Die phantastische Reise in das grenzenlose Ich - Lars-Oliver Schröder - E-Book

Die phantastische Reise in das grenzenlose Ich E-Book

Lars-Oliver Schröder

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Beschreibung

Nach der ersten Pilgerreise in Richtung Santiago de Compostela fand ich meinen langersehnten Seelenfrieden. Ich habe damals aber ein Detail übersehen, ein wesentliches Detail! Von dem Punkt aus, an dem ich jetzt wieder im Leben stand, war es so, als drehte ich mich nach hinten, blickte zurück und verarbeitete alle offenen Wunden und Fragen der Vergangenheit. Doch der Fehler bestand darin, dass ich mich nicht um 180° umdrehte und nach vorne, in die Zukunft blickte. Ich vergaß, mir zu überlegen, wie ich in der kommenden Zeit, in der Restzeit meines letzten Lebensabschnittes leben will. Doch den Franziskusweg marschiere ich heute aus einer geänderten nicht vergleichbaren Lebenssituation und Motivation heraus. Ich stehe nahe an meinem 50. Geburtstag und will mir im Klaren werden, wie ich in Zukunft leben und existieren möchte. Die Fragenzeichen der Vergangenheit scheinen beantwortet. Wie sieht es aber mit den Antworten auf die Fragestellungen der vor mir liegenden Zeit aus? Ich empfinde mich heute an einem wichtigen Scheidepunkt. Blicke ich zurück, hat der Jakobsweg alle bestehenden Wunden beseitigt. Schaue ich nach vorne, so soll mir ein zweiter Pilgermarsch helfen, die perfekten Antworten auf die ausstehenden Fragen zu finden.

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Inhaltsverzeichnis

Jedem Anfang liegt ein Zauber inne

„Seaching for Utopia“ in Florenz

„Triumph der Kirche“ und doch verirrt

Gruseliger Überfall in der ersten Nacht

Zeugnis einer italienischen Sauftour

Dieser Tag soll kein verlorener sein

Verwehrter Einlass zur Glaubenstankstelle

Ich will nur raus hier aus dem Wald

Erfahre meine Lehre des Lebens

Die geringste Bewegung tötet den Stillstand

Was lässt mich nach Rom pilgern?

Der, der mit dem Wolf tanzt

Ist verzeihen eine Entgiftungskur?

Der pure luxus einer Herberge

Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein

Assisi – mittelalterliche Perle Umbriens

Herrgott, bin ich hier überhaupt noch richtig?

Zwei große Feinde des Pilgers

Unterwegs auf dem richtigen Weg

Mein Körper lässt mich richtig gut laufen

Deutscher Franziskusweg-Pilger vermisst

Verloren gegangen irgendwo im Nirgendwo

Das Pilgerabzeichen des Apostels Petrus

Im Erwarten liegt das Verlangen

2015 | 2016 das „unnormale“ Heilige Jahr

Bist du nicht neugierig auf den Anfang?

Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort

Dafür lohnen die Strapazen einer Pilgerreise

Die Heilige Pforte, nur gerechte treten ein

Wie konnte ich das bloß vergessen?

Wer dreimal durch die Heilige Pforte schreitet

Mein Schlussgedanke zum Franziskusweg

Ende

Jedem Anfang liegt ein Zauber inne

Es ist jetzt schon ein Jahr her, als ich auf dem Jakobsweg pilgerte. Mein Caminofreund Cristian berichtete mir seinerzeit als Erster vom Franziskusweg. Mein Wanderfreund beschrieb ihn in so lebhaften Bildern und mit solch strahlenden Augen, dass mich der Weg schon bei Cristians Erzählungen in Spanien faszinierte. Es war zu Beginn nur ein mikroskopisch kleiner Virus, mit dem er mich infizierte.

Doch zurück vom Jakobsweg, der mich so weiterentwickelte, dass ich als Buchautor mein Erstlingswerk darüber verfasste, ruhte der Virus.

„Mein Jakobsweg die Krönung“ erzählt die Geschichten, die Begegnungen mit den dazugehörigen Veränderungen, die ich dort erlebte.

Als ich damals das Buch schrieb und an die Stelle der Aufzeichnungen gelangte, an denen Cristian vom Franziskusweg berichtete, erwachte dieser Virus in mir zu neuem Leben. Er infiltrierte den Geist diesmal dermaßen und vollständig und breitete sich in mir so weit aus, dass das Verlangen, den Pilgerweg marschieren zu müssen, in unbekannte Höhen stieg. Obwohl ich eine Frau in mein Leben ließ und die Beziehung in den zartesten Anfängen stand, beschloss ich, ohne mit ihr vorher nur ein Wörtchen abzusprechen, den Weg zu beschreiten. Für mich erschien dieses neue Verlangen wie eine winzige Erleuchtung, denn ich pilgerte seinerzeit den Jakobsweg, um meine Probleme, Nöte, Sorgen und all die unverarbeiteten Gegebenheiten meines gescheiterten Lebensabschnittes der vorangegangenen Zeit zu verarbeiten und einen Abschluss zu finden. Nach der ersten Pilgerreise in Richtung Santiago de Compostela fand ich meinen langersehnten Seelenfrieden. Ich habe damals aber ein Detail übersehen, ein wesentliches Detail! Von dem Punkt aus, an dem ich jetzt wieder im Leben stand, war es so, als drehte ich mich nach hinten, blickte zurück und verarbeitete alle offenen Wunden und Fragen der Vergangenheit. Doch der Fehler bestand darin, dass ich mich nicht um 180° umdrehte und nach vorne, in die Zukunft blickte. Ich vergaß, mir zu überlegen, wie ich in der kommenden Zeit, in der Restzeit meines letzten Lebensabschnittes leben will. Doch den Franziskusweg marschiere ich heute aus einer geänderten nicht vergleichbaren Lebenssituation und Motivation heraus.

Ich stehe nahe an meinem 50. Geburtstag und will mir im Klaren werden, wie ich in Zukunft leben und existieren möchte. Die Fragenzeichen der Vergangenheit scheinen beantwortet. Wie sieht es aber mit den Antworten auf die Fragestellungen der vor mir liegenden Zeit aus? Ich empfinde mich heute an einem wichtigen Scheidepunkt. Blicke ich zurück, hat der Jakobsweg alle bestehenden Wunden beseitigt. Schaue ich nach vorne, so soll mir ein zweiter Pilgermarsch helfen, die perfekten Antworten auf die ausstehenden Fragen zu finden. Dieses Vorhaben machte ich nur mit mir aus. Einzig eingeweihte Person war alleine meine ältere Schwester Simone. Nur sie weihte ich in die Absichten und Pläne ein. Da sie schon in Spanien gerne mitgegangen wäre, bat sie mich, sie auf den Weg in Italien mitzunehmen. Sie beschrieb es als einen Wunschtraum, den ich ihr damit erfülle. Persönlich kann ich mir kaum vorstellen, dass sie tatsächlich für solche Strapazen gerüstet erscheint.

>>Denn Langläufig wird immer wieder empfohlen, ein mehrmonatiges Wandertraining zu absolvieren, um sich erstens mental, zweitens körperlich und drittens genauso auch spirituell auf die Beschwerlichkeiten und Strapazen einer langen Pilgerreise vorzubereiten<<

Eine Pilgerreise verläuft für die meisten Menschen in diesen drei Phasen. Es kommt einem Wunder gleich, wenn sie unvorbereitet, wie sie mir erscheint, auch nur halbwegs in der Lage ist, viele Tage nacheinander Wegstrecken von zwanzig und mehr Kilometern zu wandern. Aber es ist nun mal ihr Wunsch.

Cristian und ich waren gerade unterwegs nach Pamplona und die Gegend erinnerte ihn stark an Umbrien in Italien. Er ist der Meinung, dass es in der Toskana sowie in Umbrien noch schöner ist als auf dem Jakobsweg. Für mich ist es schon wieder neu, vom Franziskusweg zu hören. Genauso neu wie damals, als ich das erste Mal vom Jakobsweg hörte. Er erklärte mir, dass der Pilgerweg mit seiner Wegführung von Florenz über Assisi nach Rom durch eine wunderschöne Landschaft führt. Albern, wie ich seinerzeit war, musste ich unweigerlich an das Franziskanerbier denken. Ich sah mich schon vor meinem geistigen Auge mit einem Rucksack, der mit einem Pfund Kaffee der Marke Jacobs Krönung und einer Franziskaner-Bierflasche geschmückt ist, den Pilgerweg marschieren. In meinen Vorstellungen hängen diese beiden Lebensmittel für den Jakobsweg anstatt der Jakobsmuschel und dem Tauzeichen aus Nussbaumholz für den Franziskusweg an meinem Rucksack.

Ich fragte ihn nach der Länge der Wegstrecke, von wo sie genau losgeht und wo sie endet. Er meinte, es sind eigentlich zwei aneinander liegende Pilgerwege. In etwa so wie in Spanien, wo das erste Teilstück mit dem Camino Francés in Saint-Jean-Pied-de-Port beginnt und in Santiago de Compostela seinen Abschluss findet. Von dort startet der zweite Weg für die Pilgerreisenden in Richtung Finisterre, dem Ort, der umgangssprachlich als „das Ende der Welt“ bezeichnet wird. Im Mittelalter, noch bevor Columbus Amerika entdeckte, war es der westlichste Punkt der bekannten Welt. Aber das ist eine andere Geschichte.

Der erste Teil des Franziskuswegs fängt in Florenz an und endet in Assisi, dem Geburtsort des Heiligen Franziskus, nach dem sich unser heutiger Papst benannt hat. Der Heilige Franziskus ist in der Basilika San Francesco in Assisi in der Unterkirche der Kathedrale beigesetzt und ist Pilgerziel des ersten Pilgerweges. Cristian fuhr fort, dass der Heilige so ein Getriebener seiner Zeit war, dass er von dort weiter nach Rom zum Papst pilgerte. Er wollte ihm die Regeln für die Klosterbrüder, denen er vorstand, vorstellen. Das Ziel in Rom ist für den Franziskusweg-Pilger das Franziskusdenkmal vor der St. Johannes im Lateran Basilika (auch „Mutter aller Kirchen“ genannt). Wer den kompletten Pilgerweg von Florenz über Assisi nach Rom pilgert, marschiert eine Gesamtstrecke von 565 Kilometern.

„Searching for Utopia“ in Florenz

Meine Anreise dauert mit dem Fernbus sagenhafte zwanzig Stunden. Der Bus legt einen Zwischenstopp in Mailand ein, wo ich umsteigen muss. Im Zentrum des Zielortes angekommen, will ich mir rasch eine Bleibe suchen. Die Stadt am Arno mit ihren knapp 400.000 Einwohnern wird von einer Vielzahl von Übernachtungsgästen, die die Einwohnerzahl um mehr als das Fünfzehnfache übersteigt, förmlich überrannt. In der Zeitung „Die Zeit“ ist zu lesen, dass der Massentourismus die Florentiner wie eine neuzeitliche Form einer Plage (Heuschreckenplage) trifft. Die Bürger des Touristenmagnetes fordern nun eine Beschränkung der Tagestouristen, die mittlerweile die Zahl von 16 Millionen im Jahr übersteigt. Schließlich hielten sich diese Besucher nur Stunden vor Ort auf. Es wundert mich nicht, lebten doch einst so berühmte Persönlichkeiten wie Leonardo da Vinci, Michelangelo, Galileo Galilei und die mächtige Dynastie der Familie Medici in ihr. Jedoch ist es jetzt schon nach 20 Uhr und ich reservierte mir vorher kein Hotelzimmer, also will ich erst eine Bleibe finden. Obschon die Stadt nur vor Touristen wimmelt und überfüllt erscheint, werde ich in der Nähe des Hauptbahnhofes, beziehungsweise des Florenzer ZOBs schnell fündig. Überraschenderweise ergattere ich eine als besonders günstig einzustufende Unterkunft. Nachdem ich das Zimmer bezog und von Kopf bis Fuß die Wohltat einer erfrischenden Dusche genoss, begebe ich mich auf den Weg in die Innenstadt in Richtung Kathedrale. Vor der Kirche Santa Croce angekommen, muss ich feststellen, dass sich die Menschenmassen, wie hier vorgefunden, im Idealfall im Uhrzeigersinn um das Gebäude herumbewegen. In ihr erhielten die Größen Michelangelo, Dante, der Komponist Rossini und auch Machiavelli ein würdiges Grabmal. Draußen reihe ich meinen Körper in den Strom aus Menschen ein und umrunde das erstaunliche Bauwerk. Wie immer, wenn sich so unzählige Personen ansammeln, finden sich ebenfalls unüberschaubar zahlreiche fliegende Händler ein.

Die Heimatländer der Verkäufer geben einen ordentlichen Querschnitt der Flüchtlingsländer unserer Welt wieder. Man kann sich nicht einmal zwei Minuten über den Platz bewegen, ohne von einer dieser Personengruppe angesprochen zu werden. Sie bieten alle möglichen Dinge an, die aber so wirklich überhaupt keinen Nutzen besitzen und in sich schon billig wirken. Da es mittlerweile dunkel ist, veräußern sie vornehmlich leuchtende Fummeleien.

Der Eine schießt mit irgendeinem LED bestückten „Etwas“ in den Nachthimmel, das mit vielerlei Farbwechselspielen zurück zum Boden sinkt. Ein Anderer hält eine blinkende LED-Lampe in der Hand, die undefinierte Lichtmuster auf den Fußboden zaubert. Noch einer der Händlerfraktion fummelt mit sowas ähnlichem wie einen Laserpointer in den Händen rum und zielt damit auf den Glockenturm der Kathedrale. Mir ist vollkommen unklar, wofür man solch einen blinkenden Quatsch gebraucht, zumindest, wenn man nicht im Vorschulalter ist. Aber es stellt ja einen Grundsatz des Handelns dar: Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis und das Handelsgut. Scheinbar kann nur ich wenig mit jenem unsinnigen Gedöns anfangen.

So langsam fühle ich mich richtiggehend genervt, in so einer kurzen Frequenz zum Kauf animiert zu werden. Ein Verdacht schleicht sich bei mir ein. Die ganzen Leute und Touristen auf dem Kirchenvorplatz erwerben nur dieses Zeug, um jeden weiteren Händler schnell sein eigenes „Geblinke“ zu zeigen. Der zieht dann enttäuscht ab, weil er kein Geschäft mehr erwartet. Und zack, kann man in aller Seelenruhe, ohne eine zweite Ansprache, stressfrei die Sehenswürdigkeit ansehen. Jedermann muss nämlich für sich entscheiden, ob er mehrere hunderte Male die Händlerschar abwehren will oder sich geschlagen gibt, um so ‘n Blinkdings zu kaufen. Die Marktschreier finde ich nun doch gar nicht so doof und geschäftsuntüchtig, wie ich zu Anfang meinte. Was soll ich sagen: Zum Schluss bin ich auch mit so einem Blinkding herumgelaufen, aber genoss jetzt wenigstens meine Ruhe dabei.

Einige Straßen weiter entdecke ich eine sonderbare Skulptur. Es ist so eine Art Elvis-Figur auf einer Schildkröte. Das Vieh ist riesengroß und zu allem Überfluss zusätzlich vergoldet. Habe noch nie von so einer Statue bzw. Monument, einer Sage bzw. Geschichte zu dem Gebilde gehört oder gelesen. Es schaut nicht nur kitschig und fremdartig in den historischen Gassen und Plätzen der Stadt aus, sondern wirkt auch deplatziert. Da mir weder ein Passant noch ein Hinweisschild zu dem skurrilen „Kunstwerk“ etwas sagen kann, beschließe ich, in Deutschland zurückgekehrt, im Internet nachzurecherchieren, was es damit auf sich hat. Heute jedoch muss ich mich mit diesem seltsamen Anblick begnügen.

Ich habe dazu im weltweiten Netz von einem unbekannten Verfasser folgendes gefunden:

„Auf der Piazza della Signoria im Herzen von Florenz ist zurzeit eine große goldene Schildkröte des 1958 in Antwerpen geborenen Fabre zu sehen, der seit Jahren zu den bedeutendsten Künstlerpersönlichkeiten Europas zählt. „Searching for Utopia“ heißt das Werk. Weitere Exponate des Künstlers, die im Rahmen der Schau „Spiritual Guards“ ausgestellt wurden, sind zwischen Forte Belvedere und Palazzo Vecchio zu sehen.“

Frei nach Asterix & Obelix: „Die spinnen, die Italiener.“

Utopia, ja, ab hier und heute in Florenz suche ich mein Land in dem eine gerechte Gesellschaft herrscht und niemand Not leidet. Es soll aber nicht nur in meiner Phantasie existieren. Ich will es für mich finden. Eine gute Botschaft, wie ich meine.

Eines jedoch ist mir am heutigen Tag besonders wichtig. Ich bin jedes Mal, wenn ich in Florenz verweilte, über die Ponte Vechio stolziert, wovon ich auch heute keine Ausnahme machen werde. Es ist mir irgendwie ein Bedürfnis, die Brücke zu queren. Da ich schon in meinem früheren Leben, mit der damaligen Familie, sehr häufig in dieser Stadt Urlaub machte und alle erdenklichen Sehenswürdigkeiten aufsuchte, beende ich die Sightseeingtour. Ich laufe zurück ins Hotel. Für den besseren und ruhigeren Schlaf besorge ich mir eine Flasche Rotwein aus der Toskana und mache es mir gemütlich. Zu meiner Freude erhalte ich noch eine liebe Nachricht von meiner Freundin.

Ja, so kann ich beruhigt schlafen gehen und mich morgen mit liebevollen Gedanken auf die Pilgerreise begeben.

„Triumph der Kirche“ und doch verirrt

Die Nacht war still und ich habe prima geschlafen. Als ich aufbreche, ist die Stadt Florenz übervoll mit Touristen. Die Sonne scheint schon frühmorgens mit erbarmungslosen 30°C vom Himmel. Da das Hotel direkt am Hauptbahnhof steht, sehe ich mir, bevor ich die Pilgerreise antrete, noch eine Sehenswürdigkeit in unmittelbarer Nähe an. Die Santa Maria Novella beschreibt eine Klosteranlage und verfügt zusätzlich zum Kirchgebäude über zwei Kreuzgänge. Auch der Bahnhof trägt ihren Namen. Ich liebe ihre Renaissancefassade, die der Gelehrte Leon Battista Alberti entwarf. Der sehenswerteste Raum ist meiner Meinung nach der Kapitalsaal. Wer einmal in Florenz verweilt, muss sich ihn ansehen. Man nennt ihn im Volksmund die „Spanische Kapelle“. Überhaupt gefällt sie mir von jeher wegen ihrer Weitläufigkeit und der kahlen Flächigkeit, eben ein Exempel für die Spielart des gotischen Baustils. Die Santa Maria Novella gehört zu den größten Bettelordenskirchen der Welt. Sie stellte einst die Wirkungsstätte des Dominikanerordens dar. Das bekannteste Fresko der „Spanischen Kapelle“ heißt: „Triumph der Kirche“. Es zeigt den Weg des Heils auf, den wir auf Erden zum himmlischen Paradies nehmen können, wenn wir uns nur der Führung der Dominikaner überlassen. Nun fühle ich mich perfekt gerüstet, den eigenen zu starten.

„Mein Weg des Heils - Der Franziskusweg -“

Jetzt besorge ich mir die vermeintliche Tagesration von zwei Litern Wasser und einem Baguette, das ich zusammen mit der restlichen Wurst esse. Die Bürgersteige quellen vor Menschen über. Auch in der Fußgängerzone ist es randvoll mit Touristen. Der erste Weg führt mich entlang der Piazza Della Stazione, wo sich das Hotel befindet, durch die Via di Calzaiuoli, dann die Bongo de Greci runter. Während ich den Weg so gehe, entdecke ich die Eisdiele, die ich von einem der früheren Aufenthalte her kenne. Ich bleibe unvermindert stehen und durchlebe ein Déjà-vu. Vor dem geistigen Auge läuft die Geschichte eines Urlaubes ab, welcher schon viele Jahre zurückliegt.

Damals besuchte ich mit meiner Frau (wir sind seit Jahren geschieden), den Kindern und den dazugehörigen Schwiegereltern Florenz. Exakt vor diesem Eisverkauf schickte sich unser zweitältester Sohn Leon an, sich ein Eis zu wünschen. Wie es genervte Eltern bei quengelnden Kindern nun mal häufig so machen, lehnen wir sein Begehren ab und wollen weitergehen. Das süße Gebettel des niedlichen Dreijährigen verfehlt die Wirkung bei der Oma aber keineswegs. Sie besaß Spendierhosen und gibt dem Betteln nach. Da kein anderer eine Eistüte wollte, betrat sie mit ihm die Eisdiele und fragt, welche Eissorte er zu essen begehrt. Wie es Kleinkinder nun mal so ausleben, zeigt er mit dem Zeigefinger auf das Wunscheis. Der Mitarbeiter formt eine große Eiskugel, drückt sie auf die Waffel und überreicht sie der Oma, denn ihr Enkel ist noch zu klein, um sie selbstständig zu empfangen. Als Schwiegermutter ihm das Waffeleis weiterreicht, verweigert er die Annahme und verlangt eine andere Sorte. Oma entschied, das Eis für sich zu behalten und ließ ihr Enkelkind ein erneutes Mal aussuchen. Leon deutet wieder mit dem Finger in dieselbe Richtung wie zuvor und der Eisdielenmitarbeiter formt ihm eine Kugel aus der neben der ersten gelegenen Sorte. Er reicht wie vorher die Waffeltüte der Oma, die sie wiederum an ihn weitergibt. Er lehnt zum zweiten Mal die Eisannahme ab und wünscht sich ein anderes Eis. Oma gibt das überflüssige Eis dem Opa und erlaubt eine dritte Wahl. Das Kind zeigt für einen Außenstehenden exakt auf die gleiche Stelle. Der verunsicherte Eisverkäufer füllt die nächste Eiswaffel schulterzuckend mit einer Kugel und überreicht sie der wartenden Schwiegermutter. Dasselbe Schauspiel wiederholt sich noch so oft, dass Oma, Opa, Mutter, Vater und Bruder mit einem Eis ausgestattet sind. Ich wiederhole es noch einmal, außer Leon wollte eigentlich niemand ein Eis. Jetzt halten alle ein Waffeleis in der Hand, nur der Jüngste, der Dreikäsehoch aus der Familie hält keines in der eigenen. Da platzt bei der Oma der Geduldsfaden und sie zahlt die fünf Eistüten, ohne ein weiteres Eis für ihn zu kaufen. Nun ging die Nörgelei erst richtig los. Mein Sohn fleht gar fürchterlich und jammert, dass ihn so ein Hunger plagt und er schrecklich leidet, da er nichts zum Essen bekommt. Natürlich tat er das mit so einer Inbrunst und Leidensfähigkeit, dass es keinem Passanten verborgen blieb. Man stelle sich das bildlich vor: Vier Erwachsene und ein großer Bruder schlecken vor der Nase eines niedlichen Dreijährigen ein Eis, der leidgeplagt vor Hungerqualen heult wie eine Heulboje in der stürmischen Nordsee. Wenn ich mir das Bild vor Augen führe, wie wir fünf eisschleckenderweise durch die Straßen von Florenz spazieren, muss ich jetzt noch herzlichst lachen. Wenn ich mich weiter erinnere, wie Leon vor angeblichem Kummer und Hunger jault, was das Organ und die Tränendrüsen hergeben, bekomme ich fast einen Lachkrampf.

Er heult, weint und jammert immer und immer wieder: „Buhwääää … ich habe so einen Hunger!

Alle essen ein Eis, nur ich bekomme keins.

Ich muss hungern!

Buhwäää …, ich habe so ein Hungern!“

Sein Geschrei verstärkt sich durch das Echo in den Gassen der Altstadt noch zusätzlich. Gefühlt bekommt jeder Tourist in ganz Italien das Leiden von Leon mit. Die Passanten, und unter ihnen insbesondere die deutschsprachigen, schauen uns mit so missbilligenden, ja verächtlichen Augen an, dass wir so einen armen kleinen Wurm schmachten lassen. Nicht nur das. Sie sind empört, dass wir zum Überfluss ihm auch noch so eisschleckenderweise Vorhaltungen machen und ihn sogar zur Ruhe auffordern. Die Blicke, die wir ernten, sind kaum auszuhalten, schließlich empfinden wir alle, unberechtigterweise, ein schlechtes Gewissen. Jedoch wussten wir damals nicht, was unser Sohn begehrte. Jahre später klärte er uns auf und erzählte, dass er die Zitrusfrucht, die auf dem Limonensorbet als Dekoration lag, essen wollte. Er kannte diese Sorte noch aus einem vorherigen Urlaub in Spanien. Dort gab es Kokosnusseis in einer Kokosnussschale, Orangensorbet in einer richtigen Orange und ebenfalls Zitronensorbet in einer echten Zitrone. Und eben jene vermeintliche Zitronendekoration sah er auf dem Zitroneneis dort liegen. So hatte sich das für uns Erwachsene peinliche Missverständnis Ewigkeiten später aufgeklärt.

Als das Ende der gesamten Geschichte vor meinem geistigen Auge abläuft, lache ich herzlichst auf der Schwelle der Eisdiele. Anschließend beglücke ich mich aus Nostalgie selbst mit einer Kugel Zitronensorbet und setze den Pilgerweg fort.

In den mit Touristen überfüllten und hektischen Gassen komme ich mir mit dem riesigen Pilgerrucksack vor wie ein Fremdkörper. So schön ich Florenz auch finde, doch jetzt muss ich so schnell wie möglich raus aus diesem Treiben, heraus aus dem Tumult und zwar auf kürzestem und direktestem Weg. Ich entdecke jedenfalls keinen einzigen weiteren Pilger, der wie ich heute den Franziskusweg startet. Gut, ich sehe schon den einen oder anderen Passanten mit Rucksack durch die Straßen marschieren, aber es sind meistens Tagestouristen mit ihrem Tagesgepäck. Mithilfe meines Outdoor-Reiseführers finde ich schnell den direkten Weg raus aus dem Touristenmoloch. Ich verlasse Florenz über die Porta all Grazie und überquere den Fluss Arno. Mitten auf der Brücke bleib ich stehen und genieße die mir dargebotene hervorragende Aussicht auf die Ponte Vechio. Irgendwie bin ich sehr stolz, den Weg heraus aus der Stadt so rasch gefunden zu haben. Mein Pilgerweg führt so eine ganze Weile parallel zum Fluss. Je weiter ich gehe, desto ruhiger erscheint es um mich herum. Ich empfinde es als Wohltat, diese Stille. Jetzt, da ich außerhalb von Florenz bin, sehe ich mich nicht mehr als Tourist, sondern als Rucksackwanderer, als Backpacker, noch besser als Pilger.

Nun verändert sich alles.

Ich traf mal einen anderen Backpacker, einen Rucksacktouristen aus einem fremden Land in einer deutschen Großstadt. Er erzählte, dass es, obschon so viele aus seiner Zunft von Wanderern, von Weltenbummlern auf jedem Kontinent und in aller Herren Länder zu finden sind, er den Eindruck hat, alleine unterwegs zu sein. Nun beklagte er sich nicht über die Einsamkeit und das Alleinsein bei mir. Er fügte noch einen beeindruckenden Satz hinzu:

„Du fühlst dich ein wenig wie ein ungeliebter Vagabund, den es umhertreibt.“

Damals kamen mir die Worte seltsam und befremdlich vor. Heute weiß ich, was er damit meinte. Denn ja, ich empfinde mich wie ein Getriebener, ein Getriebener der Zeit, der Gesellschaft, der inneren Unruhe. Doch genau benennen vermag ich es nicht. Weder, welcher Umstand mich forttreibt, noch rumtreibt oder antreibt. Was in der Welt brachte Lars-Oliver dazu, 99 % seines Hab und Gutes zu spenden, zu verschenken, fortzugeben? Nur damit er jetzt, mit dem Rest von 1%, eben mit leichtem Gepäck, diesen Weg gehen kann? Ich würde nur zu gerne von mir behaupten, ich eifere dem Heiligen Franziskus nach. Er hat lange vor mir all die Habseligkeiten fortgegeben, um in Bescheidenheit und Demut seinem Glauben zu folgen, dem Glauben an Gott.

Wie fest muss der Gottesglaube ausgeprägt sein, um alledem zu entsagen, den Wohlstand zu verschenken, um ohne Ablenkung dem tiefsten Verlangen nachzugehen. Und der Heilige Franz von Assisi kam obendrein aus einer besonders reichen Familie. Der Vater war ein wohlhabender Tuchermann, der mit einer Französin verheiratet war. Der Überlieferung nach entledigte sich der Heilige Franziskus vor einer großen Schar von Menschen und vor den Augen des Bischofs seiner Kleidung und entsagte dem Erbe des Erzeugers mit den Worten:

„Weder Geld noch Kleider will ich von dir, von jetzt an nenne ich nur noch einen Vater, den im Himmel!“

Er rannte nackt aus der Stadt, verabschiedete sich so von Herkunft und Gesellschaft.

Während einer Messe im Jahr 1208 vernahm Franziskus in der Kirche San Damiano eine vom Kreuze her zu ihm erschallende Stimme. Sie forderte ihn mit dem Wortlaut des Matthäus auf, in die Welt zu gehen, allem Besitz zu entsagen und Gutes zu tun (Matthäusevangelium 10, 5 - 14).

1207 bis 1209 führte er ein Einsiedlerleben, währenddessen wird ihm sogar der Aufbau von zwei zerstörten Gotteshäusern zugeschrieben.

Nein. Bei mir stecken differente Gründe dahinter. Es kann und ist kein Zufall, denn an Zufälle glaube ich nicht. Es ist alles andere als ein Zufall, dass ich heute den Franziskusweg pilgere.

Allem Hab und Gut zu entsagen und mit leichtem Gepäck durchs Leben zu steuern, befreit mich (und ein Jedermann) ungemein. Es lehrt dich Demut und Bescheidenheit, festigt deinen Glauben an Gott und an das Göttliche. Irgendwie löste es mich vom Alltag los und verlieh mir Leichtigkeit und Beschwingtheit. Ich will dir jetzt nicht raten, alles fortzuschenken, -nein- ganz sicher nicht. Aber versuche es doch auch einmal, für eine bestimmte Zeit, mit so wenig materieller Versorgung wie irgendmöglich auszukommen. Lausche und fühle genau hin, was es dir zu sagen hat. Ob du unglücklicher wirst oder ob du für den Moment, genauso wie ich, eine Leichtigkeit, Befreiung und Frohlockung verspürst.

Mir fällt auf, dass ich ständig ohne offensichtlichen Grund grinse. Irgendwas macht mir scheinbar gute Laune.

Bei Franziskus wurde weiter überliefert, dass er schon in jener Zeit als Sonderling galt. Er hatte Spott zu erleiden, er aber ging geduldig wie ein Taubstummer und mit heiterem Gesicht durch die Menschenmenge. Sein Vater machte sich Gedanken, was den Sohn wohl zu solcher Gelassenheit trotz aller Kränkungen motiviert.

Alte Freunde neckten und zogen ihn mit den Worten auf, seine Braut heiße nun Armut.

Die Berufung zur Armut, zu hilfreicher Tat und Predigt legte er seiner Regel mit der Gründung des Ordens der Minderbrüder, Minoriten 1209/10 zugrunde:

Er versammelte zwölf Apostel um sich, die die ersten Brüder des späteren Ordens der Franziskaner wurden. Franz wurde zu ihrem Oberhaupt gewählt und lebte mit ihnen in den winzigen Hütten des heutigen Rivotorto in Bescheidenheit und Demut.

In dem Wort Demut steckt das außergewöhnliche Wort „Mut“, wahrscheinlich, weil Demut eine besondere Form von Mut darstellt. Oder es eine extra große Portion von Mut benötigt, um demütig zu sein.

Aber zurück zum Backpacker. Er erzählte mir weiter, dass er als Rucksackreisender so manches Mal das Gefühl bekommt, unerwünscht zu sein und besser verschwinden solle. Es ist kein aggressives Weggeschicktwerden, sondern eher ein subtiles, unterschwelliges Fortschicken oder Nichtwillkommensein. Wir Reisende mit Rucksack sind eben auch Sonderlinge in ihren Augen, in den Augen der Gesellschaft. Genauso bekomme ich ab und zu den Gefühlseindruck, mit meinem Gepäckstück unerwünscht zu sein. Doch ich habe den Eindruck, dass es keine Ablehnung zeigt, sondern mich beschleicht das Gefühl, als wenn mein Anblick die Menschen an etwas erinnert, an was sie nicht erinnert werden möchten. Mir kommt es so vor, dass wir Pilger, wir Reisende, sie an ihre eigenen verborgenen, unerfüllten Wünsche und Sehnsüchte erinnern. Ihr Verlangen nach Freiheit. Vielleicht wollen sie sich selber ungezwungen und losgelöst von aller Verantwortung auf die Reise begeben? Jedoch fällt es ihnen zu schwer, sich aus ihrer eigens auferlegten Tretmühle oder der Komfortzone zu befreien und in die weite Welt zu ziehen. Wahrscheinlich erinnern wir Backpacker sie daran, dass sie ihren persönlichen Wunsch aufgaben. Oder sie fragen sich selber bei dem Anblick eines Pilgers: Wie groß ist mein Glaube noch?

Ob sie an Spiritualität und Religion so weit glauben, dass sie mit leichtem Gepäck für eine bestimmte Zeit, sich allem Materiellen und Weltlichen entziehen können, um alleine loszulaufen? Es sind Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muss.

Als ich so ein paar Stunden unterwegs bin, wird es steiler und steiler, sodass die mitgeführten Wasservorräte schnell am Ende angelangt sind. Nicht mal die Hälfte der Tagesstrecke geschafft und alles Flüssige geleert. Wenn ich mich umdrehe, sehe ich immer noch die wunderschöne Kulisse der gesamten Stadt unter mir. Ich bin von diesem Anblick so begeistert, so abgelenkt, dass ich es nicht wahrnehme, dass die Sonne mir in der Mittagshitze fortwährend mit erbarmungslosen 36° Celsius das eigene Gehirn verdorrt. So zieht es auch die letzte Feuchtigkeit aus meinem Körper.

Es ist erstaunlich, wie schnell die pralle Sonne von Italien mir den gesamten Organismus austrocknet. Nun übermannt mich das Gefühl zu verdursten. Doch hier draußen scheint es nichts zu geben. Sogar der Reiseführer zeigt mir keinen Ort, somit weder Bar noch Supermarkt in der Nähe an. Es fällt schnell auf, aber heute werde ich keine Ortschaft mehr erreichen. Florenz liegt jetzt seit ein paar Stunden außer Sichtweite und schon scheine ich mich verlaufen zu haben.

Aber wie albern ist das denn?

…Jetzt schon verlaufen?

In mir macht sich ein wenig Sorge breit. Wenn ich nicht auf den rechten Weg zurückfinde, bekomme ich heute weder zu essen noch zu trinken, geschweige dringend benötigtes Wasser zum Erfrischen und Waschen. Was bleibt mir anderes übrig? Ich laufe im Gottvertrauen weiter und hoffe, den offiziellen Pilgerweg wiederzufinden. Mein Durst wird größer und unbändiger. Ich muss echt überlegen, wann ich im Leben schon einmal so einen starken Drang nach einem Glas Wasser empfand. Heute kann ich mich nicht zurückerinnern. Nun habe ich bewusst entschieden, die abenteuerliche Pilgerreise ohne elektronische Hilfsmittel wie Navigationsgerät, Unterstützung von Google Maps oder gar unter Zuhilfenahme der Offlineversion von MapsMe den richtigen Weg zu finden. Ja! Ich möchte es ohne diese neuzeitlichen Hilfen schaffen. Ich weiß, das klingt naiv, dumm und gefährlich. Aber ich will entspannt vom digitalen Gedöns, entschleunigt für mich wandern und die Blicke für Weg, Natur, Land und Leute freihaben. Leider wusste ich bei der Entscheidung nicht, was es heißt und wie oft ich mich verirren werde. Doch jetzt, schon am ersten Tag der Pilgerreise, bereue ich meine starre Haltung, denn ich habe tatsächlich den Pilgerweg verloren und mich verlaufen. Obendrein bin ich durstig wie eine peruanische Bergziege, finde keine Wasser- oder Übernachtungsstelle. Ich fühle mich gerade hilflos wie ein verängstigtes dreijähriges Kind, welches im Kaufhaus verlorengegangen ist und seine Mutter sucht. Ich könnte mich jetzt nur noch auf den Boden hocken und hemmungslos heulen, so verloren komme ich mir gerade vor. Nur würde mir das im Moment auch nicht weiterhelfen.

Was soll ich bloß tun?

Es geschieht mein erstes kleines Franziskus-Wunder und ich erblicke bergab, etwa ein paar hundert Meter unter mir, nur kurz vorm Verdursten einen See. Gut, jetzt trank ich niemals zuvor Wasser aus einem See, jedoch irgendwann ist immer das erste Mal. Nun setze ich den schweren Rucksack ab, verstecke ihn im Gestrüpp neben der Straße. Dann steige ich den Abhang herab. Ich übersteige eine hohe Mauer und sehe nun den See vor mir. Ich erkenne aber auch, dass ich auf einem Privatgrundstück stehe und die massive Umzäunung das Grundstück vor Fremdbesuch schützen soll. Nun denn, jetzt bin ich hier und freue mich darüber, dass nicht gleich eine Horde wilder Hunde über mich herfällt, die zur Bewachung des Gartengrundstücks frei herumlaufen. Langsam und behutsam schleiche ich auf den See, das kühle Nass zu, da entdecke ich ein kleines, unscheinbares Gewächshaus mit einem Wasserschlauch. Cool, denke ich und jubiliere, doch kein braunes Seewasser trinken zu müssen. Mit relativ schlechtem Gewissen öffne ich die Zufuhr des Wasserhahnes und erfrische mir den Kopf. Anschließend stille ich meinen riesig anmutenden Durst, um am Ende beide Wasserflaschen randvoll zu füllen.

In diesem Moment beschleicht mich das Gefühl, etwas Unrechtes zu vollziehen. Stehle ich hier? Ich befinde mich am ersten Tag der Pilgerreise und klaue? Zur Verteidigung rufe ich laut ein englisches: „Hello?“ Wie nicht anders zu erwarten, kommt kein Widerhall. Na klar, zuerst nehmen und dann fragen, ob man sich paar Liter Wasser mitnehmen darf, das sind mir die Richtigen. Doch meine Gewissensbisse beruhigen sich dadurch wenigstens ein bisschen. Damit ich mit einer weißen Weste, einem reinen Gewissen weiterpilgern kann, lege ich zur Gewissensberuhigung eine Euromünze gut sichtbar zum Wasserhahn.

Der Aufstieg zum versteckten Rucksack ist zwar beschwerlicher, aber so erfrischt und ohne Durst läuft es sich schon erheblich leichter. Bleibt nur noch, das Problem der Orientierungslosigkeit zu lösen. So gehe ich bis zum Einbruch der Dunkelheit und beschließe gegen 21.00 Uhr, völlig fertig, ein Nachtlager zu suchen. Nur wenig später ermahnen mich meine müden Knochen und lahmen Füße, rasch einen geeigneten Übernachtungsplatz zu finden. Jedoch entdecke ich keinen genehmen. Also beschließe ich einfach, etwa einhundert Meter von der vielbefahrenen Landstraße entfernt, direkt auf der Wiese, einen ins hohe Gras zu bauen. Da ich viel zu kaputt bin und es immer noch sehr warm ist, belasse ich das Zelt, wo es ist. Ich rolle nur die Isomatte aus, entnehme den Schlafsack und haue mich aufs Ohr.

In Italien ist wildes Campen für eine Nacht erlaubt, das recherchierte ich vor Reiseantritt im Internet. Nun gut, im Netz stand der Zusatz, dass man den jeweils direkten Nachbarn vorher um Erlaubnis fragen muss. Aber hier ist weit und breit niemand zu sehen. Nur kurz vor dem Einschlafen resümiere ich, der erste Pilgertag war super anstrengend, überstieg meine schlimmsten Erwartungen und findet jetzt sein Ende. So ausgelaugt, wie ich gerade bin, schlafe ich mit dem Wissen, den ersten Tag geschafft zu haben, seelenruhig ein.

Gruseliger Überfall in der Nacht

Ich schrecke noch mitten in der Nacht auf. Ein kurzer Blick auf die Uhr sagt mir, es ist 03.33 Uhr. Um mich herum höre ich Schritte und lautes Rascheln. Doch in der Dunkelheit ist nichts zu erkennen. Die Geräusche kommen immer dichter heran. Es ist seltsam, aber man kann alleine an den Raschelgeräuschen erahnen, hier handelt es sich um etwas Großes. Nein falsch, es sind mehrere Himmelsrichtungen, aus denen ich sie vernehme. Sie bewegen sich auf mich zu. Nun fummele ich suchend in den verschiedenen Taschen der Jacke nach der kleinen Taschenlampe. Ein lautes Knacken ist direkt neben meinem Schlafplatz auf Höhe meines Kopfes zu hören. Es ist in etwa so eines, welches man wahrnimmt, wenn unter den eigenen Füßen ein stabiler Ast zerbricht. Ich blicke suchend in die Richtung des Knackgeräusches. Nach persönlichen Schätzungen sind die Bewegungen nur wenige Meter entfernt. Jetzt erkenne ich eine dunkle Gestalt in der Nacht.

„Was ist das?“

Es ist groß!

Wow, es ist ziemlich groß!

Ich sehe nur voluminöse, schattenähnliche Flecken.

„Ach du lieber Himmel!“

„Was ist das denn?“

Nun ist auf der anderen Seite auch ein Geräusch, das sich ebenfalls auf meinen liegenden Körper zubewegt. In mir breitet sich Angst wellenförmig aus. Nun würde ich mich selber nicht als Angsthasen bezeichnen, doch die Schritte, Knack- und Schmatzgeräusche sind jetzt überall auf der Wiese um mich herum zu hören. Ich fühle mich regelrecht umzingelt! Ich sehe mehrere dunkelgraue Gestalten ringsherum. Aus meiner Perspektive, mit dem Kopf auf den Boden, wirken sie riesig und unglaublich bedrohlich. Am liebsten würde ich wie ein Kleinkind tief in den Schlafsack hineinkriechen und abwarten, bis die Schattenbilder verschwinden. Erst in diesen Moment identifiziere ich eine Art Grunz-Geräusch und muss augenblicklich an Wildschweine denken. Mein Gehirn fängt sofort an zu rattern. Es ist Ende August und um mich herum scheint eine Horde von wilden Keilern die nächtliche Futteraufnahme zu bestreiten. Sogleich fragt sich mein Verstand:

„Wann bekommen die Bachen ihren Nachwuchs?“

„Bitte lasse es nicht im August sein!“

„Bitte keine Sau die ihre Frischlinge beschützt!“

„Das fehlt mir noch, meine erste Nacht im Freien und ich finde mich inmitten einer Rotte von angriffslustigen Viechern wieder.“

Ist das die finale Nacht als Pilger? Soll ich den Tod erfahren, weil ich von einem wildgewordenen Eber getötet oder von einer ganzen Horde Keiler totgetrampelt werde? Wird das Wildschwein gleich wie eine Furie auf meinen am Boden liegenden Körper zustürmen, über ihn trampeln und ihn zertrümmern? Ich stehe gerade gefühlte Todesängste aus. Nun mag ich mich kaum bewegen, damit ja kein Geräusch von mir zu hören ist. Ich bekomme jetzt die Taschenlampe in die Hände. Doch die hilfreichen Wanderstöcke, die zu meiner Verteidigung dienen könnten, liegen „natürlich“ ein paar Meter entfernt außer Reichweite. Mir fällt das Taschenmesser ein, welches ich mit einer Halterung an meinem Hosengürtel befestigt habe. Kann ich mich mit diesem kleinen Messer wirklich gegen diese Bestien zur Wehr setzen? Nun bin ich jetzt kein Tarzan und kann auch nicht mit wilden Keilern kämpfen. Ja, ich habe richtiggehend Angst.

Was soll man in so einer Situation tun?

Ich weiß es auch nicht.

Wenn das Rudel Wildschweine meinen Schlafplatz entdeckt, werden sie dann über mich herfallen?

Ich versuche, den Verstand zu beruhigen.

Nun habe ich auch noch in keiner Zeitung oder in keinem Fernsehbericht mitbekommen, dass ein Camper von einer Wildschweinrotte getötet beziehungsweise gefressen wurde.

Aber was soll ich tun?

Will sicherlich nicht der Erste sein.

Kann man sich überhaupt zur Wehr setzen?

Schließlich halte ich die Taschenlampe in der einen und das Messer in der anderen Hand. Der Knopf zum Einschalten der Lampe ist schnell gefunden und der Lichtschein trifft die am dichtesten zu mir stehende Wildsau. Sie blickt starr zu mir. Ich blicke gebannt zu ihr. Um mich herum erkenne ich mehr als ein Dutzend großer Tiere. Da mir der Verstand keinen Rat gibt, passiert nur ein seltsames Zischwort meine Lippen. Es ertönt ein „Ksch, ksch, ksch.“ Es scheint sehr wichtig zu sein, dass dieses „ksch“ dreimal aus meinem Mund kommt, denn es zeigt Wirkung. Der mächtige Keiler fiept kurz auf, spurtet von dannen und mit ihm gleich das ganze Wildschweinrudel. Ach du liebe Güte, was für einen Schrecken habe ich davongetragen und meine Angst, dass die Bachen ihre Frischlinge dabeihaben, ist unbegründet. Dieses Rudel hatte keinen Nachwuchs dabei.

Glück gehabt, denke ich bei mir.

Die Unruhe bleibt jedoch in mir und ich finde nicht mehr in den erholsamen Schlaf zurück. Schließlich benötige ich noch eine Mütze voll des selbigen, um am Morgen wieder voller Saft und Kraft marschieren zu können. In meinem Kopf laufen wie im Film die schauerlichsten Geschichten ab, die mir hätten passieren können. Scheinbar hat die Müdigkeit mich später dann doch noch übermannt, weil ich erneut durch ein seltsames Raschelgeräusch geweckt werde.

Ein weiteres Mal suche ich zur spontanen Selbstverteidigung die Taschenlampe und das Messer. Die beiden Sachen sind schnell griffbereit und ich somit zur Verteidigung meines Lebens gerüstet. Das Geräusch ist direkt am Kopfende, maximal einen bis zwei Meter von mir entfernt. Als das Licht der LED-Lampe aufleuchtet, sehe ich einen Feldhasen. Auch das „Häschen“ schaut aus der liegenden Position, in der ich mich befinde, extrem groß und damit ebenfalls bedrohlich aus.

Als der Lichtkegel das Tier trifft, nimmt es Reißaus und flüchtet in die dunkle Nacht. Zum Respekteinflößen schicke ich dennoch ein dreifaches „ksch“ hinterher. Es dient der eigenen Beruhigung, nur um auf Nummer sicherzugehen. Es funktioniert, denn der Hase kommt nicht mehr zurück. Als mein Schlaf das dritte Mal in einer Nacht durch eindringliche Raschelgeräusche gestört wird, die aus einem naheliegenden Busch kommen, läuft mein Selbstverteidigungsmechanismus schon ganz automatisch ab. Taschenlampe in der einen Hand, das Messer in der anderen. So gewappnet schalte ich das Licht an und erblicke ein Reh. Noch nie sah ich in einer einzigen Nachtperiode so viele in der freien Wildbahn lebende Tiere. Und schon gar nicht aus so kurzer Distanz. Okay, es ist Beweis genug, dass diese Gegend besonders dünn besiedelt ist und die Wildtiere anscheinend keinen Respekt vor unter offenem Himmelszelt schlafenden Campern beziehungsweise Pilgern haben. Genauso wie die anderen Überraschungsgäste vorher verschwindet das Reh in die Dunkelheit, aber nicht, ohne ebenfalls von mir ein dreifaches „ksch“ hinterhergeschickt zu bekommen. Eigentlich ist es gar nicht mehr so dunkel, denn es fängt langsam an zu dämmern. Bei meiner ersten Übernachtung im Freien genieße ich leider nicht so viel Schlaf, wie ich benötige, um komplett ausgeruht am Tage zu starten.

Was für eine beeindruckende Nacht!

Obwohl am frühen Morgen schon recht ordentliche Temperaturen herrschen, ist mir kalt. An meiner Kleidung hängt eine Menge Morgentau, somit ist auch der Schlafsack leicht feucht, genauso wie die achtlos auf der Wiese abgestellten Wanderschuhe. Nun denn, ich kleide mich an, putze mir die Zähne und bin zum Aufbruch bereit. Zuerst führt der Weg in Richtung Landstraße. Dort angekommen, genieße ich eine 50 zu 50-Chance, den richtigen Weg auszusuchen. Schließlich kann ich an dieser Stelle nur nach links oder nach rechts gehen. Es ist die perfekte Entscheidung, denn an den folgenden Straßenschildern erkenne ich, dass ich in der Nähe von Bornbone nächtigte und nun in Richtung Rignano unterwegs bin. Erst beim zweiten Blick in den Outdoor-Reiseführer fällt mir auf, dass ich gerade einmal zwischen 18 und 19 Kilometer geschafft habe.

„Wie jetzt, einen ganzen Tag marschiert und nur so eine kurze Distanz hinter mich gebracht?“

Von meiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg weiß ich, dass ich im Durchschnitt locker 30 Kilometer am Tage marschieren kann. Doch hier auf dem Franziskusweg erlebe ich eine neue Erfahrung. Auch dieser Tag ist ein besonders heißer, mit Tageshöchsttemperaturen von 35° Celsius. Kurz vor der Mittagszeit durchquere ich ein Miniörtchen ohne eine einzige Einkaufsmöglichkeit oder Bar. Folglich durchschreite ich die kleine Ansammlung von Häusern und lege draußen vor dem Dorf eine Mittagspause ein. Hierzu habe ich mir zwei auffallend mächtige Zypressen mit deren schattenspendender Kühlung ausgewählt. Den Rucksack lehne ich an den einen Baum und ich mache es mir mit der Isomatte unter dem Hintern an dem zweiten Baumstamm gemütlich. Der Himmel scheint hier in Italien deutlich blauer als in meiner Heimatstadt. Hier im Baumschatten ist es herrlich. So außerhalb der Sonneneinstrahlung zu sitzen, eine Wohltat. Müdigkeit überfällt meinen Körper und der schaltet auf Entspannung und schickt mich in den Schlaf. Erst als das Schattenbild der Zypressenbäume weiterwandert und die blanken, ungeschützten Beine den Sonnenstrahlen freigibt, erwache ich aus meinen süßen Träumen. Die schattigen Baumriesen stehen direkt an der Straße, sodass meine Füße, ausgestreckt, wie sie hier liegen, bis in die Mitte der Fahrbahn reichen. Da habe ich wohl erneut Glück gehabt, dass die ganze Zeit kein Auto den Weg nutzte. Mich wundert es aber nur kurz, denn über die gesamte Verweildauer kam kein einziger Pilger an mir vorbei.

Da kommt mir dann stets der Gedanke, ob ich hier überhaupt auf dem Franziskusweg unterwegs oder mal wieder vom rechten Weg abgekommen bin. Nach Veränderung der Sitzposition schmökere ich noch ein wenig im Reiseführer und schaue, wo der Pilgerweg mich als Nächstes hinführen mag. Vor mir liegt eine gewaltige Steigung. Auf einer Strecke von ca. fünf Kilometern müssen die Füße mein Körpergewicht und den schweren Rucksack ganze tausend Höhenmeter hinauftragen. Klingt nicht so spektakulär, wie es in Wirklichkeit ist. Aber glaube mir, es ist extrem anstrengend. Da ist ein Marathonlauf ein Kinderspiel dagegen und ich weiß, wovon ich spreche. Am Anfang geht’s auch noch relativ gut, doch der Berg erscheint immer steiler. Da ich in Deutschland im flachen Land wohne, scheint mir sogar die Luft merklich dünner hier oben.

„Gott, was ist das Bergwandern anstrengend!“