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Locker, sexy und freizügig sind die 1920er-Jahre. Das Sündenbabel Berlin feiert rund um die Uhr. Doch die Weimarer Zeit ist eine Zeit der Gegensätze. Staat und Polizei wachen über die Moral und sind dabei nicht zimperlich. Ihre Ansichten sind schlimmer, als im Kaiserreich. Die Sittenpolizei kämpft gegen den "moralischen Verfall" der Gesellschaft. Was als unmoralisch und unsittlich gilt, unterliegt im Lauf der Zeit ständigen Veränderungen. 10.000 bis 15.000 homosexuelle Männer landen während der NS-Zeit in Konzentrationslagern. Der NS-Staat schafft ein Netz an Bordellen. Sogar KZ-Bordelle lässt SS-Reichsführer Himmler einrichten. Doppelmoral und willkürliche Verfolgung werden zum System. Beim Sex ist man freizügig. Nach dem Krieg nehmen die Polizeidienststellen und mit ihnen die Sittenwächter schnell die Arbeit wieder auf. Polizisten aus der NS-Zeit sorgen für Kontinuität. In der Verfolgung von Sittendelikten gehen die beiden deutschen Staaten zunehmend unterschiedliche Wege. 1968 beginnt die sexuelle Revolution bis 1980 alles viel bunter wird.
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Seitenzahl: 84
Walter Brendel
Die Moralwächter des Staates
Texte: © Copyright by Walter Brendel
Umschlag: © Copyright by Walter Brendel
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
Inhalt
Vorwort
Von Weimar bis zur Nazidiktatur
Die Familienplanung unter Hitler
Nachkriegsjahre im geteilten Deutschland
In der Bundesrepublik Deutschland
Sittenwächter und Moral in der Deutschen Demokratischen Republik
Die sexuelle Revolution und die Sitte
Quellen
Locker, sexy und freizügig sind die 1920er-Jahre. Das Sündenbabel Berlin feiert rund um die Uhr. Doch die Weimarer Zeit ist eine Zeit der Gegensätze. Staat und Polizei wachen über die Moral und sind dabei nicht zimperlich. Ihre Ansichten sind schlimmer, als im Kaiserreich. Die Sittenpolizei kämpft gegen den „moralischen Verfall“ der Gesellschaft. Was als unmoralisch und unsittlich gilt, unterliegt im Lauf der Zeit ständigen Veränderungen.
Die Sittenwächter sind nicht weit - mit Zensur und Strafe. In den 1920ern bekommt die Sittenpolizei mehr Aufgaben: Serienmörder, Transvestiten, Pornografie. Die Verfolgung von sogenannten Asozialen ist nur eines der grausamen Kapitel in der NS-Zeit. Bei Sex und Moral greift die Sittenpolizei bis in die 1960er-Jahre hart durch. Im Sündenbabel Berlin feiert die Weimarer Republik in den 1920er-Jahren, als gäbe es kein Morgen. Jede sexuelle Freizügigkeit scheint möglich. Erste private Erotikfilme kursieren, auch wenn sie teuer und aufwendig herzustellen sind.
Auf der anderen Seite laufen Kirche, Konservative und Sittenwächter Sturm gegen Pornografie, Prostitution und Homosexualität. Die Sittenpolizei soll durchgreifen. Die Abteilungen verfolgen zunächst ein praktisches Ziel: die Vermeidung von Geschlechtskrankheiten, ausgelöst durch Prostitution. Doch große Kriminalfälle sorgen bei den Sittenpolizisten für neue Aufgaben. Ein Serienmörder treibt Mitte der 1920er-Jahre sein Unwesen, tötet 24 Männer beim Geschlechtsakt mit einem Biss in den Kehlkopf. Der Fall Fritz Haarmann führt zu Massenverhaftungen von Homosexuellen. Der Paragraf 175 aus der Kaiserzeit sieht Geld- oder Haftstrafen vor. In Berlin dagegen pflegt man andere Sitten: Im bekannten Club "Eldorado" leben Transvestiten Anfang der 1930er-Jahre ihre Neigungen offen aus. Mancher Mann darf öffentlich Frauenkleider tragen - Transvestitenscheine machen es möglich.
Doch mit dem NS-Regime regiert zunehmende Willkür, das "Eldorado" wird 1933 geschlossen, der Homosexuellen-Paragraf verschärft. 10.000 bis 15.000 homosexuelle Männer landen in Konzentrationslagern. Bei homosexuellen Frauen gab es in der NS-Zeit, anders als bei Männern, keine eindeutige Rechtsprechung. Sie fielen durch das Raster, sodass sie genauso wie Transvestitinnen mal so und mal so behandelt wurden. Polizisten können ohne Strafverfahren Prostituierte, "Asoziale", Bettler, Sinti und Roma in KZs einweisen. Der NS-Staat schafft ein Netz an Bordellen. Sogar KZ-Bordelle lässt Reichsführer Himmler einrichten. Doppelmoral und willkürliche Verfolgung werden zum System.
Nach dem Krieg nehmen die Polizeidienststellen und mit ihnen die Sittenwächter schnell die Arbeit wieder auf. Polizisten aus der NS-Zeit sorgen für Kontinuität. Kirchliche Organisationen wie der Volkswartbund machen zusätzlich Front gegen die Sittenlosigkeit. 1951 wird die Premiere des Films "Die Sünderin" zum Skandal. Acht Sekunden ist Hildegard Knef barbusig zu sehen. Trotz oder wegen zeitweiser Aufführungsverbote bekommt der Film vier Millionen Zuschauer in den ersten drei Monaten.
In der Verfolgung von Sittendelikten gehen die beiden deutschen Staaten zunehmend unterschiedliche Wege. In der jungen DDR wollen SED-Politiker den Paragrafen 175 abschaffen. Durchsetzen können sie sich zunächst nicht. Doch bereits Ende der 1950er-Jahre werden Homosexuelle bei geringfügigen Vergehen kaum noch verfolgt. Der Paragraf 175 wird praktisch außer Kraft gesetzt. In der BRD braucht es dafür weitere zehn Jahre. In Metropolen wie Hamburg geht die Kriminalpolizei neue Wege. In Fernsehsendungen wie "Der Polizeibericht meldet ..." stellen Beamte Kriminalfälle nach und geben Fahndungen raus. 1959 lösen Medienberichte jedoch beinahe eine Massenhysterie aus. Die "Bestie" Bruno Pupecka missbraucht ein siebenjähriges Mädchen und 19 weitere Frauen. Vor der Davidwache fordert eine aufgebrachte Menschenmenge Lynchjustiz. Pupecka wird verhaftet und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Auch wegen Fällen wie diesen reagieren Justiz und Sittenpolizisten bis Ende der 1960er-Jahre mit harten Maßnahmen.
Erst die sexuelle Revolution sorgt für Lockerungen und frischen Wind - aber auch für neue Konflikte. Deutsche Polizisten überwachen lange Zeit Anstand und Moral. Die Sittenpolizei überlebt viele Regimewechsel und Umbrüche. Mit der Freizügigkeit der 1968er-Generation geraten immer mehr Fälle von Pornografie und Kuppelei ins Visier der Polizei. Homosexuelle und Prostituierte werden weiter streng überwacht. In den folgenden Jahren müssen die Beamten der Sittenpolizei ihre gesellschaftliche Rolle immer mehr hinterfragen.
Mit den Zeiten ändern sich auch die Gesetze. Noch bis 1973 bleibt Kuppelei in der BRD strafbar. In der DDR wird der Paragraf sogar bereits 1968 abgeschafft und das Sexualstrafrecht reformiert. In der BRD lösen sich die Abteilungen der Sittenpolizei mit den 1970er-Jahren zunehmend auf. Doch erst 1994 wird der "Schwulen"-Paragraf 175 abgeschafft. Seit 2017 erhalten Verurteilte eine Entschädigung.
Die Polizei als Sittenwächter – diese Zeiten sind vorbei. Heute ermitteln Landeskriminalämter bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Unser Buch zeigt die Jagd nach Sittenverbrechern und das Verhältnis von Gesellschaft, Macht und Sex.
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Die Sittenpolizei kämpft gegen Pornografie, Prostitution und Homosexualität. Im Visier, der moralische Verfall der Gesellschaft. Ein unbeliebter Job. Seit mehr als 100 Jahren verfolgt die Sittenpolizei Sexualstraftaten, sie spiegelt der Geist der Zeit wieder, ob in der Diktatur und der Demokratie. Ob Weimarer Republik, Nationalsozialismus, Bundesrepublik oder DDR.
1924 erschüttert ein spektakuläres Verbrechen die junge Weimarer Republik. Im Hannover findet die Polizei Leichenteile von mindestens 22 jungen Männern. Der Verdacht fällt auf den gelernten Schlosser Fritz Haarmann. Er wird beschuldigt, 24 Knaben und jungen Männern im Alter von zehn bis 22 Jahren während des Geschlechtsaktes getötet und anschließend zerstückelt zu haben. Die Hannoveraner Polizei hatte ihm als Spitzel für das Diebstahlskommissariat eingesetzt. Er wirkte als Agent Provocateur bei der Überführung von Hehlern mit. Außerdem hatte Haarmann mit einem ehemaligen Kriminalbeamten die Detektei Lasso gegründet. Ein selbst ausgestellter Detektei-Ausweis verschaffte Haarmann amtlichen Charakter und Zutritt in den Wartesaal des Hauptbahnhofs; er war als Kriminal-Haarmann bekannt.
Haarmann litt vermutlich unter seiner fatalen Neigung, dass er während des Geschlechtsaktes in einem unkontrollierten Rausch die Beherrschung verlieren konnte und sich dann am Adamsapfel seines Partners festbiss. Die Jugendlichen, die er am Café Kröpcke oder am Bahnhof kennenlernte und später mitnahm, waren teilweise körperlich geschwächt, so dass sie sich kaum wehren konnten. Der Exitus trat durch Durchbeißen des Adamsapfels und durch gleichzeitiges Würgen und Drosseln ein. Anatomen stellten dies später in Versuchen nach und sagten aus, dass sich durch Biss und Druck auf die Nervenenden des Kehlkopfes durchaus eine Atem- und Herzlähmung einstellen könne.
Fritz Haarmann
Arbeitslos und ohne Antrieb zur Arbeit in der väterlichen Zigarrenfabrik wurde er von einer Nachbarin verführt und beging an Nachbarskindern sexuellen Missbrauch. Dies führte zu einem Strafverfahren gegen ihn, das eingestellt wurde. 1905 zog sich Haarmann eine Geschlechtskrankheit zu und unterhielt homosexuelle Kontakte. Diese knüpfte er hauptsächlich am hannoverschen Hauptbahnhof zu jungen Ausreißern und entlaufenen Heimkindern. Während dieser Zeit begann Haarmanns Laufbahn als Kleinkrimineller. Er beging Unterschlagungen, Diebstähle, Einbrüche und Hehlereien, die zu 17 Verurteilungen führten.
Schauplatz der Mordserie war die hannoversche Altstadt. In dieser Epoche wurde der preußisch-wilhelminische Ordnungsstaat durch die Nachkriegswirren des Jahres 1918 schwer erschüttert. Haarmanns Milieu und sozialer Mikrokosmos stellten der Hauptbahnhof Hannover und die Leineinsel Klein-Venedig dar. Die öffentlich zugängliche Wartehalle des Hauptbahnhofs diente Obdachlosen, Arbeitslosen, elternlosen Kindern und „Ausreißern“ in großer Zahl als Zufluchtsstätte. Die von Armut, Elend und Hunger geprägte Situation wurde durch das Eintreffen gewaltbereiter und traumatisierter Soldaten am Verkehrsknotenpunkt Hannover weiter angeheizt. Die 450.000-Einwohner-Stadt entwickelte sich wegen ihrer günstigen geographischen Lage zu einem internationalen Durchgangs- und Schiebermarkt, wodurch Kriminalität und Prostitution stark anstiegen.
Haarmann machte sich die allgemeine Lage während der Inflationszeit und vor allem die verzweifelte Situation von Jugendlichen zunutze und bot ihnen gegen sexuelle Gefälligkeiten für eine oder mehrere Nächte Unterschlupf an.
1918 entstand in den Gartenanlagen um das Café Kröpcke herum ein Markt der männlichen Prostitution, von denen etwa 500 in den polizeilichen Akten registriert waren. Haarmann bewohnte eine Wohnung in der Neuen Straße, die sich in der Calenberger Neustadt befand, in der es weitere Treffpunkte für Homosexuelle gab. Die Gassen der Altstadt auf der Leineinsel verkamen zu dieser Zeit mehr und mehr zu einem Verbrecherviertel der Unterschicht. In den einschlägigen Kneipen „Kreuzklappe“, „Kleeblatt“ oder „Deutscher Hermann“ entstand zwischen Prostituierten, Zuhältern, Dieben und Hehlern ein lebhafter Schwarzmarkt, und die Hemmschwelle, im Zuge von Eigentumsdelikten Menschen zu töten, war gering.
Die Zustände in Haarmanns Wohnung werden nicht als düster, sondern als ausgesprochen gesellig und heiter beschrieben. In der sogenannten Butzenklappe, einem Wandschrank (1,90 m breit und 1,25 m hoch bewahrte der Serienmörder nicht nur für eine gewisse Zeit Leichen auf, sondern auch zahlreiche Nahrungsmittel wie Süßigkeiten, Käse und Wurst, um die Jungen, die er am Hauptbahnhof aufgegabelt hatte, gefügig zu machen. Das Zimmer diente als Handels- und Tauschplatz für Hehlerware, Ort von Ess- und Trinkgelagen sowie für hetero- und homosexuellen Geschlechtsverkehr mit wechselnden Partnern. Haarmann verdiente sich dort ein Zubrot, indem er Fleisch zu Wurst und Sülze verarbeitete. Haarmann, der von den Jungen „Onkel Fritze“ genannt wurde und bei den Erwachsenen „Kriminal Haarmann“ hieß, wurde in seinem Viertel als eine Art „besserer Herr“ und „Wohltäter für Obdachlose“ gehalten.
In der Nachbarschaft der Neuen Straße gab es nur wenige, denen das Treiben von „Kriminal Haarmann“ ungewöhnlich vorkam. So wurden im Fenster der Wohnung öfter nackte Jungen gesehen. Auch gab es nachts häufig ungewöhnliche Hämmer-, Säge- und Klopfgeräusche. Es war bekannt, dass im Zimmer des Polizeispitzels ein Fleischwolf stand, mit dem Knochen gehackt und Fleisch verarbeitet wurden Es ging das Gerücht um, Haarmann hätte die Jungen an die französische Fremdenlegion verkauft. Nachbarn beobachteten, wie Haarmann häufig mit Paketen und Säcken seine Wohnung verließ.
Nach dem anstrengenden Akt der Tötung seiner Opfer sei Haarmann häufig neben der Leiche zusammengebrochen und für eine Weile eingeschlafen. Dann habe er sich einen starken Kaffee gemacht und damit begonnen, die Leiche zu zerstückeln. Das Gesicht bedeckte er mit einem Tuch. Dann öffnete er nach eigenen Schilderungen während der Vernehmung die Bauchhöhle und holte die Eingeweide heraus. Letztere tat er in einen Eimer und tunkte das sich in der Bauchhöhle ansammelnde Blut mit einem Tuch auf.
Der Gasofen in der Wohnung Haarmanns, in dem er teilweise Leichenstücke verbrannt