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`Ich brauchte Geld, er brauchte Begleitung.´ Der südafrikanische Weltenbummler Guy Nicholas Green schmeißt seinen Job in Mexiko. Er strandet am Schwarzen Meer, in Odessa. Das Geld geht ihm aus. Er begegnet dem jungen Engländer Jamie. Der hatte auf einer Webseite (`Jede Begegnung zwischen einem Mann des Westens und einer Frau des Ostens ist voller Zauber´) Julia entdeckt. Sie schickt Ganzkörperfotos, der Briefwechsel kommt ins Rollen. Jamie fühlt eine große Sehnsucht in sich aufsteigen. Er verliebt sich und reist auf eigene Faust nach Odessa. Als er Julia endlich trifft, will sie von den Mails und ihren Versprechungen nichts wissen. Ist er auf eine dubiose Heiratsagentur reingefallen? Und welche Rolle spielt eigentlich Guy Nicholas Green in der ganzen Sache? Willkommen in Odessa! Unter der Sonne am Schwarzen Meer: Heiratstourismus und Online-Dating, junge Frauen auf schwindelerregend hohen Absätzen, Kerle mit geschorenen Schädeln und schlechten Manieren. Und eine Männerfreundschaft wider Willen. Diana Feuerbachs Romandebüt bietet beste Unterhaltung in all ihren Facetten.-
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Seitenzahl: 275
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Roman
Saga
Meine Erinnerung an Odessa beginnt in einem alten Haus, auf einer Treppe. Ich sehe die Stufen vor mir: das Gebiss eines ausgestorbenen Wesens. Die Lilien im Geländer sind vom Grünspan zerfressen. Von den Wänden schuppen die Reste eines hundertjährigen Anstrichs, und der Fahrstuhlkäfig, elegant geschmiedet und stark verrostet, beschützt eine Kabine, mit der niemand mehr reist. Das Foyer riecht nach Moder, und natürlich ist es dort nie richtig hell geworden. Jedenfalls nicht in den Sommerwochen, die ich Mitte der Nullerjahre in Odessa verbrachte, und von denen man sagen kann, dass sie mich wundersam abbrachten von meinem Weg. Die Treppe war für mich damals ein Bild meiner Seele. Auch äußerlich machte ich nicht mehr viel her: fast Mitte vierzig, die blonden Schläfen ergraut, Tränensäcke unter den Augen, ein bitterer Zug um den Mund und ein Adamsapfel, der langsam spitzer wurde unter dem Fleisch.
Die Treppe war aus Marmor, so viel erkannte man noch. Ich stellte mir vor, wie einst Dienstmädchen mit Reisigbesen ihre weißen Adern gefegt hatten. Oder dass sie mit türkischen Teppichen bespannt war, in denen Paradiesvögel sangen, während die Leute im Fahrstuhl mit dem Liftboy plauderten, der die Messinghebel bediente und den prächtigsten Schnurrbart der Stadt hatte. Zur Revolution und in den Folgekriegen war die Treppe unter Soldatenstiefeln erzittert und in den langen Jahrzehnten des Kommunismus sehr müde geworden, bis sie schließlich in sich zusammensank. Sie war ein Ort, an dem ich Frieden empfand. Zumindest redete ich mir das ein. Langsam die zerrütteten Stufen hochsteigend, das Schaben meiner Sandalensohlen in den Ohren, suggerierte ich mir, wie ich einverstanden wurde mit meiner Situation: Ich musste in Odessa ausharren, bis Mutter mir Geld schickte. Von dem Geld würde ich nach Indien fahren, um mein Ego auf den Müll zu schmeißen. Und ich würde nie wieder arbeiten.
Nahe der Wand, wo niemand ging, hatten die Stufen noch Kanten. Taubenmist klebte auf ihnen fest. Zur Mitte hin flachten sie ab, wurden wellig. Es gab Spalten, Brüche, Löcher, in denen Mäuse wohnten. Zum Geländer hin verschmolzen die Reste zu einer gelblichen Zunge, auf der man leicht ausrutschen konnte. Manchmal zog ich, mein Selbstmitleid zelebrierend, im Foyer des Gebäudes die Sandalen aus und ging barfuß nach oben, das alte Stufengebiss mit nackten Sohlen erkundend. Im Rücken spürte ich noch das Flirren der Sonnenbrillen von draußen und die Silhouette der kleinen Kellnerin, die den Businessmen im Café vor dem Haus zu ihren schmierigen Verhandlungen Espresso servierte. Die Fußgängerzone, an der das Haus lag, hieß Deribasov Street. Sie war die Flaniermeile im Herzen der Altstadt, wie man so etwas in der Tourismussprache gern nennt, kopfsteingepflastert und kyrillisch beschriftet, gesäumt von Linden und den Markisen der Geschäfte und Restaurants. Manche Gebäude glänzten protzig und neu, doch das meiste war Klassizismus und Jugendstil, verwittert und mit Reklame beklebt. Viele Fassaden schliefen unter Planen versteckt. Ein Versprechen von Auferstehung lag in der Luft, als ob die Stadt wieder zu werden hoffte, was sie vorgab, einst gewesen zu sein: eine Diva am Schwarzen Meer.
Anfang Juli wurde ich an ihre Ufer gespült. Genauer gesagt kam ich auf Rädern, in einer moldawischen Marschrutka. London–Chişinău, zwei Tage in einem voll besetzten Eurolines Bus, steckten mir schon in den Knochen. Ich hoffte auf eine billige Schiffsverbindung in die Türkei, vor allem aber auf ein Einsehen meiner Mutter, was das Geld anging. Die Steppenödnis, durch die wir fuhren, deprimierte mich. Ich zog die Gardine an meinem Fenster zu, bis durch ihren verschlissenen Stoff, als ferne Ballung im Staub, Odessa auftauchte, in Gestalt einer Hochhaussiedlung zunächst, wie ich sie auch an den Rändern von rumänischen und moldawischen Städten gesehen hatte. Ich zog die Gardine auf. Ich wusste nichts über die Stadt, doch der Name gefiel mir. Er klang nach einer Erinnerung, die unmöglich meine eigene sein konnte und doch vertraut schien.
Am Busbahnhof bot mir eine Gruppe von Großmütterchen Zimmer an. Sie reckten mir laminierte Fotos unter die Nase, zupften an meinem T-Shirt, schmeichelten mir mit Zischlauten und gurrenden Silben. Ich war fast doppelt so groß wie sie. Sie hatten vergoldete Schneidezähne, ein Zeichen früheren Wohlstands vielleicht, und Barthaare am Kinn. Die Zimmer schienen tatsächlich sehr günstig, manche sogar mit Verpflegung, doch die Barmherzigkeit der Babuschkas ging bestimmt nicht so weit, sie mir kostenlos anzubieten.
Ich schulterte meinen Rucksack, lief los, die erstbeste Allee hinunter. In der Hand hielt ich den Ausdruck mit der Wegskizze zum Hostel. »Top-Location in Odessas historischer Altstadt! Dein Zuhause fernab der Heimat in diesen Zeiten romantischen Strebens!« Das stand unter der Skizze. Ich hatte die Beschreibung nur überflogen und das romantische Streben als Übersetzungsfehler verbucht. An der Oper, einem imposanten Barockensemble mit Bauzaun, döste ein Hunderudel. Ich bog links ab in die Deribasov Street. Die Sonne wärmte die Pflastersteine, die Linden fächelten mit ihren Blättern, und was mir gleich auffiel, obwohl durch die Mittagszeit bedingt nicht viel los war, das waren die jungen Frauen. Sie gingen, als trügen sie ihren Stolz in unsichtbaren Vasen auf den Köpfen spazieren. Sie wiegten sich nicht in den Hüften wie Afrikanerinnen, hatten streng genommen gar keine Hüften im Vergleich zum südlich der Sahara verehrten Ideal, doch ihre Füße bogen sich in den High Heels wie Gazellenhörner. Sie flanierten mit Tempo über das bucklige Pflaster, Handy am Ohr, Shoppingtüten im Arm, und zeigten mehr Haut, als mit dem Wetter allein zu begründen war. Sie gaben sich unnahbar vor dem Spalier der Cafés und Restaurants, die Augen von Sonnenbrillen geschützt, und obwohl sie mich im Vorbeilaufen registriert haben mussten, schenkten sie mir keinen Blick.
Ich schluckte meine Enttäuschung, suchte das Hostel. Das Gebäude, in dem es sich befand, wirkte düster. Ein Riss lief durch die Fassade, vielleicht von einem Erdbeben. Im Sandstein des Torbogens machte ich eine Jahreszahl aus. 1900, jede Ziffer von feinen Löchern durchsiebt. In der Einfahrt lehnte ein Torflügel, dem ich das Alter zutraute. Er war komplett durchgerostet, stand an der Mauer wie ein vergessenes Museumsstück. Tiefer in der Einfahrt fand ich ein kleines Schild. Black Sea Hostel. Ich drückte die Haustür auf, stieg über die Schwelle und konnte einen Moment lang nichts sehen.
Kühle umfing mich. Uringeruch kroch mir entgegen. An der Wand des Foyers löste sich eine Batterie verwahrloster Briefkästen aus dem Dunkel, ein Gruß aus einer Zeit, in der die Menschen einander noch auf Papier schrieben. Geradeaus tauchte die Treppe auf. Ein Tourist hätte fotografiert. Ich aber hielt mich am Geländer fest, denn ihr Anblick machte mich elend. Diese Stufen, Ergebnis jüngeren osteuropäischen Verfalls, waren weder mit Moos bewachsen noch führten sie zu versteckten Kammern. Trotzdem bescherten sie mir ein Déjà-vu. Sie ähnelten den geheimen Tempeltreppen der Maya, die man in den Pyramiden von Guatemala, Honduras, Südmexiko findet. In Palenque, Mexiko, hatte ich zuletzt gearbeitet. Nicht als Archäologe in den Dschungelruinen, sondern als Projektleiter einer NGO, die den verarmten Nachfahren der Tempelbauer zu helfen versuchte. Dabei war mir passiert, was mich den Job kostete und mich auf meine Reise schickte. Es war noch keinen Monat her, eine verdammt frische Wunde, und ich hätte niemals erwartet, mehr als hundert Meridiane östlich, auf einem anderen Erdteil, wieder darauf gestoßen zu werden. In der ersten Stunde vor Ort.
Ich sog die Luft ein, diese Aura von Verfall und Geheimnis, und stieg die Stufen nach oben. Im zweiten Stock kam ich an eine hohe, mit Schnitzereien verzierte Wohnungstür. Aus ihrem rechten Flügel hatte man einen Teil herausgesägt und eine Metalltür eingepasst, mit Spion und Tastatur für den Code. Ich drückte den Buzzer neben der nutzlos gewordenen Porzellanklingel. Ich weiß noch, dass mir ein Mann aufmachte, der sich sofort wieder abwandte und zurückging zu seinem Computer, der im Flur der Wohnung stand. Daneben standen noch vier oder fünf andere Computer auf Tischen, wie in einem Internetcafé oder Call Center. Alle waren von Männern besetzt, die mindestens mein Alter hatten und nicht wie Backpacker aussahen. Ich ging nach rechts in den Aufenthaltsraum, setzte mich auf einen Hocker an der Stirnseite der Bar, steckte mir eine Zigarette an. Ich hatte den Raum im Blick, den Balkon zur Straße im Rücken. Das wurde mein Platz, an dem ich viele Stunden zubrachte, bis Jamie einzog.
Die Wohnung hatte Charakter. Es gab Deckenstuck mit Puttenköpfchen und Rosen, im Fensterglas Flecken wie in erblindeten Spiegeln, Fischgrätenparkett, auf dem jeder Schritt knarrte. Siebzigerjahretapeten, die sich rollten wie alte Zehnägel. Über der Bar hing ein Bildschirm, auf dem Musikvideos liefen, mit viel nackter Haut. Vor Lenins Revolution hatten hier bestimmt reiche Leute gewohnt, mit Dienerschaft und französischer Gouvernante. Nach der Revolution hatte man sie verjagt und frischgebackene Sowjetbürger einquartiert. Zwei, drei Familien pro Zimmer, Küche und Bad für alle gemeinsam. Und nun, in ihrer neuesten Inkarnation, war die Wohnung ein Hostel. Ich erinnere mich an die Namen der Schlafsäle. Dingo, Shark, Koala, Ostrich und Crocodile. Und natürlich die Kangaroo Lounge, wo man sich traf. Alles war nach australischen Tieren benannt, denn der Betreiber des Hostels stammte aus Melbourne und pflegte seine Herkunft mit der üblichen Unbescheidenheit der Aussies.
Er hieß Gary und ich konnte mich über ihn nicht beschweren. Ich hatte auf seine Gastfreundschaft gehofft, auf ein Entgegenkommen, was das Finanzielle anging, doch was er für mich tat, übertraf meine Erwartungen. Er führte ein Hostel, wie man es kennt, mit Doppelstockbetten, Aufenthaltsraum, einem Please do your dishes-Schild in der Küche. Typische Gäste aber hatte er nicht. Er kam in die Lounge an jenem ersten Tag, unrasiert im Hawaiihemd, das über dem Bauch spannte, und offensichtlich verkatert. Als er meinen Rucksack an der Bar lehnen sah, stutzte er und musterte mich von unten bis oben: meine Trekkingsandalen und knielangen Shorts, das verschwitzte T-Shirt, die zum Zopf gebundenen, strähnigen Haare.
»Halleluja«, sagte er leise.
Es stellte sich heraus, dass ich der erste Backpacker war, den er begrüßte. Obwohl das Hostel schon zwei Jahre lang existierte. Er bot mir sofort einen Drink an, fragte mich aus. Woher, wohin, wie lange ... was man eben so fragt. Er tat es nicht beiläufig, sondern mit Ehrfurcht, wie einer, der sein Glück noch nicht glaubt. Ich nannte Indien als Ziel meiner Reise, den Überlandweg als bewusste Entscheidung. Zeit spiele keine Rolle, sagte ich, Geld schon. Zur Anmeldung zeigte ich meinen britischen Pass – die zweite Staatsbürgerschaft, die ich seit meiner Geburt besaß. Gary aber hatte ein feines Ohr. Er hörte an meinen Vokalen und meinem noch immer mit der Zunge getippten R, woher ich ursprünglich stammte.
»Wahnsinn«, rief er. »Du bist aus Südafrika!«
Jetzt blühte er richtig auf. Fast behandelte er mich wie einen lange verschollenen Bruder. Kein Saffa, schwor er, hatte je einen Fuß nach Odessa gesetzt. Brits ja, Aussies, Kiwis, Canucks und natürlich Amerikaner, die machten das Gros seiner Gäste aus. Dazu Franzosen, Deutsche, Spanier, Schweden. Alles schon da gewesen. Ich aber war eine Sensation, ein kleines Wunder. Er holte seine Putzfrau.
»Natascha«, sprach er feierlich, »dieser Mann ist ein Backpacker. Er heißt Guy Nicholas Green und kommt aus Südafrika, und er wird bei uns wohnen.«
Natascha war ein pummliges Mädchen, das wenig gemein hatte mit den Gazellen draußen in der Fußgängerzone. Sie starrte mich an, ein bisschen angewidert, wie mir schien, und erstaunt, dass ich hellhäutig war. Dann sagte sie etwas auf Russisch.
»Klar muss er duschen«, lachte Gary. »Aber erst muss er trinken.«
Der Stolichnaya brannte mir im Magen, denn außer einer moldawischen Salzbrezel am Morgen hatte ich noch nichts gegessen. Gary lieh mir ein paar Griwna, so hieß die Landeswährung, und gab mir das Passwort zu seinem Computer, damit ich über Skype meine Mutter anrufen konnte. Er bot an, dass mich ein Freund, der momentan vor der Krim kreuzte, im Segelboot nach Istanbul bringen würde. Dieser Freund war ein Kiwi, und auch das konnte in Garys Augen kein Zufall mehr sein. Er fing an, vom Commonwealth of Nations zu schwärmen, den historischen Banden zwischen unseren Ländern. Auf diese Freundschaft sollten wir uns besinnen in der slawischen Fremde, und wir tranken noch eine Runde, ehe er mir mein Zimmer zeigte.
Das Crocodile Dormitory lag auf der anderen Seite des Flurs. Es war groß und unbewohnt. Vier leere Doppelstockbetten: zwei links an der Wand, zwei rechts. Gary brachte mir Bettwäsche. Wie eine Präsidentensuite hatte er das Crocodile aufgespart für den Tag, an dem endlich ein echter, ehrlicher Backpacker einziehen würde, wie er mich nannte. Ich wählte das Bett am rechten Fenster, untere Liege. Die Matratze hing durch und war zu kurz für meine Beine, doch die Fensterbank war eine alte Marmorplatte, auf der ich, wenn ich mir dazu ein Kissen nahm, die Haltung des Gurus üben konnte, zu dem ich unterwegs war: wie er seelenruhig im Lotossitz saß, als wären seine Beine längst abgestorben, und über Gier, Hass und Nichtwissen sprach, die Ursachen für alles menschliche Leid.
Das Zimmer wurde vom Hinterhaus vor der Sonne geschützt. Ich schlief gut und erwachte mit ruhigem Geist, wenn morgens auf den Simsen die Tauben gurrten. Weil ich allein wohnte, konnte ich mich seelenruhig aus dem Laken schälen, nackt umhergehen und die Einheimischen im Hinterhaus beobachten, wenn sie ihre Fenster öffneten und mit der Hand fühlten, ob die Wäsche an den kleinen Stricken trocken war. In diesem Zimmer fiel mich die Hitze nicht an wie eine Hyäne. Es gab viel Platz, um ein bisschen Yoga zu üben, und da war noch etwas, das ich mochte: den Riss in der Wand gegenüber von meinem Bett, drei Meter lang und so breit wie meine Hand. Sand bröselte aus dem Gestein, wenn man kratzte. Ungünstige Bodenverhältnisse, erklärte mir Gary, dazu ein Labyrinth von Katakomben unter der Stadt, denn man hatte den Sandstein für die Häuser unterirdisch gewonnen.
Die Vorstellung, auf einem solchen geologischen Lochkäse zu sitzen, passte zu meiner Verfassung. Auch mein Fundament war ins Wanken geraten, und genau wie das Haus blieb ich beharrlich. Eine Qualität, die ich brauchte in den Telefonaten mit meiner Mutter. In Kapstadt war es eine Stunde früher als in Odessa. Ich störte Mutter regelmäßig beim Frühstück, das sie trotz der Wintertemperaturen von fünfzehn Grad plus auf ihrer Veranda einnahm. In eine Kaschmirdecke gewickelt saß sie an ihrem Tisch, vor sich einen Teller mit Croissants und die Gischtzungen des Atlantiks, der auf den Indischen Ozean traf. Ich hockte in Garys Besenkammer-Büro mit Blick auf die Wäsche der ukrainischen Nachbarn.
Mutter machte mir einen Vorschlag zur Güte, wie sie es nannte. Ich würde ein vorgezogenes Erbe aus dem Verkauf unseres Familiensitzes erhalten, genau wie meine Schwester, zu der ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Ich sollte nach Kapstadt kommen, um alles zu regeln. Dabei war das Haus längst verkauft und mein Anteil lag bequem auf der Bank. Mutter war nach Walker Bay gezogen, in eine Siedlung für reiche Rentner. Vater wohnte auch dort, allerdings nicht mehr bei ihr, sondern in einem Heim.
Nie gelang es mir am Telefon, seinen genauen Zustand zu erfahren. Mutter sagte mir nicht die Wahrheit. Sie betonte nur, wie gern er mich sehen würde – seinen einzigen, seinen verlorenen Sohn. Ich war auch nicht ehrlich zu ihr. Ich sagte, mein Projekt in Mexiko sei zu Ende und nun habe ich eins in der Ukraine zu laufen, sei stark eingespannt und brauche dringend einen Vorschuss aufs Erbteil, am besten in Dollar mit Western Union zu schicken.
»Wieso hast du nichts mehr?«, fragte sie in ihrer vom Alter knarzig gewordenen Stimme.
Ich hörte die Brandung in Garys Kopfhörer und das digital verzerrte Keifen der Möwen, die vor der Terrasse um Croissantkrumen bettelten.
»Man hat mich in Mexiko ausgeraubt«, log ich. »Und die neue NGO hier ist klamm.«
»Armer Guy«, sagte Mutter. »Komm heim, ich zahl dir den Flug.«
Und ich war wieder am Ende mit meinem Latein.
In jener ersten Woche mit den Bittstelleranrufen, bevor Jamie Durham einzog und meine Geldsorgen aufhörten, unternahm ich in Odessa viele Spaziergänge. Spazierengehen ist der Luxus des armen Mannes, genau wie die Beobachtung, das Gespräch, die Masturbation. Es war nicht immer leicht, mich aufzuraffen zu diesen Ausflügen. Ich wäre lieber im Hostel hocken geblieben oder im Treppenhaus, in der Vorahnung des inneren Friedens, den der indische Guru versprach. Doch die Grübelschleifen in meinem Hirn lösten sich nur auf, wenn ich dem Körper Bewegung verschaffte. Also ging ich spazieren und eignete mir wie nebenbei die Ortskenntnis an, die mich so wertvoll machen sollte in den Augen von Jamie.
Nach der Erkundung der Altstadt mit Deribasov Street, Seepromenade, Potemkintreppe und Hafen unternahm ich Ausflüge in den Park und zu den südlich aneinandergereihten Stränden. War ich an einem Ziel angekommen, wählte ich mir ein Objekt der Betrachtung. Trauriges war mir am Liebsten. Zum Beispiel setzte ich mich an einen altersschwachen Betontisch am Lanzeron-Strand und zählte die Wellen, die sich nicht im Traum messen konnten mit denen vor Mutters Terrasse. Am Bahnhof stellte ich mich in einen Fußgängertunnel und lauschte dem Gewirr der fremden Schritte, bis ich mir vorkam wie der einsamste Mensch auf der Welt. Auf dem Markt beobachtete ich Zigeunerinnen beim Feilschen und erkundigte mich nach dem Preis für Drahtspulen, Schrauben, zerfledderte Schuhe. Vor dem Schaukasten der Polizeistation rätselte ich über Steckbriefe gefundener Leichen. Ertrunken, erschossen, erwürgt? Wer konnte Hinweise geben zu diesen Unglücklichen?
In kleinen Eckläden beobachtete ich Alkoholiker, die ihre paar Griwna zusammenkratzten, um den billigsten Wodka zu kaufen. Ich sah Straßenkinder mit vom Leimschnüffeln fahlen Gesichtern und reiche Rüpel am Steuer von Landrovers, die sich den Weg frei hupten. Ich studierte Verwerfungen im Asphalt, Hinterhöfe im Abendlicht, blinkende Casinoreklamen, die Etiketten der Zigarettenschachteln am Kiosk. Stundenlang lief ich über die Boulevards, ohne Karte und sonstige Hilfsmittel, denn ich orientierte mich an der natürlichen Topografie und zur Deribasov Street fand man immer zurück.
Natürlich verfolgte ich hin und wieder auch das Schaulaufen dort. Die jungen Gazellen auf ihren schwindelerregenden Absätzen, für mich unerreichbar. Die Verachtung, mit der sie mich straften, einen einstigen Herzenshelden erster Klasse! Ihr Pendant im Sozialpanorama schienen Kerle mit geschorenen Schädeln und schlechten Manieren zu sein. So jedenfalls ließ sich die Art von Businessmen beschreiben, die im Café vor dem Hostel fläzten und ihre Vanillezigaretten rauchten. Auf dem Stuhl neben sich oder auf dem eigenen Schoß hatte jeder von ihnen eine Handtasche stehen. Herrenhandtaschen waren das, um genau zu sein, denn mit den Taschen ihrer Frauen und Freundinnen waren sie nicht zu verwechseln. Die meisten dieser albernen Dinger ähnelten Miniaturaktenkoffern aus dunklem Leder, mit Silbergriff, Schnallenschloss und einer Schlaufe fürs Handgelenk. Die Kerle trugen sie spazieren wie Statussymbole, wie die Aktentaschen aus exotischem Leder, die in der Generation meines Vaters Ansehen genossen hatten.
Mit solchen kleinen Beobachtungen beschäftigte ich meinen Geist. Eines Abends aber, als ich zurückkam ins Hostel, erlebte ich in der Lounge eine Szene, die mich beeindruckte. Ich erfuhr, was meine Mitbewohner in die Ukraine gelockt hatte: zwei Dutzend weiße Männer im besten Alter oder darüber, verteilt auf die Dingo, Ostrich, Koala und Shark Dormitorys. Drei Viertel von ihnen waren Amerikaner, der Rest Westeuropäer, und es gab einen Australier, der an jenem Abend bittere Tränen vergoss. Er saß auf der Couch, vor sich den gepackten Koffer, neben sich das Hostelmaskottchen, ein Plüschkänguru namens Eddie. Ich weiß nicht mehr, wie der Typ hieß. Ich weiß nur noch, dass er ähnlich groß war wie ich, jedoch massig statt sehnig und mit einer Led-Zeppelin-Mähne, die er vermutlich seit den Siebzigerjahren so trug und die ihm nun, als er sein Gesicht in den Händen verbarg, vor die Finger rutschte.
»Kopf hoch, Kumpel«, sagte einer der Männer, die sich um ihn versammelt hatten. »Mach nich’ auf wilde Abreise. Hast ja noch’n paar Tage bis zu deinem Flug.«
»Das Meer wimmelt von schönen Fischen«, sagte ein anderer.
Und Gary, der hinter der Bar stand und Bier zapfte, versprach seinem Landsmann: »Wir düsen heut Nacht nach Arkadia, da kommst du schnell auf andere Gedanken.«
Der Australier ließ die Hände sinken. Ein Ausdruck stand ihm im Gesicht, der Männer über vierzig erbärmlich aussehen lässt. Schmerz, Zorn, Trauer ... es war der Ausdruck eines Gescheiterten, eine Mischung, die sich in die Falten frisst wie der rote Sand, wenn man im offenen Bakkie-Truck durch die Namib fährt. Von Beruf war der Kerl Schafzüchter auf einer Farm in Queensland, wo die Menschen noch ehrlich miteinander umgingen, wie er schluchzend erzählte. In Odessa war er betrogen worden. Von einer Frau, die er heiraten wollte.
Es ging dabei unter anderem um einen Pelzmantel. So viel verstand ich aus den Gesprächsfetzen, die ich verfolgte. Ein Pelzmantel, mitten im Hochsommer? Ich fragte nicht nach, denn ich wollte mir nicht die Blöße der Neugier geben. Langsam, wie um sein Scheitern mit Würde zu tragen, erhob sich der Australier von der Couch, nahm seinen Koffer, nickte Good-bye und schritt zur Tür hinaus. Die Zurückgebliebenen schwiegen betroffen. Schließlich räusperte sich einer der Amerikaner. Er hieß Charles Spretzer, kam aus Hollywood und war Scheidungsanwalt. Ich erinnere mich gut an sein Äußeres. Schwarzer Bürstenhaarschnitt, mit Haarverpflanzungen füllig gehalten, das Gesicht rosig gespritzt und so stark geliftet, dass es androgyn und maskenhaft wirkte. Ein bisschen wie Tony Curtis in späten Jahren. Spretzer trug immer ein leichtes Jackett, Leinenhosen und Slippers, und einmal beobachtete ich durch die offene Tür zum Dingo, wie er mit freiem Oberkörper am Gestell seines Doppelstockbetts hing und Bauchpressen machte. Im Kühlschrank in der Küche bewahrte er Botoxspritzen auf, und sein Passport-Alter, wie er es nannte, hielt er geheim, denn es hatte mit seinem gefühlten Alter angeblich nicht das Geringste zu tun.
An jenem Abend, als der Australier so plötzlich abgereist war, dozierte Spretzer vor versammelter Mannschaft über die Gräben in der Mentalität zwischen bestimmten Menschen. Ein simpler Schafscherer, sagte er, musste es von vornherein schwer haben in einer kultivierten Stadt wie Odessa. Vor allem, wenn er geistreichen Ladys begegne, zu denen seine Pelzmantelfreundin mit Sicherheit gehört habe. Löckchen-Rob aus Kentucky, die Nummer zwei in der informellen Hostelhierarchie, stimmte dem zu, gab aber der Heiratsagentur eine Teilschuld. Sie habe dem Aussie die falsche Frau vermittelt, so einfach sei das.
Als Nächstes meldete sich ein gewisser Stevie aus Ohio zu Wort, der daheim noch bei seiner Mutter wohnte.
»Wenn das so ist«, stotterte er, »das ist ja fast so, also ich meine ...«
Spretzer schnitt ihm das Wort ab. Auf dem Tresen der Bar, direkt vor meinen Augen, klappte er seinen aus Kalifornien mitgebrachten Anwaltskoffer auf.
»An seinen unrealistischen Erwartungen ist jeder selbst schuld«, sagte er, »und mit Enttäuschung ist immer zu rechnen. Deshalb streue ich mein Risiko mit einem diversifizierten Portfolio, wie beim Aktienhandel. Ich investiere, halte meine Optionen am Laufen, nehme Kursschwankungen in Kauf, um am Ende meines Aufenthalts die Dividende einstreichen zu können.«
Er zog ein paar Formulare aus dem Aktenregister und zeigte sie herum. Es waren seine Verabredungen für den Abend, steckbriefähnlich präsentiert mit Fotos und Daten. Eine Blondine zum Dinner, eine Dunkle für die Cocktailbar und später für die Disco ein rothaariges Busenwunder. Alle drei Mädchen waren kaum über zwanzig. Spretzer zog weitere Bögen hervor, mit seinen Terminen für die kommenden Tage. Er drückte Löckchen-Rob einen Taschenrechner in die Hand und diktierte ihm Gewicht und Maße der Mädchen laut den Angaben der Agentur. Löckchen-Rob wandelte die Kilogramm und Zentimeter in Pfund, Fuß und Zoll, und Spretzer notierte die Ergebnisse fein säuberlich in die Bögen. Er kritisierte, sich diese Arbeit machen zu müssen. Die Agentur solle umstellen auf amerikanische Einheiten, forderte er, denn mit Kilogramm könne kein Mensch etwas anfangen.
»Stimmt«, sagte Stevie. »Außerdem frag ich mich auch, ich meine, kann man das alles so ...?«
»Guter Punkt«, antwortete Spretzer. »Manche Chicks machen sich größer und schlanker, als sie in Wirklichkeit sind. Sie tragen BHs, wo alles nach mehr aussieht. Und viele Fotos sind ein bisschen getürkt. Ihr versteht, was ich meine?«
Er fuhr mit seinem manikürten Fingernagel über das Register des Aktenkoffers zu einer Rubrik, die er mit dem Wort cheaters beschriftet hatte. Daraus zog er ein paar Blätter und erklärte, wie sich die betreffenden Damen in natura von ihren Hochglanzporträts unterschieden hatten: dass manche ein Doppelkinn hatten, braune Augen statt blauen, einen zu breiten Hintern, unreine Haut. Die Männer nickten. So etwas war schon einigen von ihnen passiert. Sie wollten künftig mehr auf der Hut sein, versprachen sie sich, und einander nicht als Rivalen betrachten, sondern sich austauschen und gegenseitig unterstützen. Schließlich saßen sie alle im selben Boot.
Und ich saß daneben. Ich fragte mich, wo ich hingeraten war. Das war kein Hostel, sondern ein Lonely Hearts Club für Heiratstouristen! Gary mietete die Wohnung von einer Agentur, die ihr Büro im Hinterhaus hatte und Kontakte zu ukrainischen Frauen vermittelte. Ich gebe zu, ich war unangenehm berührt, denn ich verband Heiratstourismus mit Wohlstandsgefälle und Patriarchat. Ich beschloss, auf Distanz zu bleiben zu meinen Mitbewohnern. Es war nicht schwer. Sie fanden mich ohnehin komisch, weil ich ihre Suche nicht teilte, und sie waren neidisch auf mich, weil ich ein Zimmer für mich hatte, während sie wie die Boy Scouts kampierten. Ich mimte den abgehalfterten Weltenbummler für sie und ließ durchblicken, dass ich pleite war. Das machte mich harmlos in ihren Augen, denn ein Kerl ohne Geld war für sie ein Kastrat, auch wenn seine Eier zufällig noch in der Hose steckten.
Abends war es dann immer dasselbe. Wenn die Sonne hinter die Häuser getaucht war, leerte sich die Lounge. Die Duschen am Ende des Flurs liefen heiß. In den Schlafsälen nebelten Parfüms und Achselsprays durcheinander. Auch wer kein Date hatte, bürstete sich heraus. Neue Nacht, neues Glück, diese Stimmung lag in der Luft. Ich blieb jedes Mal brav auf meinem Hocker sitzen, rauchte meine ukrainischen Camel und trank, was Gary spendierte. Auf dem Bildschirm über der Bar liefen Musikvideos, sexy und stumm gestellt. Zum Balkon herein strömte der Abend mit seinem klebrigen Lindenduft und den Geräuschen der Promenade: Grillenzirpen, Stimmengewirr, spitze Absätze auf dem Pflaster. Gegen zehn begannen die beiden Gitarristen vor dem Haus ihr Konzert. Guantanamera, Hotel California, Sweet Home Alabama ... sie spielten ein global verkäufliches Repertoire, gemischt mit Songs, die ich nicht kannte. Zusammen mit ein paar Stolichnaya auf Eis reichte das für die Schleifen in meinem Hirn, um ruhiger zu laufen. Wenn Gary gegen elf fortging zu seiner Freundin, schaltete er für mich die kleine Discokugel an der Decke der Lounge ein, vielleicht weil er dachte, das mache die Sache gemütlich. Und ich verbrachte die restliche Zeit bis zum Schlafengehen in der Gesellschaft der Lichtflitter, die monoton über mein Gesicht und die alten Sowjettapeten flossen.
Nach einer Woche kam meine Rettung. Jamie zog ein, Jamie Durham. Ich war schon mürbe vom Warten. Mutter hielt mich immer noch hin, Garys Kumpel mit dem Segelboot trieb sich sonst wo herum, und ich war unfähig, mich aufzuraffen zu einer echten Aktion. Zum Beispiel auf einem Cargoschiff anzuheuern oder mich als blinder Passagier auf eine Fähre zu schmuggeln. Oder zu trampen, weiter nach Süden. Früher waren solche Aufbrüche leicht gewesen für mich. Immer hatte ich Glück, immer traf ich fantastische Leute, die mir aus der Klemme halfen. Und Frauen, schöne Frauen, die sich mir schenkten. Nun fühlte ich mich impotent, ausrangiert, alt, und ich gelangte, wenn ich es wagte, in den Spiegel zu schauen, zu der Erkenntnis, dass ich noch nie einen quälenderen Stillstand durchgemacht hatte. Eine richtige Depression.
Jamie kam nachmittags an. Ich war spazieren und sah ihn erst abends. Er saß auf dem Sofa der Lounge, vor sich einen Koffer, neben sich Eddie, das Plüschkänguru. Wie der abgereiste Australier. Er blieb in sich gekehrt, beteiligte sich nicht am Gespräch der Heiratstouristen. Ab und zu strich er über die Brusttasche seiner Jacke, die er anbehielt trotz der Wärme. Er fiel mir sofort auf, denn er war deutlich jünger als der Rest der Belegschaft. Einunddreißig, und selbst das grämte ihn schon, wie er mir einmal sagte, nachdem wir uns kennengelernt hatten.
Soweit ich es beurteilen konnte, war er nicht hässlich. Nur ein bisschen klein geraten vielleicht. Er reichte mir bis zur Schulter, war weder zu dick noch zu dünn, hatte noch keinen Specknacken oder Bauch vom Trinken, hatte melancholische, feuchtblaue Augen, Myriaden von Sommersprossen im Gesicht und die Haare struppig gegelt, wie es daheim in England gerade angesagt war. Er trug Jeans, T-Shirt, Markenturnschuhe. Sein Bartwuchs war schwach, was nur praktisch sein kann, und am Kinn hatte er eine Narbe, die er sich als Junge beim Abrutschen von einem Brückengeländer geholt hatte, genauer gesagt beim Fast-Hindurchrutschen zwischen den Streben einer alten Holzbrücke, die in seinem Dorf an der südenglischen Küste über einen Fluss führte.
Sein Bett bei Gary hatte er vorgebucht, über die Webseite des Hostels. Bei der Buchung gab es ein Missverständnis. Dieses führte dazu, dass er spät abends noch in der Lounge hockte, als die anderen längst ausgeschwärmt waren. Gary raunte mir zu, der Neue sei unschlüssig, ob er bleiben oder wieder abhauen wolle. So etwas kam vor. Gary ging zu seiner Freundin, ich aber fühlte mich gestört in meiner Einsamkeit am Ende des Tresens. Ich konnte mich weder auf die Gitarrenmusik konzentrieren, die von unten heraufklang, noch auf die Nymphen in den Musikvideos. Schließlich räumte ich das Feld und ging schlafen. Am nächsten Morgen betrat ich wieder die Lounge, eine Zigarette zwischen den Lippen, den Kopf voller saftloser Drohungen an meine Mutter. Mein Fach im Hostelkühlschrank war leer und Garys Mikrokredit aufgebraucht. Ich hatte Hunger und ich fragte mich, ob ich noch einmal auf Garys Hilfe rechnen durfte und wie lange das gutgehen konnte. Denn auch für meine Übernachtungen hatte ich bisher nichts bezahlt.
Jamie saß auf der Couch, als hätte er sich keinen Millimeter bewegt. Ich nickte einen Gruß, setzte mich auf meinen Platz. Weil im Hostel noch alles schlief, hörte man das leiseste Geräusch: das Knistern der Glut an meiner Kippe, das Schnippen des Zeigefingers, wenn ich Asche abklopfte. In diese Stille hinein knurrte mein Magen. Und wie zur Antwort knurrte der Magen von Jamie.
Jamie stand auf.
»Weißt du zufällig, wo man hier was zu essen herkriegt?«, fragte er mich, offenbar dankbar für den Gesprächsanlass.
Ich blies Rauch aus.
»Klar. Hast du Griwna dabei?«
Er hatte reichlich. Griwna und Dollar, Euro und Pfund. Eine halbe Reisebank steckte zwischen den Lederlappen seines Portemonnaies. Er zeigte mir die Scheine, und seine Finger zitterten, so unterzuckert war er bereits.
Ich sagte: »Okay, dürfte reichen.«
Wir gingen über die Deribasov Street. Wie wir so nebeneinanderher liefen, hätte man uns aus der Ferne vielleicht für eine Neuausgabe von Don Quijote und Sancho Pansa halten können, beim Näherkommen eher für einen alternden Hippie und seinen Neffen aus dem Mainstream. Ich wusste noch nicht, was Jamie nach Odessa geführt hatte. Es war mir herzlich egal. Hauptsache, er bezahlte mein Frühstück. Wir kamen zum Kathedralenplatz, wo die einheimischen Opas schon vormittags über ihren Schachbrettern brüteten und ihre Enkel auf Ponys ritten. Das Bistro an der Ecke war gut besucht. Es roch nach Knoblauch und Milch, und irgendwie hatte die Sowjetzeit hier überlebt – vielleicht in den weißen Häubchen der Köchinnen oder im Dunst, der aus den Töpfen und Pfannen stieg. Wir nahmen Tabletts, reihten uns ein in die Schlange vor den Vitrinen. Es gab Salate, Borschtsch und Soljanka, gefüllte Pasteten, Kürbismus, Schnitzel und Steaks, Hähnchen, Fisch und allerlei Würstchen, und zum Dessert Nougatcremetorten, Mohnzöpfe und Fruchtgelee. Ich war nicht bescheiden, und auch Jamie lud sein Tablett voll. An der Kasse bezahlte er für mich mit.
Wir saßen einander gegenüber am Fenster, mit Blick auf die Straße, auf der Autos und Kleinbusse holperten. Wir aßen schweigend. Gegen Ende der Mahlzeit hatte ich ein Déjà-vu. Ich glaubte plötzlich, Jamie zu kennen. Ihm schon einmal begegnet zu sein. Das war kaum möglich, wegen der Altersdifferenz und den unterschiedlichen Biografien. Er war fest angestellt im Call Center seines Heimatdorfs, wie er mir später erzählte. Ich war weltweit unterwegs gewesen mit Entwicklungshilfeprojekten. Und trotzdem. Solche Verwechslungen kommen vor. Man muss sie verzeihen. Zu vieles begegnet uns mit den Jahren, als dass unser Gedächtnis noch alles richtig sortieren kann. Das Ergebnis ist eine Art Morphing, mit dem es all die Gesichter, Farben, Geräusche, Düfte und andere Eindrücke verschmilzt, die es speichert. Das Gedächtnis besteht nicht aus sauber getrennten Schichten. Es ist eine vieldimensionale Matrix, die ständig vergleicht und Wiederholungen sucht, weil sie das Vertraute und Ähnliche liebt.
Hatte ich Jamie Durham schon einmal gesehen oder erinnerte er mich nur an jemanden? Gott sei Dank, ich erkannte den Unterschied noch. Ich war noch nicht wie mein Vater, der durch die Katakomben seiner Erinnerung irrte, während Mutter mit ihren Freundinnen zum Bridgespielen ging. Jamie katapultierte mich zurück zu einem Sonntag, der ein Vierteljahrhundert in der Vergangenheit lag. Anfang der Achtzigerjahre. Wir waren fertig mit essen, er kaute am Daumennagel und guckte dabei aus dem Fenster, eingeschüchtert vom Unbekannten dort draußen. Sein Nägelkauen war unbewusst. Eine alte Gewohnheit. Bis er den Daumen in den Mund schob, wie ein Trost suchendes Kind. Dabei ertappte er sich und zog den Daumen schnell wieder heraus. Er wurde rot im Gesicht, was bei ihm aussah, als blühten die Sommersprossen. Ich tat natürlich, als hätte ich nichts gemerkt, doch dieser kleine Moment löste das Déjà-vu in mir aus.
Ich war damals achtzehn gewesen, sagenhaft jung, hatte das Matric-Zeugnis frisch in der Tasche und war gerade