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Die Geschichte spielt im Jahr 2073, sechzig Jahre nachdem eine unkontrollierbare Epidemie, der Rote Tod, den Planeten entvölkert hat. Die Handvoll Überlebender aus allen Gesellschaftsschichten haben ihre eigene Zivilisation und ihre eigene Hierarchie in einer wilden Welt errichtet. Kunst, Wissenschaft und jegliche Bildung sind verloren gegangen, und die jungen Nachkommen der damals Überlebenden wissen nichts von der Welt, die war – nichts als Mythen und Fantasie. James Howard Smith ist einer der letzten Überlebenden aus der Zeit vor dem Ausbruch der Scharlachpest und lebt noch in der Gegend von San Francisco, wo er mit seinen Enkeln Edwin, Hoo-Hoo und Hare-Lip unterwegs ist. Seine Enkel sind jung und leben als urzeitliche Jäger und Sammler in einer dünn besiedelten Welt. Ihr Intellekt ist begrenzt, ebenso wie ihre Sprachkenntnisse. Edwin bittet Smith, den sie “Granser” nennen, ihnen von der Krankheit zu erzählen, die abwechselnd als Scharlachpest, Scharlachtod oder Roter Tod bezeichnet wird. “Die Scharlachpest” ist eine postapokalyptische Erzählung von Jack London, die 1912 im London Magazine veröffentlicht wurde. Die Geschichte beschreibt das Leben nach einer verheerenden Seuche, die den größten Teil der Menschheit auslöscht. Neben dieser Titelerzählung finden sich noch vier weitere Erzählungen von Jack London in diesem Buch: “Der Feind der ganzen Welt”, “Die Lieblinge des Midas”, “Der Schatten und das Funkeln” und “Der Rote”.
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Seitenzahl: 242
Jack London
In einer Übersetzung von Erwin Magnus
DIE SCHARLACHPEST wurde im englischen Original (The Scarlet Plague) zuerst veröffentlicht von Macmillan im Jahr 1912.
Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von
© apebook Verlag, Essen (Germany)
www.apebook.de
1. Auflage 2021
V 1.0
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-96130-416-5
Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de
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Inhaltsverzeichnis
Die Scharlachpest
Impressum
Die Scharlachpest
Der Feind der ganzen Welt
Die Lieblinge des Midas
Der Schatten und das Funkeln
Der Rote
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Zu guter Letzt
Der Weg führte an einer Erhebung entlang, die einst ein Eisenbahndamm gewesen war. Seit vielen Jahren jedoch war kein Zug mehr über diesen Schienenstrang gelaufen. Zu beiden Seiten drängte der Wald an den Böschungen des Dammes empor. Allein ein schmaler Pfad war geblieben, der eben noch dem Körper eines Mannes Durchlaß gewährte und eigentlich nur ein Wildwechsel war. Hie und da lugte ein Stück rostigen Eisens aus dem Waldboden hervor und zeigte, daß Schienen und Schwellen noch vorhanden waren. Ein zehnzölliger Baumstamm hatte an einer Stelle ein Verbindungsstück durchbrochen, so daß ein Schienenende bloßgelegt war. Die mit der Schiene verbolzte Schwelle war mit ihr gehoben worden, und zwar dank der Länge des Bolzens so hoch, daß das Lager der Schiene sich mit Kies und welken Blättern hatte füllen können und sich der morsche, verfaulte Balken jetzt in einem merkwürdig steilen Winkel bäumte. Ein Greis und ein Knabe wanderten den Pfad entlang. Sie kamen nur langsam vorwärts. Ein leichter Schlaganfall hatte die Bewegungen des Alten zittrig gemacht, er stützte sich schwer auf seinen Stock. Eine derbe, aus Ziegenfell verfertigte Kappe schützte seinen Kopf vor der Sonne. Darunter sah das spärliche, in die Stirn gekämmte Haar fettig und schmutzigweiß hervor. Ein erfinderisch aus einem großen Blatt gebogener Schirm beschattete seine Augen, die aufmerksam den Weg zu seinen Füßen beobachteten. Sein Bart, der schneeweiß hätte sein müssen, aber wie sein Kopfhaar die Spuren von Wetter und Lagern im Freien trug, fiel verfilzt bis auf den Leib herab. Um Brust und Schultern hing als einziges Kleidungsstück ein räudiges Ziegenfell. Seine welken mageren Arme zeugten von höchstem Alter, und die von der Sonne gebräunte Haut erzählte mit ihren Narben und Schrammen von den langen Jahren, die sie den Elementen preisgegeben war. Der Knabe, der vorausschritt, den Eifer seiner jungen Muskeln jedoch dem langsamen Gang des Älteren anpaßte, trug ebenfalls nur ein einziges Kleidungsstück: ein ausgefranstes Bärenfell mit einem Loch in der Mitte, durch das er den Kopf gesteckt hatte. Er konnte höchstens zwölf Jahre alt sein. Um sein Ohr hatte er sich kokett den frisch abgeschnittenen Schwanz eines Schweins gewickelt. In der Hand trug er einen nicht allzu großen Bogen und einen Köcher voller Pfeile. Aus einer Scheide, die an einem Riemen um seinen Hals hing, guckte der abgenutzte Griff eines Jagdmessers hervor. Der Junge war braun wie eine Kaffeebohne und ging mit sanften, fast katzenartigen Schritten. Einen auffallenden Gegensatz zu seiner sonnenverbrannten Haut bildeten seine Augen; sie waren blau, tiefblau, aber kühn und scharf wie zwei Bohrer. Während er so dahinschritt, witterte er gleich einem Tier, und seine weit geöffneten, zitternden Nüstern übermittelten seinem Hirn eine endlose Reihe von Eindrücken der Außenwelt. Auch sein Gehör war scharf und so geschult, daß es ganz automatisch arbeitete. Ohne bewußte Anstrengung vernahm er in der scheinbaren Stille die feinsten Geräusche – hörte, unterschied und zerlegte diese Töne –, ob sie nun vom Wind kamen, der durch die Blätter rauschte, oder vom Summen der Bienen und Mücken oder vom Meer, das trotz der Windstille in der Ferne grollte, oder von dem Erdeichhörnchen, das gerade vor seinen Füßen eine Backentasche voll Erde in den Eingang seiner Höhle schob.
Plötzlich stutzte er. Seine Hand griff hinter sich nach dem Greis und berührte ihn, beide blieben stehen. Seitwärts vor ihnen auf dem Damm näherte sich ein leises Brechen, und der Knabe starrte auf die sich bewegenden Sträucher. Dann erschien, laut durchs Gezweig wuchtend, ein großer Grislybär, der ebenfalls unvermittelt stehenblieb, als er die Menschen erblickte. Er liebte Menschen nicht, und er brummte unzufrieden. Langsam legte der Knabe den Pfeil auf den Bogen, und langsam zog er die Sehne an. Aber er wandte kein Auge von dem Bären ab. Der Greis sah blinzelnd unter seinem grünen Blatt hervor auf die Gefahr, die ihnen nahte, stand aber ebenso still wie der Knabe da. Einige Sekunden währte dies gegenseitige Ausforschen; als der Bär jedoch wachsende Gereiztheit verriet, bedeutete der Knabe dem Greis durch eine Kopfbewegung, daß er seitwärts in das Buschwerk treten und den Damm hinabsteigen sollte. Der Knabe folgte ihm, rückwärts schreitend und den Bogen immer noch straff und schußbereit haltend. Sie warteten, bis das Brechen in den Zweigen auf der andern Seite des Dammes ihnen verkündete, daß der Bär weitergegangen war. Grinsend kehrte der Knabe wieder auf den Pfad zurück.
»Das war ein Kerl, Großpa!« kicherte er.
Der Alte schüttelte den Kopf. »Sie werden von Tag zu Tag häufiger«, klagte er mit dünner, unsicherer Fistelstimme. »Wer hätte gedacht, daß ich es erleben sollte, ein Mann auf dem Wege nach dem Cliff House müsse für sein Leben fürchten! Als ich noch ein Knabe war, Edwin, spazierten Männer, Frauen und kleine Kinder bei schönem Wetter zu Zehntausenden von San Francisco hier heraus. Damals gab es keine Bären. O nein, man bezahlte Geld, um sie in Käfigen anzuschauen, so selten waren sie.«
»Was ist Geld, Großpa?« Ehe der Greis antworten konnte, hatte der Knabe sich schon erinnert, steckte triumphierend die Hand in den Beutel unter dem Bärenfell und zog einen abgegriffenen, blinden Silberdollar heraus.
Die Augen des Greises funkelten, als er die Münze näher zu betrachten suchte. »Ich kann nicht sehen«, murmelte er. »Schau doch, ob du das Datum entziffern kannst, Edwin.«
Der Knabe lachte. »Du bist prachtvoll, Großpa«, rief er entzückt. »Tust immer, als bedeuteten die kleinen Zeichen etwas.«
Der Alte bezeigte einen Unwillen, der offenbar nicht neu war, und führte die Münze wieder dicht an die Augen. »Zweitausendundzwölf«, kreischte er und verfiel dann in ein wunderliches Schwatzen. »Das war das Jahr, als der Magnatenausschuß Morgan den Fünften zum Präsidenten der Vereinigten Staaten ernannte. Es muß eine der letzten Münzen sein, die geprägt wurden, denn zweitausendunddreizehn kam der Rote Tod. Mein Gott! Mein Gott! Welch ein Gedanke! Das ist sechzig Jahre her, und ich bin weit und breit der einzige, der aus jener Zeit noch lebt. – Wo hast du sie gefunden, Edwin?«
Der Knabe, der ihn mit der nachsichtigen Neugier betrachtet hatte, mit der man auf das Geplapper eines Schwachsinnigen hört, antwortete sofort: »Ich habe sie von Huh-Huh bekommen. Er fand sie im letzten Frühling in der Nähe von San José, wo wir die Ziegen hüteten. Huh-Huh sagte, daß es Geld wäre. Bist du nicht hungrig, Großpa?«
Der Greis faßte seinen Stock fester, beschleunigte seine Schritte auf dem Pfade, und seine alten Augen funkelten gierig. »Hoffentlich hat Hasenscharte einen Krebs gefangen ... oder gar zwei«, murmelte er. »Gut schmecken die Krebse, herrlich, wenn man keine Zähne mehr, aber einen Enkel hat, der eine Ehre darein legt, seinem Ahn Krabben zu fangen. Als ich noch ein Knabe war –«
Aber Edwin sah plötzlich etwas, das ihn stehenbleiben ließ. Er legte seinen Pfeil auf den Bogen und spannte die Sehne. Er stand am Rande einer Stelle, wo der Damm durchbrochen war. Ein altertümlicher, überwölbter Abzugskanal war hier ausgewaschen worden, und der nicht mehr eingeengte Strom hatte sich seinen Weg quer durch den Damm gebahnt. Drüben ragte das Ende einer Schiene hervor. Rostig hing es zwischen den wuchernden Ranken. Darunter kauerte ein Kaninchen und blickte ihn zitternd und unentschlossen an. Volle fünfzig Fuß maß die Entfernung, aber der Pfeil traf, und das durchbohrte Kaninchen schrie in Angst und plötzlichem Schmerz und wälzte sich qualvoll im Unterholz, raffte sich dann auf und floh. Der Knabe, selbst ein Blitz aus brauner Haut und fliegendem Fell, sprang den steilen Erdbruch hinab und kletterte auf der anderen Seite wieder hinauf. Seine mageren Muskeln glichen Stahlfedern, die sich in anmutiger, aber wirkungsvoller Funktion entspannten. Hundert Fuß weiter erreichte er das verwundete Tier in einem dichten Gestrüpp, schlug es mit dem Kopf gegen einen Baumstumpf und übergab es seinem Großvater zum Tragen.
»Kaninchen ist gut, ausgezeichnet«, murmelte der Greis. »Aber eine Delikatesse sind sie nicht gerade – da ziehe ich Krebse vor. Als ich noch ein Knabe war –«
»Warum sprichst du so vieles, das keinen Sinn hat?« unterbrach Edwin ungeduldig die drohende Geschwätzigkeit des Alten.
Der Knabe drückte sich nicht wortgetreu so aus, vielmehr sagte er etwas, das nur entfernt daran erinnerte. Seine Sprache bestand aus eruptiven Kehllauten und kannte keine beschönigenden Phrasen. Sie erinnerte allerdings an die des Alten, und dessen Rede klang wie ein Englisch, das im schmutzigen Bade des Gebrauchs verdorben war. »Ich möchte nur wissen«, fuhr Edwin fort, »warum du Krebse eine ›Delikatesse‹ nennst? Krebse sind doch Krebse, nicht wahr? Ich habe sie noch niemanden mit einem so komischen Namen nennen hören.«
Der Alte seufzte, antwortete jedoch nicht, und sie schritten schweigend weiter. Die Brandung wurde lauter. Sie traten aus dem Walde heraus und befanden sich in den Dünen am Rande des Meeres. Einige Ziegen weideten zwischen den sandigen Hügeln, und ein in Felle gekleideter Knabe hütete sie; dabei half ihm ein wolfsartiger, nur entfernt an einen Schäferhund gemahnender Vierbeiner. In das Rauschen der Brandung mischte sich ein ununterbrochenes, aus tiefster Kehle kommendes Bellen oder Brüllen, das von einer etwa hundert Schritte vom Gestade entfernten Gruppe zerklüfteter Felsen im Meere kam. Mächtige Seelöwen wälzten sich dort hinauf, um sich zu sonnen oder miteinander zu kämpfen. Im Vordergrund stieg der Rauch eines Feuers auf, das ein dritter, wildaussehender Knabe unterhielt. Neben ihm kauerten einige wolfsartige Hunde, ähnlich dem, welcher die Ziegen hütete.
Der Alte beschleunigte seine Schritte und näherte sich, eifrig schnuppernd, dem Feuer. »Miesmuscheln!« murmelte er entzückt. »Miesmuscheln! Und ist das nicht ein Krebs, Huh-Huh? Weiß Gott, ihr Jungens seid doch gut zu eurem alten Großvater!«
Huh-Huh, der anscheinend von gleichem Alter war wie Edwin, grinste. »Soviel du haben willst, Großpa, ich habe vier gefangen.«
Der Eifer des gebrechlichen Greises war erbarmungswürdig. So schnell seine steifen Glieder es erlaubten, ließ er sich im Sande nieder und stocherte sich eine große Felsenmiesmuschel aus den Kohlen heraus. Die Hitze hatte ihre Schalen gesprengt und das lachsfarbene Fleisch vollkommen gargekocht. Mit Daumen und Zeigefinger nahm er in zitternder Hast den Bissen und führte ihn zum Munde. Im nächsten Augenblick spie er jedoch das zu heiße Fleisch wieder aus. Der Alte sprudelte vor Schmerz, und die Tränen rannen ihm aus den Augen und über die Backen herab. Die Knaben waren echte Wilde, sie besaßen den grausamen Humor der Wilden. Für sie war das Vorkommnis unerhört komisch, und sie brachen in lautes Lachen aus. Huh-Huh tanzte umher, während Edwin sich vor Freude am Boden wälzte. Der Knabe, der die Ziegen hütete, kam auch herbei, um seinen Anteil an ihrer Lustigkeit zu erhalten. »Laß sie abkühlen, Edwin, laß sie abkühlen«, flehte der Alte mitten in seinem Kummer. Er machte nicht einmal den Versuch, sich die Tränen, die immer noch aus seinen Augen strömten, abzuwischen. »Und kühle mir auch einen Krebs, Edwin. Du weißt doch: Dein Großpa liebt Krebse.« Es zischte laut in den Kohlen: Es waren die Miesmuscheln, die sich öffneten und ihre Feuchtigkeit ausströmen ließen. Große Schaltiere, von drei bis sechs Zoll Länge. Die Knaben harkten sie mit Stöcken heraus und legten sie zum Abkühlen auf ein großes Stück Treibholz.
»Als ich noch ein Knabe war, lachten wir nicht über ältere Leute; wir ehrten sie.« Die Knaben beachteten die Worte nicht, und der Großvater brabbelte weiter eine unzusammenhängende Flut von Klagen und Nörgeleien. Diesmal war er vorsichtiger und verbrannte sich nicht den Mund. Alle begannen zu essen; sie benutzten dazu nichts als die Hände, aßen geräuschvoll und schmatzten mit den Lippen. Der dritte Knabe, den die anderen Hasenscharte nannten, streute verstohlen eine Prise Sand auf eine Miesmuschel, die der Greis zum Munde führte. Und als der grobe Sand in Schleimhäute und Gaumen des Alten biß, brach das tosende Gelächter wieder los. Der Großvater kam nicht auf den Gedanken, daß man ihm einen Schabernack gespielt hatte. Er räusperte sich und spuckte, bis Edwin Reue fühlte und ihm einen ausgehöhlten Kürbis voll Wasser gab, damit er sich den Mund spülen konnte.
»Wo sind die Krebse, Huh-Huh?« fragte Edwin. »Großpa ist schon ganz wild darauf.«
Wieder funkelten die Augen des Großvaters vor Gier, als ihm ein Krebs gereicht wurde. Es war eine Schale mit Scheren und allem, was dazu gehörte, aber das Fleisch war schon längst herausgenommen. Mit zittrigen Fingern, und im Vorgenuß lallend, brach der Alte eine Schere los – er fand sie leer. »Die Krebse, Huh-Huh!« wehklagte er. »Wo sind die Krebse?«
»Er hat dich angeführt, Großpa, es gibt gar keine Krebse. Ich habe keinen gefangen.«
Die Knaben waren vor Entzücken überwältigt beim Anblick seiner bitteren Enttäuschung. Dann vertauschte Huh-Huh das leere Gehäuse unbemerkt mit einem frisch gekochten Krebs. Die Schale war schon aufgebrochen, und das weiße Fleisch entsandte eine kleine Wolke duftenden Dampfes. Sie stieg dem Alten in die Nase, und er blickte erstaunt hinab. Sofort besserte sich seine Stimmung, und er strahlte. Er schnupperte und murmelte unaufhörlich vor sich hin, ja, fast hätte er vor Entzücken gesungen. Dann begann er zu essen. Die Knaben achteten nur wenig darauf, es war ihnen ein gewohntes Schauspiel. Ebensowenig beachteten sie, wenn er mit den Lippen schmatzte und geräuschvoll die Kiefer zusammenklappen ließ, während er murmelte: »Mayonnaise! Der Gedanke allein – Mayonnaise! Und sechzig Jahre ist es her, daß die letzte bereitet wurde! Zwei Menschenalter, und nicht eine Messerspitze davon! Ach du lieber Gott – damals wurden sie in jedem Restaurant zu Krebsen gereicht.«
Als der Alte nichts mehr essen konnte, seufzte er tief, wischte sich die Hände an den nackten Beinen ab und blickte über das Meer hinaus. Mit dem Wohlbehagen des vollen Magens erwachten die Erinnerungen in ihm. »Der Gedanke allein! Ich habe diesen Strand an schönen Sonntagen von Männern, Frauen und Kindern wimmeln sehen. Und damals gab es hier keine Bären, die einen fressen wollten. Gerade dort oben auf dem großen Felsen stand ein großes Restaurant, wo man alles zu essen bekam, was das Herz begehrte. Damals wohnten acht Millionen Menschen in San Francisco, und jetzt sind es in der ganzen Stadt, ja, im ganzen Lande, alles in allem noch keine vierzig. Auf dem Meer draußen waren Schiffe, viele, viele Schiffe zu sehen, die durch das Goldene Tor ein- und ausfuhren. Luftschiffe in der Luft – lenkbare Luftschiffe und Flugzeuge! Sie konnten achthundert Meilen in der Stunde zurücklegen. Das forderten die Verträge mit der New Yorker und San Franciscoer Post als Mindestleistung. Da war ein Kerl, ein Franzose seinen Namen habe ich vergessen –, der brachte es auf neunhundert! Das war jedoch riskant, zu riskant für konservative Leute. Aber er war doch auf dem rechten Wege, und er würde es fertiggebracht haben, wenn die Pest nicht gekommen wäre! Als ich noch ein Knabe war, gab es noch Menschen, die sich an das erste Flugzeug erinnerten, und dann erlebte ich das letzte – das ist sechzig Jahre her.«
Der Alte brabbelte weiter, unbeachtet von den Knaben, die sich längst an seine Geschwätzigkeit gewöhnt hatten und in deren Wortschatz zudem ein großer Teil der von ihm gebrauchten Wörter fehlte. Merkwürdigerweise nahm bei diesen weitschweifigen Selbstgesprächen sein Englisch die bessere Diktion und die Satzbildung einer früheren Zeit wieder an. Wenn er sich jedoch direkt an die Knaben wandte, ging er mehr zu ihren eigenen unbeholfenen und einfacheren Formen über.
»Aber in jenen Tagen gab es nicht viele Krebse«, erzählte der Alte weiter. »Sie waren zu stark gefischt worden, und sie waren eine große Delikatesse. Deshalb durften sie auch nur einen Monat im Jahr gefangen werden. Und jetzt kann man das ganze Jahr hindurch Krebse haben.«
Eine plötzliche Unruhe unter den Ziegen brachte die Knaben sofort auf die Beine. Die Hunde, die um das Feuer lagen, stürzten fort, um sich ihren knurrenden Kameraden, welche die Ziegen bewachten, anzuschließen, während die Ziegen selbst in wildem Aufruhr ihren menschlichen Beschützern entgegenrannten.
Ein halbes Dutzend magerer grauer Gestalten glitt zwischen den Dünen hindurch oder stellte sich den Hunden, die mit gesträubtem Fell auf den Feind losgingen. Edwin legte einen Pfeil auf den Bogen, schoß aber zu kurz. Hasenscharte jedoch warf mit einer Schleuder, wie David sie in seinem Kampf mit Goliath getragen haben mochte, einen Stein, der sausend durch die Luft pfiff. Er fiel mitten unter die Wölfe, die sich schleunigst aus dem Staube machten und in der Tiefe des Eukalyptuswaldes verschwanden.
Die Knaben lachten und legten sich wieder in den Sand, während ihr Ahn tief seufzte. Er hatte zu viel gegessen.
Die Hände mit verflochtenen Fingern vor dem Bauch gefaltet, fuhr er wieder in seinem Gefasel fort. »Die fliehenden Systeme schwinden im Schaum«, murmelte er. Es war offenbar ein Zitat. »Ja, das ist es: Flucht und Schaum. Die Mühsal des Menschen auf diesem Planeten war nichts als Schaum. Die nützlichen Tiere machte er zu Haustieren, die feindlichen tötete er. Er tilgte das Unkraut im Lande aus. Und dann verging er, die Flut des Urlebens rollte wieder zurück und fegte die Arbeit seiner Hände fort. Das Unkraut brach aus dem Walde hervor und überflutete seine Felder. Die Raubtiere überfielen seine Herden, und jetzt gibt es Wölfe am Strand von Cliff House.« Dieser Gedanke entsetzte ihn. »Wo sich einst acht Millionen Menschen tummelten, streifen heute Wölfe umher, und die wilden Sprößlinge unserer Lenden verteidigen sich mit prähistorischen Waffen gegen die vernichtenden Zähne. Welch ein Gedanke! Und das alles nur infolge des scharlachfarbenen Todes –«
Das Ohr Hasenschartes hatte das Eigenschaftswort aufgefangen. »Das sagt er immer«, wandte er sich zu Edwin. »Was ist Scharlach?«
»Der Scharlach des Ahorns kann mich erschüttern gleich dem Ruf des vorbeiziehenden Horns«, zitierte der Alte.
»Es ist rot«, beantwortete Edwin die Frage. »Das weißt du nicht, weil du vom Stamm der Chauffeure bist. Die haben nie etwas gewußt – keiner von ihnen – Scharlach ist rot – ich weiß es.«
»Rot ist rot – oder nicht?« brummte Hasenscharte. »Was hast du dich da so und sagst Scharlach?«
»Großpa, was sagst du immer so viel, was kein Mensch versteht?« fragte er. »Scharlach ist gar nichts, aber rot ist rot. Warum sagst du denn nicht rot?«
»Rot ist nicht das richtige Wort«, lautete die Antwort. »Die Seuche war scharlachrot. Das ganze Gesicht und der ganze Körper wurden in einer Stunde scharlachrot. Sollte ich das nicht wissen? Ich habe genug davon gesehen. Und ich sage euch, die Farbe war scharlach, weil – nun, weil es eben scharlach war. Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«
»Für mich ist rot genug«, murmelte Hasenscharte eigensinnig. »Mein Pa nennt rot rot, und er muß es wissen. Er sagt, daß alle den Roten Tod starben.«
»Dein Pa ist ein gewöhnlicher Bursche und der Sohn eines gewöhnlichen Mannes«, entgegnete der Alte heftig. »Sollte ich nicht den Ursprung der Chauffeure kennen? Dein Ahnherr war ein Chauffeur, ein Diener ohne Bildung. Er arbeitete für andere Leute. Aber deine Großmutter war aus guter Familie – nur daß die Kinder ihr nicht nachgeraten sind. Ich weiß noch genau, wie ich sie alle das erstemal beim Fischen auf dem Temescalsee traf.«
»Was ist Bildung?« fragte Edwin.
»Wenn man Rot Scharlach nennt«, höhnte Hasenscharte.
Dann setzte er seinen Angriff auf den Großvater fort: »Mein Pa hat mir gesagt, und er wußte es von seinem Vater, der es ihm erzählte, bevor er abkratzte, daß deine Frau aus Santa Rosa war und sicher nicht viel taugte. Er sagte, daß sie eine ›Gulaschschmeißerin‹ war, bis der Rote Tod sie holte. Ich weiß allerdings nicht, was eine ›Gulaschschmeißerin‹ ist. Kannst du es mir sagen, Edwin?«
Aber Edwin gab nur durch Kopfschütteln seine Unwissenheit kund.
»Es ist richtig, sie war Kellnerin«, gab der Großvater zu. »Aber sie war eine brave Frau, und deine Mutter war ihre Tochter. Frauen waren nach der Pest sehr rar, und sie war die einzige Frau, die ich finden konnte, wenn sie auch ›Gulaschschmeißerin‹ war, wie dein Vater es nennt. Aber es ist nicht hübsch von dir, so über deine Vorfahren zu reden.«
»Pa sagt, daß die Frau des ersten Chauffeurs eine Dame gewesen ist.«
»Was ist eine Dame?« fragte Huh-Huh.
»Eine Dame ist die Squaw eines Chauffeurs«, erwiderte Hasenscharte rasch.
»Der erste Chauffeur war Bill, ein gewöhnlicher Mensch, wie ich schon sagte«, erklärte der Alte. »Aber seine Frau war eine Dame, eine große Dame. Bevor die Scharlach-Pest kam, war sie eine Frau van Warden. Ihr erster Mann war Präsident des Verbandes der Großindustriellen gewesen. Er gehörte zu dem Dutzend Männer, die Amerika regierten. Er war eine Milliarde oder doch wenigstens achthundert Millionen Dollar schwer – Münzen, wie du sie in deinem Beutel hast, Edwin. Und dann kam die Scharlach-Pest, und seine Frau heiratete Bill, den Chauffeur. Der schlug sie oft. Ich hab es selbst gesehen.«
Huh-Huh, der auf dem Bauch lag und mit den Zehen faul im Sand wühlte, schrie leicht auf und besah sich zuerst den Nagel an seinem Zeh und dann das kleine Loch, das er gewühlt hatte.
Die beiden andern Knaben liefen hinzu. Sie warfen den Sand rasch mit ihren Händen aus und legten drei Skelette frei. Zwei davon gehörten Erwachsenen, das dritte einem halbwüchsigen Kind.
Der Alte rutschte auf dem Boden hin und betrachtete den Fund. »Opfer der Pest«, verkündete er. »Auf diese Weise starben sie damals überall in den letzten Tagen. Dies hier muß eine Familie gewesen sein, die vor der Ansteckung floh und am Strand von Cliff House vom Tod eingeholt wurde. Sie waren – aber was treibst du da, Edwin?« Die Frage klang bestürzt.
Edwin hatte sein Jagdmesser genommen und schlug damit einem der Schädel die Zähne aus. »Ich will sie aufreihen«, lautete die Antwort.
»Ihr seid die wahren Wilden. Hat sich schon die Sitte eingebürgert, menschliche Zähne als Schmuck zu tragen?! Die nächste Generation wird Knochen und Muscheln tragen. Ich weiß es. Die menschliche Rasse ist dazu verdammt, immer tiefer in die Nacht der Primitivität zurückzusinken, ehe sie von neuem ihren blutigen Aufstieg zur Zivilisation antritt. Sobald wir uns vermehren und Raummangel verspüren, werden wir beginnen, uns gegenseitig totzuschlagen. Und dann, denke ich, werdet ihr Skalpe am Gürtel tragen – wie du, Edwin, der sanfteste von meinen Enkeln, es schon mit diesem widerlichen Schweineschwanz tust. Wirf ihn fort, Edwin, mein Junge, wirf ihn fort!«
»Was für einen Unsinn der alte Narr zusammenredet!« bemerkte Hasenscharte, als sie alle Zähne ausgeschlagen hatten und den Versuch einer ehrlichen Teilung machten.
Sie waren rasch und hastig in Tat und Rede, und wie sie sich jetzt darum stritten, wer die schönsten Zähne haben sollte, riefen sie alle durcheinander. Ihre Rede bestand zumeist aus einsilbigen Wörtern und kurzen, abgehackten Sätzen und glich mehr einem Geschnatter als menschlicher Sprache. Und doch wies sie Spuren von grammatikalischer Konstruktion und Reste einer Konjugation auf; irgendwie machte sich eine höhere Bildung bemerkbar. Selbst die Rede des Großvaters war verdorben; wörtlich wiedergegeben, würde sie dem Leser fast unsinnig erscheinen. Sobald er sich in Selbstgespräche verlor, säuberte sich die Sprache langsam und wurde schließlich ein reines Englisch. Die Sätze wurden komplizierter und wurden in einem Rhythmus und mit einer Leichtigkeit gesprochen, die an einen Vortragsredner gemahnte.
»Erzähl uns vom Roten Tod, Großpa«, bat Hasenscharte, sobald die Teilung der Zähne zur allgemeinen Zufriedenheit erfolgt war.
»Vom Scharlach-Tod«, verbesserte Edwin.
»Und red nicht in der komischen Sprache mit uns«, fuhr Hasenscharte fort. »Red vernünftig, Großpa, wie ein Mann aus Santa Rosa reden soll. Andere Leute aus Santa Rosa reden nicht so wie du.«
Der Alte freute sich offensichtlich über diese Aufforderung. Er räusperte sich und begann: »Vor zwanzig bis dreißig Jahren gab es viele, die meine Geschichte hören wollten. Heute aber scheint sie niemand mehr zu interessieren –«
»Da hast du's!« rief Hasenscharte heftig. »Laß doch den Unsinn und rede vernünftig. Was heißt interessieren? Du redest wie ein kleines Kind, das nicht weiß, was es spricht.«
»Laß ihn in Ruhe«, drängte Edwin, »sonst wird er böse und sagt überhaupt nichts mehr. Kümmere dich nicht um die komischen Wörter. Das meiste verstehen wir schon.«
»Leg los, Großpa!« ermunterte Huh-Huh ihn, denn der Greis murmelte schon wieder etwas vor sich hin über Respektlosigkeit gegen ältere Leute und über den Rückfall aller Menschen, die von einer hohen Kulturstufe auf eine niedrigere sanken.
Die Erzählung begann.
»Damals lebten viele Menschen in der Welt. San Francisco allein hatte acht Millionen –«
»Was heißt Millionen?« unterbrach ihn Edwin.
Der Großvater sah ihn freundlich an. »Ich weiß, du kannst nicht weiter als bis zehn zählen. Aber ich will es dir sagen. Heb die Hände hoch. An beiden zusammen hast du, mit den Daumen, zehn Finger. Schön. Nun nehme ich dies Sandkörnchen – halte es, Huh-Huh!« Er ließ das Sandkorn in die Hand fallen und fuhr fort: »Dieses Sandkorn bedeutet die zehn Finger Edwins. Ich füge ein zweites Sandkorn hinzu, dann noch eines und noch eines, bis es so viele Sandkörner sind, wie Edwin Finger hat. Die Summe, die dabei herauskommt, nenne ich hundert. Behaltet das Wort: hundert. Jetzt lege ich dies Steinchen hier in die Hand Hasenschartes. Es bedeutet zehn Sandkörnchen oder zehn mal zehn Finger oder hundert Finger. Ich lege noch mehr Steinchen hinein, bis es zehn sind. Die bedeuten tausend Finger. Ich nehme eine Muschelschale, die gilt zehn Steinchen oder hundert Sandkörnchen oder tausend Finger ...« Und mühselig und unter vielen Wiederholungen bemühte er sich so, in ihren Köpfen eine primitive Vorstellung von Zahlen zu erwecken. Für jede Zahleneinheit legte er den Knaben die verschiedenen Zahlengrößen in die Hand. Für eine noch höhere Summe benutzte er als Symbol einen Treibholzstamm. Aber dann war er in Verlegenheit, neue Symbole zu finden, bis er auf den Einfall kam, die Zähne aus den Totenschädeln für Millionen und die Krebsschalen für Milliarden gelten zu lassen. Da hielt er inne, denn die Knaben begannen schon Anzeichen von Müdigkeit zu verraten. »Also es gab acht Millionen Menschen in San Francisco – acht Zähne.«
Die Blicke der Knaben glitten über die Zähne und von Hand zu Hand bis hinab zu den Fingern Edwins. Und wieder zurück durchwanderten sie die aufsteigenden Reihen in dem Bemühen, solche unfaßbaren Zahlengrößen zu begreifen.
»Das war aber eine Masse Menschen«, wagte Edwin sich schließlich hervor.
»Wie Sand am Meer hier, wie Sand am Meer – jedes Körnchen ein Mann oder eine Frau oder ein Kind. Ja, mein Junge, all diese Menschen lebten in San Francisco. Und hin und wieder kamen sie an diesen Strand – mehr Menschen, als hier Sandkörner sind. Mehr und mehr – immer mehr. Und San Francisco war eine prächtige Stadt. Jenseits der Bucht – dort, wo wir letztes Jahr lagerten – dort lebten noch mehr Menschen – von Point Richmond in der Ebene und auf den Hügeln bis nach San Leandro, einer großen Stadt mit sieben Millionen Einwohnern. – Sieben Zähne ... ja, soviel waren es – sieben Millionen.« Wieder glitten die Blicke der Knaben von den Fingern Edwins zu den Zähnen auf dem Treibholzstamm.
»Die Welt war voll von Menschen. Die Zählung im Jahre 2010 ergab für die ganze Welt acht Milliarden – acht Krebsschalen, ja, acht Milliarden.