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Berlin 1733. Anna ist erst zwölf Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Sie muss nun den großen Künstlerhaushalt allein stemmen, dabei hat sie nur ein Ziel: Maler zu werden wie ihr Vater. Aber eine solche Karriere ist in ihrem Jahrhundert für eine Frau nicht vorgesehen. Intrigen und sogar Gewalt sollen der jungen Frau ihren Willen nehmen. Aber Anna gibt nicht auf und reist gegen alle Widerstände nach Paris…
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Seitenzahl: 700
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Cornelia Naumann
Die Portraitmalerin
Die Geschichte der Anna Dorothea Therbusch
Zu gut für eine Frau! Berlin 1733. Anna ist erst zwölf Jahre alt, als ihre Mutter stirbt. Sie muss nun den großen Künstlerhaushalt mit fünf Geschwistern allein stemmen, dabei hat sie nur ein Ziel: Maler zu werden wie ihr Vater. Aber eine solche Karriere ist in ihrem Jahrhundert für eine Frau nicht vorgesehen. Die Ausbildung an der Pariser Königlichen Akademie ist ihr verboten. Intrigen und sogar Gewalt sollen der jungen Frau ihren Willen nehmen. Aber Anna gibt nicht auf und reist gegen alle Widerstände allein nach Paris, um den begehrten Titel einer königlichen Akademiemalerin zu erlangen. »Zu gut, um von einer Frau zu sein«, befindet das Komitee der Akademie und zerstört mit diesem harschen Urteil Annas Lebenstraum. Anna ist todtraurig. Aber sie malt ein neues Aufnahmestück. Und dann lernt sie die Liebe ihres Lebens kennen …
Cornelia Naumann, in Marburg geboren, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit bedeutenden, zu Unrecht vergessenen Frauen. Sie studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Romanistik in Köln, arbeitete als Dramaturgin und Theaterpädagogin in Essen, Münster und München. Seit 1999 ist sie als freie Autorin in München tätig.
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Dieses Werk wurde vermittelt durch Dr. Harry Olechnowitz, Autoren- & Verlagsagentur
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes aus © der Sammlung im © Jagdschloss Grunewald.
ISBN 978-3-8392-4290-2
Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.
Antoine de Saint-Exupéry
Mein Name ist Gohl, Christian Samuel Gohl. Ich bin Hauptmann des Herzoglich Braunschweigischen Ingenieurkorps. Der Rang klingt großartiger, als er ist. Ich bin nur ein einfacher Landvermesser und Ingenieursgeograph.
Es ist der neunte Tag des grauen Monats November, und ich stehe fröstelnd auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Wer einmal im November auf einem Friedhof vor den Akzisemauern dieser Stadt gestanden hat, der wird mich verstehen. Meine Stiefel sind von der schlammigen, mit feuchtem Schnee besetzten Erde so nass geworden, dass ich das Gefühl habe, meine Füße stecken in zwei eiskalten Schwämmen. Von meinem Dreispitz tropft das Schneewasser wie aus zwei Pumpenschnäbeln gleichmäßig und gerecht auf jede Schulter und verwandelt meine Pelerine in einen nassen Lumpen.
Freiwillig geht bei diesem Wetter niemand den Weg hier hinaus. Die Trauerfeiern werden in den städtischen Kirchen gehalten, dann gibt es, je nach Stand des Verstorbenen, einen prunkvollen oder armseligen Trauerzug bis ans Stadttor, wo sich die Trauergemeinde verabschiedet, während der Bestatter seines Amtes waltet. Nur wenige Menschen begleiten die schwarz verhängte Droschke bis zur Grabstelle. Viele sind abergläubisch und haben Angst vor der Pest oder anderen Seuchen, wenn sie sich in die Nähe von Friedhöfen begeben.
Auch heute haben nur wenige Menschen den Weg hinaus gefunden, obwohl es kein Begräbnis ist, das mich zum Friedhof zieht, sondern die Aufstellung eines Grabmals. Es ist kein gewöhnlicher Stein, nein, dieses Grabmal ist ein besonderes. Es zeigt die erlöschende Fackel des Genies. Zu Füßen des Genius, neben der erloschenen Fackel, liegt die von einem Lorbeerkranz bekrönte Palette mit Pinseln, einem Rötel und einer halb entrollten Leinwand. Der geflügelte Genius trauert um eine außergewöhnliche Frau, eine Künstlerin. Ihr schönes, energisches Profil ist als Relief auf die steinerne Urne gemeißelt. Ich habe sehr darauf geachtet, dass ihre letzte Ruhestätte von einer Allegorie bekrönt wird, die in ihrem Sinne ist, denn Anna hasste Allegorien. »Die Pest der Banalität«, nannte sie sie, oder auch die »intelligent verbrämte Geschwätzigkeit unseres Jahrhunderts«.
Gute Künstler sind in Berlin leider rar. Der Direktor der Berliner Akademie der Künste, eine Anstalt, über die Anna nur mit triefender Ironie sprach, ein gewisser Herr Christian Rode, Historienmaler unseres Königs, war anscheinend mit Anna zur Schule gegangen. Seine Trauer schien mir aufrichtig. Ich wollte vermeiden, ausgerechnet einem der zahlreichen Neider Annas den Auftrag zu geben oder womöglich ihrem Todfeind, vor dem sie noch zitterte, als ich sie kennenlernte.
Bezahlung für seinen Entwurf lehnte Rode ab. Es sei ihm eine Ehre, das Grabmal für die berühmteste Künstlerin Preußens, die Porträtistin Friedrichs des Großen, zu fertigen, und ich beauftragte einen tüchtigen Steinmetz mit der Ausführung.
Heute ist ihr Gedenktag.
Vor einem Jahr starb Anna Dorothea Therbusch, diese Berliner Pflanze, die über den mageren Besuch an ihrem Grab vermutlich nur ein ironisches Lachen übrig gehabt hätte.
Anna erwachte von der Stille im Haus. Kein Gepolter von Janas Holzpantinen weckte sie, nicht das tägliche Jammern des kleinen Bruders, der nicht zur Schule, sondern lieber ins Atelier wollte, und der stets mit derselben Ermahnung »Holle, auch ein Maler muss rechnen, schreiben und Französisch parlieren können« von der Mutter fortgeschickt wurde. Dann wusste Anna, dass es höchste Zeit zum Aufstehen war, denn ihre Schule begann eine halbe Stunde später als die der Jungen. Spätestens jetzt musste sie aus dem Bett und in ihr Kleid schlüpfen, die Schürze umbinden und die wirren Haare kämmen, wenn sie die Mutter nicht verärgern wollte, die unweigerlich jeden Augenblick mit vorwurfsvollem Gesicht die Tür öffnen würde.
Anna zog die Decke um die kalten Schultern. Seit ihrem elften Geburtstag durfte sie unter diesem Plumeau schlafen statt unter dem kratzigen Strohsack. Sie liebte das weiche Federbett. Drei königliche Hochzeiten in den letzten Jahren hatten dem Vater viele Porträt- und Kopieraufträge und damit der gesamten Familie Federbetten beschert, die der Vater daheim bestellt hatte. Gute masurische Gänse aus Olesko, hatte der Vater zufrieden gesagt beim Anblick der fetten grauen Tiere auf der vergitterten Holzkarre. Olesko, da kam Liszewski her. Mit 17 Jahren hatte Jerzy Liszewski seine Heimat verlassen, um den neuen Baumeister des Königs, Eosander Göthe, als Bauzeichner nach Berlin zu begleiten. Nebenbei hatte er viel kopiert, und so war er schließlich Porträtmaler geworden. Schnell hatte er gemerkt, dass es für das Geschäft besser war, wenn er das »Z« aus seinem Namen durch ein »i« ersetzte. So ließ sich der polnische Name nicht mehr mit ordinärem »sch«, sondern beinahe wie ein französischer aussprechen und wirkte vornehmer. Den sanften Vornamen Jerzy hatte er in die preußisch harte Form »Georg« übertragen, was seine Frau Elisabeth nicht abhielt, ihn zärtlich »Jirschi« zu nennen.
Elisabeth hatte nur den Kopf geschüttelt und geseufzt, ob Jerzy auch nur eine Minute daran gedacht hätte, wo sie mitten in Berlin diese Herde von zwanzig laut schnatternden Federviechern unterbringen sollte. In der Spandauer Vorstadt bei den Holzmärkten, wo die Familie Lisiewski einen Garten gemietet hatte, fand sich aber ein Plätzchen, und so hatten ihnen die Tiere viele üppige Braten und ein Federbett nach dem anderen beschert.
Plötzlich fuhr Anna hoch. Es war ungewöhnlich still im Haus, geradezu totenstill. Aber von draußen hörte sie Geräusche, die ihr anzeigten, dass die Betriebsamkeit des Cöllner Vormittags längst die Morgendämmerung abgelöst hatte. Die Mühle klapperte, Marktweiber priesen auf ihren Kähnen am Spreeufer ihre Waren an. Holzräder knirschten über die sandige Gasse, Kutscher zankten lautstark, Fässer polterten über Holzbohlen. Vom Fabrikenhaus der Insel drang der alltägliche Gestank der Färbereien herüber. Die Fischerbrücke, an der die Familie Lisiewski lebte, war die belebteste Passage zwischen Berlin und Cölln. Ständig strömten die Menschen über den Mühlendamm, um in den Läden und Buden der Pfahlbauten am Ufer einzukaufen. Mit ihren geschnitzten Pfeilern und hölzernen Schwibbögen waren die Holzhäuser hübsch anzusehen und boten fast alles für den täglichen Bedarf. So war auch der Betrieb an diesem Märzmorgen des Jahres 1733 sehr lebhaft.
Anna sah zu den anderen Betten hinüber. Ihre kleinen Schwestern Julie und Maria Magdalena schliefen mit sanften Gesichtszügen und schwarzen Wimpernbögen wie marmorne Engel. Das Lenchen musste noch nicht zur Schule, aber die zehnjährige Julie stand gewöhnlich mit Anna auf, und sie machten sich gemeinsam auf den Weg.
Wo die Mutter nur blieb? Anna rieb sich die Augen und erinnerte sich, dass sie seit Wochen von Jana geweckt wurde, weil die Mutter jeden Tag mehr ächzte und sich an den Rücken griff und niederlegen musste. Die Mutter erwartete wieder ein Kind. Wie war es, als Lenchen geboren wurde? Ging es der Mutter damals auch so schlecht? Anna erinnerte sich nicht, sie war damals neun Jahre und mit vielen Dingen beschäftigt gewesen, und auf einmal war das Lenchen da, hatte mit winzigem krebsrotem Gesicht viel geschrien, und die Mutter hatte neben der Arbeit im Haus und auf dem Werder immer wieder die Kleine an die Brust gelegt und auf diese erstaunliche Weise das Lenchen durchgefüttert.
Anna wusste, dass dies nicht selbstverständlich war. Der Nachbarin waren zwei Säuglinge gestorben, und eine Tante verstarb im Kindbett. Sogar in der königlichen Familie waren zwei Prinzen kurz nach der Geburt dahingeschieden.
Eine Tür schlug, jemand lief zur Küche. Anna überließ die kleinen Schwestern ihrem Schlaf, ließ die lauten Pantinen unter dem Bett stehen und huschte barfuß in die Küche, wo sie zu ihrem Erstaunen ihre großen Schwestern Lisi und Rosina antraf. Lisi hatte im vergangenen Jahr den Maler David Matthieu geheiratet und war mit ihm auf den Werder gezogen. Rosina war gewöhnlich am Vormittag im Atelier, für die Küchenarbeit hatte sie nicht viel übrig. Gerade schimpfte sie mit Jana, der Magd, weil das Wasser auf dem großen Kessel noch nicht kochte, und Jana antwortete in ihrer seltsamen Sprache, die nur der Vater verstand. Lisi hielt ein eigenartiges silbernes Besteck in der Hand, eine Art Zange, die Anna noch nie gesehen hatte. Noch während sie das Werkzeug neugierig betrachtete, wandte Rosina sich um.
Anna lief zu ihr, in der Erwartung, geherzt zu werden. Sie liebte ihre große Schwester, die so lustig war und die so gut malen konnte, dass ihre Porträts selbst die des Vaters übertrafen. Rosina aber schob sie von sich und murrte unwillig, was sie hier zu suchen habe, warum sie nicht längst in der Schule sei.
Niemand habe sie geweckt, erklärte Anna, empört über diese Ungerechtigkeit.
»Bist du nicht alt genug, um allein aufzustehen und zur Schule zu gehen?«, fauchte Rosina und befahl unwirsch, Anna solle sich um die Kleinen kümmern, ihnen den Morgenbrei kochen, und dann solle sie mit Holle und Julie in die Schule verschwinden. Damit wandte sich Rosina dem Kessel zu und warf die Zange in das inzwischen kochende Wasser.
Anna war sprachlos. Tränen traten in ihre Augen. So hässlich war die geliebte Schwester noch nie zu ihr gewesen. Und wie ungerecht! Anna war noch nie allein aufgestanden, das musste Rosina doch wissen. Die einzige Uhr im Haus war in der letzten schlechten Phase versetzt und noch nicht wieder ausgelöst worden. Die Federbetten und das Schulgeld für den Bruder Reinhold seien wichtiger, hatte die Mutter entschieden.
Wortlos rannte Anna zur Schlafkammer der Eltern. Tränen liefen über ihre Wangen. Wo war die Mutter? Die Mutter musste sie doch wecken, und sie sollte mit ihnen an dem wackeligen alten Küchentisch sitzen und den Brei austeilen wie jeden Morgen. Sie sollte mit Lenchen schmusen, mit Jana schimpfen und Holle zurufen, dass er nicht trödeln solle.
Anna riss die Tür der Schlafkammer auf und erstarrte. Die Mutter lag im Bett. Am hellen Vormittag. Ihre Augen waren geschlossen. Dunkelblau schimmerten die Lider, und ihr Gesicht war bleich wie der Tod.
Ein Mann mit einem Augenglas wandte sich um und betrachtete Anna mit einem bösen Blick. Sie solle sich hinausscheren, befahl er, und der Vater, der am Bett gesessen und die Hand seiner Frau gehalten hatte, sprang auf, eilte zu Anna und drängte sie zur Tür, etwas Beruhigendes murmelnd, das sie nicht verstand, weil es Polnisch war. Nun wusste sie, dass etwas nicht stimmte. Der Vater sprach seine Heimatsprache nur mit Jana, wenn sie sich dumm stellte und den Befehlen der Mutter nicht folgen wollte. Jana kam aus der Lausitz und weigerte sich beharrlich, etwas anderes als Wendisch zu sprechen. Sie akzeptierte nur das Polnisch des ehrenwerten Pan Liszewski, wie sie den Vater nannte.
Anna stand vor der geschlossenen Tür, hinausgeschoben und zutiefst erschrocken über das fremde Gebaren vertrauter Menschen. Was war hier los? Warum lag die Mutter am hellen Vormittag noch im Bett? Wo blieb die Hebamme? Wer war der fremde Mann im Schlafgemach? Der Bader war es nicht, der Rosina einen schmerzenden Zahn gezogen hatte und der Anna kalte Wickel verordnete, wenn sie Halsweh hatte.
Wut packte Anna. Man musste sie nicht mehr wie ein Kind behandeln, das nichts verstand. Immerhin war sie zwölf Jahre alt, alle Farben wusste sie zu mischen, und einige Porträts des Vaters hatte sie so gut kopiert, dass alle sie gelobt hatten. Sie sprach bereits etwas Französisch, und im Rechnen war sie so schnell, dass die Mutter sie zum Einkaufen schickte, weil Anna sich von den Marktweibern nicht betrügen ließ.
Hatte die Mutter sie vergessen? Aber sie hatte ihr doch versprochen, ein neues Kleid zu nähen! Voller Verzweiflung lief Anna in die Kammer neben der Küche. Da lag der Stoff auf dem Nähtisch. Zehn Ellen blaues, fein gewebtes Leinen, nicht einmal zugeschnitten war es. Unberührt lag der kleine Ballen dort, wie vor zwei Tagen, als die Mutter ihr den Stoff gezeigt hatte.
Anna schossen die Tränen in die Augen. Das war nicht gerecht. Ihr Bruder Holle hatte erst letzte Woche eine neue Kappe bekommen, und für Lenchen hatte die Mutter eine geblümte Schürze genäht. Liebte die Mutter sie nicht mehr? Liebte sie ihre Anna nicht mehr, der sie jeden Morgen die Haare bürstete, zu einem Zopf flocht, ihr einen Kuss auf den Scheitel gab und sagte: So, mein Änneken, ab zur Schule.
Anna knallte die Tür der Nähkammer zu, rannte durch den morgendunklen Flur zur Schlafkammer, riss die Tür auf und schrie: »Mutter! Du hast doch versprochen, mir ein blaues Kleid zu nähen!«
Der Medikus stellte den Tod der Elisabeth Lisiewski, geborene Kahlen, 1688 in Berlin geboren, fest.
Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das stumme Kind, das sich, nach der Geburt blau angelaufen, wie eine missglückte Porzellanpuppe auf dem Laken krümmte.
Keinen Saft habe es, schlechtes Blut, die Mutter sei zu alt gewesen, verkündete er, bevor er seinen hohen, steifen schwarzen Hut aufsetzte und, Beileid murmelnd, seine Gulden in Empfang nahm. Mit Eselsmilch könne sie es versuchen, sagte er zu Rosina, oder mit Ziegenmilch, Kuhmilch sei für dieses Kind der direkte Tod.
Aber es sei ja ohnehin nur ein Mädchen.
Rosina blickte ratlos auf das winzige Wesen, das noch immer keinen Laut von sich gegeben hatte, nahm es hoch und klopfte ihm leicht auf den Rücken. Ob es nun die verächtlichen Worte des Arztes waren oder Rosinas aufmunterndes Klopfen, die Kleine begann so durchdringend zu schreien, als wolle sie ihre Mutter wieder zum Leben erwecken.
Das kleine Mädchen überlebte. Es war schwach, kränklich, schrie viel und hatte einen undefinierbaren Gesichtsausdruck mit leicht schräg stehenden Augen. Voller Scham kümmerte Anna sich um die Kleine, die kurz nach der Geburt eine Nottaufe auf den Namen Dorothea Christina erhielt, des allgemeinen Glaubens, sie würde nicht überleben. Voller Scham, denn nie konnte sie an der Mutter gutmachen, was sie so entsetzlich in ihre Sterbekammer geschrien hatte. Nur an der kleinen Schwester konnte sie ihre Tat büßen. Aber das winzige Wesen wollte ihre Buße nicht annehmen. Der beharrliche Ernst, mit dem Anna die kleine Schwester umsorgte, schien die Wut des Säuglings hervorzurufen. Christina schrie in völlig unerwarteten Momenten, als alle Welt sie eben in tiefem Schlaf glaubte. Sie wollte nicht aus der Flasche trinken, sie verweigerte die Milch, brüllte mit blaurot angelaufenem Gesicht so lang anhaltend, dass Rosina sie hochriss und ihr heftig auf den winzigen Po klopfte aus Angst, sie würde ersticken. Aber Anna, eisern in ihrer Geduld, zupfte Christina am Kiefer, kitzelte sie am Kinn und brachte sie dazu, an der Flasche zu saugen. Anna und Christina schienen sich ineinander zu verbeißen.
Georg Lisiewski schüttelte den Kopf, als er das seltsame Gespann sah. Er mochte die Kleine kaum anschauen, denn auch ihn plagten Gewissensbisse. Er hatte seine Frau wohl zu sehr geliebt, sie hätte mit 45 Jahren kein Kind mehr austragen dürfen. Nun hatte er sie verloren und statt dessen dieses Wesen im Hause, das nicht normal schien. Die beharrliche Liebe seiner Anna zu dieser jüngsten Tochter, deren Überleben er keine Chance gab, erschien ihm unnatürlich.
Anna holte Eselsmilch. Jeden Tag lief sie zwei Meilen quer durch die Stadt zum Müller, der sie nur ungern und sehr teuer hergab. Julie weigerte sich, sie müsse für die Schule lernen. Christina mochte die teure Eselsmilch nicht. Sie schrie stundenlang und durchdringend, aber Anna schaffte es schließlich, ihr die Milch unter Murmeln, Schaukeln und Singen einzuflößen. Aus verquollenen leergeweinten Augen sah das Kind auf Annas Gesicht und trank, böse, undankbar, von Schluchzern und Aufstoßen geschüttelt.
Ich habe eine heilige Pflicht zu erfüllen, dachte Anna. Sie nahm die kleine Christina an wie ein Mensch seinen Buckel.
Rosina schrie entsetzt auf. Nach lautem Klopfen an der Haustür hatte sie geöffnet und war beinahe über den riesigen Kadaver eines struppigen braunen Tiers gestolpert, das vor der Schwelle lag.
Die königlichen Jäger stießen sich an und grinsten. Rosina merkte, dass sie ihr das Tier absichtlich so dicht zu Füßen gelegt hatten, um sich an ihrem Schrecken zu weiden.
»Was soll das?«, fragte sie scharf und wischte ihre Hände am befleckten Malerkittel ab. Die beiden hatten sie aus dem Atelier herausgeklopft.
»Nu, Frolleinchen, regen Sie Ihr nich gleich uff«, meinte der jüngere, der eine Fasanenfeder verwegen an seiner Kappe trug, aber man sah ihm an, dass er es gern sah, wenn die hübsche junge Frau sich aufregte, denn sein Blick war interessiert auf ihr sich hebendes und senkendes Dekolleté geheftet.
Rosina zog ihr Tuch um die Schultern und entzog ihm den erfreulichen Anblick.
»Wohnt hier der Kunstmaler Lisiewski?«, fragte der Zweite sachlicher.
»Porträtmaler«, bestätigte Rosina, und mit Blick auf den blutigen Schädel des Tieres fügte sie hinzu: »Nicht der Schlachter Lisiewski.«
Auf Befehl Seiner Allergnädigsten Majestät König Friedrich Wilhelm, der mit großartigem Geschick und unvergleichlichem Mut diesen kapitalen Keiler erlegt habe, hätten sie das Tier zum Maler Lisiewski zu bringen. Seine Majestät befehlen in seiner Gnade ein Porträt seiner einzigartigen Jagdbeute.
Das riesige Wildschwein verdeckte wie ein Steinhaufen den Eingang und hatte mittlerweile eine Schar feixender Straßenkinder angelockt. Rosina rang um Fassung. Sie zog ihr Schultertuch noch enger um die Schultern und erklärte würdevoll, ihr Vater und auch sie seien Porträtmaler, Jagdbilder seien nicht ihr Metier.
Der Grinser hob den blutigen Kopf des Tieres hoch. Ein beinahe menschlicher Blick aus gebrochenen Augen traf Rosina, die erschauernd zurückwich.
Dieses Antlitz sei doch auch nicht anders als vieles, was sie sonst porträtieren müsste, meinte der Jäger vielsagend. Wenn er an Gundling oder den alten Dessauer denke …
Der andere stieß ihn in die Rippen und sah sich um. Auf Witzeleien dieser Art stand Spießrutenlaufen.
Wider Willen musste Rosina kichern. Die Ähnlichkeit mit dem schnauzbärtigen Fürsten von Anhalt, dessen Porträt der Vater erst kürzlich gemalt hatte, war tatsächlich nicht zu übersehen.
Der arme Keiler habe wohl sein Leben früher lassen müssen als mancher alte Haudegen, sagte sie, übermütig geworden, und alle drei brachen in unbändiges Gelächter aus.
In diesem Moment kam Anna mit einem Korb voller Gemüse aus dem Garten, neben ihr Reinhold, Julie und Lenchen, die aus der Schule kamen.
»Ein Wildschwein!«, schrien Holle und Julie begeistert, die ein solches Tier leibhaftig noch nie gesehen hatten. Anna blickte erstaunt, Lenchen flüchtete sich hinter die Röcke der großen Schwester.
Nichtsdestotrotz seien sie Porträtmaler, und für die Jagdbeute sei der Kollege zuständig, erklärte Rosina. Die Ansammlung neugierig Lauschender hatte sich beträchtlich erweitert.
Eben dieser sei bei der Jagd vom Pferd gestürzt, entgegnete der Jäger ungerührt. Der König habe sich an das vortreffliche Jagdbildnis seines Malers Georg Lisiewski erinnert und befohlen, dass dieser das Porträt der königlichen Jagdbeute anfertigen solle. »Außerdem«, hier machte der Jäger eine bedeutende Pause, und der andere fuhr mit erhobener Stimme fort: »Seine Majestät haben in Dero unendlicher Gnade verfügt, dem Lisiewski und seiner zahlreichen Familie diesen kapitalen Keiler zum Geschenk zu machen.«
Aus dem Rüssel des furchterregenden Tieres ragten zwei gewaltige gelbliche Hauer. Anna trat vorsichtig mit dem Fuß nach dem Kopf des Tieres, um sicherzugehen, dass es tatsächlich mausetot war und sie nicht angreifen würde. Lenchen weinte plötzlich laut auf. Rosina nahm sie in den Arm.
»Nun haben die wilden Ferkel keine Mama mehr«, schluchzte das Lenchen. Die Jäger lachten lauthals, und die Umstehenden auch. Rosina tröstete ihre kleine Schwester und sah böse auf die Jäger. Der Tod der Mutter lag noch keine zwei Jahre zurück, beim geringsten Anlass brach Lenchen in Tränen aus. Wie zur Bestätigung hörte man aus dem Haus die Jüngste, die kleine Christina, weinen.
»Die Ferkel haben einen liebevollen Papa, der sich um sie sorgen wird«, tröstete Rosina das Lenchen zärtlich mit wütendem Blick auf die Feixenden. Anna rannte ins Haus, um Christina zu beruhigen.
»Klar!« Der junge Jäger grinste. »Die haben auch eine zähe Großmama, und …« Ein Tritt des Kollegen gegen sein Schienbein ließ ihn verstummen.
Sie tippten sich an die Kappen und wandten sich zum Gehen.
»Halt!« Rosinas Stimme war schneidend. »Würden die Herren die Güte haben, das Modell dem Maler ins Atelier zu schaffen? Von einer Jungfer können Sie dies kaum erwarten.«
Die beiden sahen sich an, dann packten sie den Keiler an den Beinen und schleppten ihn die Stiege hinauf. Rosina warf einen grimmigen Blick in die Menge und verkündete: »Die Komödie ist zu Ende, meine Herrschaften! Geht schnell nach Hause, bevor ich den Hut herumgehen lasse!«
Damit knallte sie die Tür schwungvoll hinter den Jägern zu. Der kleine Reinhold konnte schnell noch vor seiner erzürnten Schwester ins Haus schlüpfen.
Georg Lisiewski stand im Atelier und betrachtete mit undefinierbarem Gesichtsausdruck den riesigen Keiler, während Rosina unentwegt über diese Schande schimpfte, einen Kadaver vor die Haustür geworfen zu bekommen, diese Schande, was der König einem Künstler zumute, eine Schande für die ganze Familie, das mute er Pesne nicht zu, dem würden sicherlich keine Wildschweine auf die Schwelle seines Hauses geworfen, dem Monsieur Hofmaler der Königin, während ihr Vater die rohen Soldaten für den König in Potsdam porträtieren müsse …
An dieser Stelle warf Georg Lisiewski seiner erregten Tochter einen Blick zu, der sie verstummen ließ. Über den Hofmaler Antoine Pesne wurde im Hause Lisiewski kein böses Wort verloren.
Wie Lisiewski war Pesne Anfang des 18. Jahrhunderts, noch zu Zeiten des verstorbenen Königs Friedrich I., nach Berlin gekommen, Lisiewski allerdings nicht mit dem Franzosen, sondern im Gefolge des Baumeisters Eosander Göthe aus Stettin, der ihn im Bauzeichnen unterrichtet hatte. Lisiewskis Aufgabe hatte zunächst nicht in der Porträtmalerei bestanden, sondern im Anfertigen von Zeichnungen architektonischer Details für die exzentrischen Wünsche des kunstsinnigen Königspaares Friedrich und Sophie Charlotte, die sich nach eigenen Entwürfen die Lietzenburg bauen ließen und dafür ganze Heerscharen von Baumeistern, Malern und Bildhauern, Stuckateuren und Handwerkern beschäftigten. Königin Charlottes früher Tod beendete viele dieser Bauvorhaben, und mit dem Tod des freundlichen kleinen Königs Friedrich im Jahre 1713 war es mit der Großzügigkeit vorbei. Sein Sohn Friedrich Wilhelm, der ›Soldatenkönig‹, entließ mit Blick auf die zerrüttete preußische Staatskasse fast alle Wissenschaftler und Künstler. Göthe ging an den prächtigen Dresdner Hof. Antoine Pesne war einer der wenigen, die bei gekürzten Bezügen blieben, nicht zuletzt, weil er einige Jahre zuvor geheiratet und die gesamte Familie seiner Frau aus Italien mit nach Berlin gebracht hatte. Die Aufgaben waren klar verteilt: Pesne wirkte im Auftrag der Königin für Monbijou, während Lisiewski mit seinen Kollegen Weidemann und Harper für die Offiziersgalerie des Königs zuständig war. Aber Lisiewski hatte Pesne zur Hand gehen dürfen. Als Kopist Pesnes hatte die siebenköpfige Familie ein zusätzliches Auskommen, denn Pesnes prachtvolle Porträts der königlichen Familie wollte jeder bei Hofe besitzen. Darüber hinaus fielen immer wieder Aufträge an Lisiewski, die Pesne nicht annehmen konnte oder wollte. Georg Lisiewski empfand Pesne nicht als Konkurrenten; er verdankte ihm viel und duldete nicht, dass schlecht über ihn gesprochen wurde.
Anna hielt dem Vater ihr Skizzenbuch hin. Der lachte auf und präsentierte es Rosina.
»Sieh dir an, was deine kleine Schwester tut, während du dich mit Schimpfen aufhältst!«
Auf Annas Block war ein Wildschwein zu sehen. Es stand sehr lebendig, die hornigen Hufe auf einem Taburett, und sah den Betrachter mit grimmigem Blick an. Die Ähnlichkeit mit dem schnauzbärtigen Major der königlichen Wache, die täglich an ihrem Haus über die Fischerbrücke zum Schloss zog, war unverkennbar.
»Es kommt nicht darauf an, wen man porträtiert, sondern was man aus einem Auftrag macht«, sagte Lisiewski, während er Anna zärtlich über die wirren Haare strich. »Du solltest das am besten wissen, Rosina. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du den Kleinen die Mutter ersetzt, und ich weiß auch, was es für dich bedeutet, den Ruf an die Dresdner Akademie dafür aufgegeben zu haben.«
Rosina wollte beschämt etwas einwenden, aber der Vater schüttelte den Kopf und fuhr fort: »An der Akademie hättest du ein besseres Handwerkszeug bekommen als bei mir. Aber nicht mehr als das! Talent erlernst du nicht auf der besten Akademie der Welt. Der Dresdner Hof ist ein Sündenbabel, eine ledige junge Frau hat dort nichts verloren. Ich hätte dir ohnehin nicht erlaubt, dorthin zu gehen. Aber ich habe mit Pesne gesprochen. Du kannst ab nächster Woche bei ihm im Atelier anfangen.«
Antoine Pesne, der berühmte Hofmaler! Anna sah überrascht auf. Die Augen ihrer Schwester leuchteten.
»Wirklich, Papa? Das ist ja …« Rosina fiel ihrem Vater um den Hals, was etwas merkwürdig aussah, weil sie den kleinen, drahtigen Polen um einen Kopf überragte.
»Dein Schwager arbeitet bereits für ihn, er hat sich für dich eingesetzt.«
»Matthieu hat …?«
»Er hält dich für sehr begabt. Du sollst zunächst mit Pesnes Schwager zusammenarbeiten.«
»Dem Blumenmaler?«
Lisiewski nickte: »Von Etienne Page kannst du eine Menge Dinge lernen, die ich dir nicht beibringen kann. Stillleben, Perspektiven, Grisailles sind meine Sache nicht.«
»Ich auch! Lass mich auch zu Pesne! Ich will Historienmalerin werden!«, rief Anna.
Lisiewski schüttelte unwillig den Kopf. »Nun ist es gut, Anna. Du bist erst 15, und Historienmalerei ist nichts für Mädchen. Jetzt zeichnest du erst einmal …«
Er sah sich suchend um und stellte einen Krug auf den Tisch. »Du zeichnest diese Vase, und bitte unter dem Einfall des weichen Morgenlichts.«
Anna schmollte. Sie hasste es, Gegenstände abzuzeichnen.
»Aber sie hat kein Kolorit, Vater!«, wandte sie ein. »Wie soll ich einen so langweiligen Gegenstand mit farbigem Leben erfüllen? Lass mich das Wildschwein malen, bitte, und eine Jagdszene dazu! Ich habe auch schon eine Idee …«
Schon hatte Anna ihren Block ergriffen und begann, mit energischen Strichen eine Skizze hinzuwerfen. Der Vater beachtete sie nicht weiter. Er erläuterte Rosina die kommenden Veränderungen. Anna sei alt genug, mit Jana die Hauswirtschaft zu übernehmen. Solange Rosina bei Pesne lerne, könne sie sich im Haushalt auf die Näharbeiten beschränken. Lisi und Matthieu würden die kleine Christina zu sich nehmen, sodass Anna und Rosina sich nur um Julie, Reinhold und Lenchen kümmern müssten.
Als habe sie das verstanden, gab die kleine Christina ein Wimmern von sich. Sie hockte neben Anna und klammerte sich an deren Rock fest. Mit zwei Jahren konnte sie noch immer nicht richtig laufen, hatte federiges, dünnes Haar, seltsam blasse verschwommene Augen und ließ sich von Anna überallhin tragen.
Anna riss das Blatt mit der Jagdszene von ihrem Block und begann mit dem langweiligen Krug. »Aber Papa! Ich kümmere mich doch um Tinka!«
Es gebe viele Kopieraufträge, und Anna müsse ihm die Farben anmischen, die Untergründe vorbereiten und die Konturen anlegen, damit er zügiger arbeiten könne, ordnete Lisiewski an.
»Dabei kann Holle dir doch helfen! Er ist inzwischen alt genug!« Anna zog mit dem linken Arm das greinende Kind auf den Schoß, ohne ihre Zeichnung zu unterbrechen: »Tinka stört mich nicht, sie ist bei allem, was ich tue, dabei.«
»Eben deshalb«, meinte Rosina mit missbilligendem Blick auf das eigenartige Geschöpf, ihre zwei Jahrzehnte jüngere Schwester. »Du musst anfangen, Geld reinzubringen, Anna, das geht nicht mit ihr am Rockzipfel.«
»Ich kann ja den Garten machen, da kann sie mit! Sie ist gern dort auf dem Werder, und Lenchen auch.«
Lisiewski betrachtete seine Tochter nachdenklich. Der große Garten mit dem Gänsestall war ein nicht unerheblicher Wirtschaftsfaktor für die Familie. Das Leben in Berlin hatte sich in den letzten Jahren ständig verteuert, und seit dem Tod seiner Frau war der Garten vernachlässigt worden.
»Schaffst du das allein?«, fragte er zweifelnd. Anna hob Christina in die Höhe. »Tinka hilft mir, was? Tinka? Du bist eine gute Gärtnerin!«
Die Kleine griente wie ein Kobold und langte Anna mit beiden Händen in die Haare.
Mühsam befreite sich Anna aus dem Klammergriff, behutsam, ohne ihr wehzutun.
»Du könntest wieder Schüler aufnehmen, Vater! Ich kann sie versorgen!«, schlug sie dem Vater vor.
Als seine Frau noch lebte, war die achtköpfige Familie stets um zwei von Lisiewskis Malschüler erweitert gewesen. Dies hatte ihnen die unangenehme Zwangseinquartierung von Soldaten erspart. Aber nach Elisabeths Tode hatte er seinen Töchtern nicht auch noch die Verköstigung von Schülern zumuten wollen.
»Schüler sind ziemlich anspruchsvoll«, meinte er, »schaffst du das, Änneken?«
Anna nickte eifrig. »Wenn du nur Jana ins Gewissen redest, dann besorgt sie auch die Hauswirtschaft für die Schüler. Auf mich hört sie nicht.«
Lisiewski seufzte. Janas bäuerischer Starrsinn wurde immer mehr zum Hindernis. Aber eine andere Magd konnten sie sich nicht leisten.
»Wir werden es versuchen, was meinst du, Rosina?«
Die nickte zerstreut. Man sah ihr an, dass sie in Gedanken schon in Pesnes Atelier war.
»Seit der Kronprinz in Schloss Rheinsberg eingezogen ist, hat Pesne viel zu tun«, erläuterte Lisiewski. »Er weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht, auch Harper und Weidemann helfen bei den Deckengemälden und den Supraporten.«
»Der Kronprinz ist anders als sein Vater, er liebt die welsche Musik und alles Französische, den Baustil, die französischen Meister«, meinte Rosina, »er soll ja kaum Teutsch sprechen.«
»Watteau«, murmelte Anna etwas mystisch. Sie nahm den Blick nicht von dem verhassten Krug, ließ Tinka sanft mit der Linken zu Boden, während ihre Rechte mit dem Rötel das langweilige Motiv einfing. Anna hatte sich daran gewöhnt, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun.
»Ja, der Kronprinz liebt Lancret und Watteau! Woher weißt du das?« fragte Lisiewski erstaunt.
Anna hielt dem Vater ihren Block hin: »Ich bin doch eine Tochter Watteaus! Ich bin in Watteaus Stern geboren, hat Onkel Modestus gesagt.«
Lisiewskis Blick wanderte von der Zeichnung des Kruges zu seiner Tochter. Da hatte ihr der alte Freund und Kupferstecher Modestus Eccardt einen schönen Floh ins Ohr gesetzt.
Lisiewski schüttelte nachsichtig den Kopf und erläuterte Anna geduldig, wie der Schatten anzulegen war. Dann betrachtete er den Keiler, schob einen Holzklotz unter den kolossalen Kopf, damit die Hauer gut zu sehen waren, seufzte und ging zur Staffelei.
»Rosina, welches Maß soll es haben?«
Rosina, die bereits an der Tür war, wandte sich fast erschrocken um. »Davon haben die Jäger nichts gesagt. Verzeih, ich vergaß zu fragen …!«
»Dann halt das Übliche.« Lisiewski zog von den mit Leinwand bespannten Rahmen, die an der Wand lehnten, einen mittelgroßen heraus und stellte ihn auf die Staffelei.
»Anna, geh einmal zu Therbusch hinüber, er soll ins Atelier kommen.«
Anna zog einen Flunsch. Zu gern hätte sie dem Vater über die Schulter gesehen, während er den Keiler malte.
»Das kann doch Jule machen! Soll ich dir nicht lieber das Braun anmischen …«
Sein Blick, den die Töchter den polnischen nannten, ließ sie augenblicklich verstummen. Sie nahm Tinka auf den Arm und rannte hinaus über den Mühlendamm, die Poststraße entlang zu Therbuschs Gasthaus.
Die ›Weiße Taube‹ lag gegenüber der Fischerbrücke im Stadtteil Berlin auf der Heiliggeiststraße in der Nähe der Postkutschenstation. Hier stiegen die Fremden ab, meist Handelsleute, die im aufstrebenden Berlin Geschäfte machten. Seit die Städte Cölln und Berlin eine Einheit bildeten und der König die vertriebenen Hugenotten und Salzburger ins Land geholt hatte, war der preußische Handel in Schwung gekommen. Die Fremden brauchten Unterkünfte, preiswertes Essen und ein wenig Kurzweil am Abend, denn nicht jeder hatte das Glück, bei Hofe oder bei einer begüterten Familie Berlins eingeladen zu sein. Die ›Weiße Taube‹ mit ihrem stets gut gelaunten, Drehleier spielenden Wirt Michel Therbusch, mit Spieltischen und guter Küche trug allem Rechnung.
Liese Therbusch stand mit hochrotem Gesicht hinter riesigen Töpfen und Eisenpfannen in der Küche. Michel Therbusch, Wirt, Hotelier und Freund des Vaters, habe keine Zeit, behauptete sie. Heute Abend komme die Diligence, das Essen müsse gerichtet werden, und es sei weder Wein noch Bier im Haus.
Ernst zwinkerte Anna zu und kniff Tinka in die etwas schlaffen Bäckchen. Er war der einzige Sohn des Wirtsehepaares, ein freundlicher junger Mann von 18 Jahren, der die Schwestern Lisiewska liebte. Enttäuscht hatte er die Hochzeit der aus der Ferne bewunderten Elisabeth, Lisi genannt, gefeiert, zwei Jahre später hatte er sich eine Abfuhr von Rosina geholt, die ihm erklärt hatte, sie sei Künstlerin und werde niemals Wirtin einer Absteige werden. »Absteige« hatte sie das gepflegte Gasthaus seiner Familie genannt! Das hatte ihn mehr gekränkt als ihr Korb. Er habe ein führendes Logis, hatte er Rosina würdevoll erklärt, und sobald er es übernehme, würde er die ›Weiße Taube‹ zu einem Hotel für Herrschaften ausbauen. Aber Rosina hatte ihn nur mitleidig angelächelt und sich wieder ihrem Porträt zugewandt.
Ernst betrachtete Anna genauer. Gut, sie war erst 15 und nicht so hübsch wie ihre Schwestern, aber sie war so lieb zu den kleinen Geschwistern, so umsichtig mit dem Vater seit dem Tod ihrer Mutter, und die Hauswirtschaft schien ihr flink und leicht von der Hand zu gehen. Das alles konnte man von ihrer Schwester Julie nicht sagen. Die schickte sich zwar an, schon mit zwölf Jahren bildhübsch zu werden, aber sie war ein Wildfang, trug bereits jetzt die Nase viel zu hoch und ließ sich nach dem Tod der Mutter von niemandem etwas sagen. Nein, mit der Julie würde es nichts werden, aber Anna? So schlecht sah sie nicht aus, vor allem gefiel ihm ihre Energie.
»Der Vater ist im Keller«, flüsterte Ernst Anna zu, lockte das Kind mit einem Bonbon von ihrem Arm, drückte es einer Küchenmagd in die Arme und begleitete Anna.
Michel destillierte. Das war natürlich verboten, aber alle Wirte brannten ihren Schnaps selbst, denn der Branntwein, den sie abnehmen mussten, taugte nichts, und Therbuschs Obstbrand war eine Spezialität. Therbusch braute auch sein Bier selbst, immer bedacht darauf, von den Berliner Brauern genügend abzunehmen, um nicht aufzufallen, und laut zu seufzen, dass die meisten seiner Gäste Weintrinker seien.
»Änneken! Was gibt es?«, fragte Michel Therbusch freundlich.
»Der Vater hat einen Keiler und bittet dich zu kommen«, sagte Anna artig, nicht auf den Lachanfall von Vater und Sohn gefasst.
Ein Keiler im Atelier, das sei eine Sensation, die er nicht versäumen dürfe, meinte Michel vergnügt, ob er zur Fischerbrücke geschwommen sei?
Erstaunt sah Anna ihn an. Das Wildschwein sei natürlich tot, sagte sie ernsthaft, und erntete weiteres Gelächter. Ihr kamen die Tränen. Warum verstand sie nie, worüber die Leute lachten? Was war an ihrer Nachricht komisch? Immer wieder brachen Menschen über ihre Worte in Gelächter aus, und Anna verstand nicht, warum. Sie hatte gehofft, mit zunehmendem Alter würde sich das legen, und sich seit ihrer Konfirmation eine damenhafte Attitüde zugelegt, aber es war eher schlimmer geworden.
Wortlos wandte sie sich ab und stieg die Treppe hinauf. Er käme, rief Michel ihr nach, sie solle sich von der Thea eine gute Hühnersuppe auftragen lassen, gleich sei er hier fertig und begleite sie nach Hause.
Ernst Therbusch ging mit Anna nach oben. Das Änneken, wie sie die Lisiewska-Tochter nannten, war den Tränen nah. Weshalb nur? Mädchen in ihrem Alter seien so, sie hätten ihre Launen, hatte ihm seine Mutter erklärt, und die Lisiewski-Töchter insbesondere seien empfindsame Gänschen. Diese Rosina sei nichts für ihn, was solle er mit einer Frau, die ständig malte, statt sich um die Gäste zu kümmern. Aber Anna malte nicht ständig, fand Ernst, sondern trug die Kleine mit sich herum und bemühte sich um sie, dabei konnte man doch sehen, dass es vergebliche Liebesmühe war, das Kind war ein Krüppel, vertrocknete Frucht einer zu spät Gebärenden. Lisiewski hätte besser achtgeben sollen.
Anna wollte nach Hause, aber Ernst ließ das nicht zu. Er wies auf einen freien Tisch in der niedrigen Gaststube: »Setz dich, Mutters Hühnersuppe magst du doch so gern.«
Gehorsam nahm Anna an dem Tisch Platz. Die Magd brachte erst Christina, die die Ärmchen nach Anna ausstreckte, dann die Suppe. Ernst zündete sich eine Pfeife an und setzte sich zu Anna, ohne das Zetern seiner Mutter zu beachten. Er solle sofort zum Weinhändler, rief Liese aus der Küche, der französische sei aus, und neue Gläser brauchten sie auch. Herumhocken und rauchen könne er am Sonntag.
Ernst rief ein gleichmütiges »Ja, sofort, Mutter!« in Richtung Küche und lächelte Anna entschuldigend an.
»So ist sie, nicht wahr! Aber sie kocht das beste Essen rund um die Nicolaikirche«, meinte er, und Anna fühlte sich plötzlich geborgen neben Ernst in dem Trubel des Gasthauses. Sie löffelte ihre Suppe, schob jeden zweiten Löffel Christina in den Mund und wischte ihr geduldig über das Kinn, wenn ihr die Brühe wieder aus dem offen stehenden Mäulchen lief.
Michel Therbusch lachte schallend, zuerst über das riesige Tier, dann über das begonnene Porträt.
»Schorsch, das ist eine neue Karriere«, meinte er und entkorkte die mitgebrachte Flasche Rotwein. Lisiewski ließ sich einschenken und lachte mit. Er und der Wirt, das war eine echte Künstlergemeinschaft. Abwechselnd hatten sie Finissagen im Atelier, dann in der ›Weißen Taube‹ gefeiert, hier die neuen Porträts der Herrschaften, dort die Kindstaufen und Hochzeiten, und auch, leider, das Begräbnis seiner geliebten Frau war dort begangen worden.
»Michel, nimm mir um Himmels willen dieses Monstrum ab«, sagte Lisiewski, »ihr könnt es am Spieß braten und eine Woche davon eure Gäste verköstigen.«
Michel betrachtete nachdenklich das Wildschwein. »Weißt du eigentlich, wie viele dieser haarigen, zähen Biester ich in den letzten Tagen angeboten bekommen habe? Monsieur Ephraim will gleich zwei loswerden.«
Er wies in Richtung Mühlendamm, wo sich der aufstrebende junge Bankier neben der alten Apotheke niedergelassen hatte.
»Ephraim? Der Jude? Wieso hat der Wildschweine?«, fragte Lisiewski. Michel lachte. »Wenn der König auf die Jagd geht, muss jeder die Beute kaufen, auch die Juden! Da kennt er kein Pardon!«
Lisiewski trank und schüttelte den Kopf. Die Ideen des Königs Friedrich Wilhelm waren manchmal sehr eigenwillig. Er hatte das Verbot der Holzpantinen noch in guter Erinnerung, es war das Unpraktischste, das ihm je untergekommen war.
»Ich hab das Tier geschenkt bekommen, Michel, und ich will nichts daran verdienen außer einem guten Essen bei dir in der Wirtschaft«, erklärte er, »aber Ephraim? Musste der auch noch Geld für Schweine bezahlen, die ihm nicht über die Schwelle in sein koscheres Palais kommen?«
»Jeder! Der König ist sparsam, er will nicht, dass seine Jagdbeute verkommt …«
»Warum schickt er sie nicht in die Spinnhäuser?«, fragte Anna, die eben mit einer Karaffe und Gläsern das Atelier betreten hatte.
Michel prustete los, der Vater ebenfalls, Anna wurde blutrot. Hatte sie schon wieder etwas Falsches gesagt?
»Ja, der König könnte die Hürchen damit fett füttern«, kicherte Michel, griff nach den Gläsern und schenkte den Wein ein. Ein warnender Blick Lisiewskis ließ ihn von weiteren Anzüglichkeiten Abstand nehmen.
»Der König will nichts verschenken, sondern verkaufen«, erläuterte Lisiewski seiner unschuldigen Tochter, »er ist sehr gottesfürchtig. Seit Pastor Freylinghaus ihm erklärt hat, dass die Jagd auf unschuldige Tiere nur dann nicht verwerflich sei für einen Christenmenschen, wenn sie dem Nahrungserwerb diene, hat er beschlossen, seine Lieblingsbeschäftigung nutzbringend für seine Untertanen anzuwenden.«
Die beiden Männer lachten und tranken.
Die neue Karriere des Georg Lisiewski sollte noch einen anderen Weg gehen. Ein Bote befahl ihn ins Schloss und führte ihn hinauf in die zweite Etage direkt zum berühmt- berüchtigten Tabakskollegium des Königs. Verschreckt blieb Lisiewski an der Tür stehen. Er war noch nie zum König befohlen worden. Vor einigen Jahren hatte er die königliche Jagdgesellschaft gemalt, aber er hielt sein Bild nicht für sonderlich gut. Pferde, Hunde und Hirsche waren nicht sein Metier, und auch sein neues Werk, der Schädel des Wildschweins, schien ihm nicht gelungen. Aber beide Bilder hingen, so sagte man ihm, im königlichen Jagdschloss in Wusterhausen und erfreuten des Königs Auge. Sie hatten ihm ein persönliches Billett des Königs mit einem blanken goldenen Dukaten eingetragen.
Lisiewski betrachtete den einfachen Raum, der über der königlichen Wohnung in dem verwirrend großen Berliner Stadtschloss lag. Es war bekannt, dass der König den Prunk nicht liebte, aber das? Diese Stube, einem Stall ähnlicher als einer menschlichen Behausung, sollte das königliche Tabakskollegium darstellen?
Die schmucklosen Wände waren weiß verputzt, allerdings vom unmäßigen Rauchen gelb geworden. Eine schlichte Gesimskante zog sich an der Wand entlang. Die einzige Zierde des kargen Raumes bildete ein blau gestrichenes Gestell, auf dem holländische Teller und Schüsseln in Delfter Blau und Weiß standen. Ein riesiger Tisch aus grobem Eichenholz nahm fast die gesamte Raumlänge ein. Ihn umstanden nicht etwa prächtige Fauteuils, sondern nur zwei lange Bänke ohne Lehnen, wie Michel sie an heißen Sommertagen in seinen Hof stellte, wenn die Kutscher die schweren Pferde im Geschirr saufen ließen und eilig einen Krug Bier im Freien tranken.
Ein Stuhl stand am Kopf der Tafel und war offenbar für den König bestimmt. Eigenartigerweise verfügte er über Armlehnen, hatte aber keine Rückenlehne. Wollte der König sich immer gerade halten?
Auf einem schmalen, zwischen Bierbank und Wand gepressten Tischchen stand das einzig luxuriöse Geschirr in diesem Raum, eine große Kanne aus purem, funkelndem Silber mit einem Hähnchen zum Bierzapfen. Wie eine kostbare Kette lagen alte Brandenburger Silbermünzen um ihren Hals.
Die erkaltete Pfeifenglut vom Vorabend lag noch in den Kupferpfannen auf dem langen Tisch. Lisiewski stieß die Tür wieder auf, die der Diener hinter ihm geschlossen hatte. Die Luft in diesem Raum war unerträglich, aber er wagte nicht, das einzige Fenster zu öffnen. Es stank nach Schankwirtschaft, wie es Michels Frau Liese niemals zugelassen hätte. Jeden Abend, nachdem sie die ›Weiße Taube‹ gründlich gelüftet und alles gewischt, die Glut und verstreute Tabakasche fortgeräumt hatte, stellte sie ein Schälchen mit Essig auf die Schank, um den Tabakgeruch zu vertreiben. Tat dies im königlichen Schloss niemand? Der schmucklose Raum war ja nicht schwer zu säubern.
Lisiewski erinnerte sich an das Bild vom früheren Tabakskollegium des alten Königs Friedrich, das Paul Leygebe gemalt hatte, als das Tabakrauchen in Mode gekommen war. Die hohen Herren rauchten aus langen weißen Tonpfeifen in einem prunkvollen Saal, jeder in einem prächtigen, bequemen Fauteuil, nach höfischem Zeremoniell. Hinter jedem Kavalier stand ein Diener, der seinem Herrn die Pfeife stopfte und entzündete, und Königin Charlotte hatte die Ehre, ihrem königlichen Gatten die holländische Pfeife zu reichen, was sie charmant lächelnd tat, bevor sie sich zu ihren Damen zurückzog und die Herren ihrem Vergnügen überließ.
Stirnrunzelnd betrachtete Lisiewski zwei Bilder, die an der Wand hingen. Eines zeigte das Porträt einer altertümlich gekleideten Dame in zweifelhaftem Kolorit, das andere einen jungen Mann, der mahnend eine Sanduhr hochhielt. Wer hatte sie gemalt? Er sah auf den ersten Blick, dass sie nicht von den Kollegen Weidemann oder Merck waren, auch von seinem Freund Modestus Eccardt stammten sie nicht.
Die Dame war Königin Sophie Charlotte, die Mutter des Königs. Ihr Bildnis hatte Weidemann gemalt, und es hing in der Lietzenburg. Was hier hing, war eine miserable Kopie. Die vornehm gepuderte Blässe, der Hauch von Rosa auf ihren Wangen, das gesamte Inkarnat war dick aufgetragen und dilettantisch gepinselt. Wenn seine Töchter als Kinder solche Farben gemischt und in dieser Weise aufgetragen hätten, hätte er sie nicht weiter ausgebildet, sondern ihre Aussteuer nähen lassen. Wer hatte diese Bilder gemalt?
Lisiewski hörte den König nicht hereinkommen, weil er auf die zeremonielle Ankündigung durch zwei Lakaien gewartet hatte. Aber plötzlich wurde der Stuhl gerückt, er hörte ein Schnaufen und fuhr erschrocken herum. Der König saß am Tisch, beleibt, schnaufend und rotgesichtig vor Anstrengung. Ein Lakai stand hinter ihm. Aber noch bevor Lisiewski das übliche Unterwürfigkeitszeremoniell zu Ende bringen konnte, unterbrach ihn ein ungeduldiger Wink des Königs.
»Es ist gut, Lischewky. Im Tabakkollegium kennen Wir keine Etikette, nur Männer.«
Er lachte gönnerhaft. Lisiewski wagte nicht, einzustimmen und begnügte sich mit einem vorsichtigen Lächeln. Der König konnte prächtiger Laune sein und im nächsten Augenblick entsetzlich fluchen, ja sogar handgreiflich werden, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Die missglückte Flucht des Kronprinzen lag vier Jahre zurück. Der König hatte seinen Sohn zwar begnadigt, aber er hatte dessen Freund, Leutnant Katte, vor seinen Augen als Fluchthelfer und Fahnenflüchtigen enthaupten lassen. Seit diesem schrecklichen Richtspruch galt der König in seinem Misstrauen als unberechenbar. Lisiewski hatte den jungen Katte wenige Monate vor seiner Hinrichtung porträtiert. Viele Monate hatte er deshalb in nackter Angst gelebt, der König könne ihn und seine Familie außer Landes jagen.
»Er braucht nicht höflich gegen diese Bilder zu sein, es ist nur der Maler Klecksel, der sie gemalet«, scherzte der König. Sein intensiver Blick, mit dem er Lisiewski fixierte, stand in scharfem Kontrast zu der launigen Bemerkung.
Es waren eigenhändige Bilder des Königs! Jetzt verstand Lisiewski, was Weidemann gemeint hatte! Er hatte bei dem Kollegen einige nur als Umrisse hingeworfene Kopien gesehen und sich gewundert, dass die alten flämischen Bilder aus Monbijou und Charlottenburg kopiert werden sollten. Weidemann hatte nur gesagt, er solle dem König die Umrisse liefern. Der König malte die Konturen aus, wie ein Schulbub!
»Majestät«, begann Lisiewski, aber er konnte nicht verhindern, dass er heftig ins Schwitzen geriet. Jedes Wort, das er ab jetzt sagte, konnte falsch sein. Wenn der König dilettierte, war dies seine Sache. Er konnte dem ganzen Hof befehlen, seinen Werken zu applaudieren, und diejenigen, die es nicht taten, nach Spandau in die Festung schicken.
Unter der ungewohnten Perücke bildeten sich Schweißtropfen. Lisiewski spürte, dass sie gleich an seinen Schläfen entlanglaufen würden. Aber vor dem König konnte er doch nicht sein Taschentuch herausziehen! Stocksteif stand er da, wünschte inständig, dass Gott der Herr ihm eine passende Replik aus dem Himmel senden möge, da sprach der König schon weiter: »Er hat Uns eine schöne Jagdtrophäe gemalet.«
Unendlich erleichtert sprudelte Lisiewski heraus: »Majestät sind zu gnädig! Das Wildschwein war überhaupt nicht mein Metier, auch jene Jagdszene …«
Ein Wink des Königs unterbrach ihn. Der König ließ sich vom Lakaien eine gestopfte Pfeife anzünden, paffte Rauchwolken in die Luft und sagte: »Er ist bescheiden, Lischewky. Das mögen Wir. Bescheidenheit ist die Tugend des gottesfürchtigen Christenmenschen. Diese Bilder hat sein König unter Schmerzen gemalt, sie werden in Wusterhausen ihren Platz finden. Es ist nicht das Werk, das wichtig ist, sondern die Tätigkeit, die den König von den Schmerzen der Gicht ablenkt.«
Er wies mit der Pfeife auf eines der Bilder. In der unteren rechten Ecke las Lisiewski: ›in tormeti pinxit‹.
Plötzlich war Georg Lisiewski gerührt. Der König hatte Schmerzen, und seine gichtigen Finger ließen feine haptische Tätigkeiten wie das Malen kaum zu. Dass er dennoch ausgerechnet diese Kunst als Ablenkung von den Schmerzen gewählt hatte, griff Lisiewski ans Herz. Wie fromm der König war, und sein Kunstverständnis war nicht so schlecht. Die flämischen Meister des vergangenen Jahrhunderts waren zu Unrecht aus der Mode geraten, Lisiewski fand sie brillant. Die Königin teilte den Geschmack des Königs aber nicht, sie ermunterte den Hofmaler Pesne ständig, mehr »à la francaise« zu malen, wenn er das niederländische Kolorit für ihren Geschmack zu derb verwendete.
»Majestät sollten mit den Augen beginnen«, sagte Lisiewski, mutig geworden, »Sie haben es dann einfacher.«
Er erläuterte detailliert, zeigte, was er meinte, und der König sah von ihm zu seinem Bild, legte den Kopf mit den zarten, beinahe kindlichen Zügen, die zu dem massigen Körper nicht passen wollten, schief, und hörte dem Maler zu, ohne ihn zu unterbrechen.
»Rauche er eine Pfeife mit seinem von Schmerzen geplagten König«, befahl Friedrich Wilhelm schließlich, »und habe er keine Angst, Lischewky, sein König will ihn nicht um sein Brot bringen. Er ist ein tüchtiger Porträtmaler.«
Er nahm einen tiefen Zug, blies eine gewaltige Rauchwolke in den Raum und lachte auf. »Sogar sein Porträt des kapitalen Keilers hat Charakter!«
Lisiewski lächelte erleichtert und paffte an der Pfeife, die ihm der Diener gereicht hatte. Er verabscheute das Rauchen, er vertrug es nicht, aber diese Gnade konnte er unmöglich abschlagen. Er hoffte inständig, dass er ohne volle Hosen hinauskommen würde. Von anderen wusste er, dass des Königs größter Spaß darin bestand, seine Gäste nicht aus der Tabakrunde zu entlassen, bevor sie alles von sich gegeben hatten. Seine Schadenfreude bei besonders Empfindlichen kannte keine Grenzen, nicht einmal vor den eigenen Söhnen machte sie halt.
»Hier soll ein Bild Unseres Tabakkollegiums hängen«, sagte der König und deutete mit dem Mundstück seiner langen weißen Pfeife an die Wand.
Das klang nach einem Auftrag.
»Möchten Majestät Porträts aller Edelleute in Seiner Tabagie verewigen?«, fragte Lisiewski vorsichtig. Der König verneinte. Ein Bild des gesamten Raumes wolle er, mit allen Herren beim Rauchen, auch die Kronprinzen sollten darauf sein.
»Aber ich bringe es nicht zuwege«, sagte der König grimmig.
Der König wollte seine Tabakrunde selbst malen. Kein Auftrag. Kein Geld. Lisiewski sank in sich zusammen.
»Wir brauchen seine Hilfe, Lischewky«, knurrte der König, »soll sein Schade nicht sein.«
Wieder dieser fixierende Blick.
»Selbstverständlich helfe ich Ihnen gern, Majestät«, stammelte er, »wenn ich nur wüsste, wie?«
»Soll Uns zur Hand gehen, weiß nichts von Perspektiven«, meinte der König.
»Soll ich Ihro Majestät die Farben anmischen?«, fragte Lisiewski vorsichtig und fügte erklärend hinzu: »Das Kolorit ist die wichtigste Wissenschaft beim Malen.«
Der König wischte diese Idee mit einer alles umfassenden Handbewegung fort.
»Mein alter Bombardier mischt Uns die Farben, dieser Fuhrmann, nein, Lischewky, er soll sich mit wichtigeren Dingen beschäftigen.«
Es gibt nichts Wichtigeres als das Kolorit, dachte Lisiewski, Herr im Himmel, was versteht ein Bombardier von Farben! Daher also das dick aufgetragene Rosa der Wangen von Königin Charlotte.
»Er soll Uns die Perspektive anlegen, verstehe nichts davon, und bei den Figuren helfen, die am Tisch sitzen.«
»Werden die Herren Ihnen sitzen, Majestät?«, fragte er vorsichtig.
»Sitzen jeden Abend hier herum! Kenne die Gesichter auswendig!«, bellte der König. Er zeigte Zeichen jener Ungeduld, die schnell in Zorn umschlagen konnte.
»Selbstverständlich werde ich Euer Majestät mit dem größten Vergnügen zur Hand gehen«, erklärte Lisiewski schnell, »es wird mir eine Ehre sein.«
Ein Wink des Königs entließ ihn. Lisiewski erhob sich und ging unter Verbeugungen rückwärts zur Tür, da fiel ihm ein, wie er das seltsame Unternehmen zu einem Erfolg machen konnte.
»Darf ich Euer Majestät um die große Gnade bitten, meine Tochter mitbringen zu dürfen? Sie ist sehr talentiert und mischt mir immer die Farben an …«
Der König, der sich bereits erhoben hatte, stützte sich schwer auf den Tisch. Er schien nicht mehr zuzuhören. Sein Gesicht war schmerzhaft verzogen. Schnell wandte sich Lisiewski ab, beschämt, seinen König in einem Augenblick der Schwäche zu sehen, erhaschte aber noch ein zustimmendes Nicken des Lakaien.
Er würde Anna mitbringen. Mehr als hinauswerfen konnte der König sie nicht. Aber auf diese Weise würde er den seltsamen Auftrag wenigstens mit seinen Farben ausführen und nicht mit diesem grauenhaften Soldatengemisch.
Sie könne doch die Farben für ihn auch zu Hause anmischen, beantwortete Anna das väterliche Ansinnen am nächsten Morgen, während sie die unwillige Tinka mit Hirsebrei fütterte.
Lisiewski strich sich über seinen geliebten Gran. Sein Bart war ein prächtiger Musketierbart nach Art der polnischen Husaren, ungewöhnlich für Berliner Verhältnisse. Der sorgsam gepflegte Knebelbart mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden machte aus Lisiewski unter den überwiegend bartlosen preußischen Männern einen alten Meister aus dem vergangenen Jahrhundert. Der Gran war die einzige Extravaganz, die er sich gegenüber den preußischen Sitten leistete.
»Du verstehst nicht, Tochter! Es ist eine Schaustellung, du sollst die Farben vor den Augen des Königs mischen! Nimm es als Jahrmarkt, spiel den Doktor Eisenbart! Nur so kann ich den König überzeugen, dass seine Bilder nicht durch das Gepansche seines Bombardiers, sondern durch mein Kolorit besser werden!«
Anna verstand. Aber zum König höchstselbst … Wo sollte sie Tinka lassen? Die Befehle des Königs konnten sehr plötzlich kommen, wie dieses Wildschwein, und dann musste der Vater alles stehen und liegen lassen und ins Schloss eilen, den König durfte man nicht warten lassen. Wie sollte sie sich benehmen? Was durfte sie tun, was nicht? Und was in aller Welt sollte sie anziehen?
Angesichts der umständlichen Einwände seiner Tochter und des unentwegt greinenden und spuckenden Kleinkindes ging Lisiewskis polnisches Temperament mit ihm durch.
»Mariaundjosef, welch überflüssige Fragen ihr Weibsbilder stellt! Von mir aus kannst du die Farben in deiner Leibwäsche anmischen, es ist doch völlig gleichgültig, was du dabei trägst!«
Anna seufzte. Der Vater verstand nicht. Es gab vieles zu beachten, wenn ein bürgerliches Mädchen sich dem König näherte. Hatte Friedrich Wilhelm nicht den Luxus und die Verschwendungssucht angeprangert? Ginge sie höfisch in Seide gewandet, konnte man sie womöglich dafür tadeln. Aber den einfachen Kattun hatte der König verboten, unmöglich konnte sie das heimlich in diesem schönen Stoff gefertigte Kleid tragen. Der König hatte schon manche Jungfer ins Spinnhaus geschickt wegen ähnlich lächerlicher Delikte …
»Unsinn! Du bist meine Tochter, die Tochter des Hofmalers! Du machst dein Kompliment, und dann mischst du ohne ein weiteres Wort die Farben an, in dem starken Kolorit, wie ich es dir gezeigt habe! Und lass ein einziges Mal dieses Kind los! Diese Missgeburt …« Georg Lisiewski griff nach Tinka und riss sie von Annas Schoß.
»Diese Missgeburt soll endlich sehen, wie sie klarkommt! In ihrem Alter habt ihr alle längst allein mit dem Löffel gegessen!«
Tinka fiel, so unsanft gepackt, zu Boden. Das Holzschüsselchen polterte auf die Dielenbretter. Der Brei verteilte sich um das erschrockene Kind, das tief Luft holte und blau anlief.
Anna sah ihren Vater schockiert an. Wie hatte er die Kleine genannt?
Seltsamerweise war es Jana, die sich einmischte. Noch bevor Anna etwas sagen konnte, noch bevor Tinka in den erlösenden Schrei ausbrach, bekreuzigte sich die sorbische Magd und schrie Lisiewski etwas zu. Der schrie zurück, Anna verstand nichts. Nun rannte Jana herbei, wischte mit der Rechten den Brei weg und hob mit der Linken das Kind auf. Ununterbrochen redete sie heftig auf Lisiewski ein.
Anna sah der Szene sprachlos zu. Wenn Maria in Wut gerät, weil jemand das Jesuskind beleidigt, dann müsste es so aussehen, dachte sie beeindruckt und konnte den Blick nicht von der Magd wenden, die Tinka den Rücken klopfte, deren Aufschrei noch immer auf sich warten ließ und das Kind schier erstickte.
Mechanisch hob Anna die Schüssel und den hölzernen Löffel auf. Missgeburt. Der Vater hatte Tinka eine Missgeburt genannt. Sie betrachtete die kleine Schwester auf Janas Armen, die nun endlich in den erlösenden Schrei ausgebrochen war und, krebsrot im Gesicht, so gellend schrie, dass keiner sein eigenes Wort mehr verstand.
Wütend warf Lisiewski seinen Löffel auf den Tisch und verließ die Küche. Jana rief ihm etwas hinterher und bekreuzigte sich wieder, hastig, dreimal, als müsse sie den Teufel aus der Küche vertreiben. Die Tür knallte zu.
Jana ging zum Herd zurück, schuckelte das Kind, sang beruhigende Töne in kindlich hoher Stimme, während sie Wasser in den Brei auf dem Herd rührte, der schon einen etwas brenzligen Geruch verbreitete. Endlich war Tinka still.
Da drehte sich Jana um und sagte zu Anna in einem seltsam rauen, aber einwandfreien Deutsch: »Ich näh Ihnen das Kleid, Knjeschna Anna, besorgen Sie nur den Stoff.«
Sie sprach Deutsch! Anna starrte die Magd, die schon vor Rosinas Geburt der Familie Lisiewski gedient hatte, fassungslos an. Dann hatte sie also …?
»Man schnappt so einiges auf, wenn man viele Jahre von daheim fort ist«, murmelte Jana und trocknete Tinkas Tränen. »Und die Christina können Sie bei mir lassen, wenn Sie ins Schloss müssen. Ich pass auf, dass ihr nichts geschieht.«
Anna betrachtete das sonst so blasse, nun vor Erregung gerötete Gesicht der Magd. Es war bäuerisch, breit, nicht hübsch, dafür fehlte die Ebenmäßigkeit, aber es lag Güte darin. Beinahe hätte Anna geweint. Sie schluckte.
»Findest du auch, dass Tinka eine Missgeburt ist, Jana?«, fragte sie.
»Wir sind alle Kinder des Herrn«, stellte Jana fest, setzte die getröstete Kleine auf den Boden und gab ihr einen aufmunternden Klaps auf den Hintern. »Hol den Löffel, Christina, und bring ihn der Jana!«
Und als Tinka anstandslos den Auftrag ausführte, fügte sie hinzu: »Selig sind die geistig Armen, denn ihnen gehört das Himmelreich.«
Schnell, als habe sie zu viel gesagt, wandte Jana sich wieder dem Herd zu, klapperte mit Deckeln und Töpfen und brummte vor sich hin.
Der Befehl des Königs erreichte Lisiewski ausgerechnet an einem der Wüstentage. So nannten die Berliner jene Tage, an denen der scharfe Ostwind den Sand der Dünen, die vor der Stadt angeweht waren, in Berlin durch jede Ritze trieb. Es war September geworden, und die ersten Herbststürme peitschten über die märkische Ebene, die durch das schonungslose Abholzen der Wälder in eine öde Steppe verwandelt war.
Gerade legte Anna dicke, strohgefüllte Stoffwülste vor die geschlossenen Türen und Fenster, als der Bote sie und den Vater ins Schloss befahl.
Ausgerechnet heute, dachte sie. Bei diesem Wetter ging kein Berliner freiwillig aus dem Haus, und wenn es unbedingt sein musste, nur mit Tüchern verhüllt, was ein Problem darstellte. Auf diese Weise vermieden die Menschen zwar den nadelscharfen Sand im Gesicht, übersahen aber die Unrathaufen, die überall auf den Gassen lagen, und ruinierten sich Schuhe und Kleidersäume.
Aber Anna hatte alles vorbereitet. Flaschen mit Leinöl, Firnis, Eiweiß und die Gläser mit den fein geriebenen Pigmenten standen in einem Korb bereit, und das neue Kleid war fertig. Es war aus einem blassrosa Stoff, den Anna mit Bedacht gewählt hatte. Die Farbe Blau war ihr für immer verleidet. Niemals in ihrem Leben würde sie ein blaues Leinenkleid tragen, das sie an ihre grauenhafte Taktlosigkeit während des Todeskampfes ihrer Mutter erinnern würde. Das Rosa im zarten Farbton edler Rosen sah vornehm aus, ohne eitel zu wirken. Es passte zu ihrem dichten braunen Haar, den hellbraunen Augen und ihrem blassen Teint, von dem sich der schmale, scharf geschnittene Mund kaum abhob. Und der König konnte nichts dagegen einwenden, denn es war aus dem von ihm geförderten Wollstoff geschneidert, der aber mit Seidenfäden verwebt war, daher nicht kratzte und bei Sonnenschein ein wenig glänzte.
Anna biss sich auf die Lippen und klopfte sich auf die Wangen, um ihnen etwas Farbe zu geben. Jana schnürte ihr das Mieder und half ihr in das neue Kleid. Julie jammerte, man solle sie mitnehmen, lief zum Vater und schmiegte sich an ihn.
»Wenn du gelernt hast, die Farben anzumischen, darfst du mit mir kommen«, sagte Lisiewski sanft. Julie war so hübsch, so ähnlich sah sie seiner verstorbenen Frau, nie konnte er ihr ein böses Wort sagen. Anna beobachtete Julies Bemühungen und wandte sich ab. Im letzten Moment würde es Julie vermutlich noch gelingen, den Vater umzustimmen. Mit ihrem schmeichelnden Blick und einem Lachen oder Tränen, die sie produzieren konnte wie eine Aktrice des Hoftheaters, setzte sie stets ihren Willen durch. Aber dieses Mal blieb der Vater hart. Er brauche beim König keine Glücksfee, sagte er, sondern eine Tochter, die etwas von Farben verstehe. Julie schmollte.
Zu Annas großer Überraschung musste sie den Weg von der Fischerbrücke über den Mühlendamm zum Schloss nicht zu Fuß gehen. Der König hatte eine Sänfte mit zwei Trägern geschickt. Staunend nahm Anna auf den bequemen Polstern Platz, den Korb auf dem Schoß. Noch nie hatte sie in einer Sänfte gesessen.
Der Besuch beim König war für Lisiewski ein Erfolg, führte er doch dazu, dass der König dem Kolorit mehr Aufmerksamkeit widmete als bisher. Mit hochrotem Kopf mischte Anna die Farben an. Seit Jahren verstand sie, geschickt Farben herzustellen, aber die Gegenwart des Königs brachte Anna in die peinlichste Verlegenheit. Linkisch und ungelenk verrichtete sie ihre Arbeit, ständig in Furcht, einen Klecks auf den königlichen Tisch zu machen oder gegen das höfische Reglement zu verstoßen. Unzählige Male hatte sie in den vergangenen Wochen mit Rosina die Verhaltensregeln und Formeln der Etikette geübt. Rosina wiederum hatte sich von Pesnes Töchtern unterweisen lassen. Der König allerdings beachtete Anna kaum. Nach einer, wie sie fand, sehr knurrigen Begrüßung richtete er kein einziges Mal das Wort an sie. Hatte sie etwas falsch gemacht?
An jenem Abend speiste die Familie Lisiewski bei Michel Therbusch in der ›Weißen Taube‹. Anna hatte nach dem Besuch im Schloss keine Zeit mehr, das Abendessen zuzubereiten, und Jana hatte es gerade geschafft, die vier Kinder mit Buchweizenbrei zu versorgen. Sie war untröstlich, aber Kochen war nicht ihre Stärke.
»Kommt alle mit«, befahl Lisiewski kurz entschlossen, auch seiner ältesten Tochter Elisabeth, die neugierig herbeigeeilt war, um Details der ungewöhnlichen Audienz zu erfahren. »Heute Abend haben wir uns etwas Besseres verdient als diesen Brei.«