Die Odyssee - Lara Williams - E-Book
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Die Odyssee E-Book

Lara Williams

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Beschreibung

Ein einzigartiger Roman über den Sinn im Leben und die Suche danach    Seit fünf Jahren arbeitet Ingrid auf dem riesigen Kreuzfahrtschiff  WA.  Ihre Tätigkeiten unterliegen dem Rotationsprinzip: mal bietet sie im Souvenirshop unnütze, aber teure Mitbringsel an, mal lackiert sie den Gästen die Fingernägel, dann wieder muss sie den Schiffspool beaufsichtigen. Zwischendurch gibt es mal einen Tag Landgang, an dem Ingrid sich für gewöhnlich maßlos betrinkt.   Als sie von Keith, dem Schiffskapitän und selbsternannten Guru eines fragwürdigen Mentorenprogramms auserwählt wird, ändert sich die Gleichförmigkeit ihres Daseins. Keith drängt sie zur Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit: eine kaputte Ehe, ein unerfüllter Kinderwunsch und ein exzessives Konsumverhalten treten an die Oberfläche, und Ingrid muss sich die Frage stellen, wie lange sie ihre Vergangenheit noch umschiffen kann.   

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Seitenzahl: 290

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Lara Williams

Die Odyssee

Roman

Aus dem Englischen von Eva Bonné

Atlantik

Für Marek und Peet

Land

Eins musst du verstehen, sagte Keith, alles kommt aus dem Nichts, und alles verschwindet im Nichts. So lautet das Prinzip des Wabi-Sabi.

Er deutete vage auf die Büroeinrichtung. In den Regalen standen Glasfiguren und Schmuckvasen, mit Edelsteinen besetzte Pillendosen und betont eigenartige Kuriositäten. Er streckte die Hand aus und nahm eine graue Tonschale vom Schreibtisch. Hier, sagte er und fuhr mit dem Daumen über eine winzige Macke im Rand. Siehst du?

Ich nickte.

Jetzt du, sagte er

Ich sah mich um. Es war unser erstes persönliches Gespräch. Ich wusste nicht genau, wie ich mich verhalten sollte. Ich zeigte auf ein Ölgemälde, Obst in einer Schüssel. Ist das Wabi-Sabi?, fragte ich.

Nein, sagte er kopfschüttelnd.

Ich zeigte auf einen metallenen Briefbeschwerer, glatt und rund. Ist das Wabi-Sabi?

Nein, sagte er.

Ich zeigte auf eine Vase auf einem der Aktenschränke. Sie war dunkelbraun und ein bisschen schief. Ist das Wabi-Sabi?

Jetzt hast du es verstanden, sagte er und schnipste mit den Fingern.

See

Als ich das Memo bekam, war ich zum Dienst im Geschenkeshop eingeteilt. Ich arbeitete gern im Geschenkeshop, vor allem an der Kasse. Sie stand in der Mitte des Ladens auf einer freistehenden, massiven Holzsäule. An der Kasse kam ich mir vor wie an einem Schiffsruder. Ich stützte die Ellenbogen auf, atmete die schale, wiederaufbereitete Luft und beobachtete die Verkaufsfläche. Die Leute schoben sich lethargisch zwischen den Regalen durch, und ich tat so, als wäre ich für sie alle verantwortlich. In Gedanken erteilte ich ihnen Befehle. Manchmal gehorchten sie, und dann stellte sich ein warmes Gefühl ein, ähnlich wie früher, wenn ich mir Hundevideos im Internet angesehen hatte. Davon konnte ich eine Weile zehren.

Von der Kasse aus hatte ich fast den ganzen Laden im Blick. Zu meiner Rechten befanden sich die handgemachten Pralinen in ausgefallenen Geschmacksrichtungen wie Wasabi, Ziegenquark, Gouda oder Sonnengetrocknete Tomaten. Daneben lagen die mit dunkler Schokolade oder salzigem Karamell überzogenen Exoskelette von essbaren Insekten. Links von mir stapelten sich Teppiche und Decken aus Tierhäuten. Kein Stück glich dem anderen, und alle waren völlig intakt. Die Haut war vom Körper gerutscht wie eine Apfelschale, die von einem besonders geschickten Mädchen in einer einzigen, langen Spirale von der Frucht geschnitten wird. Im vorderen Bereich befanden sich Ständer mit vermeintlicher Designermode. Von den meisten Markennamen hatte ich nie gehört, aber sie klangen europäisch genug, um die Kundschaft zu überzeugen.

Weiter hinten gab es Parfums, Kosmetik, Wodka in Totenkopfflaschen, Wanduhren aus alten Schallplatten, Legostein-Ohrringe, vergoldete Kugelschreiber und Uhren, die selbst hundertfünfzig Meter unter der Meeresoberfläche noch funktionierten. Es gab natürlich auch billigere Ware. Schlüsselanhänger aus Kunststoff, T-Shirts mit dem Logo der WA und Kaffeebecher mit dem Schriftzug I Love You, Mum. Die Einrichtung erinnerte ein bisschen an ein Opernhaus. Kuppeldach, schwere Samtvorhänge. Der weiße Marmorimitatboden war von goldenen und grauen Adern durchzogen, die Luft roch nach Duftölen und Parfums. Am Vortag war ein amerikanisches Paar hereingekommen, die Frau hatte sich umgesehen und gerufen: Schatz, ist das nicht toll, wir kaufen alle Geschenke einfach hier und brauchen nicht mal das Boot zu verlassen. Der Shop war einer von mehreren an Bord, und alle sahen identisch aus.

Am Morgen hatte ich den Boden gewischt, was auch die letzte Aufgabe des Tages sein würde. Wenn ich unmittelbar nach einer Spätschicht zur Frühschicht antreten musste, beschlich mich oft das unangenehme Gefühl, neben mir zu stehen, als könnten sich mein Körper und mein Gehirn nicht darauf einigen, wo genau ich mich auf der Zeitachse gerade befand. Oft musste ich mich bewusst erinnern, wie ich aufgewacht und davor eingeschlafen war, wie ich mich ins Bett gelegt und abgeschminkt hatte. Manchmal ging ich noch weiter zurück und erinnerte mich daran, wie ich auf dem Schiff angefangen hatte, wie ich aus der alten Wohnung ausgezogen war, an meine Hochzeit, an die bestandene Aufnahmeprüfung, wie ich mir beim Rollerskaten den Arm gebrochen hatte. Vor kurzem hatte ich einen Zwang entwickelt: Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich vor exakt einem Jahr getan hatte – nach mehreren Jahren auf der WA natürlich eine schwierige Aufgabe. Ich hatte zu oft das Gleiche getan. Mia nannte es meine autochronologische Endopathologie. Wenn sie nicht gerade das Baby spielte, konnte sie ziemlich clever sein.

Nachdem ich den Boden gefeudelt hatte, wischte ich alle Oberflächen ab und versprühte etwas von unserem teuersten Lufterfrischer. Danach holte ich die Schnittblumen aus dem Schnittblumenkühlschrank und verteilte sie im Laden. Ich war die einzige Mitarbeiterin, die an der Schnittblumenschulung teilgenommen hatte, und mein Kollege Zach hasste mich dafür. Er sagte, ich sei kein Augenmensch. Er sagte das mindestens zweimal täglich. Oft ging er, wenn ich mit den Blumen fertig war, durch den Laden und tat so, als zupfte er unsichtbare Flusen von den Sträußen. Er hätte sie aber niemals berührt, weil er genau wusste, dass er das nicht durfte. Ich beobachtete ihn von der Kasse aus, verdrehte die Augen und hoffte, dass er es sah.

Am späten Vormittag hielt sich eine Kundin ein Strass-T-Shirt mit dem Schriftzug Chic vor die Brust und musterte sich im Spiegel. Kauf es!, dachte ich. Kauf es! Kauf es! Aber sie kaufte es nicht. Sie faltete es laienhaft zusammen – allerdings nicht so laienhaft, dass ich mich verpflichtet gefühlt hätte, hinzugehen und es neu zu falten – und legte es ins schmale Glasregal zurück. Ich meinte zu spüren, wie mein Serotoninpegel fiel.

Am späten Nachmittag kam der tägliche Newsletter. Wie immer war darin der ganze Unsinn nachzulesen, der an Bord so getrieben wurde. Ein Hypnotiseur in der Cocktail-Lounge. Polynesische Nacht mit Poke. Vortrag einer Meeresbiologin, die vertraglich verpflichtet war, keine Fragen zu Meeresspiegel, sterbenden Weichtieren, Korallenriffen oder Walen zu beantworten.

Eine Rubrik trug die irrige Überschrift Neues von den Passagieren. Eine Rubinhochzeit inklusive Foto der Jubilare mit Champagnerflöte in der Hand. Soundso war gestorben. Ich stellte mir vor, wie Mia auf der Suche nach Geschichten über das Schiff lief. Sie hatte Dienst in der Nachrichtenredaktion und hasste ihren Job. Sie sagte, alle hier hätten dieselbe Geschichte, alle wären reich und unglücklich.

Nach der Newsletterlektüre bereiteten wir das sogenannte Twilight vor, die frühen Abendstunden, in denen wir Yéyé spielten und Himbeermartinis servierten. Die Leute schauten vorbei, um vor dem Abendessen noch schnell etwas zu besorgen. Einige der weiblichen Passagiere kauften Abendkleider, Catsuits oder Blusen, die sie gleich anbehielten und zum Essen trugen. Ich wurde meistens für die Umkleiden eingeteilt, weil ich ein Talent für klemmende Reißverschlüsse und Small Talk mit Ehemännern hatte. Ich hatte generell eine ziemlich gute Vorstellung davon, was Ehemänner sich wünschten, und ich kam ihren Wünschen gern nach. Aber noch bevor ich meinen Posten beziehen konnte, tauchte ein Kurier im Eingangsbereich auf und eilte mit einem von sich gereckten Umschlag auf mich zu. Der Umschlag war schlicht und hellbraun und wirkte sehr bescheiden.

Ingrid, sagte er. Bist du Ingrid?

Ja, sagte ich.

Glückwunsch, sagte er. Du hast ein Memo von Keith.

Er überreichte mir den Umschlag. Ich hielt ihn mir unter die Nase und inhalierte. Das Papier roch nach Butter und Malz, wie ein Kuchen, dem die entscheidende Zutat fehlt. Mein Herz klopfte schneller. Plötzlich stand Zach neben mir.

Mach auf, sagte er.

Ich sah ihn an. Nun mach schon, sagte er. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.

Ich schob einen Finger unter die Lasche und riss den Umschlag auf. Meine Hände zitterten ganz leicht. Ich hielt mir das Blatt vors Gesicht, sah den WA-Briefkopf und Keiths geschwungene, schräge Unterschrift. Ich fuhr mit dem Daumen darüber, um herauszufinden, ob sie echt war oder fotokopiert. Den Text las ich kursorisch und in Batzen, als äße ich ein Menü in der falschen Reihenfolge. Aber ich wusste auch so, was da stand. Ich hatte es gewusst, als ich den braunen Umschlag gesehen hatte.

Ich wurde auserwählt, sagte ich.

Ich gab Zach den Brief und sah ihn in gespielter Überraschung an, als bräuchte ich, um es wirklich glauben zu können, seine Bestätigung. Aber eigentlich wollte ich nur, dass er es mit eigenen Augen sah. Ich wollte es ihm unter die Nase reiben. Zach verdrehte den Kopf der Gelenkleuchte und richtete den Lichtstrahl aufs Papier. Ich sah, wie seine Augen sich beim Lesen ruckartig bewegten. Mit einer angespannten Miene des Bedauerns gab er mir den Brief zurück.

Das soll wohl ein Witz sein, sagte er.

Ich bin drin, oder?

Du bist drin, sagte er. Scheiße noch mal.

Er rupfte mir den Brief wieder aus der Hand.

Was mache ich jetzt?, fragte ich.

Du sagst natürlich ja.

Okay. Genau. Zu wem?

Zu Keith. Bei der Zeremonie.

Zach sah mich ebenso nervös wie eindringlich an. Es war einfach nur ermüdend.

Wann ist die Zeremonie?, fragte ich.

Wie kannst du das nicht wissen? Wozu hast du dich überhaupt beworben? Sein Gesicht wurde starr. Morgen, sagte er. Höchstwahrscheinlich.

Ich hob den Kopf und sah Passagiere durch den Laden gehen. Die Kleidersäume der Frauen streiften den Boden und setzten Staub an. Die Männer trugen Schwarz-Weiß und hatten breite, kantige Schultern. Der Abend konnte beginnen. Ich steckte den Brief ein und sagte Zach, ich müsse los. Warum ich das sagte, weiß ich nicht. Er war nicht mein Vorgesetzter, ich war ihm keine Erklärung schuldig.

Meine Schicht ist vorbei, sagte ich.

Für dich ist noch viel mehr vorbei, sagte er.

Was soll das heißen?

Zach strich über die Tasten der Kasse und spielte den Beschäftigten.

Ich glaube, du weißt genau, was das heißen soll, murmelte er mit gesenktem Kopf.

Ich ging durch den Shop und fragte mich, was mich an Zach eigentlich so störte. Vielleicht sein übertrieben taktiler Umgang mit der Kasse und ihrem Inhalt. Manchmal erwischte ich ihn dabei, wie er mit den Fingerspitzen über das falsche Kreuzfahrtgeld fuhr. Manche Kunden wollten nur damit bezahlen. Einmal hatte er mir erzählt, Keith habe die Scheine persönlich entworfen und in der Illustration alle möglichen geheimen Bedeutungen versteckt. Der Tiger stehe beispielsweise für Macht. Ich warf einen Blick über die Schulter; Zachs helle, irre Augen starrten mir nach. Ich beschleunigte meine Schritte, erreichte den Ausgang und fühlte mich wie ein Ballon am Himmel oder wie ein Tier, das sich von der Kette losgerissen hat, ungebunden und frei.

Nach einer Schicht ging ich normalerweise direkt in meine Kabine. Wenn ich mich von Aufzügen, Rolltreppen und Laufbändern fernhielt, brauchte ich für den Weg ungefähr eine halbe Stunde, eine eher durchschnittliche Strecke auf dem Schiff. Ganz zu Anfang hatte ich die Vorstellung, dass man hier an ein und demselben beweglichen Ort viele unterschiedliche Leben führen konnte, noch sehr aufregend gefunden. Man konnte in einem der unzähligen Restaurants essen oder in einem der vielen Pools schwimmen, jeder davon einzigartig im Hinblick auf Form, Tiefe, Wassertemperatur und Konzept. Man konnte Minigolf spielen, mit der Seilrutsche fahren oder aus einem der Escape Rooms entkommen, die es in gleich mehreren thematischen Ausführungen gab. Man konnte sein Falschgeld in einen kitschigen Brunnen werfen oder durch einen vertikalen Garten klettern. Es gab eine Zeitung und ein Fernsehstudio. Eine Konzerthalle. Ein Krankenhaus.

Aber obwohl mich gerade dieses Kaleidoskop aus unbestreitbar unterhaltsamen Angeboten auf die WA geführt hatte, musste ich mir nach dem ersten Jahr eingestehen, dass ich die meiste Zeit einfach nur in meiner Kabine saß oder mich zu einfallslosen Unternehmungen mit Mia und Ezra verabredete. Es gab bestimmte Aktivitäten, die wir jeweils zu zweit unternahmen und die der Feinjustierung unserer besonderen Gruppendynamik dienten. Mia und ich sahen uns Filme im Kino an, wo wir uns Popcorn und ein Getränk teilten. Oder wir gingen spazieren und danach zum Abendessen in die Personalkantine. Mia hatte Energie, und sie verströmte Energie, was wohl etwas mit ihren spitzen Gesichtszügen zu tun hatte. Ezra wirkte hingegen eher beruhigend. Mit ihm lag ich am Crewpool, ohne je ins Wasser zu gehen, oder wir trafen uns in seiner Kabine und sahen stundenlang fern. Manchmal hängten wir uns einfach nur über die Reling und betrachteten das Meer. Wenn wir alle drei frei hatten, was nur selten vorkam, spielten wir Familie.

An dem Tag, an dem ich das Memo bekommen hatte, ging ich über den Boardwalk nach Hause, die Hauptpromenade im Herzen des Schiffs. Auf diesem abgesenkten Abschnitt, der von endlosen Rängen darüberliegender Decks gesäumt war, tummelten sich herausgeputzte Passagiere zwischen überdachten Imbissbuden und Straßenkünstlern. Unechte Zirkusmusik aus riesigen Boxen übertönte das Meeresrauschen. Die Menschenmenge zu durchqueren, dauerte eine ganze Weile. Ich war unter Deck mit Mia und Ezra verabredet.

Ezra bewohnte wie ich eine Einzelkabine. Die ohnehin schon weißen Wände hatte er mit lockeren weißen Baumwolltüchern verhängt, angeblich wegen ihrer Oberflächenstruktur. Er sagte, weil alles auf dem Schiff so glatt und rutschig sei, fühle er sich wie ein Kater in einer Badewanne. Er scharrte mit den Pfoten und fand keinen festen Halt.

Ich habe dir Wassermelone hingestellt, rief er aus dem Bad. Er arbeitete in der Personalküche und brachte immer das übrig gebliebene Obst mit.

Mia kommt ein bisschen später. Er trat aus dem Bad und trocknete sich mit einem Handtuch das Gesicht ab. Möchtest du fernsehen?

Ezra war Mias kleiner Bruder, aber sie ähnelten einander kein bisschen. Seine Haut hatte einen Olivton wie die von Mia, war aber viel heller, fast als wäre er verblichen. Er wirkte immer wie ein Mensch zwischen Tür und Angel. Er war gutmütig, aber unentschlossen. In seiner Nähe zu sein, fühlte sich oft wie reiner Zufall an, selbst bei unseren geplanten Verabredungen. Oft riss er mitten im Gespräch die Augen auf, als wäre er überrascht, mich zu sehen.

Er schaltete den Fernseher ein. Das Bett hinter ihm war ungemacht. Auf dem Laken lagen ein Buch über bessere Kommunikation am Arbeitsplatz, ein Teelöffel mit Schmutzring und eine Styroporbox voller angetrockneter Schlieren aus Ketchup und Senf. Drei Pommes waren noch übrig. Mir fiel auf, dass Ezra sich noch kein Hemd angezogen hatte.

Wie wäre es mit Friends?, fragte er. Oder Der Prinz von Bel-Air?

Mir egal, sagte ich. Was immer du willst.

Ich fragte mich, warum ich immer so aggressiv klang, selbst wenn ich sanft und umgänglich rüberkommen wollte.

Ezra wischte einmal mit dem Unterarm über das Bett, und der ganze Müll fiel zu Boden. Er setzte sich hin, rutschte zur Seite und lehnte sich mit dem Rücken an den Wandstoff. Seine Kabine war fensterlos. Ich streckte mich neben ihm aus, und dann sahen wir fern. Chandler war zusammen mit einem Model in einem Geldautomatenvorraum eingesperrt. Wir lachten, als er sagte, ein Kaugummi sei einwandfrei. Ich war müde, kurz vorm Einschlafen, als Ezra mir plötzlich laut und ohne Vorwarnung in die Haare hustete. Ich legte mir eine Hand an den Hinterkopf. Ich wusste nie genau, ob ich Ezra wirklich liebte oder nur bemitleidete. Mitleid von Liebe zu trennen, war mir immer schon schwergefallen.

Ich wurde auserwählt, sagte ich.

Auserwählt wofür?

Für diese Sache, sagte ich. Als ob du das nicht wüsstest.

Ach, das. Ich wusste gar nicht, dass du dich beworben hast.

Ja. Habe ich.

Na dann, sagte er. Schön.

Eine Katze sprang Ross auf den Rücken. Er versuchte, sie abzuschütteln, aber sie krallte sich fest. Sein Pullover hatte die Farbe eines Sonnenuntergangs.

Wann kommt Mia?, fragte ich.

Bald.

Obwohl ich mich mit keinem Menschen auf der Welt wohler fühlte als mit Mia, machte sie mich immer noch nervös. Lange Zeit hatte ich geglaubt, es läge an ihrer Schönheit, aber vor kurzem war mir klar geworden, dass der Grund ein anderer war: Ihr war absolut egal, ob sie gemocht wurde. Einmal sagte Ezra zu mir: Es ist nett, nett zu sein. Und ich musste ihm recht geben, es war tatsächlich nett, nett zu sein. Das kumpelhafte Miteinander der Nettigkeit gab mir viel. Es bedeutete, dass die Leute einem nicht zu lange ins Gesicht sahen. Für Mia hatte es allerdings keinen Reiz. Manchmal konnte man fast zuschauen, wie sie beschloss, unfreundlich zu sein.

Weißt du, was ich mir wünsche?, fragte Ezra mit lauter Stimme. Er musste Monica übertönen, die sich gerade furchtbar über Kekskrümel oder Tintenflecken oder etwas in der Art aufregte. Ich wünsche mir, dass alle Tücher plötzlich auf mich runterfallen. Dann wäre ich herrlich eingemummelt.

Wenn du möchtest, machen wir das.

Er hustete wieder in meinen Nacken.

Ich hörte Mia draußen vor der Tür. Sie schnaufte, schob die Schlüsselkarte in den Schlitz.

Mia!, rief ich zur Begrüßung.

Hallo, sagte sie schwer und gedehnt, dann ließ sie sich quer auf uns fallen.

Ich hatte Mia bei der Einführung kennengelernt. Wir waren in Zweiergruppen aufgeteilt worden und sollten einander fünf geschlagene Minuten lang in die Augen sehen. Angeblich förderte das Nähe und Vertrauen zwischen den Angestellten. Ich musste an meinen Mann denken und wie ich, statt ihn zu fragen, warum er so schlechte Laune hatte, seinen Suchverlauf durchgegangen war. Dass ich im Badezimmer hastig und lautlos masturbiert hatte, statt ihm Sex vorzuschlagen. Ich wollte keinen Blickkontakt mit Mia. Ich wollte mit niemandem Blickkontakt.

Bis zu dem Tag hatte ich mir Blickkontakt immer als eine gegenseitige Annäherung vorgestellt, und am Ende trifft man sich in der Mitte. Zwei Steinengel stehen rechts und links von einem Brunnen und speien einander an, und über dem Becken schließen sich die Wasserstrahlen zusammen. Aber als ich Mia in die Augen sah, merkte ich, dass es sich keinesfalls um einen ausgewogenen Vorgang handelt; es ist vielmehr so, dass die eine Person der anderen in den Mund spuckt. Eine gibt, die andere empfängt. Und gegen ihren Blick konnte ich ungefähr so viel ausrichten wie ein würgendes Haustier gegen die Spritze, mit dem ihm ein Antibiotikum ins Maul geträufelt wird. Ich erinnerte mich an den Jungen von meiner Schule, der über den Hof gelaufen war und gerufen hatte: Du bist jetzt meine Freundin! Danach war ich zwei Jahre lang seine Freundin gewesen. Wahrscheinlich hatte ich es einfach hingenommen. Anscheinend musste man mir alles erklären. Du bist die Richtige für mich. Es war, als hätte Mia bei der Einführung genau das zu mir gesagt.

Hast du die Neuigkeit schon gehört?, fragte Ezra.

Mia rollte sich auf den Rücken.

Welche?, fragte sie. Was ist die Neuigkeit? Wenn du was Neues weißt, solltest du mir davon erzählen!

Ich wurde auserwählt.

Auserwählt?, fragte sie. Oh, warte mal. Auserwählt?

Ich nickte. Ezra beugte sich herüber. Mia, willst du Wassermelone? Ich habe Wassermelone da.

Nein, danke, Ezra, sagte sie. Und, wie geht es dir damit? Hast du es heute erfahren? Ist die Zeremonie morgen?

Kann sein, sagte ich. Und es geht mir gut damit. Keine Ahnung. Wir müssen nicht drüber reden.

Wow, sagte Mia, setzte sich auf und stellte sich dann hin. Warum du?

Wie meinst du das?

Ich meine, warum haben sie dich ausgewählt?

Ja, schon klar.

Nein, nein. Es ist nur so, ich habe immer gedacht, die Leute, die sie auswählen, wären irgendwie … besonders.

Können wir jetzt bitte Familie spielen, ging Ezra dazwischen. Ich werde müde.

Mia drehte sich zu ihm um. Sicher, sagte sie trocken.

Familie geht so: Einer ist die Mutter. Einer ist der Vater. Einer ist das Baby. Ich weiß nicht mehr, wie wir darauf kamen, es hatte sich irgendwie so ergeben, und nach einer Weile gaben wir dem Ganzen einen Namen und machten es damit offiziell. Die Rollen wechselten, aber alle waren sich einig, dass Baby die beste war. Wenn wir uns müde oder uninspiriert fühlten, legten wir das Baby einfach aufs Bett, brachten ihm etwas zu essen und gaben ihm das zu trinken, was gerade da war. Wir strichen ihm über den Kopf und flüsterten ihm beruhigend ins Ohr. Manchmal hatten wir mehr Phantasie und erarbeiteten ein komplexes Szenario, so etwas wie: Der Vater hat vor kurzem herausgefunden, dass die Mutter ihn betrügt, will sie aber nicht zur Rede stellen, während die Mutter einen Knoten in ihrer linken Brust entdeckt hat, der eine latente Essstörung zum Ausbruch bringt, und das Baby leidet unter einer Refluxösophagitis und schläft praktisch nie.

An dem Abend waren wir nicht gerade unternehmungslustig, also entschieden wir uns für das Standardszenario. Ich war mit Baby dran. Ezra war die Mutter und Mia der Vater. Mia deckte mich zu und legte mir einen Handrücken an die Stirn.

Mum, sagte sie, ich glaube, sie hat Fieber.

Wirklich?, fragte Ezra. Denn als ich heute mit ihr unterwegs war, ging es ihr die ganze Zeit gut.

Er setzte sich ans Fußende und berührte meine Waden.

Kann sein, dass sie tatsächlich ein bisschen warm ist, sagte er. Würdest du bitte einen kalten Waschlappen holen?

Mia ging ins winzige Bad und kehrte mit einer Mullbinde zurück, die sie nass gemacht und ausgewrungen hatte. Sie gab sie Ezra, der vom Fußende aufstand und mir das Gesicht damit abtupfte.

Na, na, sagte er. Ich habe gar nicht gemerkt, wie schlecht es dir geht, meine Kleine. Zärtlich legte er mir den Lappen auf die Stirn. Hoffentlich hat sie sich nichts eingefangen. Es gehen gerade ein paar fiese Infekte um.

Sicher ist es nichts Schlimmes, sagte Mia. Wir behalten sie einfach im Auge.

Würdest du bitte leiser sprechen?, sagte Ezra. Immer machst du das. Kommst rein und schreist rum.

Ich schreie nicht, flüsterte Mia laut. Besser?

Viel besser, sagte Ezra. Danke.

Ich lag da und genoss das kühle Gewicht der Kompresse. Das Schiff schaukelte sanft. Ich döste ein. Manchmal bekam ich einen Gesprächsfetzen mit; Mia und Ezra diskutierten darüber, dass Mia mich ständig mit nach draußen nahm, selbst wenn meine Haare noch nass waren.

Ich wachte auf, als Ezra mit einem Finger über meinen Oberarm strich. Essenszeit, sagte er und hielt mir eine Flasche mit Aloe-Vera-Wasser vors Gesicht. Mia schob mir eine Hand unter den Kopf, ich reckte den Hals, und Ezra gab mir aus der Flasche zu trinken. Sie war nur noch zu einem Viertel gefüllt, und ich trank den ganzen Rest, obwohl er unangenehm sämig und süß schmeckte. Als ich fertig war, tupfte Mia mir mit einem Tuch die Lippen ab.

Gut gemacht, sagte sie.

Gut gemacht, wiederholte Ezra. Er zog meinen Oberkörper in die Höhe und massierte mir mit kleinen, kreisförmigen Bewegungen den Rücken. Ich rülpste leise. Sehr gut, sagte er. Lass alles raus.

Willst du mal Wassermelone probieren?, fragte Mia und hielt ein dreieckiges, tropfendes Stück in die Höhe. Ich schob meine Lippen über meine Zähne und biss hinein. Der Saft lief mir über Kinn und Hals. Mia fing ihn mit dem Tuch auf.

Du dummes kleines Ding, sagte sie.

Du hast einen Tropfen übersehen, sagte Ezra. Lass mich mal.

Er nahm Mia das Tuch aus der Hand und wischte mir beflissen den Mund ab. Dann gab er es ihr zurück.

Können wir zum Ende kommen?, fragte sie, ließ das Tuch sinken und fiel aus der Rolle. Um zwölf läuft Pulp Fiction.

Für Keiths Mentorenprogramm hatte ich mich beworben, weil ich in einer Nachricht dazu eingeladen worden war. Als die Nachricht auf meinem Tablet aufgeploppt war, hatte ich mich in meiner leeren Kabine umgesehen und mich gefragt, ob es sich um einen verwaltungstechnischen Fehler handelte, aber dann wurde mir etwas klar: Ja, ich war tatsächlich ein kleines bisschen besser als meine Kollegen, war es immer schon gewesen. Ich war ein kleines bisschen fleißiger. Mit ein bisschen mehr Begeisterung dabei. Aus demselben Grund hatte ich eine Kabine mit Fenster und die anderen nicht. Keine Frage, ich würde mich bewerben.

Die Bewerbung war aus drei Teilen zusammengesetzt. Zunächst kam der Eignungstest, der aus den üblichen standardisierten Logik- und Psychometrieaufgaben bestand: lange Reihen aus teilweise geschwärzten Kästchen, die in die richtige Reihenfolge gebracht werden wollten, Fake-Zeitungsartikel über den Zustand der Autoindustrie oder die Französische Revolution, die es zu verstehen galt. Beim zweiten Teil musste ich mich selbst filmen und erklären, warum ich am Programm teilnehmen wollte. Zum Schluss sollte ich in einem Aufsatz darlegen, was Wabi-Sabi mir bedeutete und wie ich das Prinzip im Alltag umsetzte. Der erste Teil war knifflig. Zwar hielt ich mich für überdurchschnittlich intelligent, aber das traf wohl auf die Mehrheit der Crew zu. Der zweite Teil fiel mir schon leichter. Ich hatte an allen verfügbaren Kundendienstschulungen teilgenommen und wusste, wie sich Interesse vorschützen ließ. Und ich wusste auch, dass der entscheidende Teil der letzte war.

Ich überlegte lange und schritt in meiner Kabine auf und ab. Ich spielte mit dem Gedanken, einen fauligen Apfel zu essen und seinen Geschmack und seine kristallinen Goldschattierungen zu beschreiben, aber da fiel mir meine Zahnbürste ein. Vor ein paar Monaten war das Ende des Griffs abgebrochen. Ich schrieb, seither sei die Zahnbürste aus einem rätselhaften Grund schöner als zuvor; die Unvollständigkeit verleihe ihr einen eigenen Reiz, eine unbestreitbare Anmut. Ich schrieb, dass sie kaputtgegangen war, weil ich sie mir zu schnell aus dem Mund gerissen hatte, und dass dabei auch einer meiner Zähne beschädigt worden war. Wie ich das muschelförmige Stückchen in der Hand gehalten und untersucht hatte wie eine kleine Perle. Das Ganze war ein Unfall gewesen, aber nun war das dabei herausgekommen. Ich tippte auf absenden, ging ins Badezimmer und warf die Zahnbürste in den Mülleimer. Dann nahm ich mein Tablet, öffnete den Tab mit dem Warenangebot und bestellte eine neue.

Am Morgen nach meinem Besuch bei Mia und Ezra hatte ich frei, damit ich an der Initiationszeremonie teilnehmen konnte. Sie fand in Keiths Büro auf dem Oberdeck statt. Im Wartebereich saßen ein paar andere Leute, die wahrscheinlich ebenfalls zum Programm zugelassen worden waren. Eine Empfangsdame nahm meine Daten auf und bot mir ein Erdbeermochi und Gurkenwasser an, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Ihre Uniform war adrett und sauber, eine leere Leinwand der Effizienz. Vor dem Empfangstresen standen mehrere Reihen aus schwarzen Stühlen mit gerader Lehne, dahinter waren flache Sitzkissen zu einem Kreis am Boden ausgelegt. Ich holte mir ein Glas Wasser und ein kätzchenförmiges Mochi, nahm im Schneidersitz auf einem der Kissen Platz und biss dem Mochi den Kopf ab, samt geschlossenen Augen und aufgemaltem Mund. Ich nippte am Gurkenwasser. Es schmeckte bitter und abgestanden. Zwischen meinen Backenzähnen setzten sich Gurkenfasern.

Ich sah mich im Wartebereich um. Wir waren zu zehnt. Zwei der Frauen erkannte ich wieder, Madeleine und Kai, und auch einen Mann mit Muttermal mitten auf dem Kinn. Mit Madeleine hatte ich in der Küche zusammengearbeitet, Kai kannte ich von meinem Dienst in einem der Casinos auf dem Unterdeck. Über Madeleine wusste ich nicht viel, aber das Casino hatte ich noch in lebhafter Erinnerung. Im Teppichflor versunkene High Heels. Bunte Lichter und Männer, die am Handy weinen. Kais Haare hatten säuerlich gerochen, wie billiger Wein. Den Mann konnte ich nicht einordnen, aber wir begrüßten einander mit einem knappen Nicken. Dieser kurze Moment der Kameradschaft löste ein Summen in meinem Unterleib aus, aber ob das Gefühl Nervosität war oder Aufregung, wusste ich nicht. Ich hatte einmal gehört, mit Nervosität würde man am besten fertig, indem man sich einredet, man wäre einfach nur aufgeregt. Die Körpersignale sind in beiden Fällen dieselben. Das Hirn lässt sich praktisch alles vorgaukeln.

Die Empfangsdame rief Kai auf, die sich erhob und zum Zeichen ihrer Ängstlichkeit die Schultern hochzog. Als die Tür geöffnet und geschlossen wurde, war ganz kurz Keiths Stimme zu hören. Ich war nervös. Oder aufgeregt.

Ich stand auf und holte mir noch ein Mochi, diesmal in Form eines Kaninchens. Ich setzte mich wieder hin, schob mir das Mochi in den Mund und merkte zu spät, dass ich kein Wasser mehr hatte. Ich konnte unmöglich ein drittes Mal zum Tresen gehen. Ich kaute und kaute, aber das Mochi veränderte weder seine Größe noch seine Konsistenz. Nach einer Weile gab ich auf, und als niemand hinsah, spuckte ich es in meinen Ärmel, wo es sich an mein Handgelenk schmiegte wie ein lebendiges Wesen. Die anderen starrten aufs Tablet oder hielten die Augen geschlossen wie beim Meditieren. Ich war erleichtert, dass niemand den peinlichen Moment mitbekommen hatte, gleichzeitig fühlte ich mich mit dem Albtraum alleingelassen. Irgendwann kam Kai mit geröteten Wangen und Tränen in den Augen heraus, und mein Name wurde aufgerufen. Ich erhob mich und achtete darauf, dass das Mochi nicht aus meinem Ärmel rutschte. Das Leben ist die Hölle, dachte ich und betrat Keiths Büro.

Es war ziemlich klein. Keith saß hinter dem Schreibtisch, auf dem nichts stand außer einem Baumscheibentablett mit zwei kleinen Schalen und einer gusseisernen Teekanne mit gekerbtem Bambusgriff. Ich setzte mich hin wie ein sehr braves Mädchen. Keith ragte hinter dem Schreibtisch auf und war viel größer als in meiner Erinnerung. Sofort war ich mit der Frage beschäftigt, ob ich ihn attraktiv fand, und falls nicht, ob der Umstand mich, sollte sich je eine Gelegenheit dazu ergeben, vom Sex mit ihm abhalten würde. Hoffentlich waren mir meine Gedanken nicht vom Gesicht abzulesen. Ich faltete die Hände und legte sie mir in den Schoß.

Ingrid, sagte Keith. Bitte, nimm Platz.

Danke, sagte ich. Aber ich sitze schon.

Verstehe, sagte er. Tja, dann mach es dir bequem.

Ich krümmte Schultern und Rücken, bis ich in eine möglichst bequeme Position gefunden hatte. Ich wartete ab, doch er schwieg.

Ich bin sehr dankbar für diese Chance, sagte ich und versuchte zu lächeln. Das feuchte Mochi drückte sich an mein Handgelenk.

Dankbar, sagte er. Interessante Wortwahl.

Er stand auf, griff zur Teekanne und schwenkte sie mit viel Trara. Auf einmal erinnerte er mich an meinen Vater kurz nach der Pensionierung, wie er in liebenswerter Umständlichkeit hinter dem Sofa herumgekramt hatte. Ich schaute zu, wie er den Tee in die Schalen goss. Der Tee roch nach Sojasauce und Kräutern. Keith nahm wieder Platz und deutete auf eine Schale. Ich beugte mich vor, nahm sie mit beiden Händen und blies reflexhaft auf die klare braune Flüssigkeit. Keith nahm seine Schale und hielt sie sich vor die Brust. Er wirkte dabei so niedlich und verlegen wie alle großen Männer, wenn sie etwas Mädchenhaftes tun.

Wusstest du, sagte Keith, dass das Wort dankbar sich von Gedanke, Wille, Absicht herleitet? Von großem Willen erfüllt. Ist das nicht interessant?

Ja, sagte ich. Sehr.

Er lehnte sich vor und schnüffelte am Tee. Die WA schlingerte ganz leicht, der Raum schwankte hin und her. Keith hob sich die Schale an die Lippen, trank einen Schluck und schloss genießerisch die Augen. Er wusste, dass ich ihn beobachtete. Er öffnete die Augen langsam, wie jemand, der nach einer Meditation zu sich kommt.

Etwas, worüber ich oft nachdenke, sagte er, ist die Einzigartigkeit des Augenblicks. Denkst du auch manchmal über Einzigartigkeit des Augenblicks nach?

Nein, sagte ich höflich.

Tja, solltest du vielleicht.

Er stellte die Schale aufs Tablett zurück und betrachtete sie. Sie war moosgrün und leicht asymmetrisch. Das Licht spiegelte sich darauf.

Diese Schale nennt sich Chawan.

Ich nickte.

Das ist Japanisch, sagte er.

Oh.

Das japanische Wort für Schale.

Er fuhr mit dem Finger über den Rand, zeichnete Dellen und Erhebungen der langsam rotierenden Landschaft nach. Er hielt sie schräg, um mir die matte Unterseite zu zeigen.

Ingrid, sagte er. Bist du mit der japanischen Ästhetik des Wabi-Sabi vertraut?

Ja, sagte ich schnell. Bin ich.

Und?, sagte er.

Ich setzte mich auf. Ich war hellwach, ich wollte ihm gefallen und hatte keinen Grund, es zu verstecken.

Alles verschwindet im Nichts und alles kommt aus dem Nichts, sagte ich auf.

Genau, sagte er. Er rieb sich übers Gesicht, führte sich abermals die Schale an den Mund. Weißt du, ich war in Japan. Er hielt inne, sah gedankenverloren zur Seite. Ein paarmal sogar.

Wow, sagte ich.

Was ist mit dir?, fragte er. Warst du schon mal in Japan?

Nein.

Du solltest unbedingt hin, sagte er. Falls sich eine Gelegenheit ergibt.

Ja, sagte ich.

Er nickte. Trink den Tee.

Ich betrachtete meine Schale. Sie war regengrau und uneben. Kein Licht spiegelte sich darin. Ich hob sie mir an die Lippen und trank. Der duftige, schwache Tee hatte einen eigenartigen Nachgeschmack. Das Gewicht der Schale in meiner Hand fühlte sich beruhigend an, wie damals mein Ehemann, wenn ich ihn während einer Panikattacke bat, sich auf mich zu legen. Keith am Schreibtisch richtete seinen Blick auf mich, hinter ihm erschien der Horizont.

Wie seltsam, sich vorzustellen, sagte er, dass derselbe schöpferische Zufall, der diese Schale formte, der Ursprung deines und meines Lebens ist.

Ich blinzelte in meine Schale und bemerkte dunkle Spuren, die sich am Boden abgelagert hatten. Ich bewegte sie hin und her und versetzte die weichen Körnchen in Bewegung.

Das ist doch bemerkenswert, oder?, fragte Keith.

Ich lächelte breit. Ja, wirklich, sagte ich.

Einige Sekunden verstrichen, und ich konnte sehen, wie Keith sich eine Meinung über mich bildete. Er streckte den Arm aus, nahm meine leere Schale, setzte sie in seine und stellte beide aufs Tablett zurück. Er erwiderte mein Lächeln, als wäre ich vage und schwer zu fassen, letztlich aber eine sehr verständige Person.

Irgendwie hast du was, sagte er. Ich weiß aber nicht genau, was.

Danke, sagte ich.

Bitte. Die meisten Leute würden das nicht als Kompliment aufnehmen.

Ich nehme, was ich kriegen kann, sagte ich.

Ganz kurz wirkte Keith peinlich berührt. Zum ersten Mal kam mir in den Sinn, dass ich älter sein könnte als er, und ich fragte mich, ob damit eine gewisse Fürsorgepflicht einherging.

Nun, das Programm hat begonnen, sagte er, und du bist dabei. Glückwunsch.

Danke.

Du hast dich bereits bedankt. Er runzelte die Stirn. Aber bitte.

Er reichte mir die Hand, und ich schüttelte sie. Das nasse Mochi beulte meinen Ärmel aus. Ich hatte es komplett vergessen, war aber, als ich es plötzlich an meinem Handgelenk spürte, seltsam erleichtert. Es klammerte sich an, als hätte es keine Angst davor, bei mir zu bleiben. Ich drehte mich langsam um und schob die Tür auf.

Ingrid, rief Keith hinter dem Schreibtisch. Vergiss nicht, immer das Beste aus dir herauszuholen, okay?

Ich drehte mich noch einmal um und nickte ernst.

Nein, sagte ich.

Ich war dankbar. War ich wirklich.

Als ich später an dem Tag zur Arbeit kam, roch der Geschenkeshop nach Salz und schaukelte heftig. Eine Zeit lang hatten wir relativ ruhiges Wetter gehabt, aber nun schien alles in ständiger Bewegung. Was mich leicht nervös machte, denn ich war keine gute Schwimmerin. Genauer gesagt hatte ich nie schwimmen gelernt. Im Bewerbungsverfahren war die Frage nur ein einziges Mal aufgekommen, und natürlich hatte ich gelogen und behauptet, ich hätte als Kind jeden Sommer in irgendwelchen Hotelpools geplantscht und jedes lange Wochenende am Meer verbracht. In meinen Augen war die Frage eher nebensächlich.

Für den Fall, dass das Schiff in Schräglage geriet oder heftig schlingerte, gab es konkrete Verhaltensvorschriften, aber eigentlich blieb das meiste dem gesunden Menschenverstand überlassen. Beispielsweise ab welchem Moment Turbulenzen als echte Gefahr gelten konnten oder wann wir handeln mussten. Als ich den Shop betrat, war Zach schon dabei, kleinere Objekte in die Drahtkörbe zu legen. Die Deko, rief er, sobald er mich sah, um Gottes willen, Ingrid, hilf mir, die Deko zu sichern! Ich schaute zu, wie er ungeschickt kleine, in Halbedelsteine eingelassene Uhren und alte, zu Pillendosen umfunktionierte Thunfischbüchsen aus den Regalen holte. Er arbeitete schon viel länger im Shop als ich, deshalb fand ich seine Inkompetenz wirklich abstoßend.

Ich stellte mich an die Kasse und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während ich auf meinem Tablet Mias alte Nachrichten las. Der Shop schwankte. Zach räumte unbeirrt weiter.

Die Glaswaren, sagte ich nach einer Weile. Zuerst sollten wir uns um die Glaswaren kümmern.

O Gott, sagte er.