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Max, Paul, Simon, Fabrizio und Theo wird kurz hintereinander von ihren Frauen der Laufpass gegeben. Nach und nach ziehen sie alle in eine alte Schule in Paris ein, die Max gerade zu einer Pension umbaut. Als Mitbewohner gegen ihren Willen läuft das Zusammenleben im Alltag nicht immer reibungslos, doch die fünf raufen sich zusammen und bei gemeinsamen Ausflügen und Gesprächen über Frauen und Gefühle gewinnen sie neue Einsichten in das Beziehungsleben. Ihre Welt ist in sich zusammengefallen. Wird es ihnen gelingen, eine neue zu erfinden? Eines ist sicher: Auf die Liebe werden sie nie verzichten.
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Seitenzahl: 197
ÜBERDIESESBUCH
Frau weg, Haus weg, Ego weg – fünf Männer haben vier Monate Zeit, das Glück zu renovieren.
Max, Paul, Simon, Fabrizio und Théo wird kurz hintereinander von ihren Frauen der Laufpass gegeben. Nach und nach ziehen sie alle in eine alte Schule in Paris ein, die Max gerade zu einer Pension umbaut. Als Mitbewohner wider Willen läuft der Alltag unter Männern nicht immer reibungslos, doch die fünf raufen sich zusammen und bei gemeinsamen Ausflügen und Gesprächen über Frauen und Gefühle gewinnen sie neue Einsichten in das Beziehungsleben. Wie ein Kartenhaus ist ihre Welt eingestürzt. Wird es ihnen gelingen, eine neue zu erfinden? Eines ist sicher: Auf die Liebe werden sie nie verzichten.
Herzerfrischend, melancholisch und voller Liebe zum Leben – Karine Lambert ergründet, was das Menschsein ausmacht.
ÜBERDIEAUTORIN
Karine Lambert ist eine belgische Fotografin und Schriftstellerin. Nach längeren Aufenthalten in verschiedenen Ländern lebt sie heute wieder in ihrer Geburtsstadt Brüssel. Ob in Bildern oder Worten, immer erzählt Karine Lambert von der Freude und der Liebe, von der Verletzlichkeit und der Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Die Romane der Bestsellerautorin erscheinen in über 25 Ländern.
KARINE LAMBERT
ROMAN
Aus dem Französischen
von Pauline Kurbasik
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Copyright © 2021 by Karine Lambert
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel
Les hommes aussi ont la chair de poule
bei Storylab Éditions, Paris.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2021
by Diana Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Uta Rupprecht
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München
Umschlagmotiv: © Shutterstock.com (Birsen Cebeci;
Amitofo; James Daniels; whiteisthecolor; whiteisthecolor;
Ellegant; Nowik Sylwia; popicon; NadzeyaShanchuk;
VikiVector; Norbert9; Gwoeii; Kamila Bay; red rose)
Satz: Leingärtner, Nabburg
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-641-27730-7V001
www.diana-verlag.de
Für die Riesen des Papiers
Seit Monaten lernen sie das Tanzen auf dem Seil.
Die Selbstbeherrschung nicht verlieren und
trotzdem loslassen, Seiltänzer für einen Abend.
Claudie Gallay: Die Liebe ist eine Insel
1
Louise balanciert auf einem Hocker und hält eine Drahtrolle in der Hand. Zum dritten Mal versucht sie, das Schild mit der Aufschrift Hier bald Gästezimmer am Schultor zu befestigen. Auf Zehenspitzen probiert sie es noch einmal, schrammt sich auf, stürzt fast vom Hocker, lässt das Schild fallen. Dann marschiert sie über den Hof und baut sich vor ihrem Mann auf.
»Ich mach das nicht mehr mit.«
»Was machst du nicht mehr mit?«
»Das ist ein Albtraum!«
»Was redest du da?«
»Diese Baustelle verschlingt dich mit Haut und Haaren. Du hörst mir nicht mehr zu, siehst mich nicht mehr, fasst mich nicht mehr an!«
Madame Gillou, die Nachbarin, öffnet das Fenster. Ob wohl die ganze Straße seine Frau schreien hört?, fragt sich Max, den Wuschelkopf voller Farbspritzer. Er macht eine beruhigende Geste. Louise ist jetzt völlig außer sich, außer Reichweite, selbst für ihn; sie schiebt ihn weg.
»Und wozu das Ganze?«, ruft sie. »Damit wir Fremdenführer spielen dürfen, den wunderbaren Butte-aux-Cailles anpreisen, Fahrpläne von Touristenbooten und Öffnungszeiten des Père Lachaise verteilen, die Restaurierung von Notre-Dame in allen Einzelheiten erklären? Und was noch? Die Bettwäsche von fremden Leuten waschen, uns ihre Urlaubsgeschichten anhören, uns gegenseitig die Einträge im Gästebuch vorlesen? Lächeln, lächeln und zur Abwechslung noch mal – lächeln. Sieben Tage die Woche, sechzehn Stunden am Tag. Keine Minute für sich, für uns. Und das noch nicht mal draußen, in der Sonne!«
»Louise, warte …«
»Glaubst du wirklich, ich klebe auch noch Etiketten auf die Marmelade? Ich ersticke! Mir steht dieses Leben bis hier! Es kotzt mich jetzt schon an!«
Louise versetzt dem randvollen Eimer einen Tritt und marschiert davon, ohne sich noch einmal umzublicken.
»Wo willst du hin?«
Wie versteinert hält Max die Maurerkelle in der Hand und starrt ihr hinterher. »Mir steht dieses Leben bis hier?« Was denn genau? Er? Das gemeinsame Projekt? An einer Säule des heruntergekommenen Schulhofs lässt er sich zu Boden gleiten, sein langer Körper sackt zusammen, der Blick der hellen Augen ist starr auf die Gipsspritzer am Boden gerichtet.
Deprimierend weiß.
Anrufen ist sinnlos, sie würde ohnehin nicht rangehen. Er wird hier duschen. Früh nach Hause gehen und mit ihr reden. Dann sieht sie, dass er den Kopf frei hat, sich ihr ganz widmen kann.
Es soll alles perfekt sein.
Wie ihr erster Kuss.
Sie waren zehn Jahre alt.
Er war ein noch kindlich pummeliger Junge, der häufig ein Tütchen Weingummis in der Hosentasche herumtrug. Oft brachte er Leckereien und nette Kleinigkeiten mit, um ihr eine Freude zu machen.
Sie war die Kleine mit dem lauten Lachen, den niedlichen Grübchen und den faszinierenden Sommersprossen. Ihr weißes Kleid erinnerte ihn an Puderzucker, luftige Baisers und Schlagsahne. Ein berauschendes Weiß.
So eine junge Liebe kann einen schon aus der Bahn werfen.
Wäre er nicht so ein Leckermäulchen gewesen, dann hätte er vielleicht nicht diesen unwiderstehlichen Drang gehabt, sie auf dem Schulhof zu küssen.
Wenn sie am Tag des Puppentheaters stattdessen ein rotes Kleid angehabt hätte, wäre seine Zukunft anders verlaufen. Feuerrot. Paprika. Chili. Flammen. Feueralarm …
Er hatte nur Augen für ihren Zopf, der im Takt ihrer wechselnden Launen hin und her schwankte. Er zog daran, sie drehte sich zu ihm um, und er drückte ihr seine Lippen auf den Mund. Louises Lippen schmeckten nach Fruchtbonbons. Lange verharrten sie reglos und mit geschlossenen Augen. Er schwankte, als säße er auf einem Holzpferd in Monsieur Marcels Karussell an der Place du Trocadéro.
Alle um sie herum riefen: »Verliebt, verlobt, verheiratet!« Er fühlte sich unbesiegbar, ungeahnte Glücksgefühle durchströmten ihn. Er gab ihr noch einen zweiten Kuss. An jenem Nachmittag wurde Louise für ihn diejenige, welche.
Bis er Louise begegnete, hatten Umzüge Max’ Leben bestimmt. Er wurde von einem Haus ins andere, von einer Schule in die andere verfrachtet, von Ägypten in den Libanon, mit einem Zwischenstopp in der Türkei. Er war besessen von ihrem Blick, ihren Augen, ihren Spielen, ihrer Präsenz, und hatte doch Angst, sie zu verlieren, wenn sein Vater wieder aus Paris wegversetzt wurde. Obwohl sie ihm einen wichtigen Platz in ihrem Herzen einräumte, obwohl er gern in eine Schule ging, wo der Unterricht in seiner Muttersprache stattfand, holte ihn das Heimweh nach früheren Spielkameraden, dem Nachbarshund, den Dialekten des Landes, in dem sie zuletzt gewohnt hatten, manchmal ein.
Auch mit zwanzig war er noch verrückt nach ihr. Er konnte nicht genug bekommen von ihren Sommersprossen, von ihrem Lächeln, ihrem ungestümen Wesen, davon, wie sie aus Filmen zitierte und sämtliche Figuren so überzeugend nachspielte. Sie war immer lustig, unersättlich, der Alltag mit ihr machte Spaß.
Mit dreißig schnitten sie die Hochzeitstorte an, weiß wie das Brautkleid. Alles war glatt, alles war übersichtlich. Bis hin zu diesen Wänden, die er mit Gips verputzte.
Ein vollkommenes Weiß.
Schon seit den Weingummis war sie mit Überraschungen am leichtesten zu verführen. Eine Erbschaft hatte ihm den Kauf ihrer »alten Schule« ermöglicht, die schon so lange leer stand. Dieser erinnerungsträchtige Ort gehörte nun für immer ihnen. Er hoffte, Louise auf diese Weise die Unbeschwertheit aus der Zeit ihres Kennenlernens zurückzugeben, die Leidenschaft der ersten Jahre ihrer Liebe. Er hatte es sogar geschafft, die Glyzinie zu retten, die sich an der Fassade entlangrankte.
Die Idee, die Schule zu einer Pension umzubauen, war ihnen damals gleichzeitig gekommen. Voller Begeisterung hatte sich Louise Namen für die Zimmer ausgedacht: Bescherelle, Carambar, Mademoiselle Bergamotte, Caran d’Ache und Petit Écolier. Und jetzt wirft sie ihm vor, dass er seine ganze freie Zeit der Schule widmet. Anfangs war die Renovierung ihr gemeinsames Projekt gewesen. Dieses Abenteuer sollte ihnen die Familie ersetzen, die sie nicht gründen konnten. Für Louise kam eine Adoption nicht infrage. Sie wollte ein eigenes Kind, das eigene Fleisch und Blut, oder gar keins. Er war da nicht so radikal, akzeptierte jedoch ihre Entscheidung, weil er sie so sehr liebte. Nach und nach entfernten sie sich von ihren Freunden, die Kinder bekommen hatten. Schafften Abstand zwischen sich und dem Entzücken, dem Stolz, den Familienurlauben und den Sorgen. Und den Anekdoten, vor allem den Anekdoten: Das hundertzwanzigste Bild eines Hosenmatzes, das ihnen zur Bewunderung vorgelegt wurde, war die Initialzündung gewesen.
Monatelang hatten sie jeden Abend Baupläne gezeichnet. Louise hatte die Webseiten für Innenausstattung und Design durchforstet und sich für verschiedene Weißtöne begeistert: Eierschale, Kreide, Schnee … Leuchtend. Zeitlos. Daran sieht man sich nicht satt, hatte sie beteuert. In letzter Zeit war sie genervt von Kleinigkeiten und sprach immer seltener über die gemeinsame Zukunft. Wann haben sie das letzte Mal miteinander geschlafen? Vielleicht an dem Tag, an dem sie die Spülbecken aufstellten. Louise wird ihn doch nicht ein paar Wochen vor der endgültigen Fertigstellung verlassen, nur weil sich die Renovierung so hinzieht? Unmöglich! Das hat sie nicht gesagt. In Sachen Liebe kennt er niemanden außer ihr. Sie sind seit Ewigkeiten zusammen, ihre Beziehung ist solider als alle anderen. Die Kinderlosigkeit hat sie zusammengeschweißt und in ihrer Zweisamkeit bestärkt.
Gedankenverloren zupft Max an seinem fadenscheinigen braunen Rollkragenpulli. Dann wechselt er, anstatt weiter die Wolle zu malträtieren, zur Arbeitshose und reibt den abgewetzten Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger. Wie früher, wenn er über Matheproblemen brütete.
Er steht langsam auf, geht zur ausgetretenen Eingangstreppe des Gebäudes; sein Gang ist nicht mehr der eines selbstsicheren Mannes, den nichts aus dem Gleichgewicht bringen kann. Eigentlich sucht er ein Werkzeug. Welches? Das hat er vergessen. Als Louise dermaßen entnervt durchs Tor gerauscht ist, hat sie seine Geschicklichkeit, alle Gewissheiten, alles Vertrauen mitgenommen. Seine sehnigen Hände wissen nichts mit sich anzufangen. Sein Körper ist plötzlich unbewohnt, sein Traum sinnlos in einem Leben ohne sie. Ein Leben ohne sie? So weit sind sie noch nicht.
Wie spät ist es? Er versucht, sich zu sammeln. Wie findet er aus der Starre wieder raus? Paul müsste gleich kommen, er hatte ihm seine Hilfe angeboten. Max hat ihn gebeten, sich um die Fliesen für die bodengleiche Dusche zu kümmern. Er hofft, dass sein Freund zu spät kommt, wie immer. Pauls Fantasie ist grenzenlos, wenn es um das Erfinden von Ausreden geht.
Auf dem langen Tisch im Speisesaal liegen alte Zeitungen, auf einer Werkbank Schraubenzieher, Metallbehälter stapeln sich unter der Treppe. Überall finden sich Häufchen aus feinen Sägespänen. Der typische Renovierungsgeruch nach frischer Farbe ist von beißendem Terpentin durchsetzt, das ihm in die Nase steigt. Die hohen Atelierfenster mit den schwarzen Stahlstreben bilden einen schönen Kontrast zu dem geschliffenen Beton. Licht fällt durch die Scheiben und färbt den Boden rötlich. Die Wände zwischen dem Speisesaal und der Sporthalle wurden entfernt, und der riesige freie Raum betont die offene Küche mit dem Tresen, der Edelstahlanrichte und dem anthrazitfarbenen Kühlschrank.
Die Bauarbeiten haben sich länger hingezogen als erwartet: drei Wasserrohrbrüche, eine durchgesackte Decke, eine schwer zu beschaffende Genehmigung. Kaum der Rede wert angesichts der einzigartigen Freude, diesen Ort renovieren zu dürfen.
Der Schock hat seine Gedanken durcheinandergewirbelt. Wenn er das geahnt hätte, dann hätte er sich niemals entschieden, Geschichte zu unterrichten. In den langen Schulferien hat er sich zu einem großartigen Handwerker gemausert.
Er hätte ein Sabbatjahr nehmen sollen, dann wäre er jetzt fertig.
Eines Morgens, als er gerade die Geländer blank scheuerte, war Louise mit einer schmutzigen Schürze in der Hand die Treppe heruntergekommen. »Max, ich kann nicht mehr!«
Er hätte das Ultimatum hören müssen, die unausgesprochene Dringlichkeit.
Seit zwei Jahren liebkost er diese Wände, spachtelt noch den kleinsten Riss wieder zu. Er hat sich in das Projekt verbissen. Er hat Zeit und Geld investiert. Er hat immer weiter renoviert.
Malen, schleifen, Decken einziehen, Unebenheiten ausgleichen, Dinge glätten, Harmonie erzeugen.
Stattdessen hätte er sie zu einer Pilgerreise auf dem Jakobsweg einladen sollen. Das wäre wenigstens verlässlich gewesen: die sechsundzwanzig Etappen im Lauf von mehreren Jahren, mit Kompass und Pflastern im Rucksack.
Dann hätte sie ihn nicht mit siebenundvierzig Jahren auf einer unfertigen Baustelle stehen lassen. Seine Kindheitsliebe, sein Mädchen mit den Sommersprossen und dem weißen Kleid war ausgerastet. Die erste Liebe. Die große Liebe. Handwerken, ein Haus bauen, das kann er, aber von ihr nicht geliebt werden und sie nicht mehr lieben … dazu fehlt ihm das Werkzeug.
Die Luftblase in der Wasserwaage ist verrutscht, er muss wieder für das richtige Gleichgewicht sorgen. Heute Abend werden sie darüber reden, dann ist alles wieder im Lot.
Ohne es zu merken, hat er noch einen Riss zugespachtelt, der ihm entgangen war. Es klingelt. Louise hat ihre Schlüssel vergessen, sie hat sich beruhigt und will sich entschuldigen. Max legt die Kelle hin, um ihr aufzumachen.
Am Tor steht Paul, mit falsch zugeknöpftem Hemd, roten Augen und verzweifelter Miene.
»Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist!«, ruft er. »Sie hat Schluss gemacht!«
2
Wie ein Anfänger habe ich mich erwischen lassen«, sagt Paul.
»Der Lieferwagen! Bist du bescheuert oder was?«
Max schubst ihn zur Seite, läuft zum rollenden Auto, springt hinein, zieht die Handbremse und bleibt einen Augenblick sitzen.
Paul betritt die Schule. Wie immer rühren ihn die Kleiderhaken auf Kinderhöhe. Wie immer beeindruckt ihn die Treppe. Die ausgetretenen und nicht aufgearbeiteten Stufen erinnern an früher, wie viele Kinder sind da runtergestürmt, um schnell in die Pause zu kommen. Für Max und Louise bedeutete die Treppe den Abschied bis zum Wiedersehen am nächsten Tag, doch sie stand auch für die Freuden der Pause, wo sie unter dem wohlwollenden Blick der Aufsicht Spiele, Lachen, Geheimnisse, aber auch die Grausamkeiten der Kindheit erlebten. Paul bewundert die handwerkliche Begabung seines Freundes. Er selbst kann nicht mal einen Nagel in die Wand schlagen und verspürt auch keinerlei Bedürfnis, daran etwas zu ändern. Max ist ein Visionär, und er ist hartnäckig. Dieser Ort wird ein echtes Paradies. Wenn er denn eines Tages fertig ist.
Max tritt neben Paul, der an einem Metallpfeiler lehnt. Er ist weder Hipster noch Dandy. Er trägt Designerjeans, ein Hemd mit winzigen Blümchen, darüber ein Jackett, einen um die Schultern geknoteten Pullover, an den Füßen Converse, so makellos, als hätte er sie gerade erst gekauft, und eine bunte Brille. Ein scheinbar natürlicher Look, hinter dem aber viel Aufwand steckt. Er ist groß und hat schwarzes, lockiges Haar, grüne Augen und glatte Haut; Wangen und das Kinn rasiert er zweimal pro Tag sorgfältig. Man könnte ihn ohne zu zögern als schönen Mann bezeichnen, wenn er nicht diese kurze Stupsnase hätte, die nicht so recht zum sonstigen Aussehen passen will. Max weiß, dass Paul ihn um seine gerade Nase beneidet, die perfekt in der Mitte des Gesichts sitzt.
»Vorsicht, frisch gestrichen!«
Er nimmt zwei Dosen aus dem Kühlschrank und reicht Paul eine davon.
»Dann erzähl mal.«
»Marjolaine ist unangekündigt in den Laden geschneit und wollte zwischen zwei Brillenanpassungen den Partyservice für unseren Hochzeitstag mit mir besprechen. Stattdessen hat sie mich mit dem Maschinchen im Schleudergang erwischt.«
Paul muss wie immer ganz genau die Stellung beschreiben, er stellt die Szene nach. Max verzieht das Gesicht.
»So, wie das Maschinchen stand, war Flucht unmöglich. Du hättest Marjolaine sehen sollen. Kein Schrei. Kein Wimpernzucken. Rat mal, was sie gesagt hat: ›Entschuldigen Sie, Monsieur, Sie scheinen ja äußerst beschäftigt zu sein. Ich komme wegen der jährlichen Kontrolle …‹ Dann hat sie mit hocherhobenem Kopf den Laden verlassen.«
»Ein wahres Improvisationstalent!«
»Was kann ich tun, damit sie mir verzeiht?«
»Tja, Paul, da kann ich dir leider nicht helfen. Mit Untreue kenne ich mich nicht aus.«
»Im Ernst? Nicht mal ein kleiner Seitensprung hier und da?«
Max will nicht weiterreden. Denn reden hieße, dem Freund zu erzählen, dass sich Louise vom Acker gemacht hat. Und solange er es nicht erzählt, ist es nicht wahr. Was wird in Pauls Szenario aus dem Maschinchen? Eine Telefonnummer und die Standard-SMS: Es bleibt bei einer Pirouette.
»Wie würdest du es denn finden, wenn Marjolaine sich anderweitig umguckt?«
»Das würde sie nie tun! Ich kenne sie doch.«
Max erwidert nichts. Paul hat Marjolaine bereits am Tag nach der Hochzeit betrogen, mit dem Zimmermädchen. Er rechtfertigte sich damit, dass er hübschen Mädchen nicht widerstehen könne. Er macht vor keiner halt: eine Vertreterin für Solaranlagen, eine weitsichtige Kundin oder eine Studentin auf der Suche nach einem Praktikum.
»Mir geht’s hundsmiserabel …«
»Sind Hunde denn so unglücklich?«
»Ganz schrecklich unglücklich! Im Vergleich zu Läusen jedenfalls. Männliche Läuse haben zwei Paar Hoden und können achtzehn Weibchen hintereinander befruchten, ohne sich auszuruhen, wusstest du das?«
»Vielleicht warst du in einem früheren Leben eine Laus. Komm mal runter. Kauf ihr einen Strauß Sonnenblumen und fleh um Vergebung.«
»Es ist schlimmer, als du denkst. Ich bin nach Hause, wollte versuchen, das Unerklärliche zu erklären. In der Zwischenzeit hatte Marjolaine mit ihrer Freundin Christine telefoniert, die ihr gratulierte, dass sie endlich die rosarote Brille abgenommen hat. Eine schöne Metapher für die Frau eines Optikers! Ich habe ihr versprochen, dass es nicht wieder vorkommt. Sie hat ein Messer aus der Küche geholt und mich taxiert. Eine echte Samurai!«
Max lächelt verhalten. Paul übertreibt mal wieder. Das Küchenmesser war wahrscheinlich nur ein Kochlöffel.
»Hörst du mir überhaupt zu? Stell dir meine sanfte, engelsgleiche bessere Hälfte vor, die jeden Tag das Blumenwasser wechselt, damit es den Pflanzen gut geht, und liebevoll meine Hemden bügelt; stell dir vor, wie sie eine Stichwaffe auf mich richtet und mich um den Küchentisch jagt! Das Yoshito Yamakawa aus Keramik, zweiundzwanzig Zentimeter lang, man muss es nicht schärfen. Wenn du den Lachs nur antippst, springt dir das Filet schon auf den Teller. Ich stand mit dem Rücken zur Wand und dachte, gleich rammt sie die Klinge in den Fernseher. Noch ganz neu, Flachbildschirm, sechsundvierzig Zentimeter! So wie sie geguckt hat, hätte ich an Ort und Stelle Harakiri machen müssen, damit sie mir verzeiht.«
»Du übertreibst. Wahrscheinlich wartet sie nur darauf, dass du nach Hause kommst …«
»Du hast echt gar nichts verstanden. Ich bin in Lebensgefahr!«
»Sie wird sich schon beruhigen.«
»Ist mir ganz egal, wo du pennst, hat sie geschrien, ich will dich nicht mehr sehen.«
Max fragt sich, wie Louise wohl reagiert hätte, wenn sie ihn mit der Französischkollegin erwischt hätte. Sie hätte kein Edelmesser mit unaussprechlichem Namen geschwungen, sondern ihm schlicht die Scheidungspapiere präsentiert und ihm dann – ganz ruhig, als wäre die Sache damit erledigt – eine Tasse Tee angeboten. Er runzelt die Stirn. Seit dem Fußtritt gegen den Gipseimer rechnet er mit allem. Auf jeden Fall hat er nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, sie zu betrügen. Für ihn ist Treue nichts, was man verspricht oder sich aussucht, sondern eine Selbstverständlichkeit.
»Louise ist weg.«
»Im Urlaub?«
»Nein, weg im Sinne von abgehauen. Wir waren hier bei der Arbeit, da hat sie mir ohne Vorankündigung unser Projekt vor die Füße geschmissen. Ich hab überhaupt nichts mehr verstanden. Sie meinte nur, dass es sie jetzt schon ankotzt, bevor es überhaupt angefangen hat. Seitdem hab ich diesen Satz im Ohr.«
Max und Louise getrennt? Unvorstellbar, denkt Paul. Doch nicht diese beiden, das legendäre Paar. Er kennt Max nicht ohne Louise und Louise nur mit Max. Sie blicken in die gleiche Richtung, und es knistert für zwei. Dieses Glück hatte immer etwas Befremdliches für ihn, er selbst würde so etwas nie erleben.
»Hey, altes Haus, da wurden wir wohl beide von der Bettkante geschubst! Wo kann ich mich hinlegen?«
Max lächelt erneut. So ist Paul, er erlaubt sich noch zum unpassendsten Zeitpunkt einen Witz.
»Dann bleib halt hier …«
»Schläfst du heute auch hier?«
»Nein, ich muss mit Louise sprechen.«
Max’ Handy vibriert in der Hosentasche. Er umklammert es fest mit den Händen und geht zum Lesen der Nachricht ein Stück weg. Es tut mir leid, mein Liebling, aber nichts ist mehr sicher, ich muss alles infrage stellen. Dieses neue Leben passt nicht mehr zu mir. Gib mir ein paar Tage, ich melde mich wieder. Ich muss mal durchatmen. Ich verstehe gar nichts mehr, ich brauche Zeit für mich.
Max wird ganz starr.
»Was ist los?«
»Louise will nicht, dass ich nach Hause komme.«
»Ach du Scheiße! Hat sie das schon mal gemacht?«
»Nein, noch nie.«
»Kopf hoch, dann machen wir es uns hier gemütlich.«
»Such dir oben einen Platz zum Schlafen. Zum Abendessen gibt es nur noch eine Dose Bohneneintopf, die teilen wir uns.«
»Bleib, wo du bist, ich komme gleich wieder.«
Max seufzt. Er muss noch ein Stück Mauer fertig machen, hat aber heute keine Kraft mehr. Er reinigt die Kelle, die Kartätsche und das Reibebrett am Waschbecken im Hof, schaut hinauf zu den Fenstern im ersten Stock. Gestern haben Louise und er viel zu spät Schluss gemacht und in ihrem provisorischen Schlafzimmer Mademoiselle Bergamotte übernachtet. Soll er sich ohne sie noch die ganze Mühe machen? Max denkt an den Dachboden. Den wollten sie sich gemütlich einrichten, fernab von den Gästen.
Mit Schachteln beladen taucht Paul wieder auf. Bohneneintopf findet er furchtbar, deswegen hat er im Feinkostgeschäft Dubreuil Estragonhühnchen besorgt. Im Übrigen hat der routinierte Verführer immer ein Kondom, einen Ersatzslip und eine Zahnbürste in einem Brillenetui dabei. Er wird ja ohnehin nicht ewig hierbleiben, wo es kein warmes Wasser und keinerlei Annehmlichkeiten gibt. Eine Nacht, länger nicht.
Noch bevor er die Einkäufe ablädt, fragt er: »Was wird aus Männern, die abgeschossen wurden?«
»Sie ähneln sich wie Wölfe.«
»Komm, kleiner Wolf, wir essen.«
Obwohl noch August ist, ist es abends zu kalt zum Draußensitzen. Wie lange ist es her, dass sie sich zum letzten Mal eine Unterkunft geteilt haben? Seit sie mit der Uni fertig sind. Damals sind sie eine Woche lang mit einer Schrottlaube auf Kreta herumgekurvt, und eines Abends haben sie eine verlassene Scheune besetzt. Sie hatten wenig Geld und fanden es witziger als in der Jugendherberge.
Eilig räumen sie den Tapeziertisch frei und holen zwei Schulstühle aus Holz und Metall. Paul nimmt sich ein Tuch und wischt den Staub weg. Umgekippte Kisten dienen als Beistelltische. Eine Baustellenlampe wirft Schatten auf die weißen Wände.
Zwei Stunden später liegen Hühnerknochen auf den Tellern. Die Weingläser sind leer.
Ihre tiefen Stimmen hallen im leeren Zimmer.
»Hat es dich nie gestört, immer mit einer Lüge zu leben?«, fragt Max.
»Lüge … eigentlich ist es keine. Lüge ist ein starkes Wort für ein bisschen Spaß. Ich will ihr nicht wehtun. Ich liebe sie. Ich habe nie woanders übernachtet als im Ehebett. Die erste Frau, die ich jeden Morgen anschaue, ist sie, die Frau meines Lebens.«
»Und die Maschinchen?«
»Die gehören dazu. Das Gleichgewicht meiner Ehe hängt davon ab.«
Paul steckt sich am offenen Fenster eine Zigarette an. Der erste Zug ist lang und tief, er genießt das verbotene Vergnügen. Er hat sich das Päckchen heute Abend gekauft, obwohl er seit zwei Jahren nicht mehr raucht. Der Seiltänzer ist abgestürzt.
»Ich warne dich doch schon eine ganze Weile: Wenn man die Finger nicht von den Mädchen lassen kann, muss man entweder Junggeselle bleiben oder entsprechend vorsichtig sein.«
»Du hast mich doch immer gedeckt. In gewisser Weise hast du sie also auch betrogen. Spar dir den Moralapostel.«
Paul hat sich schon häufig über Max lustig gemacht, weil er Louise seit dreißig Jahren treu ist. Diesen Mann lassen die Körper anderer Frauen anscheinend total kalt.
»Was genau bedeutet Schleudergang?«
Paul drückt die Zigarette in einem Behelfsaschenbecher aus und erläutert Max eloquent eins seiner Geheimnisse als Erforscher des weiblichen Kontinents.
»Verblüffend! Hier eine viel bodenständigere Frage: Kann ich auf dich zählen, wenn ich die Waschmaschine hole?«
Paul hebt den Kopf.
»Wenn du weißt, wie man die Maschine zum Laufen kriegt?«
3
Paul hat sich in dem Zimmer namens Carambar