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Eine Liebe gegen alle Widerstände.
München, 1848: Die siebzehnjährige Elisabeth Mosner führt als Tochter eines angesehenen Ingenieurs ein privilegiertes Leben. Sie liebt die Natur und das Malen. Doch ihr Vater soll im saarpfälzischen St. Ingbert, einer aufstrebenden Bergbauregion, beim Fertigstellen einer Eisenbahnlinie helfen. Für Elisabeth ist das ein herber Schlag: Statt ländlicher Idylle warten im Saarrevier Dampfmaschinen und Kohlenstaub. Sie muss alles aufgeben, was ihr etwas bedeutet. Widerwillig verlässt sie ihre Heimat. Kann sie dennoch ihr wahres Glück finden - und vielleicht sogar die Liebe?
Der Auftakt der emotionalen Familiensaga vor dem Hintergrund des beginnenden Bergbaus. Ein Gesellschaftsporträt. Eine mitreißende Liebesgeschichte. Der Weg einer mutigen Frau.
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Seitenzahl: 336
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Über dieses Buch
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Impressum
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Eine Liebe gegen alle Widerstände.
München, 1848: Die siebzehnjährige Elisabeth Mosner führt als Tochter eines angesehenen Ingenieurs ein privilegiertes Leben. Sie liebt die Natur und das Malen. Doch ihr Vater soll im saarpfälzischen St. Ingbert, einer aufstrebenden Bergbauregion, beim Fertigstellen einer Eisenbahnlinie helfen. Für Elisabeth ist das ein herber Schlag: Statt ländlicher Idylle warten im Saarrevier Dampfmaschinen und Kohlenstaub. Sie muss alles aufgeben, was ihr etwas bedeutet. Widerwillig verlässt sie ihre Heimat. Kann sie dennoch ihr wahres Glück finden – und vielleicht sogar die Liebe?
Der Auftakt der emotionalen Familiensaga vor dem Hintergrund des beginnenden Bergbaus. Ein Gesellschaftsporträt. Eine mitreißende Liebesgeschichte. Der Weg einer mutigen Frau.
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München, 24. Dezember 1848
In stiller Glückseligkeit beobachtete Elisa von ihrem Zimmer im Dachgeschoss aus, wie dicke Schneeflocken, so groß wie Wattebäusche, den weitläufigen Rasen vor dem Familienanwesen in sich immer höher auftürmenden Schichten bedeckten. Der weiße Vorhang, der aus dem abendlichen Himmel herabfiel, schien von Minute zu Minute dichter zu werden, sodass man kaum noch bis zu den hochgewachsenen dunkelgrünen Kiefern sehen konnte, die das Grundstück im Süden begrenzten.
Während der Frost draußen seine fein verästelten Muster an die Fensterscheiben malte, hatte die Siebzehnjährige es sich auf einem gepolsterten Ohrensessel neben dem Ofen mit einer Wolldecke um ihre Beine gemütlich gemacht. Genüsslich lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. Das Einzige, was ihr Wohlbefinden jetzt noch hätte steigern können, wäre eine schöne Tasse heiße Schokolade. Ob sie wohl einem der Mädchen auftragen sollte, ihr eine zu bringen?
Elisa wog die spontane Eingebung noch einen Moment lang ab. Einerseits war der Gedanke an die Süße der wärmenden Köstlichkeit, die sie seit ihrer Kindheit liebte, absolut verlockend. Andererseits war das gesamte Hauspersonal vermutlich gerade damit beschäftigt, das Weihnachtsessen für die Familie vorzubereiten. Das bedeutete, dass sie erst in die Küche im Untergeschoss hätte gehen müssen, um ihren Wunsch zu äußern. Darauf hatte sie aber so gar keine Lust. Weitaus angenehmer schien es, noch für einige Minuten die Ruhe zu genießen, die sie hier in ihrem eigenen kleinen Reich umgab.
Außer dem entfernten Heulen des Windes und dem gelegentlichen Knacken der verbrennenden Holzscheite, die im ganzen Raum außerdem einen würzigen Geruch nach Harz verbreiteten, war kein Laut zu hören. Elisa zog die Wolldecke hoch bis zu den Hüften und schaute wieder hinaus auf die winterliche Landschaft. Wie herrlich es erst im Licht des nächsten Morgens aussehen würde, sobald die Sonne sich über die verschneiten Baumwipfel erhob und das sanfte Blau des Himmels sich gegen das strahlende Weiß der Wiesen und Äcker abzeichnete. Sie beschloss spontan, mit dem ersten Hahnenschrei aufzustehen und ihre Staffelei aufzubauen, um zu malen.
Ein leises Klopfen an der Zimmertür durchbrach die Stille. »Fräulein Elisabeth!« Eines der Hausmädchen steckte den Kopf herein. »Ihr Vater bittet Sie, zum Essen herunterzukommen.«
»Ist gut, Hanni«, gab Elisa zurück und schlug ihre Decke zur Seite. »Ich bin gleich da.«
Nur zu gern hätte sie noch ein wenig allein und in Gedanken versunken auf ihrem Zimmer verweilt, aber sie wusste genau, was es hieß, wenn Papa zu Tisch bat: Alle Familienmitglieder hatten sich umgehend einzufinden, und wer das nicht tat, den erwartete ein gewaltiges Donnerwetter. Gerd Mosner gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die man warten ließ, ganz egal, ob man sein Angestellter oder sein Verwandter war. Der große breitschultrige Mann strahlte stets die unerbittliche Strenge eines Oberleutnants aus und war auch in eben diesem Maße auf Pünktlichkeit, Sauberkeit und Ordnung bedacht. Seine fünfköpfige Familie führte er, ebenso wie seine Untergebenen, mit Disziplin und in der Erwartung unbedingten Gehorsams.
Entsprechend nahm Elisa keine zwei Minuten später frisch gekämmt und in tadelloser Garderobe an der reich gedeckten Festtagstafel im Esszimmer Platz. Lore, die neue pausbäckige Küchenhilfe mit den rostroten Zöpfen, war gerade dabei, die Vorspeise aufzutragen, die aus einer appetitlich duftenden Kraftbrühe bestand. Dazu gab es frisch gebackenes Brot.
»Guten Abend«, sagte Elisa und blickte in die Runde. Ihr Vater trug seinen feinen Sonntagsanzug mit den goldenen Manschettenknöpfen und darunter ein makellos gebügeltes Hemd. Er war frisch rasiert, bis auf seinen pechschwarzen Schnurrbart, den er an den Enden in kleinen Bögen nach oben gezwirbelt trug. Das Licht der Kerzen, die in dem silbernen Leuchter in der Mitte der Tafel steckten, spiegelte sich leicht auf seinem haarlosen Haupt. Er nickte ihr nur knapp zu, bevor er seinen Blick wieder den Angestellten zuwandte, um sicherzustellen, dass sie ihre Aufgaben zu seiner Zufriedenheit erledigten.
Elisas Mutter Magdalena saß an der Seite ihres Mannes und sah mit ihrer üblichen Miene, die eine seltsame Mischung aus Müdigkeit und nervöser Anspannung erkennen ließ, auf ihren noch leeren Teller. Ein breites Lächeln zeigte sich dagegen auf dem stupsnasigen Gesicht der kleinen Schwester. Das Mädchen, das denselben Namen wie ihre Mutter trug, aber stets Lenchen gerufen wurde, erlebte mit seinen sechs Jahren noch ganz unbeschwert die Freuden des Weihnachtsfestes.
»Für mich nur einen halben Teller«, hörte Elisa ihren älteren Bruder Joseph sagen. Er schlug gegenüber den Hausangestellten denselben Ton an wie ihr Vater. Sachlich und ruhig, aber immer mit einer Spur Gereiztheit in der Stimme.
Das Dienstmädchen, das rechts neben ihm stand, gehorchte stumm und füllte den Teller vor ihm nur zur Hälfte mit der dampfenden Brühe auf.
»Das reicht«, blaffte Joseph dennoch und wedelte mit der Hand, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen. Er wirkte übernächtigt, mürrisch und war schlecht rasiert, sodass Elisa annahm, dass er die vorige Nacht wieder einmal nur wenig geschlafen hatte.
Sie nahm einen Löffel heißer Brühe und ließ sich den feinen Geschmack auf der Zunge zergehen. Sollte ihr Bruder doch schmollen. Ihr war jedenfalls nicht danach zumute, sich in irgendeiner Form mit seiner miserablen Laune auseinanderzusetzen. Nein, sie würde ihr Essen genießen und dann früh zu Bett gehen. Schließlich hatte sie sich vorgenommen, im Morgengrauen aufzustehen, um sich der Malerei zu widmen.
Auf die Rinderbrühe folgte ein Gänsebraten mit Knödeln und Blaukraut, den Elisa sich ebenfalls munden ließ. Ebenso wie ihr Vater nahm sie dazu ein Glas französischen Rotwein, der das Geschmackserlebnis perfekt abrundete. Als zum Nachtisch der Apfelstrudel aufgetragen wurde, schaffte sie nur noch ein paar Bissen, bevor sie mit der rechten Hand auf ihrem prall gefüllten Magen kapitulierte. Die Köchin hatte wieder einmal ganze Arbeit geleistet. Elisa nahm sich vor, ihr am nächsten Tag ein herzliches Lob auszusprechen und sich bei ihr zu bedanken.
»Hanni«, sagte ihr Vater am anderen Ende des Tisches, »wir sind fertig. Räum ab und bring mir einen Schnaps.«
Das ließ Elisa aufhorchen. Ihr Vater trank fast nie Alkohol. Ein Glas Wein an Festtagen oder ein Bier an einem besonders heißen Sommerabend bildeten da schon recht seltene Ausnahmen. Der Schnaps dagegen wurde nur dann aus dem untersten Küchenschrank hervorgeholt, wenn er sich vorher schrecklich über etwas aufgeregt hatte.
»Also«, sagte er, nachdem er das Gläschen Obstbrand schwungvoll geleert hatte, »ich habe euch allen heute Abend noch etwas zu verkünden.« Er erhob sich von seinem Platz und wischte sich mit dem Daumen einen Tropfen aus seinem Schnurrbart. »Wir ihr wisst, habe ich Ende November mein letztes Projekt abgeschlossen. Nun, es hat sich bereits ein neues ergeben. Am Anfang war das Ganze noch ein wenig unkonkret, aber dann ging es in der letzten Woche plötzlich ganz schnell mit der Vertragsunterzeichnung.«
Konzentriert lauschte Elisa den Worten ihres Vaters. So weit war das, was er da erklärte, nichts Ungewöhnliches. Als bekannter Ingenieur wurde er immer wieder von großen Unternehmen oder wohlhabenden Privatpersonen für unterschiedliche Vorhaben angefragt. Da ihm nach über zwanzig Jahren ein Ruf als gründlicher und versierter Experte vorauseilte, brauchte er noch nicht einmal mehr Akquise zu betreiben, sondern erhielt in regelmäßigen Abständen lukrative Aufträge.
»Jedenfalls«, fuhr er fort, »hat man mich dieses Mal zu einem wirklich großen und überaus interessanten Projekt hinzugezogen: dem Bau der Pfälzischen Ludwigsbahn.«
Elisa konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie ihr Bruder seinen Kopf hob und mit einem leicht irritierten Blick zu ihrem Vater hinübersah. Auch sie selbst hatte von diesem Bauvorhaben bisher nichts gehört. Ludwigsbahn, wiederholte sie in Gedanken. Der Name mochte auf den ehemaligen bayerischen König Ludwig I. zurückgehen, der im vorangegangenen Frühjahr zugunsten seines ältesten Sohnes Maximilian II. abgedankt hatte.
»Die Arbeiten sind bereits in vollem Gange«, führte der Vater weiter aus, »obwohl …« Er strich sich mit einer Hand über seinen kahlen Schädel. »Nun ja, sagen wir mal, sie haben begonnen. Es gibt da hier und da noch planerische und bauliche Schwierigkeiten, was wohl auch der Grund dafür ist, dass ich hinzugezogen wurde.«
Er hielt inne und sah mit aufmerksamem Blick in die Runde, doch keines der anderen Familienmitglieder meldete sich zu Wort, sodass ein seltsames Schweigen entstand.
»Das ist ja wirklich sehr interessant, Vater«, sagte Elisa schließlich, weil sie das Gefühl hatte, die angespannte Stille ausfüllen zu müssen. Das Hauspersonal hatte sich mittlerweile dezent zurückgezogen, sodass auch das leise Klappern der Teller und Platten im Hintergrund verschwunden war. »Ich hoffe doch, dass Sie die kommenden Weihnachtsfeiertage noch mit uns verbringen werden.«
»O ja«, antwortete er und nickte ihr zu. »Das werde ich gewiss, meine Liebe.«
»Wie schön! Dann reisen Sie also erst im neuen Jahr?«
»Wir«, unterbrach ihr Vater sie. »Wir reisen im neuen Jahr ab. Am zweiten Januar, um genau zu sein. Der Bau der Eisenbahn wird sich sicherlich noch ein ganzes Jahr hinziehen, vielleicht sogar zwei Jahre. Das ist zu lange, um euch hier allein zu lassen. Gleichzeitig ist auch der Weg zu weit, um ständig zwischen München und Sankt Ingbert hin und her zu reisen.«
Elisa schluckte. Hatte ihr Vater wirklich gerade angekündigt, dass die gesamte Familie aus ihrem Zuhause irgendwo hin in die Fremde umziehen müsste? Und wo lag dieser neue Einsatzort überhaupt?
»St. Ingbert«, wiederholte ihr Bruder Joseph langsam. Offenbar gingen ihm ähnliche Gedanken durch den Kopf. »Liegt das in Preußen, Vater?«
»Nein«, gab dieser zurück, wobei Elisa auffiel, dass sein Ton Joseph gegenüber kühler war als gerade noch bei ihr. Sie wusste, dass zwischen den beiden schon seit Monaten Spannungen herrschten. »Das tut es nicht. Allerdings liegt es ein gutes Stück weit westlich von hier an der Grenze zu Preußen und auch nicht weit von Frankreich entfernt.«
Nun war Elisa endgültig perplex. Preußen? Frankreich? Deshalb hatte der Vater wohl von der Pfälzischen Ludwigsbahn gesprochen. Die Bauarbeiten fanden also in der Rheinpfalz statt. Sie wusste, dass dies eine Art Enklave war, die zwar zu Bayern gehörte, aber deutlich weiter westlich lag, als der Rest des Königreichs und unter anderem an Preußen und Frankreich grenzte. Wie weit dieses St. Ingbert wohl entfernt war? In diesem Moment wünschte sie sich, dass sie sich schon früher mehr für die Geografie interessiert hätte. In den Stunden, in denen ihr Hauslehrer ihr dieses Gebiet hatte näher bringen wollen, hatte sie aber meist lieber vor sich hin geträumt.
»Nun«, sagte das Familienoberhaupt, da wieder Stille eingetreten war, »damit seid ihr nun alle im Bilde, was die nächsten Schritte angeht.«
Elisa nickte nur stumm und sah hinunter auf ihren Schoß, wo sie nervös ihre Hände knetete. Der Vater schien es durchaus ernst zu meinen. Schon bald würde sie München also den Rücken kehren müssen. Was sollte dann bloß aus ihrem Zuhause werden, aus ihren Freunden und ihrer Leidenschaft für die Malerei, bei der ihr bisher die bayerischen Berge und Seen als stetige Musen gedient hatten? All diese Fragen drängten auf Antworten, aber sie wusste nur allzu gut, dass ihr Vater die Pläne für die Familie längst festgelegt hatte und damit jegliche Diskussion nur zu großem Ärger führen würde.
»Aber«, meldete sich Joseph zu Wort, der ganz offensichtlich noch nicht zu dieser Einsicht gelangt war, »ich hatte gehofft, dass ich im nächsten Frühjahr nach Frankreich zurückkehren kann. Mein Studium …«
»Dein Studium ist beendet«, erwiderte der Vater in einem ruhigen, aber eisigen Ton, aus dem die ganze Härte seiner väterlichen Entscheidungsgewalt sprach. »Ein für alle Mal.«
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, sagte Elisas Mutter plötzlich und stand auf. »Komm, Lenchen, wir gehen zu Bett. Sag allen noch hübsch gute Nacht.«
»Gute Nacht«, wiederholte die Kleine, sah dabei jedoch niemanden an, sondern konzentrierte sich ganz auf die Stoffpuppe, die sie in der rechten Hand hielt. Mit der anderen griff sie nach dem angebotenen Unterarm ihrer Mutter, die sie sanft, aber bestimmt mit sich zog. Und schon waren beide durch einen seitlichen Ausgang des Esszimmers verschwunden, der zur Treppe zum oberen Geschoss führte, wo die Schlafzimmer lagen.
»Gute Nacht«, murmelte Elisas Vater leise und nahm wieder auf seinem Stuhl Platz. »Schlaft gut.«
»Vater …«, setzte Joseph erneut an. »Wie soll ich denn …«
»Sei still, Bengel!«, donnerte dieser derart heftig, dass die beiden Geschwister gleichzeitig zusammenzuckten, und ließ seine große Faust auf die Tischplatte niederfahren. »Muss ich mir denn wirklich am Heiligen Abend noch deine Frechheiten gefallen lassen, du undankbarer Lump?«
Elisa war schockiert über die heftige Reaktion ihres Vaters. Eine einzelne Ader pochte unter der verschwitzten Haut an seiner linken Schläfe. Dermaßen außer sich hatte sie den sonst so gefassten Ingenieur und Geschäftsmann noch nie erlebt.
Ihr Bruder, der sichtlich blass geworden war, öffnete für einen Moment den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn jedoch sofort wieder. Offensichtlich hatte auch er nicht mit einem solchen Ausbruch gerechnet.
»Frankreich«, grollte der Vater. »Dahin willst du also zurück, was? Hat es denn noch nicht gereicht, was du dort getrieben hast? Und jetzt hast du dir wohl in den Kopf gesetzt, meinen guten Namen noch weiter in den Dreck zu ziehen. Aber nicht mit mir. Nicht mit mir!« Er spie die letzten drei Worte regelrecht aus, während er sich bedrohlich und mit erhobenem Zeigefinger in Richtung seines Sohnes über die Tischplatte lehnte, die sich unter dem Gewicht seines massigen Oberkörpers durchbog. »Elisabeth«, sagte er schließlich und wandte sich ihr zu, »geh zu Bett. Das hier ist eine Sache zwischen deinem Bruder und mir. Außerdem sind solche Themen ohnehin nichts für eine junge Dame.«
Sie gehorchte und zog sich stumm zurück. Der Zorn des Patriarchen schien noch lange nicht aufgebraucht zu sein, und sie verspürte keinerlei Lust dazu, als Nächste in die Schusslinie zu geraten. Als sie auf der obersten Treppenstufe angelangt war, blieb sie stehen. Mit pochendem Herzen und den Dutzenden von Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, würde sie gewiss nicht einschlafen können. Obwohl sie wusste, dass es eine Sünde war, andere zu belauschen, siegte die Neugier über sämtliche moralischen Bedenken, und sie duckte sich hinter eine Säule neben dem oberen Treppenabsatz. Von hier aus konnte sie mithören, was zwischen ihrem Bruder und ihrem Vater gesprochen wurde.
»… und eine Schande für die ganze Familie!«, schimpfte Letzterer gerade. »Was hat dich bloß geritten, dich dermaßen gehenzulassen? So habe ich dich ganz bestimmt nicht erzogen, Bursche.«
Elisa ahnte, was der Auslöser für die rasende Wut ihres Vaters war. Joseph hatte in dessen Fußstapfen als Ingenieur treten sollen und deshalb im Sommer des vergangenen Jahres das Studium an der renommierten französischen École polytechnique aufgenommen, was den Vater einen erheblichen Geldbetrag und mehrere Gefallen auf politischer und akademischer Ebene gekostet hatte. Überraschenderweise war Joseph jedoch nach nur zwei Semestern völlig zerknirscht und mit leeren Händen nach Hause zurückgekehrt. Den Grund hierfür hatte Elisa nie erfahren und daher angenommen, dass seine Leistungen schlicht den Anforderungen der angesehenen Hochschule nicht entsprochen hatten.
»Bitte, Vater«, sagte der gescheiterte Student gerade kleinlaut. »Geben Sie mir noch eine Chance. Ich weiß ja, dass …«
»Gar nichts weißt du!«, herrschte der Vater ihn an. »Oder weißt du etwa, was ich alles auf mich nehmen musste, damit du überhaupt zugelassen wurdest? Weißt du, wie oft ich überall beteuern musste, dass du als mein Sohn das Zeug hast, das Studium zu schaffen und ein waschechter Ingenieur zu werden?« Elisa konnte hören, wie schwer ihr Vater atmete. Das Thema des Gesprächs setzte ihm offensichtlich schwer zu. Er senkte die Stimme und sprach gepresst weiter: »Kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie es ist, den Kollegen in die Augen sehen zu müssen, die wissen, dass du dich ein Jahr lang statt in den Hörsälen nur in Schankwirtschaften und Hurenhäusern herumgetrieben hast?«
Elisa erschrak so sehr, dass sie fast laut aufgeschrien hätte. Was sagte ihr Vater da? Allein, dass er solche Worte in den Mund nahm, hätte sie sich noch vor einer Minute nicht einmal träumen lassen. Und Joseph? Hatte er seine Zeit in Frankreich wirklich so verbracht? War er tatsächlich in der Lage gewesen, den Vater derart zu hintergehen und den Ruf der gesamten Familie aufs Spiel zu setzen? Jedenfalls hatte Elisa nun definitiv genug gehört. Ihr Herz pochte noch lauter als zuvor, und an Schlaf war nun erst recht nicht mehr zu denken. Trotzdem erhob sie sich vorsichtig aus ihrem Versteck und schlich so leise wie möglich in ihr Zimmer.
Als die Müdigkeit sie irgendwann in ihrem warmen Bett doch noch übermannte, seufzte sie leise. Es hatte aufgehört zu schneien, und selbst das leise Heulen des Windes war verstummt. Wenn sie morgen früh aufwachen würde, bliebe ihr kaum mehr als eine Woche, bis sie aus München abreisen und ihre Heimat auf unbestimmte Zeit verlassen müsste. So hatte sie sich das Weihnachtsfest ganz bestimmt nicht vorgestellt.
München, 24. Dezember 1848
Elisa saß zusammen mit ihrer gesamten Familie in einer Kutsche, die eine schlecht befestigte Landstraße entlangschaukelte. Das unablässige Quietschen der Räder und des Wagenkastens wurde von dem klappernden Trab der Pferde begleitet, die das Gefährt vorwärtszogen. Aus irgendeinem Grund trugen sowohl ihre Eltern als auch Joseph und Lenchen Schwarz. Ihre Gesichter waren kreidebleich und sahen seltsam wächsern aus. Sie alle blickten stumm zu Boden.
Als Elisa sich schließlich an ihren Vater wandte, um zu fragen, wie lange die Fahrt wohl noch dauern würde, bemerkte sie mit Entsetzen, dass sie nicht in der Lage war, den Mund zu öffnen. Voller Panik schrie und schluchzte sie, brachte aber keinen Ton heraus. Stattdessen mischte sich in den monotonen Rhythmus der Kutsche nun ein Klicken. Es klang so, als würden winzige Steine auf irgendeine harte Oberfläche treffen. Wieder und wieder.
Ruckartig erwachte Elisa aus ihrem Albtraum und sah sich erschrocken um. Eiskalte Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Sobald sie ihren galoppierenden Herzschlag wieder im Griff hatte, atmete sie tief durch und dankte Gott dafür, dass alles nur Einbildung gewesen war. Alles, bis auf das Klicken, denn das konnte sie immer noch hören. Sie hielt für einen Moment die Luft an und schloss die Augen. Ja, da war es schon wieder, und es kam aus der Richtung des großen Fensters, das zum Hof hin lag. Gerade, als sie aus ihrem Bett aufstehen wollte, um der Sache auf den Grund zu gehen, sah sie plötzlich schemenhaft den Oberkörper einer Gestalt durch die Scheibe und hätte um ein Haar laut aufgeschrien, wäre ihr nicht in derselben Sekunde klar geworden, was hier vor sich ging.
»Himmel Herrgott Sakrament noch mal«, zischte sie, nachdem sie flugs eine kleine Kerze entzündet hatte, und öffnete so leise wie möglich einen Flügel des Fensters. »Was denkst du dir eigentlich dabei, mich mitten in der Nacht halb zu Tode zu erschrecken, Leo?«
Der Angesprochene ließ statt einer Antwort zuerst einmal ein leises Schnaufen hören und wuchtete seinen schlanken Körper mit sichtlicher Anstrengung über die breite Fensterbank ins Zimmer, wo er bäuchlings auf dem Teppich zu liegen kam. Dann drehte er sich zu ihr um und lächelte breit. »Dir auch einen schönen guten Abend, meine Liebste. Herrliches Wetter für einen kleinen Spaziergang, oder?«
»Spaziergang?« Sie verschränkte die Arme, während sie auf ihn hinuntersah. »So nennst du es, wenn du am Spalier an unserer Hauswand hinaufkletterst? Und sprich um Himmels willen leise. Mein Vater schlägt dich tot, wenn er herausfindet, dass du hier bist.«
Und mich gleich mit, fügte sie in Gedanken hinzu und dachte dabei an das zornige Gesicht des Hausherrn, in das sie noch vor wenigen Stunden geblickt hatte.
»Na, na«, winkte Leo in seiner gewohnt lässigen Art ab. »Das merkt schon keiner. Ich war leise wie eine Katze, und im Haus brennt auch nirgendwo mehr Licht.«
Elisa schüttelte schweigend den Kopf. So ein waghalsiges Verhalten an den Tag zu legen und dabei noch eine sorgenfreie Unschuldsmiene aufzusetzen, sah ihrem Leo wirklich ähnlich. Er, der in Wahrheit Leopold Wilhelm Freiherr von Allerswang hieß, war schon immer ein Draufgänger gewesen, was allerdings auch daran lag, dass ihm entweder der besagte Name oder das schwindelerregend hohe Vermögen seiner Eltern bisher noch aus jeder Patsche herausgeholfen hatten. So schien er sich auch jetzt keinerlei Gedanken darüber zu machen, sich nachts in die Kammer einer alleinstehenden jungen Frau zu schleichen. Aus seinen leuchtend blauen Augen strahlten nur Freude und Aufregung.
»Na, komm mal her, Liebchen«, sagte er und schloss sie in seine Arme. »Ich hab dich ja seit bestimmt einer Woche nicht gesehen.«
»Zwei Wochen«, bemerkte sie trocken. »Auf den Tag genau.«
»Ja eben! Und wie geht es dir denn so?« Er strich ihr sanft über die Wange und musterte sie. »Bist du bloß müde, oder ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?«
»Keine Laus«, murrte sie, »eher eine ganze Kutsche mit Gespann.«
Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an.
»Ich …«, begann Elisa und brach ab. War dies der richtige Ort, die richtige Zeit, um ihm von ihren Sorgen zu erzählen? »Wir ziehen um«, sprudelte es dann aus ihr heraus, bevor sie weiter nachdenken konnte. »Irgendwohin. Weit weg. Nach Sankt … irgendwas, ich weiß noch nicht mal, wie das heißt. Aber es ist schon fast in Frankreich.« Sie atmete geräuschvoll ein und konnte nur mit Mühe ein Schluchzen unterdrücken.
»Aber Elisa, was redest du denn da?« Leo war sichtlich irritiert und trat einen Schritt zurück.
»Hör mir doch zu!«, forderte sie halb ärgerlich und halb verzweifelt. »Mein Vater hat einen neuen Auftrag, und dafür muss er weit weg. Irgendwie hat er sich in den Kopf gesetzt, dass wir alle mit ihm gehen müssen.«
»Und für wie lange?«
»Ein Jahr oder vielleicht sogar länger.«
Zum ersten Mal, seit die beiden sich kannten, sah Elisa so etwas wie Sorgenfalten auf Leos von blonden Locken umrahmter Stirn. »Und wenn du ihm sagst, dass du nicht mitgehst? Dass du lieber daheim in München bleiben willst?«
Sie hätte fast laut aufgelacht, erinnerte sich dann aber daran, dass die Eltern nur ein paar Zimmer weiter in ihrem Bett lagen. »Und du glaubst ernsthaft, das würde etwas ändern? Mein Vater würde mich niemals einfach hierlassen.« Sie ging ein paar Schritt auf dem hochflorigen weißen Teppich hin und her. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nur ihr Nachthemd trug, doch sie war zu aufgewühlt, um sich dafür zu schämen. »Und selbst wenn es irgendwas ändern würde, und ich bekäme meinen Vater irgendwie dazu, mich in München zu lassen. Wo sollte ich denn dann bleiben? Wo würde ich wohnen? Ich bin ja noch nicht volljährig und außerdem …« Wie ein Blitzschlag durchzuckte ein Gedanke ihren Verstand. Natürlich, warum war ihr das denn nicht gleich eingefallen?
»Was?«, fragte Leo, der bemerkt haben musste, wie sie ihn nun mit ihren Augen fixierte.
»Leo«, sagte sie und ergriff seine Hand, »siehst du denn nicht, dass sich für uns gerade eine große Chance eröffnet?« Elisa hatte mit einem Mal das Gefühl, ihr Herz müsse jeden Moment vor Aufregung aus ihrer Brust hüpfen. »Könnte diese ganze Sache nicht das Zeichen sein, auf das wir beide gewartet haben? Vielleicht will der Herrgott uns damit den Weg zeigen, den wir beide gemeinsam gehen sollen.«
Es dauerte noch einige Sekunden, bis seine Augenbrauen in die Höhe schnellten, was sie als Zeichen dafür wertete, dass der Groschen endlich gefallen war.
»Wir können nicht heiraten«, entgegnete er knapp. Diese vier simplen Worte fühlten sich an, als hätte jemand einen Dolch in ihr eben noch jubilierendes Herz getrieben. Dass Leo sofort zurückruderte, nahm Elisa kaum noch wahr. »Ich meine jetzt noch nicht. Im Moment.«
Noch nicht. Wie oft hatte sie das nun schon von ihm gehört? Sie kannte Leo seit ihrem vierten Lebensjahr, als ihr Vater einmal einen Auftrag für seinen Vater ausgeführt hatte und danach mit der ganzen Familie zum Essen eingeladen worden war. Als Kinder hatten sie freilich nur unschuldig miteinander gespielt und sich geneckt. Aber vor ungefähr anderthalb Jahren war plötzlich mehr daraus geworden.
An einem sonnigen Nachmittag, als die beiden an der Isar vorbei spaziert waren, hatte Leo sie plötzlich ganz verträumt angesehen und dann spontan geküsst. Elisa konnte sich noch gut an ihre anfängliche Verwirrung erinnern, die jedoch innerhalb von Sekunden einem aufgeregten Kribbeln gewichen war, dass sie seither nicht mehr losgelassen hatte. Da sie jedoch wusste, wie ihr Vater mit seinen erzkonservativen Ansichten zu jeglichem Anbandeln mit einem Mann gestanden hätte, trafen die beiden sich seither heimlich. Allerdings wusste sie auch, dass ihre Eltern bereits geheiratet hatten, als ihre Mutter gerade einmal siebzehn Jahre alt gewesen war. Genau das war also die einzig realistische Chance auf eine echte Beziehung, in der Leo und sie sich nicht mehr verstecken müssten.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie. »Was spricht denn noch dagegen, Leo?« Sie trat ganz nah an ihn heran und sah in seine strahlend blauen Augen. »Liebst du mich denn nicht? Willst du nicht mit mir zusammen sein?«
»Doch«, versicherte er ihr und legte behutsam seine Hände auf ihre Schultern, sodass sie die Wärme seiner Haut spüren konnte. »Das weißt du doch, mein Schatz.« Er seufzte leise und sah an ihr vorbei, als würde er angestrengt nachdenken. »Aber das geht nicht einfach so von heute auf morgen. So etwas will vorbereitet sein, damit auch alles klappt.«
»Wir müssten ja nicht nächste Woche schon vorm Traualtar stehen«, erwiderte Elisa. »Vielleicht braucht es das gar nicht, um meinen Vater zu überzeugen. Wer weiß, möglicherweise reicht es ja schon, wenn wir offiziell verlobt wären. Du könntest morgen zu ihm gehen und dann …«
»Vielleicht«, unterbrach Leo sie. »Möglicherweise. Aber was, wenn nicht?« Er fuhr sich nervös mit einer Hand durch die Haare. »Du bist nicht die Einzige, die vorher mit ihren Eltern sprechen muss, Liebste. Mein Vater und ich haben gerade erst wieder neue Kontakte aufgetan. Es bieten sich Chancen auf Geschäftsabschlüsse, die nicht warten werden.«
Nun war es Elisa, die seufzte. Es lag alles mal wieder an seinen Geschäften. Auch diesen Einwand kannte sie jetzt schon zur Genüge. Leos Vater handelte mit allerlei Luxusgütern wie ausländischem Wein, teuren Zigarren und exotischen Pelzen. Seit einem Jahr hatte er sich offenbar vorgenommen, seinen Sohn als Nachfolger in diese Tätigkeit einzuführen, weshalb Leo ihm immer öfter bei allerlei Treffen und Geschäftsreisen zur Seite stehen musste, was wiederum zulasten ihrer ohnehin schon knapp bemessenen gemeinsamen Zeit ging.
»Dann rede doch mit ihm. Bitte.« Sie bemerkte selbst, wie flehend ihr Tonfall mittlerweile geworden war, und schalt sich innerlich dafür. Gleichzeitig konnte sie jedoch nicht das Geringste dagegen tun. »Versuch es, Leo. Für mich. Für uns beide.«
»In Ordnung.« Er nickte und sah sie mit ernstem Gesichtsausdruck an. »Vater kommt morgen Abend aus der Schweiz zurück. Dann werde ich ihn darauf ansprechen.«
»Danke«, hauchte sie und ließ sich in seine Arme sinken. Fast verspürte sie so etwas wie Erleichterung, aber dafür war einfach noch zu vieles unklar.
»Ich hoffe, dass es doch irgendwie klappt«, flüstere Leo in ihr Ohr.
Der noch frische Dolchstoß in Elisas Herz meldete sich plötzlich zurück. »Und was, wenn nicht?«
»Dann …« Er hielt einen Moment inne und strich liebevoll durch ihr langes Haar. »Dann werden wir einen anderen Weg finden, Liebste. Ich schreibe dir. Und komme dich so oft besuchen, wie es nur geht.«
»Und das würdest du wirklich tun?«
»Auf jeden Fall.« Er schlang seine Arme um ihren Oberkörper und küsste sie auf den Scheitel. »Gar keine Frage.«
»Gut«, murmelte sie. Aber nichts war gut. Überhaupt nichts. Gestern noch hatte sie sich einfach nur auf die Feiertage und auf ihre Ferien gefreut. Da war ihr größtes Problem noch gewesen, welches Kleid sie am zweiten Weihnachtstag anziehen sollte. Und jetzt? Jetzt war bereits ihr baldiger Umzug beschlossen. Elisas Vater hatte einfach so bestimmt, dass die ganze Familie in irgendeinen Ort am anderen Ende von Bayern ziehen sollte. Und was sollte das überhaupt für ein Nest sein, irgendwo eingeklemmt zwischen Preußen und Frankreich? Und wie sollte sie es dort bloß jahrelang aushalten ohne ihre Freunde und vor allem ohne Leo?
»Sag mal.« Leo holte sie ins Hier und Jetzt zurück. »Jetzt wo ich schon mal da bin …«
Sie spürte, wie seine linke Hand langsam außen an ihrem Oberschenkel entlangglitt, und ihr Herzschlag, der sich gerade erst beruhigt hatte, beschleunigte schon wieder.
»Leo«, sagte sie und drehte ihren Kopf von ihm weg, »lass das sein.«
Es war nicht so, als hätte sie sich nicht nach seiner Nähe gesehnt. Und außerdem konnte Elisa auch nachvollziehen, was er dachte: Die beiden waren bisher noch nie allein in ihrem Zimmer gewesen. Weil sie ihre Beziehung bisher hatten geheim halten müssen, hatte er sie noch nie zuvor hier besucht. Auf eine gewisse Art und Weise war dies hier also eine besondere Gelegenheit. Dennoch …
Nun fuhren seine Finger an ihrem Oberkörper entlang in Richtung ihrer Brüste.
»Lass es!« Dieses Mal war es mehr ein zorniges Fauchen als eine Bitte, und sie schlug seine Hand zur Seite, was er mit einem verdutzten Blick quittierte. Wie konnte Leo, gerade jetzt, wo es um nicht weniger als ihre gemeinsame Zukunft ging, sich nur von seinen körperlichen Bedürfnissen ablenken lassen?
»Ich …« Aus seinen großen Augen sah er sie derart verdattert an, dass Elisa sich spontan fragte, ob er in seinem Leben überhaupt schon mal so etwas wie Ablehnung oder Grenzen erfahren hatte. »Ich muss jetzt gehen.«
Bevor sie richtig realisierte, was da gerade geschah, hatte er schon das Fenster geöffnet und sein rechtes Bein über den Sims geschwungen. »Wir sehen uns bald«, sagte er noch, bevor er in der Dunkelheit verschwand.
Elisa seufzte, während sie leise das Fenster schloss. Das wird sich wohl noch zeigen …
Müde und enttäuscht über Leos erneutes Zaudern kroch sie zurück unter ihre Bettdecke. Doch nagende Zweifel und die Angst, ihn durch die von ihrem Vater erzwungene Entfernung zu verlieren, hielten sie wach. Würde er zu ihr stehen und mit seinem und ihrem Vater sprechen? War ihr größter Wunsch, mit Leo als seine Ehefrau zu leben, nichts als eine Illusion? Erschöpft von ihren endlosen Grübeleien fand sie erst im Morgengrauen wieder in den Schlaf.
St. Ingbert, 4. Januar 1849
»Das ist es«, verkündete Elisas Vater, während die Kutsche gerade über die Kuppe einer kleinen Anhöhe polterte. »Das muss St. Ingbert sein.« Er richtete seinen massigen Oberkörper auf, um besser aus dem schmalen Fenster sehen zu können. »Ja, ganz eindeutig – ich kann dort hinten das Stahlwerk sehen. Faszinierend!«
Elisa rieb sich die Augen und schlug die Decke zurück, die sie und Lenchen zum Schutz gegen die Kälte über sich gelegt hatten. Die kleine Schwester murrte leise. Konnte es denn wirklich wahr sein, dass sie endlich am Ziel waren? Es war zwar nicht so schlimm gewesen, wie in dem Albtraum, den sie in der Nacht vor der Abreise gehabt hatte, aber dennoch alles anderes als angenehm gewesen. Von München aus hatten sie zunächst eine Bahn bestiegen. So weit, so gut. Da das Schienennetz jedoch nicht bis in diese seltsame abgelegene Gegend reichte, die sich – aus welchem Grund auch immer – zum Königreich Bayern zählen durfte, hatte die Familie für einen beträchtlichen Teil der verbleibenden Strecke ganz altmodisch mit einer Pferdekutsche vorliebnehmen müssen. Seit einem und einem halben Tag waren sie damit nun an unzähligen kleinen Dörfern und Weilern sowie Wäldchen und Feldern vorbei gerumpelt. Und das war noch nicht einmal das Schlimmste.
Nach seinem unangekündigten nächtlichen Besuch hatte Elisa rein gar nichts mehr von Leo gehört. Er hatte sich schlicht nicht mehr blicken lassen und ihr auch nicht, wie sonst manchmal, über Umwege eine Nachricht zugespielt. Sie war sich zwar nicht sicher, was das zu bedeuten hatte, aber es trug nicht gerade dazu bei, ihre trübe Stimmung zu heben.
»Erstaunlich«, sagte ihr Vater, der immer noch gebannt aus dem Fenster sah. »Das ist ein brandneues Walzwerk. Und die Walzenstraßen werden mit einer Dampfmaschine angetrieben, die in dem Werk selbst konstruiert wurde. Wie ich gehört habe, soll bald sogar noch ein zweiter Hochofen hinzukommen.« Er nickte anerkennend. »Schienenproduktion«, fügte er dann hinzu, »das ist der Markt der Zukunft. Die Eisenbahn hat ihren Siegeszug gerade erst angetreten, und schon bald wird sie auch in dieser Gegend den Güterverkehr revolutionieren.« Er sah zu seinen Kindern hinüber, die ihm und seiner Frau gegenübersaßen. »Merkt euch das. Wenn ihr einmal älter seid, werdet ihr noch daran denken. Das verspreche ich euch.«
Nun war Elisa doch neugierig geworden und reckte ihren Hals, um ebenfalls einen Blick nach draußen werfen zu können. Was sie dort sah, löste allerdings keine Vorfreude bei ihr aus, sondern das genaue Gegenteil. Sie schaute auf eine Aneinanderreihung von lang gezogenen, schmucklosen Gebäuden, die größtenteils über hoch aufragende Schornsteine verfügten, aus denen wiederum dichte schwarze Rauchwolken in den Winterhimmel quollen. Und hier sollte ihre neue Heimat sein? Das hatte ihr Vater gegen den Münchner Landsitz der Familie eingetauscht, der inmitten der herrlichen Natur lag? Statt um hellblaue Seen zu wandern und die verschneiten Berggipfel in der Ferne zu bewundern, sollte sie nun also Tag für Tag die stinkenden Abgase der Eisenwerke dabei beobachten, wie sie die Luft verpesteten? Das Herz wurde Elisa mit einem Mal noch schwerer, und ihr war zum Weinen zumute, als die Kutsche plötzlich zum Stehen kam. Dann öffnete sich auch schon die Tür, und ein hochgewachsener junger Mann in einem grauen Mantel lächelte zu den Passagieren herein.
»Einen wunderschönen guten Tag«, rief er aus und deutete eine leichte Verbeugung an, »und willkommen in St. Ingbert, Familie Mosner. Mein Name ist Theodor, und ich habe die Ehre, sie zu Ihrem neuen Heim zu bringen.«
Bring mich lieber zurück nach München, aber schnell, dachte Elisa, zwang sich jedoch zu einem höflichen Lächeln.
»Was für ein Nest«, hörte sie Joseph hinter sich zischen, während ihr Vater vor ihr aus der Kutsche ausstieg. »Und hier sollen wir jetzt für die nächsten Jahre versauern? Na, herzlichen Glückwunsch.« Elisa war recht selten einer Meinung mit ihrem Bruder, aber hier konnte sie ihm schlicht nicht widersprechen. So, wie sich ihre neue Umgebung auf den ersten Blick darbot, sah die Zukunft für sie alles andere als rosig aus.
»Und Sie sind sich sicher, dass wir hier noch in Bayern sind?«, fragte Joseph laut und mit einem etwas zu breiten Lächeln in Richtung ihres neuen Bekannten, was ihm wiederum einen halb tadelnden und halb misstrauischen Blick seines Vaters einbrachte.
»Nun«, erwiderte Theodor ernst und wies vage in Richtung Westen, »die Grenze zu Preußen ist wahrlich nur einen kurzen Fußmarsch entfernt. Aber ja, Sie sind im Königreich Bayern, guter Mann. Und Sie werden sicher bald sehen, dass die Leute in dieser Gegend sehr stolz auf ihre Heimat sind.« Er drehte sich halb nach rechts, wo eine weitere Kutsche wartete. »Wenn die Damen und Herren nun Platz nehmen möchten«, schlug er vor und begann bereits damit, dass Gepäck umzuladen. »Es liegt nur noch eine kurze Fahrt vor Ihnen, dann können Sie sich endlich von Ihrer langen Reise erholen.«
Die folgende Kutschfahrt war mit insgesamt sechs Personen zwar etwas beengt, aber dafür überaus informativ. Zunächst lernte Elisa, dass Theodor eigens von dem neuen Auftraggeber ihres Vaters geschickt worden war, um die Familie vor Ort willkommen zu heißen. Das war schon einmal irgendwie schmeichelhaft. Dann klärte der junge Mann sie über die Geschichte des Ortes auf. Dessen Name ging, wie er sagte, auf einen Heiligen namens Ingobertus zurück, über den jedoch leider nur sehr wenig bekannt war, außer dass er als Einsiedler gelebt haben sollte. Der Ort selbst gehörte seit 1816 zum Königreich Bayern und war seit 1829 offiziell eine Stadt, wobei Letzteres vor allem auf die rasant steigende Bedeutung als Industriestandort zurückzuführen war. Vor ungefähr zehn Jahren hatte man sogar eine Straßenbeleuchtung mit Petroleumlaternen eingeführt.
Keine zwanzig Minuten später stiegen die Mosners erneut aus einer Kutsche und traten ins Freie. Dieses Mal jedoch nicht vor einer Industriekulisse, sondern vor einem atemberaubenden Anwesen, das direkt am Waldrand gelegen war.
»Das Jagdschloss Altenfels«, verkündete Theodor, und eine unüberhörbare Portion Stolz schwang in seiner Stimme mit. »Ein altehrwürdiges Haus. Und es ist bereits alles für Sie hergerichtet.«
Elisa betrachtete das Gebäude mit freudigem Erstaunen. Das Schloss war umgeben von verschneiten Büschen und Hecken, die im Sommer sicherlich saftiges Grün tragen würden. Die Fassade erstrahlte in einem makellosen Weiß, das wie frisch getüncht aussah, und das Dach war mit dunkelroten Ziegeln gedeckt.
»Nicht schlecht«, bemerkte Joseph halblaut. Er öffnete den Mund, um noch etwas hinzuzufügen, aber in diesem Moment schwang bereits ein Flügel der mächtigen Eingangstür auf, und drei fein zurechtgemachte Dienstmädchen traten heraus. Sie stiegen zügig, aber würdevoll die vier Stufen bis zum Vorhof hinab und stellten sich dann in Reih und Glied vor den Mosners auf.
»Ah ja«, rief Theodor, »wie bestellt: das Hauspersonal. Ich soll Ihnen ausrichten, Herr Mosner, dass nur erfahrene und absolut zuverlässige Kräfte ausgewählt wurden. Es wird Ihnen also an nichts mangeln.«
Wie zur Bestätigung nickten alle drei Mädchen, die allesamt eine hellblaue Schürze trugen, und fingen sofort damit an, das Gepäck der Familie aus der Kutsche auszuladen und ins Haus zu tragen.
»Nun«, sagte Theodor, nachdem er auch mit angepackt hatte, um sämtliche Koffer zunächst in der Diele des Hauses abzustellen, »damit sind Sie am Ziel, und meine Aufgabe ist erledigt. Ich gehe davon aus, dass Sie alle sich jetzt erst einmal mit Ihrem neuen Heim vertraut machen wollen. Falls es irgendwelche Fragen oder Probleme gibt, sagen Sie einfach einem der Mädchen Bescheid, und man wird mich sofort rufen.«
»Dann recht herzlichen Dank«, erwiderte Elisas Vater und tippte kurz an seinen breitkrempigen Hut. »Ich denke, ab hier finden wir uns fürs Erste zurecht.«
Elisa sah noch zu, wie die Kutsche, die sie hergebracht hatte, um die nächste Ecke bog und verschwand. Dann wandte sie sich wieder dem Anwesen zu. »Schloss Altenfels«, wiederholte sie leise und schätzte dabei, dass der ausladende Landsitz allein in dessen Hauptgebäude sicher an die zwanzig Räume haben würde. Mittlerweile kam sie sich doch eher wie eine Prinzessin vor und nicht wie eine heimatlose Nomadin. »Na, das könnte ja vielleicht doch etwas werden mit uns«, murmelte sie.
St. Ingbert, 4. Januar 1849
Knapp eine Stunde später hatte Elisa zumindest das Haupthaus, zu dem noch drei kleinere bis mittlere Nebengebäude gehörten, einigermaßen gründlich in Augenschein genommen. Die Bezeichnung Schloss war für den neuen Sitz der Familie ganz ohne Zweifel angemessen.
Schon beim Eintreten öffnete sich dem Besucher der Blick in eine beeindruckende Halle mit hoher stuckverzierter Decke, von der ein imposanter Kronleuchter herabhing. Während man an der Stirnseite auf eine Galerie mit kunstvoll gearbeitetem Geländer hinaufsah, gingen nach rechts und links jeweils lange Gänge in die beiden Flügel des Gebäudes ab, die allein im Erdgeschoss schon jeweils sechs Zimmer beherbergten. Die Schlafzimmer lagen im oberen Stock, wobei dasjenige, das für Elisa vorgesehen war, einen wunderschönen Ausblick über den Wald hinweg bot. Außerdem gab es eine Dachgaube mit einer kleinen, aber feinen Sitzecke und einem gut gefüllten Bücherregal.
Zugegeben, sie hatte immer noch das Gefühl, aus dem Glanz Münchens hinaus ans Ende der Welt gereist zu sein, aber wenigstens war dieses Ende geräumig und hübsch eingerichtet. Wenn sie erst ihre persönlichen Sachen ausgepackt, ihren Kleiderschrank eingeräumt und ein paar Bilder aufgehängt hätte, würde alles noch einmal ein ganzes Stück wohnlicher aussehen. Ach, hätte sie doch nur Leo einladen können, um ihr Zimmer mit ihr anzusehen.