzosen hätten an der Westfront Plakate aufgehängt: »Wir schießen nicht.« Und dass die Deutschen auf ihren Plakaten antworten: »Wir auch nicht!« Aber das stimmt vermutlich nicht.

Von morgen an ist auch der Lastwagenverkehr von Restriktionen betroffen.

7. SEPTEMBER

Noch herrscht Ruhe vor dem Sturm. Aber bald sind die Deutschen in Warschau.

8. SEPTEMBER

Ja, schon heute sind sie da. Armes Polen! Die Polen behaupten, wenn es den Deutschen gelingt, Warschau einzunehmen, bedeutet das, dass der letzte polnische Soldat vernichtet ist.

17. SEPTEMBER

Heute sind auch die Russen in Polen einmarschiert, »um die Interessen der russischen Minderheit wahrzunehmen«. Tiefer in die Knie kann Polen kaum mehr gehen, man erwägt offenbar, einen Unterhändler nach Deutschland zu schicken.

An der Westfront passiert noch nichts Nennenswertes, aber heute stand in der Zeitung, dass Hitler einen enormen Luftangriff auf England vorbereitet. Auf den Meeren ist es unruhig; Minensprengungen und Torpedierungen in Legion. Die Zufuhr nach Deutschland ist ziemlich blockiert, nehme ich an.

3. OKTOBER

Der Krieg geht wie gewöhnlich weiter. Polen hat kapituliert. Dort herrscht ein einziges Chaos. Deutschland und Russland haben das Land zwischen sich aufgeteilt. Man kann kaum glauben, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert passiert.

Russland hat den größten Vorteil von diesem Krieg. Erst als Deutschland Polen in die Knie gezwungen hatte, sind die Russen einmarschiert. Sie bekommen einen Teil der Beute, und zwar keinen kleinen. Es wird vermutet, dass die Deutschen nicht gerade froh über den Stand der Dinge sind, aber sie müssen gute Miene machen. Russland stellt eine Forderung nach der anderen an die baltischen Staaten – und es bekommt, was es will.

Im Augenblick führt Deutschland gewiss in erster Linie Krieg gegen uns Neutrale. Unsere Schiffe auf der Nordsee werden gekapert oder versenkt. In den Häfen haben die Deutschen Spione, die Ladung und Destination überprüfen, aber sogar Schiffe auf dem Weg zu anderen neutralen Ländern werden versenkt. Ich weiß nicht, was das für einen Sinn haben soll.

An der Westfront gibt es nach wie vor keine großen Vorkommnisse.

Hier zu Hause müssen wir uns mit kleinem Alltagsärger herumschlagen. Zum Beispiel ist kein weißes Nähgarn mehr aufzutreiben. Schmierseife ist nur noch in ¼-kg-Portionen zu bekommen.

Viele Menschen sind wegen der Krise arbeitslos geworden. Schade, dass niemand Hitler erschießt. Die nächste Woche soll »dramatisch« werden, das haben sowohl Deutschland als auch England angekündigt. Es wird erwartet, dass Deutschland einen Friedensplan vorlegt, den England nicht annehmen kann. Aber die Völker der ganzen Welt wollen Frieden.

14. OKTOBER

Jetzt hat die Keilerei im Ernst angefangen, und jetzt geht es um uns, zwar in erster Linie um Finnland, aber das ist ja nicht weit entfernt. Nachdem die Außenminister der baltischen Staaten der Reihe nach von Moskau »eingeladen« wurden, ist nun Finnland an der Reihe. Minister Paasikivi ist bei Stalin, schon seit mehreren Tagen, in denen Finnland und wir und die ganze Welt unter Spannung stehen. Helsinki hat einen Großteil seiner Einwohner evakuiert, und das Land bereitet sich auf einen Krieg vor, den man sehnlichst zu vermeiden hofft. Der Zusammenhalt zwischen den nordischen Ländern ist größer denn je. König Gustaf hat die Staatsoberhäupter des Nordens zu einer Konferenz eingeladen, die nächste Woche in Stockholm stattfinden soll. Im Augenblick vertraut Finnland auf Schweden. Hier erwarten wir eine baldige Mobilmachung. Aus der Schule hat Lars eine Ausrüstungsliste für eine eventuelle Evakuierung mitgebracht, und heute waren Frau Stäckig und ich im Kaufhaus PUB und haben für unsere Söhne Rucksäcke und Unterwäsche gekauft.

Ein englisches Schlachtschiff, »Royal Oak«, ist versenkt worden. An Bord waren 1.000 Seeleute; ich weiß nicht, wie viele gerettet werden konnten.

18. OKTOBER

Heute haben sich die vier nordischen Staatsoberhäupter mit ihren Außenministern auf Einladung von König Gustaf hier in Stockholm versammelt. Der historische Tag wurde von strahlendem Sonnenschein begünstigt, und die Stadt war wirklich sehr hübsch mit all den Flaggen. Pelle Dieden und ich haben im Operagrillen zu Mittag gegessen. Abends waren 100.000e von Menschen in den Straßen um das Schloss herum versammelt. Wir sind zu Hause geblieben und haben es im Radio gehört. Gegen 10 traten alle drei Majestäten und Kallio auf einen Balkon oberhalb von Lejonbacken hinaus und wurden vom Jubel der Bevölkerung begrüßt. »Kallio, Kallio«, schrie die Menge, und der kleine nette Kerl musste sich noch einmal zeigen. Im Augenblick sind die Augen der ganzen Welt auf Stockholm gerichtet. Roosevelt und alle Präsidenten der Republiken Südamerikas haben Sympathietelegramme an König Gustaf geschickt.

Samstagabend fährt Paasikivi zurück nach Moskau, und dann werden wir sehen, wie es weitergeht.

12. NOVEMBER

Paasikivi und die anderen Finnen halten sich immer noch in Moskau auf. Sie mussten unter anderem an den Feierlichkeiten zum Gedenken an die Revolution teilnehmen. Sillanpää hat den Nobelpreis bekommen, und in allen anderen nordischen Ländern wird Geld für Finnland gesammelt. Noch weiß niemand, was wird, aber in den letzten Tagen sind die Augen der Welt auf etwas anderes gerichtet. Kürzlich hat es in München ein schweres Bombenattentat gegeben, als Hitler sich dort aufhielt, um das Gedenken an den Putschversuch von 1923 zu feiern. Er sprach im Bürgerbräukeller, und 20 Minuten nachdem er den Saal verlassen hatte, explodierte eine Bombe oder eine Höllenmaschine, die 8 Menschen tötete und 60 verletzte. Leider war der Zeitzünder 20 Minuten zu spät eingestellt. Doch man sollte wohl lieber nicht leider sagen, denn das Attentat löst nur Hass aus, und die Deutschen geben den Engländern die Schuld daran wie an allem anderen.

An der Westfront ist immer noch nichts passiert, aber die Spannung ist unheimlich, man erwartet eine deutsche Offensive, die alles übertrifft, was die Welt bisher gesehen hat.

Wilhelmina in Holland und Leopold in Belgien haben eine erneute Friedensaktion unternommen; sie fürchten um ihre armen Länder.

Holland ist bereits teilweise unter Wasser gesetzt. Dort erwartet man jeden Augenblick eine deutsche Invasion.

Ach, wenn wir doch Frieden bekämen! Friede auf Erden! Gestern war der Tag des Waffenstillstandes, der Waffenstillstand ist 21 Jahre her.

30. NOVEMBER

Eli, Eli, lama asabtani! Man würde am liebsten nicht mehr leben! Die Russen haben heute Helsinki und einige andere Orte in Finnland bombardiert. Gleichzeitig dringen sie auf der Karelischen Landenge vor, sind dort allerdings zurückgeschlagen worden. Lange haben wir zwischen Hoffnung und Furcht geschwankt, aber als die finnische Delegation aus Moskau abgereist war, ohne eine Einigung zu erzielen, wurde es plötzlich ganz still. Viele Evakuierte kehrten nach Helsinki zurück. Doch plötzlich behaupteten die Russen, die Finnen hätten an der Grenze scharf geschossen, was die Finnen verneinen. Aber die Russen wollen kämpfen – und jetzt haben sie damit angefangen, obwohl die Meinung der Welt gegen sie ist.

An einen derartig schwarzen Tag kann ich mich nicht erinnern! Ich war bei Schwedens Grossistenverband. Am Vormittag kam der Laufbursche und brachte die entsetzliche Neuigkeit mit, von der man nie geglaubt hätte, dass sie Wirklichkeit wird. Ich hab den ganzen Tag weiche Knie gehabt; und heute Abend war ich bei Anne-Marie und Stellan – und habe getrauert. Was soll werden, welches Schicksal erwartet uns? Und das arme Finnland?

7. DEZEMBER

Du lieber Gott, was für eine Welt! Finnland hält Russland auf vorbildliche Weise stand. Aber aus Verbitterung haben die Russen gestern angefangen, Gas einzusetzen. Auf der Karelischen Landenge und um Petsamo toben heftige Kämpfe. Wegen der Wetterverhältnisse haben nur wenige Bombenangriffe stattgefunden. Die Russen sind miserabel ausgerüstet und kommen schlecht mit dem Schneetreiben zurecht. Sie haben viele Soldaten verloren, und die ganze Welt ist voller Bewunderung für die finnische Abwehr. Doch der Zivilbevölkerung im Norden, die über die schwedische Grenze flieht, geht es schlecht. Aber die Schweden sind ganz wild darauf, für Finnland zu spenden. Es werden massenhaft Kleidung und Geld gesammelt und nach Finnland geschickt. Ich war gestern auf dem Dachboden und habe so viel zusammengekratzt, wie ich konnte, unter anderem Stures »Kutschermantel« und Schwiegermutters makabre Strickjacke. Als ob die Finnen nicht schon genug geprüft wären – auch ohne Mutters Strickjacke.

Die ganze Welt ist deutlich auf Finnlands Seite. Nur in Deutschland herrscht Schweigen. Der »Achsenbruder« Italien wütet am heftigsten gegen Russland. Dieser Tage sind 21 italienische Flugzeuge in Bromma gelandet, die nach Finnland weiterflogen – doch das darf nicht in den Zeitungen erwähnt werden. England und Amerika sollen auch Waffen auf Kredit geliefert haben. Amerika will Finnland die Kriegsschuld erlassen. Aber Finnland wartet vermutlich darauf, dass die Welt tätig wird und Handfesteres unternimmt. Und in unseren Zeitungen stehen Aufrufe, dass wir uns einmischen sollen, was allerdings nicht deutlich ausgesprochen wird. Viele schwedische Freiwillige wollen sich beteiligen.

Ein kleiner finnischer Kommunistenlümmel, Kuusinen, hat auf Direktive aus Moskau etwas gebildet, das sich finnische Volksregierung mit Sitz in Terijoki nennt. Finnland hat den Völkerbund angefleht, aber Molotow weigert sich, an einer Konferenz teilzunehmen. Russland befinde sich nicht im Krieg mit Finnland, behauptet das Herzchen, sie wollten doch nur das finnische Volk befreien, das bloß zu störrisch ist, sich retten zu lassen.

Im Übrigen ist die Unruhe groß; heute habe ich im Büro das Gerücht von allgemeiner Mobilmachung gehört, doch das stimmt wahrscheinlich nicht. Norrland jedenfalls ist offenbar mobilisiert; viele Leute sind in den letzten Tagen dorthin geschickt worden.

An der Westfront herrscht nach wie vor Waffenruhe. Unter anderen Gerüchten geht eins um, in dem behauptet wird, dass Hitler in einer gepolsterten Zelle sitzt und Göring total gebrochen ist sowie dass die Macht von Goebbels, Himmler und Ribbentrop ausgeübt wird.

Der Witz des Tages lautet so:

»Zwei ernste Herren in der Straßenbahn.

›Worum geht es bei diesem Weltkrieg eigentlich? Was wollen die denn?‹

›Lieber Bruder, das wurde doch schon deutlich ausgedrückt, bevor er begann. Es geht darum, wer Danzig besitzt.‹«

Ja, tatsächlich – das war die Ursache von diesem Wahnsinn. Aber Petsamo ist weit von Danzig entfernt! Und für alle Zeiten wird Deutschland die Verantwortung dafür tragen, dass es die russischen Barbaren auf Europa losgelassen hat.

13. DEZEMBER

Gestern haben wir eine neue Regierung bekommen. Sandler, Engberg, Strindlund und noch einige andere mussten gehen – aber ich glaube, »im Pott ist derselbe Schiet wie am Deckel«, es sind ja doch nur alte Parteibonzen. Aber Sandler loszuwerden war sicher gut.

Es wird behauptet, heute hätte ein Verband von 5.000 Männern Schweden in Richtung Finnland verlassen. Ich hoffe, das stimmt. Gestern war ich so deprimiert, dass ich meine Zuflucht bei Gottes Wort gesucht und folgende Antwort in der Bibel gefunden habe: »Für den Herrn ist es keine Schwierigkeit zu helfen, sei es durch viele oder durch wenige.«

Ach, wenn es nur so wäre! Finnland schlägt sich bis jetzt gut, doch wie soll es in Zukunft werden. Der Völkerbund hat eine Sitzung abgehalten, aber das Resultat ist mager.

SILVESTERNACHT

Die Finnen haben ihren bis jetzt größten Sieg errungen, hieß es heute Abend in den 7-Uhr-Nachrichten. Sie haben etwa 1.000 Russen getötet und haufenweise Waffen aller Arten erbeutet.

Aber mit dem Beginn des neuen Jahres schaut man zitternd in die Zukunft. Soll Schweden sich heraushalten oder eingreifen? Viele Freiwillige gehen nach Finnland. Wenn wir mitmachen, bekommen wir vermutlich einen deutsch-englischen Kriegsschauplatz in Schonen. Heißt es.

Jedenfalls haben wir über 5 Millionen gesammelt und an Finnland geschickt sowie viele Waffen und Luftabwehr und alles Mögliche.

Sommer auf Näs. Von oben die Geschwister Stina und Gunnar, Cousin Omar und seine Lydia. Astrid in der Mitte mit weißem Hut, Gunnars Frau Gullan, Astrids Vater Samuel August mit den Enkelkindern Gunvor (auf dem Arm) und Karin,

1. September 1939. Erster Eintrag. (Übersetzung)

Fortsetzung von vorheriger Seite. 1. September 1939.

»Unvergesslicher Silvesterabend. Schicksalsträchtiger, verantwortungsschwerer Jahreswechsel«, Svenska Dagbladet (SvD), 2. Januar 1940. (Übersetzung)

Tagebucheintrag (Übersetzung)

Übersetzung der Faksimiles

Zum Zeitungsartikel […] zu begreifen, aber sein Land hatte auch einen anderen Vertreter, Jarl Hemmer, dessen Worte von einem Stolz, einer Demut und einer Kraft zeugten, die gewiss jedermann zu Herzen gegangen sind:

Gesprungen und verstimmt die Neujahrsglocken läuten

Eine Mordwolke ist Gottes reiner Raum, eine Schlangengrube der Erden Ort

Der Teufel tief im Meer kann Feigheit nur bedeuten, ein kleines Land jedoch ist noch der Größe Hort.

Hier schäumen keine Phrasen, und jede Seele weiß

Auf ihrem Weg zum Kampf, es gilt nun jeden Preis

Du, der des Lebens Lauf in Seinen Händen hält,

lass uns das nächste Jahr begeh'n in freier Welt.

Mögen die Nachbarn feiern Neujahr am warmen Herd

Wenn sie nur unseren Kindern ein wenig Hilfe spenden

Wir wissen, unsere Zukunft ist unsrer Opfer wert

Drum Freunde, unsere Bitte, uns Waffen auch zu senden.

Als Letzter las Gunnar Mascoll Silfverstolpe, und man fragt sich, ob er je etwas Besseres geschrieben hat. Vers um Vers prägte sich ins Gedächtnis ein, und von den beiden Letzten lässt sich sagen, dass sie in dieser Silvesternacht Schwedens Gruß an Finnland sind:

Die Drohung, die zugegen

Ward niemals je bezwungen

Doch wurden Freiheit und Ehre

Im Glockenhall besungen.

Östlich des Meeres schweigt nunmehr

Der Kirchentürme erzen Heer

Doch in Verstecken überall

Singen Soldaten einen Choral.

Gesang von dieser Inbrunst

Hat die Sterne noch nie erreicht

So kann seinen Glauben bekennen

Finnland, in unserem Streit.

Geschwister, seht, die Nacht ist schwer,

der Nachthimmel zeigt uns Gefahr

und unser jüngster Bruder kämpft

für uns gegen des Bösen Heer.

Zu seinem Heim im tiefen Schnee

Wandern seine Gedanken nun.

Benjamin, Junge in Felduniform

Was wir nur können, werden wir tun!

Astrid mit den Kindern Lars und Karin vor dem Haus in der Vulcanusgatan, um 1940.

Als die Neujahrsglocken 1940 einläuteten, lasen Poeten des Nordens ihre Gedichte im Radio vor. Alle nordischen Länder waren vertreten, aber ich habe hier die Gedichte von Jarl Hemmer und Silfverstolpe eingeklebt, die am stärksten ergriffen. Denn ergreifend war es. Der Übergang in ein neues Jahr war nicht leicht. Die Zukunft sieht so hoffnungslos aus, so bedrohlich. Niemand kann sich freuen. (Zum Tagebucheintrag)

»Du, der des Lebens Lauf in Seinen Händen hält,

lass uns das nächste Jahr begeh'n in freier Welt.«

15. JANUAR

Entsetzliche Bombenangriffe toben über dem armen Finnland. Aber trotzdem – nach 1 ½ Monaten Krieg haben die Russen nichts gewonnen, im Gegenteil, sie haben unerhört viele Soldaten und Material eingebüßt. Kürzlich behauptete Dagens Nyheter, dass die Russen seit Kriegsbeginn 100.000 Mann verloren haben. Die strenge Kälte hat natürlich auch zu den großen Verlusten beigetragen. Darüber hinaus haben die Finnen über Neujahr bei Suomosalmi einige große Siege errungen.

Täglich brechen schwedische Freiwillige nach Finnland auf. Und Ärzte. Und zwei Krankenwagen, für die das Rote Kreuz gesammelt hat. Die Nationalsammlung ist bei fast 9 Millionen angekommen. Außerdem wird behauptet, dass der schwedische Staat etwa 70 Millionen beigetragen hat. Wir schicken Blutkonserven, Pferdedecken, Kleidung und alles Mögliche. Wir schicken Hals- und Knieschützer und Gott weiß was noch alles. Trotzdem – tun wir genug? Das wird wahrscheinlich die Zukunft beurteilen.

1. FEBRUAR

Gestern Abend habe ich Gunnar getroffen, der gerade aus Finnland nach Hause gekommen war, wo er sich mit einer Delegation des Bauernverbandes aufgehalten hatte.

Er bewundert die finnische Zivilbevölkerung, die sich ganz normal verhält, obwohl die Russen massenweise Bomben über ihnen abwerfen. Gunnar erzählt, dass Flugzeuge Frauen und Kinder mit Maschinengewehren verfolgen. Unter anderem erzählte er eine Geschichte von einem Hausmädchen und zwei Kindern, die von Flugzeugen gejagt wurden. Das Hausmädchen haben sie erschossen, aber die Kinder sind wie durch ein Wunder davongekommen. Hinter einer derartigen Kriegsführung steckt keinerlei Vernunft, und für die Russen muss das wahnsinnig unwirtschaftlich sein.

Endlich habe ich auch eine Zahl von den schwedischen Freiwilligen – 8.000. Ich hatte gehofft und geglaubt, es wären mehr. Aber die Finnen sind Schweden unheimlich dankbar. Doch es werden mehr Leute gebraucht. Allerdings keine enormen Mengen, einige Divisionen würden reichen, glauben sie. Denn die Russen können unmöglich ihr ganzes Volk einsetzen – und das Material und die Kampfmoral der Soldaten sind richtig miserabel.

Gunnar hat beschrieben, wie die Finnen 12.000 Russen auf dem Eis vom Kiantajärvi vernichteten. Die Russen gerieten auf einen Weg, der mitten in der Wildnis endete, sie mussten hinaus auf den zugefrorenen See. Dort wurden sie von den Finnen eingekesselt. Drei Mal forderten sie die Russen auf, sich zu ergeben, aber denen ist es ja verboten, sich lebendig gefangen nehmen zu lassen. Nach der dritten Aufforderung eröffneten die Finnen Artilleriefeuer und Feuer von Flugzeugen aus auf die unruhige Schar auf dem Eis. Als noch 900 von 12.000 Russen übrig waren, ergaben sie sich, die armen Teufel. Aber mehr als 11.000 Russen liegen immer noch auf dem Eis des Kiantajärvi. Was wird im Frühling, wenn die Wärme kommt?

9. FEBRUAR

Was für eine Welt, was für ein Leben! Die Zeitungen zu lesen ist eine entmutigende Beschäftigung. Treibjagd mit Bomben und Maschinengewehren auf Frauen und Kinder in Finnland, die Meere vermint und voller U-Boote, neutrale Seeleute, die umkommen oder bestenfalls im letzten Moment nach entbehrungsreichen Tagen von einem elenden Floß gerettet werden, die Tragödie des polnischen Volkes hinter verschlossenen Türen (niemand soll erfahren, was passiert, aber manches sickert doch durch und steht in den Zeitungen), spezielle Abteilungen in den Straßenbahnen für »das deutsche Herrenvolk«, die Polen dürfen sich nach 8 Uhr am Abend nicht mehr draußen blicken lassen, und mehr in diesem Stil. Die Deutschen sprechen von ihrer »harten, aber gerechten Behandlung« der Polen – und die kann man sich ja vorstellen. Was für ein Hass wird entstehen! Die Welt muss am Ende so voller Hass sein, dass wir allesamt daran ersticken.

Ich glaube, Gottes Strafgericht ist über die Welt gekommen. Zu allem Übel haben wir einen Wolfswinter, der seinesgleichen sucht. Die Kommunikation auf See wird durch Eishindernisse außerordentlich gestört, und der Kohlenmangel ist spürbar. In unserer Wohnung ist es wahnsinnig kalt, aber wir fangen an, uns daran zu gewöhnen. Das mit dem Lüften haben wir beinah abgeschafft, wir, die wir fast das ganze Jahr über bei offenem Fenster geschlafen haben. In Dänemark ist die Versorgung mit Brennstoff noch schlechter als bei uns, und die Häuser sind vermutlich auch nicht so gut gebaut. Inzwischen habe ich mir einen Pelz gekauft – obwohl wahrscheinlich Ragnarök kommt, ehe ich ihn abnutzen kann.

18. FEBRUAR

»Ich will neutral bleiben bis in den Tod«, sagte Frida, und das sagt auch Per Albin Hansson. Durch eine Art Indiskretion ist in der Presse durchgesickert (Folkets Dagblad), dass die finnische Regierung direkte militärische Hilfe von Schweden erbeten hat, was abgelehnt wurde. Per Albin war zu einer Erklärung gezwungen – und die war mehr als armselig. Es ist nicht mehr dabei herausgekommen, als dass er auf seinen Beitrag in der Reichstagsdebatte verwiesen hat, die vor einem Monat stattfand. Kurz gesagt, dass Schweden »neutral bis in den Tod« bleiben will. Himmel, dass man sich so quälen muss und nicht weiß, was die richtige Taktik ist. Die Finnen und viele Schweden sind der Meinung, dass es auch von Schwedens Standpunkt aus am klügsten wäre, sofort nach den Waffen zu greifen, weil es Idiotie ist zu glauben, die Russen würden, wenn sie eines Tages Finnland in die Knie gezwungen haben, am Torne älv stehen bleiben. Aber die schwedische Regierung, die eigentlich gut über alles informiert sein sollte, will sich nicht in einen offenen Krieg mit Russland hineinziehen lassen, um Deutschland nicht gegen Schweden aufzubringen und damit einen Kriegsschauplatz der Großmächte im eigenen Land zu riskieren. Verfluchtes Deutschland, wenn wir nur in Ruhe gelassen würden und den Finnen gegen Russland helfen könnten. Just in diesen Tagen hat es an der Mannerheim-Linie kritisch ausgesehen. Die dortige Offensive ist in ihrer Intensität vermutlich ohnegleichen in der Weltgeschichte. Die Finnen haben sich etwas zurückgezogen – und Mannerheim sagt, dass die Mannerheim-Linie nicht zu durchbrechen sei – gebe Gott, dass es wahr ist!

Gestern wurde die deutsche »Altmark« von englischen Zerstörern in norwegischem Territorialgewässer aufgebracht. 500 englische Gefangene wurden befreit. Und das arme Norwegen protestiert vergeblich. Deutschland bedient sich einer sehr hasserfüllten Sprache, die einen das Schlimmste befürchten lässt, und England will Norwegen nicht einmal wegen der Neutralitätsverletzung um Entschuldigung bitten. Der Seekrieg wird immer noch überwiegend zu Lasten der neutralen Handelsflotten ausgetragen – nein, ich möchte wahrhaftig nicht neutral sein bis zu meinem Tod.

Im Augenblick herrscht Verdunklung in der Stadt, und es ist tausend Mal schlimmer als beim letzten Mal, denn da glaubte man ja nicht, dass es jemals ernst werden würde.

12. MÄRZ

Vielleicht entscheidet sich in Moskau gerade heute, ob es Frieden geben wird. Durch schwedische Vermittlung ist eine Friedenskonferenz zustande gekommen, obwohl der Krieg mit unverminderter Härte tobt. Ryti, Paasikivi und noch zwei andere sind dort. Noch hat niemand eine Ahnung, zu welchen Bedingungen Russland bereit wäre, Frieden zu schließen, und Finnland befindet sich ja auch nicht in der Lage, dass es auf unangemessene Bedingungen eingehen müsste. Eigentlich sind alle Bedingungen »unangemessen«, denn warum sollte Russland auch nur einen Zipfel von Finnlands Boden bekommen?

Die Westmächte, die wollen überhaupt keinen Frieden zwischen Russland und Finnland. Die meinen, es sei gut, die Russen beschäftigt zu halten, damit sie Deutschland nicht beliefern können. Sie bieten Finnland alle Hilfe an, die es haben möchte – brauchen jedoch zunächst einen Antrag auf Hilfe – aber es ist keiner eingegangen. Dieser direkte Antrag muss zuerst kommen, sonst können sie nicht direkt durch Norwegen und Schweden stiefeln. Und das möchten sie am liebsten!!! Deswegen wurde Schweden gründlich ausgeschimpft, besonders in der französischen Presse, die behauptet, wir hätten Druck auf Finnland ausgeübt, Frieden zu schließen. Das weist die schwedische Regierung entschieden von sich; wir haben nur Russlands Friedensangebot vermittelt. Die Westmächte glauben, Deutschland habe uns zu dem Versuch veranlasst, Frieden zu vermitteln. Aber es ist wohl eher so, dass Deutschland darauf aus war, Russland zum Frieden zu bewegen. Weil ein Frieden Deutschland verdammt gut passen würde, den Westmächten jedoch verdammt schlecht.

Ein kleiner finnischer Junge hätte heute mit dem Flugzeug von Åbo zu uns kommen sollen, aber wir haben nichts von ihm gehört. Vielleicht kommt er heute Nacht.

Jetzt gibt es schon seit über einer Woche gar kein warmes Wasser mehr.

Ach, wenn doch Frieden würde. Wenn wenigstens die Finnen Frieden bekämen und wir ihnen helfen könnten, das verwüstete Land wieder aufzubauen.

Gerade eben habe ich die Radionachrichten gehört. Keine bestätigten Auskünfte darüber, ob die Verhandlungen schon zu einem Ergebnis geführt haben. Um 11 heute Abend sollen wir informiert werden, ob es Neuigkeiten gibt. Herr im Himmel, lass Frieden werden. Einen guten Frieden, den Finnland akzeptieren und mit dem es jedenfalls sein Selbstbestimmungsrecht behalten kann. Lass Frieden werden!

FRIEDEN?!?

13. MÄRZ

Ja, heute Nacht wurde es Friede! Als ich aufwachte, brachte Sture die Zeitung, in der mit großen Lettern die Schlagzeile »FRIEDEN FINNLAND – SOWJETUNION« stand. Dennoch glaube ich nicht, dass heute jemand wirklich froh ist. Im ersten Augenblick habe ich mich ein wenig gefreut, aber das legte sich rasch. Es ist ein bitterer Friede. Die Russen werden 30 Jahre lang Hangö besetzen und dort eine Flottenbasis errichten. Die Karelische Landenge mit Viborg und dem westlichen Ladoga-Ufer einschließlich Sortavala wird an Russland abgetreten. Heute um 12 Uhr wurden die Feindseligkeiten eingestellt. Es ist ja eine schöne Vorstellung, dass keine Kinder und Frauen mehr ermordet werden, aber es ist bitter, trotz allem bitter. Am bittersten ist vielleicht, dass die finnische Regierung Schweden gebeten hat, englische und französische Truppen passieren zu lassen, was aber abgelehnt wurde. Draußen in der Welt wird es wohl einen Sturm der Entrüstung gegen uns geben. Dennoch – hätten wir es zugelassen, hätten wir hier womöglich einen Krieg der Großmächte bei uns losgetreten. Aber Deutschland triumphiert im Augenblick.

Heute ist Rauno Virtanen hier gewesen. Er kam in der Nacht mit dem Flugzeug aus Åbo. Ihn dasitzen und die Tränen hinunterschlucken zu sehen, das war mit das Schlimmste, was ich seit langem erlebt habe.

Es ist ein schwerer Tag, dieser 13. März 1940.

9. APRIL

Frieden – das war’s schon! Nein, nein – weiter vom Frieden entfernt denn je! Ich bin heute Abend so todmüde, dass ich kaum schreiben kann.

Norwegen befindet sich seit dem frühen Morgen im Kriegszustand mit Deutschland. Dänemark ist von den Deutschen besetzt worden, die die ganze Verwaltung des Landes übernommen haben, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die Telefonverbindung nach Norwegen ist unterbrochen, aber die Norweger leisten anscheinend noch Widerstand. Der offizielle Grund, warum Deutschland »den bewaffneten Schutz von Norwegens Neutralität« übernommen hat, ist der, dass die Engländer gestern oder vorgestern die norwegischen Gewässer vermint haben, um die Erztransporte von Narvik nach Deutschland zu verhindern. Aber der deutsche Überfall war sicher seit langem geplant. Hier und da sind Truppen an Land gegangen. Bergen, Trondheim, Oslo und weitere Orte sind okkupiert. Die norwegische Regierung hat sich nach Hamar abgesetzt. Die Alliierten haben Norwegen unmittelbare Hilfe zugesagt.

Nun ist der Norden also Kriegsschauplatz, und unter den nordischen Ländern ist Schweden das einzige Land, das noch keinen Kontakt mit fremden Truppen gehabt hat. »The peaceful corner of Europe«, ha, ha! Wir erwarten die allgemeine Mobilmachung, und es ist wohl nur eine Frage der Zeit, wann die Deutschen auch unsere Neutralität »verteidigen« werden.

Ich war heute gerade in Rudlings Kanzlei, als ich von dem Elend erfuhr. Der Rechtsanwalt kam herein und sagte auf seine übliche trockene Art: »Ja – es ist Krieg, ich weiß gar nicht, ob es sich noch lohnt, hier weiterzumachen!« Mir schoss eine Hitzewallung durch den ganzen Körper, und mein erster Gedanke war, nach Hause zu den Kindern zu stürzen, aber ich blieb sitzen und tippte weiter Briefe zu Scheidungen und Streitigkeiten über Haushaltsauflösungen. Die Leute auf den Straßen sehen wie immer aus. Wir fangen wohl an, uns daran zu gewöhnen.

Aber es ist zum Heulen, dass man nicht froh sein kann. Als es in Finnland endlich vorbei war und man sich freuen konnte, dass nach dem grässlichen Winter die Sonne wieder scheint und Vorfreude auf Frühling und Sommer weckte, da kommt ein neuer Schlag, der noch verheerender ist. Wieder wagt man es nicht, auch nur über einen Tag hinaus zu denken. Man kann nichts planen. Nur die Evakuierung kann man planen. Und darüber habe ich heute Abend Angaben abgegeben.

12. APRIL

12. April 1940 – es war ein Tag voller Sorgen, Ängste und Trübsal in Stockholm. Die Luft schwirrt von Gerüchten – heute Morgen um 6 Uhr erwarteten die Deutschen unsere Entscheidung, ob wir den Transfer nach Norwegen erlauben, heißt es, aber vielleicht ist es auch nur ein Gerücht unter vielen. Alle reden, alle haben verschiedene Gerüchte gehört, alle wollen die Stadt verlassen. Heute um 12 hat Sture per Expressbrief seine Einberufung zum Militärdienst bekommen, und um Viertel nach 3 ist er mit dem Bus nach Spånga gefahren. Seitdem habe ich nichts von ihm gehört. Man muss es allgemeine Mobilmachung nennen, obwohl es nicht ausgesprochen wird.

Einige Schulen sollen geschlossen haben. Ich wünschte, Norra Latin würde auch schließen, dann könnte ich mit den Kindern sofort nach Hause nach Näs fahren. Karin liegt leider mit Fieber und Halsschmerzen im Bett, aber das gehört wohl dazu, wenn sowieso schon alles dermaßen grässlich ist.

Es ist so ein trostloses Gefühl, in diesen Tagen ganz allein die Verantwortung für die Kinder zu tragen. Anne-Marie fährt morgen mit ihren dreien ab. Der Gedanke an Oslos Überrumplung bringt die Leute wohl dazu, wegzufahren, solange noch Zeit ist. Wenn man nur wüsste!

13. APRIL

Landsturmmann 69 2–1918 Lindgren ist zu seinem ersten Urlaubsbesuch nach Hause gekommen. »Nein, ich werde nie vergessen, wie herrlich er aussah.« Ein winziges Käppi mit Schirm auf dem Scheitel und ein unglaublich hässlicher und schlecht sitzender Uniformmantel. Darunter kurze Jacke und dicker Wollpullover sowie eine viel zu enge Hose, die über dem Bauch spannt. Die ganze Familie stand um ihn herum und lachte. Aber ansonsten gibt es keinen Grund zum Lachen. Er hat seit dem gestrigen Mittagessen, bevor der Einberufungsbefehl kam, keinen Happen zu sich genommen, weil er nichts aus fettigem Kochgeschirr runterkriegte. Also hat er Braten und Kartoffeln mit gutem Appetit verputzt. Die Nacht hat er vollständig angezogen in seinen zivilen Mantel gewickelt auf dem Fußboden verbracht, mit ein bisschen Stroh als Unterlage. Er hat gefroren wie ein Hund. Lasse hat ihm seinen Schlafsack und Bezüge geliehen. Um 10 musste er wieder hinaus in Sturm und Regen und zurück nach Spånga fahren. Er hat mir so leidgetan.

14. APRIL

Was für ein trauriger Tag! Grau, grau mit heftigem Schneeregen. Karin immer noch im Bett. Lars ist bei den Pfadfindern. Und Sture hat angerufen, er bekommt nicht frei.

Dann hat Stellan mich besucht, und nach einer Weile tauchte Sture doch auf. Aber er musste um ½ 9 zurück. Wonach ich mit Alli, Elsa und Karin L. im Kino war. »Juninatten«. Aber es ist unmöglich, abzuschalten. Der Alb liegt ständig über einem. Die Engländer haben die ganze Ostsee vermint, nur das schwedische Territorialgewässer nicht. In Norwegen geht der Krieg immerfort. König Haakon wird von Bombenflugzeugen gejagt und muss in den Wald rennen. Die deutsche Überrumplung Norwegens ist zum großen Teil dank Verrat gelungen. Die norwegischen Nazis haben ihr Land verraten. Ganz oben im Norden hatte der Widerstand jedenfalls Erfolg, Engländer und Norweger sollen Narvik zurückerobert haben.

Ein Blick in die Zukunft nimmt sich ziemlich düster aus, selbst wenn es uns gelingen würde, dem Krieg zu entgehen. Unser Export nach Westen ist total eingebrochen. Und der Import natürlich auch. Das Gaswerk droht uns, die Situation könnte katastrophal werden, wenn wir kein Gas sparen, aber wie sollen wir sparen, wenn wir Wasser erhitzen müssen. Es dauert vielleicht nicht lange, dann haben wir gar kein Gas mehr, und was dann. Der Preis für Gasmünzen ist von 25 Öre auf 50 Öre erhöht worden. Gibt es eigentlich irgendetwas, das nicht teurer geworden ist? Eine Busfahrt kostet 25 Öre im Vergleich zu 20 Öre früher, eine einfache Fahrt in der Straßenbahn 20 Öre. Strom ist teurer geworden, Essen und Trinken; Zucker ist in diesen Tagen wieder um 4 Öre per Kilo teurer geworden und inzwischen überdies rationiert genau wie Tee und Kaffee. Dabei befinden wir uns sicher erst am Anfang: Die vollständige Unterbrechung von Ein- und Ausfuhren ist ja noch nicht lange her. Man kann sich immer damit trösten, dass es noch schlimmer wird.

29. APRIL

In Norwegen geht die Keilerei mit aller Kraft weiter. Viele Gemeinden wurden durch Bombenangriffe total zerstört. Viele Menschen sind obdachlos. Ich glaube, das Leben in Norwegen ist schlimmer, als es in Finnland war, weil die innere Front Norwegens bedenklich wankt. Der norwegische Widerstand scheint im Ganzen ziemlich lahm gewesen zu sein. Die alliierten Einsätze waren bisher miserabel. Es scheint sich jedoch um ziemlich große Truppenverbände zu handeln, sowohl bei den Engländern als auch bei den Deutschen. Ganz oben im Norden ist der Widerstand einigermaßen programmgemäß verlaufen, dort haben die Engländer die Lage wohl unter Kontrolle. Aber ganz Südnorwegen ist in den Händen der Deutschen, und sie marschieren mit einer entsetzlichen Intensität und Effektivität vorwärts. In Berlin hat eine große Pressekonferenz stattgefunden, Ribbentrop hat eine Rede gehalten und Dokumente vorgelegt, die beweisen sollen, dass die Alliierten in Norwegen eine Invasion geplant haben, der Deutschland nur zuvorgekommen ist und sie vereitelt hat. Gleichzeitig wird behauptet, dass die norwegische Regierung nicht absolut neutral war. Dagegen sagte Ribbentrop, dass die schwedische Regierung strikte Neutralität gewahrt habe. In der Auslandspresse wird behauptet, Schwedens Lage habe sich entschieden verbessert. Aber wir befinden uns immer noch in höchster Alarmbereitschaft und hoffen, dass sich das nicht ändert, bis der elende Krieg endlich vorbei ist.

2. MAI

Der Frühling ist da. »O der schöne Maienmond!«, sang der Studentenchor aus Uppsala an Walpurgisnacht im Radio, und es tat fast weh, es zu hören, so schön war es. Die Sonne strahlte während der ganzen Feiertage, und es ist endlich warm geworden nach diesem schrecklichen Winter. Gestern ist fast ganz Stockholm nach Gärdet gezogen, um einig und parteiübergreifend zu demonstrieren. Ich habe zusammen mit den Kindern, Frau Stäckig und Göran zugeschaut. Die ganze Stadt summte wie ein Bienenkorb.

Heute waren Karin und ich im Judarnwald und haben gesehen, dass der Frühling wirklich da ist. Der Frühling in diesem Jahr ist so sonderbar; man muss sich einfach über ihn freuen, aber gleichzeitig ist es noch unerträglicher, daran zu denken, dass Menschen einander töten, während die Sonne scheint und die Blumen sprießen.

6. MAI

Vor einigen Tagen haben sich die Engländer eingeschifft und Norwegen aufgegeben, jedenfalls bis hin nach Narvik. Dort stehen die Norweger nun ohne Verbündete. Ganz Südnorwegen ist deutsch und aller Widerstand gebrochen. Im Norden wird weiter gekämpft. Es herrscht große Verbitterung gegen England wegen der mangelnden Hilfe. Vermutlich ist es die erste wirklich große Niederlage, die die Alliierten erlitten haben, und die Presse in ihren eigenen Ländern ist alles andere als mild. Jetzt braut es sich stattdessen am Mittelmeer zusammen, heißt es, und man befürchtet, dass Italien sich endlich an die »Berlin-Rom-Achse« erinnert (um die es so still war in den Tagen des finnischen Krieges) und an Deutschlands Seite am Krieg beteiligen wird. Im Balkan ist es im Augenblick unruhig, ein Vulkan, der jeden Moment ausbrechen könnte.

10. MAI

Nein, diesmal ist es ruhig geblieben auf dem Balkan, es war nur blauer Dunst. Im frühen Morgengrauen des 10. Mai sind deutsche Truppen »in breitester Front« in Holland, Belgien und Luxemburg eingedrungen. Und der Kampf, der heute beginnt, soll gemäß Hitlers Tagesbefehl »das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre« entscheiden. Es geht zweifellos nicht nur um das Schicksal des deutschen Volkes, über das entschieden wird, sondern womöglich um das Schicksal der ganzen Menschheit. Jetzt hat der Krieg wohl wirklich angefangen. Die Absicht der deutschen Seite ist die übliche: einer geplanten Invasion der Alliierten zuvorkommen zu wollen. Wie gewöhnlich liegen »Beweise« für einen derartigen Plan in Form von Dokumenten vor. Außerdem behaupten die Deutschen, Belgien und Holland hätten sich nicht strikt neutral verhalten und beabsichtigt, alliierten Truppen den Aufmarsch auf ihrem Terrain zu erlauben. Bombardierungen und Kämpfe sind in vollem Gange. Es heißt, Belgien habe größere Möglichkeiten, sich zu verteidigen, als Holland, da es bessere Befestigungsanlagen besitzt. Holland ist teilweise unter Wasser gesetzt worden. König Leopold hat sich an die Spitze der belgischen Armee gestellt.

Prinzessin Juliana erwartet ihr drittes Kind. Es ist bestimmt kein Vergnügen, in diesen Tagen königliche Mutter zu sein. Oder überhaupt Mutter.

Möchten Sie gerne weiterlesen? Dann laden Sie jetzt das E-Book.