Die Schatten der Seele - C. S. Ketterer - E-Book

Die Schatten der Seele E-Book

C. S. Ketterer

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Beschreibung

Ein sanftes, hoffnungsvolles, freiheitsliebendes Herz, vom ersten Atemzug an dazu verdammt, einer Bestimmung zu folgen, die ihm von einem Herren aufgezwungen wird … Kiyos Leben als Bauernjunge im 13. Jahrhundert ändert sich mit seinem vollendeten 18. Lebensjahr radikal. Eine Entführung in die Unterwelt zeigt ihm auf, wer über sein Schicksal bestimmen möchte. Karon, der Herrscher der Unterwelt, versklavt Kiyo. Dabei breitet sich vor ihm ein gut gehütetes Geheimnis aus. Er ist ein geborener Vampir und seine Aufgabe ist es, eine unsterbliche Armee für Karon zu erschaffen. Kiyo hingegen hält an seiner Menschlichkeit fest und möchte für seine Freiheit und Selbstbestimmung kämpfen. Doch wird er aus dem Kampf als Sieger hervorgehen?

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Seitenzahl: 909

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Inhalt

Impressum 2

Das Erwachen 3

Verwirrung 15

Ein Blick über den Tellerrand 37

Abschied nehmen 54

Zeit der Veränderung 64

Das erste Mahl 74

Das Experiment 87

Die Gier erwacht 97

Der Vergangenheit in die Augen sehen 105

Seelen für die Menschheit 128

Erfüllung des Vertrages 138

Das Haus am Waldesrand 165

Selbstjustiz und ihre Folgen 183

Die gute Tat 203

Der Besuch 220

Ein Moment des Glücks 234

Keim des Zorns 245

Die Tat aus Verzweiflung 259

Der Fluch des Dorfes 273

Zeit der Stille 287

Goldene Augen 300

Die Unschuld ist Vergangenheit 323

Aufbruch in ein neues Land 342

Das Gefühl zu sterben 368

Die Härte eines Kampfes 381

Die Bestie, die mich rief 395

Auf Verdrängung folgt Verzweiflung 415

Das Opfer für die Bestien 431

Eine neue Lebensweise 452

Die Konfrontation zweier Lager 477

Das Heulen des Vollmondes 487

In Gedenken an einen Bruder 500

Vorbereitungen für die Schlacht 506

Flucht zur Rettung vieler Leben 530

Der letzte Abend vor der Schlacht 548

Die Ruhe vor dem Sturm 565

Das Heer der Unterwelt 570

Der Versuch, alle zu retten 595

Der schwarze Ritter 601

Bis zum bitteren Ende 613

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2020 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-903271-62-3

ISBN e-book: 978-3-903271-63-0

Lektorat: Bianca Brenner

Umschlagfotos: Dunca Daniel, Mikel Martinez De Osaba | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Das Erwachen

Der kühle, sonnige Wintertag neigte sich dem Ende zu. Die ersten Sterne glitzerten bereits am dunkelblauen Himmel, wo Krähen ihre letzten Runden zogen.

Die schwarzen Berge, die in Weiß gehüllt waren und den Horizont überragten, endeten am Fuße in weiten Grasflächen, die mit einer dünnen Schicht weißen Leuchtens bedeckt waren.

Es roch nach frischem Schnee und die schwarzen Vögel krähten in der Ferne ihre dunklen Lieder.

Einsam zwischen Bergwald und weißen, brachen Feldern lag ein kleines, unscheinbares Holzhaus, in dessen Fenster Licht flackerte.

Ein in braunen Leinenstoff gekleideter, brünetter Mann verließ hastig mit einer Kerze in der Hand das Haus, um in den Stall zu eilen.

Schreie einer gepeinigten Frau hallten durch den Spalt zwischen angelehnter Haustüre und Holzwand in die Stille des Winters.

Der brünette Mann kehrte zurück und stieß mit seinem Körper die Türe auf, in der einen Hand die Kerze, in der anderen ein gegerbtes Schafsfell. Er eilte in das Zimmer, in dem seine schwarzhaarige Frau, schweißgebadet und mit starken Schmerzen, in den Wehen lag.

Ein weiterer Mann mit langem, dunklem, zu einem Zopf gebundenem Haar stand vor der Frau, die sich auf einem lose zusammengebundenen Strohballen wälzte und abermals einen schrillen Laut von sich presste.

Der Mann mit dem Schaffell hauchte ihren Namen mit zitternder Stimme: „Masako.“ Seine im Kerzenschein grünen Augen spiegelten Sorge wider, doch dann näherte er sich mit demütigen Gesten dem Mann im mittleren Alter.

In der Ecke des Zimmers hinter der Türe saß ein zehnjähriger Junge mit zerzaustem braunem Haar, der mit aufgerissenen, pechschwarzen Augen Masako und den dunkelhaarigen, ausgezehrten Mann anstarrte.

„Hier ist das Fell“, sprach der Familienvater aufgebracht, aber mit gesenktem Kopf, zu dem Geburtshelfer.

„Tanek, stell dich in die freie Ecke“, entgegnete eine eiskalte männliche Stimme ohne Emotion. Dann streckte der fahle Herr seine knochige weiße Hand aus und nahm das Fell an.

Der Vater neigte seinen Blick weiter zu Boden, um seiner Untertänigkeit Ausdruck zu verleihen, und wandte sich der Ecke zu, doch in diesem Moment drangen neue Laute durch das Zimmer.

Tanek drehte sich zu Masako und dem ausgemergelten Mann. Schnellen Schrittes ging er auf die beiden zu. Die achatbraunen Augen seiner Frau glänzten vor Erleichterung und Freude, die alle Strapazen vergessen ließ. In den knochigen Händen des Mannes erkannte der junge Vater unter etwas Blut ein kleines, strampelndes, vollkommenes Baby, das aus Leibeskräften schrie.

Der Schwarzhaarige wickelte das Kind in das Lammfell und sprach mit gefrierender Stimme: „Dein Name lautet Kiyo, Hüter der Wahrheit.“

Kiyo lernte mit seiner Mutter zu laufen. Der Junge erkundete jeden Ameisenhügel sowie die Hühner und Schafe im Stall und spielte mit seinem Bruder auf dem Feld. Am Tag war Kiyo mit diesem unterwegs und half bei leichten Arbeiten am Hof. Je älter der Junge wurde, desto mehr Verantwortung trug er. Die beiden Brüder teilten sich die Aufgaben auf. Kiyo kümmerte sich um das Wohl der Tiere und Kayu arbeitete auf den Feldern. Die Waldarbeit wurde gemeinsam erledigt. Ihre Eltern arbeiteten nachts im nächsten Dorf, das mehrere Kilometer entfernt lag, und sie schliefen bei Tage. So war das Abendessen die Familienzeit, die alle zusammen genossen, bevor die Mutter und der Vater das Haus verließen und die Brüder zu Bett gingen. So verstrichen die Jahre wie Minuten und das Neugeborene wuchs zu einem gut behüteten jungen Mann heran, der am 10. 1. 1200 sein achtzehntes Lebensjahr vollendete. Dieser Tag war heute.

In diesem Jahr lag nur vereinzelt Schnee auf den braunen, kargen Wiesen. Die kalte Nacht neigte sich dem Ende zu, denn die Schatten wurden heller und die Wintervögel in den Wäldern zwitscherten ihre Lieder.

Die kleine, schwarzhaarige Frau eilte schnellen Schrittes in den Stall und hinauf in den Heuboden: „Kiyo, es ist Morgen, wach auf.“

Im Bett aus Stroh und Heu lag zusammengerollt unter einer Schafdecke der braunhäutige junge Mann mit wildem, pechschwarzem, langem Haar und rührte sich nicht.

Seine Mutter zog ihm das Fell weg: „Auf dich wartet Arbeit, junger Mann.“ Sie lehnte sich vor und gab ihm einen Kuss auf die Wange: „Und alles Gute zu deinem achtzehnten Geburtstag.“

Daraufhin öffnete Kiyo seine strahlenden, tannengrünen Augen und gähnte: „Nur noch ein bisschen.“

Die Frau seufzte mit einem Grinsen auf den Lippen und strich ihm kurz durchs Haar. Kiyo drehte sich wieder zur Seite. Seit einiger Zeit war sein Bruder verschwunden und er musste auch dessen Arbeit erledigen, was seine Tage noch ausgefüllter machte und ihn schwerer aufstehen ließ.

Seine Mutter schüttelte den Kopf und verließ anschließend den Stall, um sich in das Haus zurückzuziehen.

Kurz darauf erwachte die Sonne zwischen zwei Bergen und tauchte das winterliche Tal in weites Licht.

Die Strahlen drangen durch die Latten des Heubodens und kitzelten Kiyo langsam wach.

Mit lautem Gähnen und anschließendem Murmeln setzte dieser sich auf: „Diese Nacht war kalt. Ich konnte kaum schlafen.“

Er wand sich aus der Stroh- und Heumischung und putzte seinen braunen, gestrickten Pullover und seine Leinenhose ab.

Sich streckend und gähnend verließ der 1,65 Meter große Mann den Stall und trat auf harten, vom gefrierenden Tau knirschenden Boden. Kiyos Atem zeichnete sich als weißes Wölkchen in der Luft ab, daraufhin schüttelte er sich vor Kälte.

Schnellen Schrittes lief Kiyo ins Haus und schlüpfte in den Fellmantel seines Vaters. „So ist es gleich viel besser“, murmelte er zu sich.

Wieder im Freien musste er zuerst die Tränke der Schafe und der Stute im Stall füllen. Dazu hämmerte er mit einem Stock auf die dünne Eisschicht im Brunnen ein und holte schließlich das Wasser mit einem Eimer heraus.

Nachdem er die Tiere auch mit Heu und Getreidekörnern versorgt hatte, erblickte er frisches Holz in einer Ecke der Scheune: „Das wäre Kayus Arbeit. Seit er weg ist, muss ich das Holzhacken auch erledigen. Für ihn war das Spalten der Blöcke eine Kleinigkeit, aber ich mühe mich jedes Mal damit ab.“

Kiyos Bruder hatte auf eine dreiwöchige Wanderung gehen wollen, die mittlerweile sieben Monate dauerte. Niemand in der Familie sprach davon, doch die Hoffnung, dass er noch lebte, schwand von Tag zu Tag. Jeder klammerte sich an die Hoffnung, dass er seine Wanderschaft verlängert hatte und irgendwann wieder vor der Türe stehen würde.

Kiyo versank kurz in Gedanken, doch dann machte er sich an die Arbeit und hackte das Holz mit großer Mühe klein.

Die Vormittagsstunden vergingen und die Sonne schmolz langsam den Morgentau weg. Der Boden war immer noch hart, doch die Luft wurde angenehm wärmer.

Da ihm durch die harte Arbeit warm geworden war, hatte Kiyo den Mantel wieder ausgezogen. Er blickte hoch in den Himmel und seufzte: „Endlich fertig.“

Müde stapfte er ins Haus, um sich dort etwas auszuruhen, und erblickte auf dem Tisch einen Zettel: „Das bedeutet Brot, Eier und Fleisch. Richtig, ich habe heute Geburtstag. Das Essen heute Abend wird richtig lecker. Ich muss nur dem Bauern etwas abkaufen.“

Kiyo nahm die zwei Goldmünzen, die in einem Beutel dem Zettel beilagen, und band sie an seine Hose: „Nur leider brauche ich zu Fuß bis zum Abend. Doch die Stute darf ich nicht allein ausreiten. Mein Vater wäre wütend, wenn er davon erfahren würde.“

Kiyo ging in den Stall und streichelte der Stute über das dunkelbraune Fell und die schwarze Mähne: „Vater weiß, dass ich ohne zu reiten vor Sonnenuntergang nicht zu Hause bin. Der Bauer ist zu weit weg. Vielleicht ist das sein Geburtstagsgeschenk an mich und ich darf die Besorgungen mit dem Pferd machen. Was meinst du, Kari?“ Die Stute fraß ihr Heu genüsslich weiter.

Mit Strick und ohne Sattel schwang sich Kiyo aufs Pferd. Er galoppierte mit Kari über die mittlerweile von der Sonne matschigen Grasfelder: „Hei ja! Schneller!“ Kiyo liebte es, in Höchstgeschwindigkeit über die Wiese zu reiten. Es gab ihm das Gefühl von Freiheit. Sein Haar peitschte im Wind, der ein Lied gegen seine Ohren summte: „Weiter! Juhu!“

Zu Ross war die Strecke zum Bauern in einer Stunde zu schaffen. Auch Kari war mit Eifer dabei und rannte mit dem Wind. Adrenalin, das sein Herz schneller schlagen ließ, Beschwingtheit, die Pferd und Reiter immer schneller werden ließ, Freude, die unaufmerksam machte, der Wind, der die Augen trocknete … Kiyo blinzelte, es rumpelte unter ihm, im nächsten Moment war ihm schwarz vor den Augen.

Minuten später öffnete Kiyo seine Augen wieder. Er lag mit dem Bauch am Boden, unter ihm waren braunes Gras und matschige Erde.

„Autsch“, keuchte er.

Er spürte etwas Warmes an seiner Schläfe und griff danach. Die Finger waren rot benetzt, Blut.

Kiyo blickte um sich und erkannte sofort den Stein, an dem er sich den Kopf angeschlagen hatte: „Uh. Kari ist sicher weg.“

Er setzte sich auf und erblickte ein paar Meter weiter das Pferd, das am Boden lag und sich nicht rührte.

Schnell stolperte er auf und rannte zur Unfallstelle: „Kari! Verdammt!“

Die klaffenden Wunden an Karis Vorderläufen schnitten sich bis zu den Knochen.

„Wie konnte das passieren?“, fragte sich Kiyo schockiert.

Mit dem kleinen Messer, das er immer bei sich trug, schnitt sich der junge Mann die Hosenbeine kürzer und umwickelte die Wunden des Pferdes: „Kari, ich hole Hilfe, halte durch, ja?“ Kiyo umarmte noch mal Karis Hals und lief los.

Nach nicht allzu langer Zeit stand Kiyo vor hohen Bäumen: „Der Wald ist eine Abkürzung zu mir nach Hause.“

Er schlüpfte durch das Dickicht und lief im Wald weiter geradeaus. Er blickte manchmal nach links und rechts, doch jeder Baum war wie der nächste. Das Licht, an dem sich Kiyo orientierte, wurde immer schwächer und schwächer, bis es ganz verschwunden war.

Nachdem auch der letzte Lichtstrahl erloschen war, blieb Kiyo stehen und sah sich nach allen Seiten um: „Das kann nicht wahr sein. Ich darf mich hier nicht verlaufen haben. Nicht jetzt, wo Kari meine Hilfe braucht.“

Er drehte sich um, um den Weg zurückzugehen, doch da erschrak er. Vor ihm stand ein großer Mann mit schulterlangem schwarzem Haar und stechend eisblauen, toten Augen. Vor Angst froren Kiyos Glieder ein.

„Hast du dich verlaufen?“, sprach die harte Stimme des Fremden.

Kiyo schluckte und blickte zu Boden: „Nein, ich finde schon nach Hause.“ Er konnte dem Blick des anderen nicht stand­- halten.

„Ich kann dir helfen und dich aus dem Wald führen“, hauchte die blasse Gestalt ihm zu.

Kiyo schüttelte den Kopf und rannte an dem Größeren vorbei: „Nein, ich brauche keine Hilfe.“

Eine sehr kalte Hand umfasste Kiyos Handgelenk und brachte ihn so zum Stehen: „Ungezogener Junge.“

Vom Handgelenk breitete sich die unangenehme Kälte über Kiyos ganzen Körper aus. Sein Atem stockte, dennoch versuchte er, nicht die Fassung zu verlieren.

„Lasst mich los. Ich rede nicht mit Dämonen …“, Kiyos Worte verstummten bis zum Ende des Satzes.

Der Fremde ließ Kiyos Arm aus seiner Hand gleiten: „Ich habe dich wohl erschreckt, mein Freund. Ich heiße Aaron. Verrate mir deinen Namen.“

Kiyo rümpfte die Nase und blickte auf: „Ich sagte bereits, ich rede nicht mit Dämonen. Ich finde allein nach Hause.“

Kiyo befolgte damit einen Rat seiner Mutter, denn diese hatte ihm, als er klein gewesen war, beim Zubettgehen Dämonengeschichten erzählt. Die wichtigste Regel in jeder dieser Geschichten war, keinem Gesellen der Hölle deinen richtigen Namen zu verraten, sonst verfolgt er dich in alle Ewigkeit.

„Du willst wirklich nach Hause zu deinen Eltern, wo du doch das Pferd deines Vaters getötet hast?“ Der weißhäutige Mann grinste selbstzufrieden.

Kiyo stieg auf die Provokation sofort ein: „Nein, Kari ist nicht tot. Ich werde jetzt Hilfe holen und Ihr werdet mich nicht daran hindern!“

Er rannte davon. In irgendeine Richtung, weg von Aaron, und somit tiefer in den Wald.

„Sei kein Narr, ohne meine Hilfe findest du aus diesem Wald nicht wieder heraus!“, hallte die Stimme von allen Seiten auf Kiyo herab.

„Nein!“ Kiyo lief und lief, verdorrte Brombeersträucher ritzten kleine Wunden in seine Waden. Die Bäume rasten vorbei und die Schatten wurden immer düsterer. Er stolperte und fiel.

Keuchend setzte sich der junge Mann wieder auf. „Ist er endlich verschwunden?“, murmelte er zu sich. Kälte legte sich auf seine Schultern.

„Lasst mich in Ruhe!“, schrie Kiyo hysterisch in den viel zu stillen Wald.

„Du willst es nicht einsehen, oder? Der Einzige, der dir und deinem Pferd helfen kann, bin ich.“ Der Schatten der Bäume verformte sich und nahm die Gestalt des Fremden an.

Kiyos Hände fingen an zu zittern: „Bleibt mir fern.“

Ein seine Kehle zuschnürendes Lachen durchflutete den Wald: „Du hast Panik und weißt nicht, was du machen sollst.“

»Ich darf Kari nicht im Stich lassen. Wenn ich ihm einen falschen Namen nenne, dann habe ich eine Chance, zu entkommen«, überlegte Kiyo verbittert in Gedanken, dann stand er auf: „Ich heiße Tako. Helft mir bitte, meinen Weg zurück zu finden.“

Aaron grinste: „Sehr gute Entscheidung, hier entlang.“ Aaron zeigte in eine Richtung und ging schließlich voran.

Der Kleinere marschierte ihm nach, dabei dachte er: »Ich weiß nicht mehr, wo ich bin, hier sehen jeder Strauch und jeder Baum gleich aus. Dieser Mann ist der Einzige, der mich hinausführen kann. Auch wenn es keine kluge Idee ist, ihm zu vertrauen, so bleibt mir doch keine andere Wahl.«

Kiyo kniff ein Auge zu, denn die Wunde an seinem Kopf pochte, und auch die aufgeritzten Waden schmerzten. Erst jetzt erkannte er, wie erschöpft er wirklich war.

Dennoch folgte er Aaron, ohne sich zu beschweren.

Eine Stunde strich an ihnen vorbei, dabei änderte sich nichts an der Stimmung dieser Umgebung, alles blieb weiterhin düster und auch kein Sonnenstrahl drang mehr durch die Baum­- wipfel.

„Ich bin allein nicht so lange herumgeirrt wie jetzt mit Euch“, durchbrach Kiyo die Stille.

„Wir folgen einem bestimmten Weg, vertraue mir“, antwortete Aaron.

„Ich will sofort nach Hause!“, protestierte Kiyo daraufhin.

„Denkst du, ich gehe zum Spaß mit einem nervenraubenden kleinen Jungen wie dir durch diesen Wald?“, knurrte Aaron und blieb stehen. Er starrte Kiyo an.

Kiyo murrte kleinlaut: „Allerdings, und ich bin kein kleiner Junge.“

Aaron marschierte auf ihn zu: „Keine Angst, wenn die Nacht angebrochen ist, stehst du vor dem Leichnam deines Pferdes!“ Ein Knurren beendete seine Worte.

Kiyo sah Aaron entsetzt an und wich zurück: „Jetzt redet Ihr schon wieder so, als wäre Kari tot. Warum wisst Ihr von Kari und meinem Vorhaben?“

Der Blauäugige stoppte mit seinen Schritten kurz vor dem Kleineren und hauchte ihm mit kaltem Atem zu: „Ich weiß viel mehr, als dir lieb ist.“ Nach diesen bedrohlichen Worten drehte er sich weg und ging weiter.

Kiyo eilte Aaron nach und ergriff seinen Ärmel, doch ein geladener Schlag durchzuckte seinen Körper. Sein Herz fing an zu rasen und er ließ ihn, ohne es zu wollen, sofort wieder los. Er hielt sich die Brust und keuchte: „Kari ist nicht tot, Ihr lügt! Gebt es zu.“

Die Stimme des Größeren bebte, doch am Ende des Satzes seufzte er: „Meinetwegen, das Pferd lebt vermutlich noch. Nun zufrieden? Wie kann man einem niederen Tier so viel Wert zuschreiben?“

Kiyos Atem hatte sich wieder beruhigt: „Ich muss jetzt zu meinen Eltern nach Hause, damit wir Kari helfen können. Wisst Ihr nun den Weg oder irrt Ihr wie ich umher?“

Aaron blieb abermals stehen und drehte sich wieder zu ihm: „Du strapazierst meine Nerven! Du willst die Wahrheit? Also gut, ich will dir aus reiner Herzensgüte den Anblick dieses Viehs ersparen, indem ich darauf hoffe, dass du, wenn du zurück bist, kein Staubkorn mehr davon findest.“

Der Schreck stand Kiyo ins Gesicht geschrieben, seine strahlend grünen Augen weiteten sich und starrten Aaron entsetzt an.

Mit einem Handzeichen deutete dieser in eine Richtung: „Wir gehen jetzt weiter.“

Kiyo schüttelte den Kopf: „Nein. Bring mich nach Hause zu meinen Eltern.“

„Ich führe dich aus diesem Wald heraus. So wolltest du es doch. Zu dir in dein Elternhaus? Oh …“ Aaron fing an zu grinsen: „… wir haben wohl aneinander vorbeigeredet.“

„Du verfluchter Dämon!“, schrie Kiyo sauer und der Panik nahe.

Er rannte hektisch in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wie konnte ich mich nur darauf einlassen! Diesen Wesen darf man unter keinen Umständen vertrauen. Wer weiß, wohin er mich verschleppt hätte. Ich hätte seine vermeintliche Hilfe nie annehmen sollen.«

Kiyos Füße trugen ihn stundenlang durch das Dickicht, bis er erschöpft am Waldboden zusammenbrach, weil seine Beine nachgaben. Er rang stark nach Luft und roch das Laub unter seinem Körper. Mit Mühe drehte er sich auf den Rücken und blickte gen Himmel, der von dunkelgrauen Baumkronen bedeckt war. Aaron schien ihn nicht mehr zu verfolgen, denn keine Stimme war zu hören und Kiyo konnte die eiskalte Anwesenheit nicht mehr spüren.

Totenstille herrschte an diesem Ort. Wo Vögel zwitschern sollten, ragten nur kahle Äste, an denen vereinzelt Blätter oder Nadeln hingen, aus den Baumstämmen. In der Erde, wo sich Insekten und Mäuse tummeln sollten, war kein Leben zu finden. Es schien, als mieden alle Tiere diesen Flecken des Waldes.

Die Schwärze vom Waldboden kroch hinauf in die Baumwipfel und die Kälte des Winters schlug erneut zu.

Kiyo war kaum dazu fähig, sich zu bewegen. Er fror am ganzen Körper und zitterte. Seine Wunden brannten in der Eiseskälte wie Nadelstiche. Er kauerte sich am Boden zusammen und zitterte: „Mutter, Vater, ich will hier nicht sterben. Bitte helft mir.“ Tränen kullerten von den braunen Wangen des Jungen. Kurze Zeit später schlief er dennoch vor Müdigkeit ein.

Am nächsten Tag, als die Schatten von Schwarz in ein dunkles Grau wechselten, öffnete Kiyo seine Augen. Er hatte Glück, in der Nacht nicht erfroren zu sein. Er wollte aufstehen, doch es gelang ihm nicht. Seine Glieder fühlten sich so steif und unbeweglich an, dass er sich nicht einmal aufsetzen konnte. „Was ist los? Warum kann ich mich kaum bewegen? Ich spüre meine Finger nicht und meine Beine sind taub“, sagte er zu sich. Im nächsten Moment knurrte sein Magen. Von dort ausgehend brannte sich ein Feuer, das Höllenqualen bedeutete, durch seinen Körper, obgleich dieser steifgefroren am Boden kauerte.

Kiyo schrie aus Leibeskräften: „Mein Magen brennt wie Feuer! Ich kann nicht mehr! Helft mir!“

Doch niemand konnte ihn hören. Kiyo war allein in einem düsteren, winterlichen Wald, ohne Tiere, ohne Wasser und Essen. Sein geschwächter Körper brannte weitere Stunden und seine Stimme versagte.

Als die Schmerzen nach langen Tagen und Nächten endlich ein Ende gefunden hatten, war dem Jungen bewusst, dass dieser Ort wohl sein Friedhof war.

»Ich kann mich nicht bewegen. Kein Essen, nichts zu trinken. Niemand, der mir helfen kann. Es ist vorbei. Ich werde hier sterben. Dieser Dämon, er hat mich verflucht. Ich habe dennoch keine andere Wahl. Ich will leben.« Sein Überlebenswille brachte Kiyo dazu, den einzigen noch offenen Weg zu gehen.

Mit tonloser Stimme hauchte er mit letzter Kraft: „Aaron, bitte hilf mir.“ Nach diesen letzten Worten sackte er bewusstlos zusammen.

Verwirrung

Ein Geräusch war zu hören, es klang wie Stuhlruckeln. Langsam öffneten sich Kiyos müde Augen und blinzelten unablässig, denn die Helligkeit, die in diesem weiß gestrichenen Raum herrschte, war kaum zu ertragen.

Eine klare Frauenstimme sprach: „Mein Herr, Ihr seid aufgewacht. Ruht Euch aus, ich sage unserem Meister Bescheid.“ Die Frau, die Kiyo nur unscharf erkannte, war bei der Türe verschwunden.

Langsam gewöhnten sich Kiyos Augen an die Helligkeit, die das ganze Zimmer ausstrahlte. Das Licht schien direkt von den Wänden zu kommen, denn die Kerzen, die an denselben hingen, leuchteten nicht.

Kiyo setzte sich auf und erkannte eine weiße Kommode in der ihm gegenüberliegenden linken Ecke des Zimmers. Auf der rechten Seite stand ein Schrank und links neben ihm waren zwei weitere Betten, deren Matratzensäcke mit etwas Weichem gefüllt waren. Es schien nicht das Heu oder das Stroh zu sein, das er gewohnt war.

Kiyo erblickte die feingewobene weiße Decke, die ihn selbst umhüllte, es war, als ob er im Paradies wäre. Alles schien friedlich.

Doch etwas passte nicht in Kiyos Konzept, es war die Tatsache, dass an seinem Arm ein gläserner Schlauch befestigt war, der sich zur einen Seite in seine Haut bohrte und zur anderen Seite, an einer umgedrehten Flasche, aus der gerade der letzte Rest einer roten Flüssigkeit in Kiyos Adern floss, angeschlossen war.

Noch bevor Kiyo in Panik verfallen konnte, öffnete sich die Türe des Zimmers.

Ein Mann mit schulterlangem schwarzem Haar und stechendroten Augen trat ein. Er blickte zu der Flasche: „Schon wieder fertig? Du bist aber durstig.“

Kiyos Augen weiteten sich vor Schreck, dies war eindeutig der Mann, dem er im Wald begegnet war, auch wenn sein Äußeres anders war als zuvor: „Was geht hier vor? Wo bin ich?“

Die Frau von vorhin kam in den Raum, schraubte die Flasche von dem Gestell und ersetzte sie durch eine volle, und wieder rann die rote Flüssigkeit in Kiyos Adern.

Kiyo verfolgte mit seinen Augen, was die Frau machte: „Nein. Ich will das nicht. Was macht ihr hier mit mir?“

Er griff nach dem Röhrchen in seiner Haut und riss es heraus, dabei zerbrach das gläserne Gestell und fiel mit der roten Flüssigkeit zu Boden.

Der Mann mit den roten Augen krallte sich sofort Kiyos Hand und hielt sie gen Decke: „Du dummer Hund, Blutinfusionen reißt man sich nicht einfach aus den Venen.“ Er beugte sich vor und leckte das Blut auf, das aus Kiyos Arm lief.

Kiyo fing an zu zerren, doch er konnte sich im Griff des anderen kaum bewegen, es fühlte sich an, als hätte ihn ein Stein umschlungen: „Lasst mich los. Ich will das nicht. Ich brauche kein Blut. Verdammt, ich will nach Hause!“

Die Zunge des Mannes wanderte über Kiyos Wunde am Arm, während seine starrenden roten Augen Kiyo weiterhin musterten.

Kiyos Zappeln hörte sofort auf, als er in die unnatürlichen Augen des anderen sah. Er konnte seinen Blick nicht mehr abwenden, bis der Fremde blinzelte und ihn wieder freigab.

Kiyo erblickte seinen Arm, der nicht mehr blutete.

Der Mann ließ Kiyos Hand los: „Mein Name lautet Karon und du bist ein geborener Vampir, deswegen habe ich dir Blutinfusionen gegeben. Eine meiner neusten Erfindungen.“

„K… Karon. Das kann nicht sein. Du bist ein Hirngespinst, ich schlafe noch. Der Teufel. Verdammt … solltest du nicht Hörner und Ziegenbeine haben?“ Kiyo konnte nicht glauben, wen er vor sich hatte.

Karon verzog keine Miene und blickte Kiyo weiterhin kühl an:

„Ich bevorzuge Herr der Unterwelt genannt zu werden, und nein, ich gehöre nicht zum Volk der Dämonen.“

„Ich träume. Karon kann nicht vor mir stehen, ich habe eine blühende Fantasie. Das ist alles.“

Kiyo stand vom Bett auf: „Danke für die Gastfreundschaft und für Eure Rettung, aber ich werde jetzt nach Hause gehen.“

Karon schüttelte den Kopf: „Du wirst nirgendwohin gehen, du bist mein.“

Kiyo schüttelte den Kopf, schrie „Nein!“ und rannte aus dem Zimmer in einen langen Gang mit vielen Türen. Von innen sah das Anwesen aus wie ein Herrenhaus, das mit vielen griechischen Statuen, Amphoren und Kunstwerken geschmückt worden war.

Kiyo rannte weiter eine enge Stiege hinab, bis er vor einem Tor stand. Dieses riss er auf.

Vor ihm erstreckte sich eine riesige Höhle, die wie von Geisterhand erhellt schien. Kiyo machte ein paar Schritte vorwärts und drehte sich zu dem vermeintlichen Herrenhaus um, dieses entpuppte sich aber als eine gigantische senkrechte Höhlenwand mit Fenstern und Vorsprüngen, die als Terrassen dienten.

„Das ist nicht wahr. Wie kann das sein? Wo bin ich hier?“

Karon nahm neben Kiyo Gestalt an: „Das hier ist mein Reich, die Unterwelt. Davon hast du sicher auch schon gehört.“

„Aber was mache ich hier? Bin ich tot?“ Kiyo erblickte an der rechten Höhlenwand zehn Zellenreihen mit je fünfundzwanzig kleinen, mit Eisenstangen abgegrenzten Bereichen, in denen vereinzelt Leute saßen.

Kiyo wollte dorthin laufen, doch Karon ergriff seine Hand: „Hier geblieben, kleiner Wildfang. Du bist nicht tot, sonst wärst du bei den tausenden anderen Seelen in meiner Sammlung.“

„Aber was bin ich dann? Wieso habt Ihr mich hierhergebracht?“

„Du bist ein geborener Vampir und gehörst mir.“

Kiyo riss an seiner Hand: „Nein, ich bin kein geborener Vampir. Meine Eltern sind liebe Leute. Ihr müsst mich mit jemandem verwechseln.“

Karon griff nach Kiyos Unterkiefer: „Merke dir eins: Der Herr der Unterwelt irrt sich nie.“

Kiyo presste die Augen zu: „Dennoch. Ich kann es nicht glauben.“

Die Hände des Größeren lockerten sich: „Komm mit. Ich zeige dir dein Zimmer.“

Anstatt mit Karon Richtung Felswand zu gehen, rannte Kiyo in die andere Richtung, dorthin, wo er in der Ferne ein riesiges Tor erkennen konnte: „Dort muss der Ausgang sein.“

Karon blickte ihm nach: „Wie kann man nur so dumm sein!“

Kiyo lief, bis es ihm den Hals zuschnürte. Er blieb sofort stehen, keuchte angestrengt, nach Luft ringend, und griff sich an die Stelle, die ihm die Beschwerden verursachte: »Ich kann nicht mehr atmen.«

Karon indessen spazierte auf Kiyo zu und schnappte ihn am Kragen: „Du willst wirklich wieder in diesen Wald zurück, wo es nichts zu essen gab und die Stille dich wahnsinnig machte? Du musst wissen, dieser Wald ist mein Besitz, nur dank mir hast du dort überlebt, denn ich habe alle Tiere aus meinem Waldbereich vertrieben. Sei mir dankbar, du kleiner Bastard.“

Kiyo schnappte weiterhin nach Luft. Der Knoten in seinem Hals löste sich.

„Ihr seid verrückt! Ich soll Euch dafür danken, dass Ihr mich fast getötet hättet?“

„Ich bin dein Meister. Du hast mir bereits zweimal dein Leben zu verdanken, und dennoch bist du weiter so manierenlos. Du willst es wohl nicht anders.“

„Jemand wie du hat sich meinen Respekt nicht verdient. Jetzt lass mich los!“, fauchte Kiyo wie ein wildes Tier.

Karon zerrte den jungen, braunhäutigen Mann am Kragen zu den Zellen: „Du bettelst schon förmlich danach, wie ein Tier behandelt zu werden. Ich hoffte, geborene Vampire wären intelligenter, aber mit dir bestätigt sich mir, dass dem nicht so ist.“

Kiyo ballte seine Hände und riss mit aller Kraft herum, bis er stolperte und weitergezogen wurde: „Ich bin kein Vampir! Du bist derjenige, der Menschen verachtet! Ich mag Menschen! Zieh mich nicht in deinen religiösen Kampf hinein!“

Karon schmiss Kiyo unsanft in die erstbeste Zelle im Erdgeschoss und versperrte diese: „Du verwechselst mich, Kleiner. Mich interessieren keine Religionen. Bis du einigermaßen klar im Kopf bist, bleibst du hier. Ich habe keine Verwendung für bockige kleine Vampire.“ Daraufhin marschierte Karon weg, wieder ins große Hauptgebäude.

Kiyo war zu den Gittern gerannt und zerrte an diesen: „Lass mich raus, du Bastard! Ich will nichts mit dir zu tun haben!“

Er rüttelte weiter, immer weiter, bis plötzlich ein dumpfes Brummen an sein Ohr drang.

Jemand ein paar Zellen weiter war sauer geworden: „Hör auf mit dem Lärm, du grünäugiges Pack!“

Kiyo sah erschrocken durch die Gitterstäbe zu den anderen Gefangenen.

Er hatte erst jetzt bemerkt, dass er nicht allein war.

Der Mann, der ihn angeschrien hatte, saß drei Zellen weiter in Arrest und war nur als Schatten zu erkennen.

Das Licht der Halle erreichte die Zellenwände nicht. Alles lag in einem düsteren, kalten Schatten.

In der Zelle links neben Kiyo war niemand eingesperrt, aber zu seiner rechten Seite erblickte er jemanden, der in der Ecke zwischen Zellenwand und Gitter kauerte und sich nur wenig bewegte.

Kiyo drehte sich zu ihm und setzte sich auf den kalten Steinboden seiner Zelle: „Wieso passiert mir das? Wieso musste ich hier landen? Ich bin kein Vampir, ich bin ein normaler Mensch.“

Der Schatten in der Nachbarzelle räusperte sich kurz und gab raue, gequälte Lachlaute von sich: „Dich selbst zu belügen scheint dir gut zu gelingen.“

Die erstickte Stimme des anderen verriet, dass dieser lange nicht mehr gesprochen hatte: „Ein Mensch kann diese Halle nur betreten, wenn er tot ist. Nach dem Wieso und Warum zu fragen ist sinnlos.“

Kiyo verengte seine Augen, um den anderen besser erkennen zu können: „Seid Ihr auch ein Dämon wie Karon?“

Der Mann in der anderen Zelle kroch in seine braune Kutte gehüllt näher zu Kiyo, der nicht wusste, ob er nicht doch lieber zurückweichen sollte. Je näher der Mann oder das Wesen kam, desto mehr konnte Kiyo erkennen. Blondes Haar blitzte unter der Kapuze hervor.

„Stopp. Beantwortet meine Frage.“ In Kiyos Stimme lag Angst.

Weiße Augen starrten ihn nun unausweichlich an: „Wir sind keine Dämonen. Karon hat mich gebissen. Ich war vor langer Zeit ein Mensch.“

Kiyo schluckte: „Ihr wart ein Mensch und seid es nun nicht mehr? Was seid Ihr jetzt?“

Der Mann streckte Kiyo knöcherne, blasse Finger mit scharfen Nägeln entgegen: „Zuerst werde ich mich vorstellen. Mein Name lautet Seiji.“

Kiyo krabbelte ein paar Zentimeter nach hinten und starrte die abgemagerte Hand und die spitzen weißen Krallen entsetzt an.

Sein Gegenüber seufzte: „Ich gebe dir die Hand zum Gruß, einem Artgenossen werde ich nichts tun.“

Kiyo starrte weiter auf die Hand: „Aber … aber Ihr irrt Euch. Seht mich an, ich bin nicht ansatzweise so wie Ihr. Allein meine Hautfarbe.“

Seiji schnappte mit einem Ruck Kiyos Arm und Hand und schüttelte diese: „Sieh her. Es passiert nichts. Ich will dich nur begrüßen.“

Die Hand des Blonden war eiskalt wie Stein, darum zuckte Kiyo zusammen.

Doch als er sah, dass der Fremde ihm wirklich nur die Hand schütteln wollte, nahm er an und machte es ihm gleich, um dann wieder loslassen zu können: „Kiyo.“

Die Kälte, die von Seijis Hand ausging, setzte sich in Kiyos Gliedern fest und ließ ihn erzittern.

Weiße Augen, die in der Dunkelheit gelb leuchteten, blickten Kiyo weiterhin an: „Ich bin ein Vampir. Diesen Namen haben uns die Menschen gegeben. Du bist etwas Besonderes, denn du bist als Vampir geboren. Das perfekte Wesen. Geschaffen für zwei Welten.“

Kiyo schüttelte den Kopf: „Das geht mir alles zu schnell. Wenn ich ein geborener Vampir sein soll, dann müssen meine Eltern auch Vampire sein, aber das ist unmöglich. Sie essen gern Tierfleisch und leben glücklich unter Menschen.“

Seijis Hand ruhte nun auf einem der Gitterstäbe: „Hör auf, vom Essen zu reden. Mein Durst bringt mich noch um den Verstand. Es ist schwer, so lange zu fasten.“

Kiyo rutschte weiter weg: „Durst? Wie lange bist du schon hier eingesperrt?“

Die weißgelben Augen blickten kurz weg und verschwanden so unter der Kapuze: „Dreißig oder vierzig Jahre, ich habe aufgehört, zu zählen.“

Kiyo beugte sich wieder etwas nach vorn: „Das ist schrecklich und kaum vorstellbar. Es tut mir leid.“

Im nächsten Moment hatte sich Seiji abermals Kiyos Hand gekrallt und zog diesen zu sich.

Seine raue Stimme flüsterte etwas und seine starren Augen brannten sich in Kiyos Gedächtnis: „Bleib stark und ergib dich ihm niemals.“

Kiyo presste die Augen zu und schluckte. Ein kurzes Nicken seinerseits folgte.

„Seiji!“, donnerte Karons Stimme im Zellentrakt von allen Seiten.

Vor Schreck riss sich Kiyo aus Seijis Griff los. Seijis unmittelbare Reaktion darauf war, sich am Boden zusammenzukauern.

Er rutschte auf den Knien zurück in seine Ecke: „Verzeiht mir, Meister.“

Karon marschierte auf die Zellen der beiden zu, nachdem er sich in einem dunklen Schatten materialisiert hatte.

„Seiji hat sich bei mir nur vorgestellt. Sonst nichts“, wollte Kiyo den aufgebrachten Herrscher beschwichtigen.

Mit einem kräftigen Schwung riss Karon Seijis Zellentüre auf: „Komm heraus, mein Haustierchen.“

Kiyo blickte zu Seiji, der auf allen vieren aus seiner Zelle kroch. Der Braunhäutige war schockiert darüber, dass der Mann, der ihm gerade etwas Mut hatte zusprechen wollen, selbst kaum bis kein Selbstwertgefühl besaß. Als Seiji draußen angekommen war, griff Karon nach seinem Kinn und riss ihn auf die Beine. Der Blonde war um einen halben Kopf größer als der Herr der Unterwelt, und doch schien dieser um ein Vielfaches stärker zu sein: „Zieh dich aus.“

Kiyo schüttelte den Kopf: „Nein! Hör auf! Er hat nichts gemacht!“

Außerhalb der Zellen fiel alles Licht auf Seiji und Karon herab, und auch wenn der Blonde nun mit dem Rücken zu Kiyo stand, war es dem Braunhäutigen unangenehm, beim Entkleiden einer Person zusehen zu müssen.

Als er sich wegdrehen wollte, waren seine Muskeln wie eingefroren. Kiyo musste Karon gehorchen und die fahle, lederne Haut, unzählige tiefe Narben und die scharfen Konturen der Knochen und der Wirbelsäule betrachten, die die braune Kutte enthüllte.

Kiyo zitterte innerlich. So etwas Grausames war ihm noch nie zuvor zu Gesicht gekommen: „Ich will das nicht sehen! Bitte hör auf!“

Karon grinste triumphierend und leckte sich über seine Lippen: „Nun, Seiji. Dreh dich um. Er soll dich in aller Pracht sehen.“

Seiji machte, was ihm befohlen worden war, und drehte sich langsam zu Kiyo um. Als er dessen verzweifeltes und angeekeltes Gesicht erblickte, fiel Seijis ausdrucksloses, mit Narben entstelltes Gesicht in sich zusammen, und Reue, die sich mit Scham abwechselte, war in seinen Augen zu erkennen.

Kiyo starrte Seiji weiterhin an und entdeckte jede Narbe auf seinem Körper. Nur die schönen, welligen blonden Haare gaben dieser Gestalt etwas, das an einen Menschen erinnerte. Kiyo fiel zurück auf den Boden und hatte seine Beherrschung plötzlich wieder.

Karon war der Einzige der Beteiligten, der den Anblick genoss. Entsetzen zu verursachen schien ihm Heiterkeit zu bringen: „Ich hoffe, du hast dir den Anblick genau eingeprägt. Das hier kann dir auch passieren, wenn du mir nicht gehorchst.“

Kiyo biss sich auf die Unterlippe, er war nicht dazu fähig, etwas zu sagen.

„Kiyo, es tut mir leid“, hauchte Seiji leise.

Karon krallte seine Fingernägel in Seijis Nacken: „Du dämliches Tier! Sei mir dankbar! Ich bin immerhin derjenige, der dir eine Unterkunft bietet!“

Er riss Seiji von den Beinen, so dass dieser nun mit dem Bauch voran auf dem Boden lag.

Der Blonde keuchte leise: „Ich bin dankbar dafür, hier leben zu dürfen. Ich kann keinem Menschen unter die Augen treten. Sie würden mich alle jagen und töten. Ich danke Euch für Eure Aufopferung und Hingabe, die Ihr mir zuteilwerden lasst. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, meine Dankbarkeit zu beweisen …“

Ohne Emotionen zu zeigen blickte Karon auf Seiji herab, der weiterhin am Boden lag: „Geh in deine Zelle.“

Kiyo verfolgte, wie Seiji krabbelnd wieder zurück in die Zelle kam. Er schüttelte unentwegt den Kopf, so bizarr und unwirklich erschien ihm das Dargebotene. Derartige Grausamkeit hatte er nicht einmal in seinen kühnsten Albträumen erlebt. Es war ein Horrorfilm, der sich vor seinen Augen abspielte.

Karon unterbrach Kiyos Gedankengänge, als er seine Stimme erhob: „Du weißt, ich höre alles, was hier gesprochen wird!“

Seiji nickte mit dem Kopf: „Ja, aber ich …“

Karon hob seine Hand, und im nächsten Moment lag Seiji mit einem schmerzenden Kiefer am Boden.

Karon hatte ihn nicht ausreden lassen und einmal kräftig mit der Faust auf ihn eingeschlagen.

„Du begehrst gegen mich auf. Das ist unverzeihlich!“, fauchte Karon den am Boden Liegenden sauer an.

Kiyo stand auf und krallte seine Hände in die Gitterstäbe, als er bemerkte, dass Seiji aus dem Mund blutete: „Hör auf damit! Er hat nichts Unrechtes getan!“

Karon ignorierte Kiyos Worte und stapfte zu Seiji. Er nahm dessen Hände und kettete ihn an der Mauer fest: „Du warst bereits sterbenslangweilig, aber der Kleine scheint wohl deine Lebensgeister wiedererweckt zu haben. Ein bisschen Konversation, und schon sind wir wieder so frech wie früher, was?“

Karon zog eine Peitsche mit Haken an den Enden aus seinem samtenen Mantel und schlug damit auf Seiji ein.

Dieses Mordinstrument riss tiefe Wunden in die lederne Haut des Vampirs.

Seijis Schreie gingen durch Mark und Bein: „Nein! Es tut mir leid, bitte hört auf! Ich werde so etwas nie wieder machen! Bitte! Nie wieder!“

Weitere Schläge folgten. Dickflüssiges Blut drang durch die Ritzen, die diese Haken schnitten.

Karon grinste blutrünstig: „Solch eine halbherzige Entschuldigung nehme ich nicht an. Du musst bestraft werden.“

Seiji keuchte und schrie abermals: „Es tut mir leid! Ich flehe Euch an! Bitte glaubt mir!“

Kiyo griff durch die Stäbe: „Karon! Hör auf damit! Schluss jetzt! Er hat sich schon entschuldigt!“

Für einen Augenblick sah Karon zu Kiyo.

Es folgte ein weiterer Peitschenhieb.

Doch plötzlich durchfuhren Kiyo stechende Schmerzen: „Autsch.“ Er blickte auf seine Hände, von denen Blut auf den Boden tropfte: „Mist.“

Kiyo taumelte kurz und hielt sich die Hand, die am stärksten blutete.

Im nächsten Moment griff Karon zwischen den Gitterstäben durch, krallte sich Kiyos Unterarme und zog ihn mit einem Ruck zu sich.

Kiyo schlug sich dabei den Kopf an und keuchte.

Der Herr der Unterwelt beugte sich zu Kiyo vor und hauchte bedrohlich: „Wenn ich meinen Spaß habe, brauche ich keine überflüssigen Kommentare aus der letzten Reihe.“

Kiyo presste seine Augen zu, als sein Kopf abermals gegen die Stangen knallte und er merkte, dass dabei die Kopfwunde vom Fall wieder aufgebrochen war: „Das tut weh.“

Karon griff in Kiyos Haar und drückte sein Gesicht an die Stäbe: „Das soll es auch. Sei still, wenn ich es befehle.“

Kiyo wand sich in Karons Griff: „Lass mich los. Ich habe keine Angst vor dir.“

Karon knurrte sauer: „Seiji habe ich auch gebrochen, und du wirst der Nächste sein. Ich werde dich markieren, dann kannst du dich meinen Befehlen nicht mehr so leicht widersetzen.“

Karon ließ Kiyo los und verließ, ohne Seiji weitere Aufmerksamkeit zu schenken, dessen Zelle.

Kiyo wusste nicht, was Karon mit „markieren“ meinte, aber er wusste, dieser Ausdruck bedeutete nichts Gutes. Der Junge verfolgte Karons Schritte, die vor seiner Zelle endeten: „Was hast du vor?“

Karon öffnete die Zelle und trat ein. Sein ausdrucksloser Blick musterte Kiyos Bewegungen, die den jungen Vampir zurück zur Zellenwand führten.

„Du hast keine Angst mehr vor mir, hast du gesagt, und jetzt kann ich deine Angst beinahe riechen. Halte still!“, sprach Karon mit einer unnatürlich sanften Stimme.

Kiyo schüttelte den Kopf: „Ich werde mich dir nicht ergeben.“

Karon lachte leise auf: „Narr. Du hast keine Wahl.“

Kiyos Augen suchten nach einem Ausweg, dabei sah er kurz zu Seiji, der Karons Näherkommen und Kiyos Verzweiflung aus leeren Augen beobachtete.

Sollte Kiyo eines Tages wirklich so wie Seiji werden? Das war kein Leben. Niemand würde dies wollen und keiner hatte solch ein Leben verdient. Kiyo wusste, dass er alles tun musste, um später ein besseres Leben zu haben. Er musste kämpfen.

„Was denkst du, kleiner Vampir?“, durchbrach Karons frostige Stimme die Stille.

Kiyo sah wieder zu Karon, der plötzlich direkt vor ihm stand.

Ihre Blicke trafen sich nur für kurze Zeit, doch dies reichte, um Kiyos Körper zu lähmen und seinen Ausbruchsversuch im Keim zu ersticken: „Nein! Geh weg von mir!“

Karon griff nach Kiyos Kinn und hauchte ihm seinen kalten Atem auf die warme Haut: „Es könnte ein bisschen wehtun, aber du bist ja hart im Nehmen, nicht wahr, vorlauter Bengel.“

Kiyo presste die Augen zu, starr dastehen zu müssen und seinem Untergang nicht entgehen zu können, löste in ihm eine weitere Angstwallung aus.

Der eisige Atem des anderen brannte sich auf seine Haut, er wanderte tiefer zu Kiyos Nacken, der mit schwarzem Haar bedeckt war. Karons Finger strichen das Haar über Kiyos weggeneigte Schulter nach vorn.

Kiyo überfiel Panik. Ein Schweißausbruch kündigte diese an, und auch sein vor Angst erstarrter Blick zeugte davon: „Nein! Lass mich los! Geh weg! Seiji, hilf mir. Bitte!“ Ein Schluchzen erfüllte die Luft.

Karons Lippen berührten Kiyos Hals fast schon sanft: „Ich habe noch niemanden erlebt, der so hartnäckig wie du war und diesen Biss bis zum letzten Moment derart verabscheute. Du lässt deine Gefühle von mir nicht manipulieren. Wirklich interessant.“

Mit einem dumpfen Schrei erfüllten sich Kiyos Ängste.

Starr stand der junge Vampir an der Wand und spürte, wie sich Karons Reißzähne in seinen Hals bohrten.

Der brennende Schmerz, der von der Wunde ausging, verbreitete sich in Kiyos ganzem Körper. Dieses Gefühl kannte er. Als Kiyo im Wald gelegen hatte, hatte ihn genau derselbe penetrante Schmerz, der alle Sinne durcheinanderbrachte und ihn tagelang verfolgt hatte, überkommen.

Tränen kullerten über die Wangen des gepeinigten jungen Vampirs, während der Ältere das Blut aus seinen brennenden Adern sog.

„Genug! Karon, hört auf! Ihr tötet ihn!“, drang plötzlich Seijis Stimme an Kiyos Ohr.

Kurz darauf wurden Kiyos erstarrte Füße weich. Er fiel wie ein Sack zu Boden, den alles erfüllenden Schmerz immer noch in seinem Körper.

Karon blickte auf Kiyo hinab und musterte diesen: „Dein Blut schmeckt besser als gedacht.“

Zitternd griff der schwache Vampir nach seinem Hals und hielt sich diesen: „Mach, dass dieser Schmerz aufhört.“

Der Herr der Unterwelt lachte laut auf: „Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen. Sieh dich an, du bist ein kleines Elend am Boden, aber weil ich so gütig bin und ein Herz für Elend habe, darfst du von meinem Blut kosten.“

Seiji sah auf: „Kiyo darf Euer Blut trinken? Selbst ich durfte noch nie davon kosten.“

Karon erhob seine Hand: „Sei still, du bist auch nur ein Haus­- tier.“

Seiji biss sich auf die Lippen und wandte seinen Blick wieder ab.

Kiyo schüttelte den Kopf und keuchte: „Nein. Ich will kein Blut. Von niemandem.“

Die Hand des Mannes ergriff Kiyos Kragen und zog ihn auf die Knie: „Du verweigerst mein Blut? Wie dumm du bist, aber gut, ich habe Zeit.“ Er ließ Kiyo wieder zu Boden fallen und verließ anschließend die Zelle.

Kiyo atmete angestrengt und krallte seine Hand in den sandigen Boden: „Verdammt. Ich konnte mich nicht wehren.“

Seiji raschelte kurz mit seinen Schellen: „Ich hätte dir gern geholfen, aber mir waren die Hände gebunden. Karon war nie ein Mensch. Ihn stürzen zu wollen, wäre ein sinnloses Unterfangen. Dennoch, wir müssen weiter auf bessere Zeiten hoffen. Kiyo?“

Dieser lag regungslos am Boden und hielt seine Augen geschlossen.

Karon war auf dem Weg in seine Gemächer. Wutentbrannt sprach er zu sich: „So ein Narr. Wie er will, dann lasse ich ihn verbluten. Wenn sein Charakter nicht den Voraussetzungen entspricht, kann ich einen weiteren geborenen Vampir züchten. Nun bin ich auf dem richtigen Weg und mein Ziel befindet sich in greifbarer Nähe.“

Er schloss das Zimmertor, vor dem Wachen postiert waren, hinter sich und blickte auf ein großes, weißes Himmelbett. In der gegenüberliegenden Wand war eine älter aussehende Tür, nicht einmal 1,50 Meter hoch, und an der Wand, dem Bett gegenüber, stand eine weiße Kommode. Links vom Bett fand ein großer Schrank seinen Platz.

Karon setzte sich auf die mit Daunenfedern gefüllte Matratze und seufzte: „Wie unsinnig. Er verblutet lieber, als sich helfen zu lassen. Oder ihm ist seine Lage noch nicht bewusst genug.“

Jemand klopfte an die Türe.

Grummelnd entgegnete der Rotäugige: „Lass mich in Ruhe. Ich habe keine Zeit.“

Es klopfte abermals: „Meister. Es ist wichtig. Der Dämonen-Kaiser will Euch sprechen.“

Karon fasste sich an den Kopf und schnaubte: „Nicht der auch noch.“ Dann erhob er sich doch und öffnete die Türe.

Vor ihm stand ein kleiner, braunhaariger und unscheinbarer Mann:

„Sag ihm, dass er alle Seelen haben kann, die er benötigt. Ich habe zu tun.“

„Meister, wenn er uns alle Seelen abkauft, wozu sind wir dann noch da?“

„Geh mir aus den Augen, hirnloses Gesindel!“, schnaubte Karon sauer.

Der Diener nickte und verschwand schnell hinter der nächsten Ecke.

Der Herr der Unterwelt verließ das Gemach und stapfte genervt in die Richtung des Empfangssaals, der einen Stock unterhalb seiner privaten Räume lag. Dabei verwandelte sich seine schwarze Alltagsrobe in eine edle samtene Robe mit roten Verzierungen am Saum.

Karon betrat den Saal und blickte noch auf den Boden: „Was ist los?“ Sein Blick erhob sich. Vor ihm stand der Dämonen-Kaiser samt Leibgarde und Gefolge.

Die Gestalt des Kaisers ähnelte eher der eines Tieres. Sein Gesicht besaß eine Schnauze und seine bernsteinfarbene Iris füllte das gesamte Auge aus. Seine Ohren waren unter der goldbraunen Mähne nur zu erahnen. Der Kaiser stand aufrecht wie ein Mensch, doch seine Gesichtszüge, die Hände und auch seine Beine ähnelten eher denen eines Löwen. Sein Berater hingegen war nicht eindeutig einem Tier zuzuordnen. Er hatte messerscharfe Krallen an den Fingern, die denen eines Greifvogels ähnelten, sein Gesicht schien menschlicher Natur, doch die Zähne liefen spitz aufeinander zu, wie die eines Hais. So tierhaft sie alle aussahen, genauso präsent und kompromisslos waren sie auch.

„Eure Kaiserliche Hoheit. Ihr seid persönlich gekommen. Welch eine Ehre.“ Karon beugte sich kaum erkennbar nach vorn, als er dem Kaiser gegenüberstand.

„Schweig! Ein Diener hat mir Informationen zukommen lassen. In dieser Höhle soll es zu Gesetzesverstößen gekommen sein. Davon muss ich mich persönlich überzeugen.“

Karon verengte seine Augen: „Das kann nicht sein. Ich führe mein Reich, die Unterwelt, nach bestem Wissen und Gewissen.“

Der Kaiser hielt ihm seine löwenähnliche Pfote vor die Augen.

Karon starrte sie an und rümpfte die Nase, dann drehte er sich weg und wollte zur Türe: „Gut, dann fangen wir mit der Führung bei den Gefangenen an und gehen anschließend zu den Seelen. Ihr wollt Euch natürlich alles ansehen und auch ein gutes Geschäft abschließen.“

Ein reißendes Geräusch war zu hören. Karon blickte auf seinen zerfetzten Umhang: „Wer war das?“

Eine Wache stand nun an der Türe und blickte Karon zornig an: „Zeige unserem Kaiser deinen Respekt und küsse seine Klaue!“

Karon drehte sich zum Kaiser um: „Ich dachte, Ihr wolltet mir Eure tollen Ringe zeigen. Die sind wirklich …“ Die Wache schubste Karon ein paar Schritte weiter Richtung Kaiser.

Ein kurzes Knurren kam über Karons Lippen, dann blickte er abermals auf die Pfote des Kaisers und küsste sie dieses Mal andeutungsweise.

Nun machte die Wache Platz und ließ Karon mit dem Dämonenvolk als Begleitung die Türe passieren.

Als Kiyo Schritte näher kommen hörte, öffnete er seine Augen. Nur schemenhaft konnte er Personen erkennen.

„Hier sind die Inhaftierten, erbärmliche Kreaturen, die natürlich Eures Blickes nicht würdig sind. Nun gehen wir die Seelen besuchen. Es gibt dort ausgezeichnete Exemplare für Eure Sammlung.“ Karons Stimme klang eilig und entzückt zugleich.

Doch anstatt sich weiterzubewegen, blieb einer der Schatten stehen, es war der Dämonen-Kaiser, der Kiyo beharrlich anstarrte: „Karon. Was hat ein Lebender hier zu suchen?“

„Er gehört zu einer neuen Rasse. Ich nenne sie geborener Vampir.“

Der Kaiser schüttelte den Kopf: „Im neuen Gesetz, das wir zusammen verfassten, steht schwarz auf weiß, dass Vampire Seelen in einer toten Hülle sind, keine Mischwesen.“

Karon flüsterte leise zu sich: „Das sagt gerade der Richtige. Mischwesen.“

„Karon, zeige mir diesen geborenen Vampir“, kam der Befehl des Kaisers.

„Der Junge ist wirklich nicht wichtig und auch nicht abgerichtet. Er wird bald …“ Karon schloss den Mund, als wieder eine Wache hervortrat.

„Schon gut, schon gut. Ich zeige ihn Euch“, seufzte Karon widerwillig.

Er sperrte die Zellentüre auf und schnappte Kiyos Oberarm, um den Jungen aus der Zelle zu ziehen: „Hier.“

Kiyo keuchte und sah zu den Gestalten auf, die ihn musterten.

Der Kaiser betrachtete Kiyo genau: „Warum hält der Junge seinen Hals? Wie alt ist er? Fünfzehn, sechzehn?“

Karon zeigte in eine Richtung: „Wir können das besprechen, während wir weitergehen. Hier entlang, bitte.“

Doch der Kaiser war hartnäckig und zwei seiner Diener rissen Kiyo die Hand vom Hals, indem sie ihn von beiden Seiten festhielten.

Karon gestikulierte mit den Händen: „Das kann ich erklären.“

Der Löwendämon sah Karon finster an: „Das soll ein geborener Vampir sein? Du hast ihn gebissen und hierhergebracht, um mir etwas vorzugaukeln. Kein Lebender darf die Unterwelt betreten!“

„Nein, Eure Kaiserliche Hoheit. Lasst mich erklären. Er ist ein geborener Vampir, aber einer meiner Diener konnte sich nicht zügeln, und so ist das passiert.“

„Lüg mich nicht an, Karon. Ich kann es riechen“, knurrte der Kaiser in Löwenmanier.

Karon nahm abermals Kiyos Hand und zog ihn zurück in die Zelle: „Nun, da der Kleine keine Attraktion mehr ist, können wir zu den Seelen gehen.“

Der Kaiser schüttelte den Kopf und sah Karon zornig an: „Mein Informant hatte recht, diese Höhle befindet sich in einem verwahrlosten Zustand, und ihr Verwalter, ein schleimender Nichtsnutz, schätzt seine Kompetenzen viel zu hoch ein. Das hier ist nicht mehr die Unterwelt, die mir vertraut war.“

Karon sah den Kaiser verwirrt an: „Wie bitte? Ich sitze Tag und Nacht in dieser gottverlassenen Höhle fest und verwalte die Seelen der Verstorbenen ohne Unterlass. Etwas Abwechslung im Alltag ist die Würze meiner Existenz.“

Der Kaiser und seine Bediensteten setzten sich in Bewegung und ließen Karon stehen.

„Moment! Eure Kaiserliche Hoheit, die Seelen findet Ihr in entgegengesetzter Richtung“, wollte Karon aufzeigen.

Der Berater des Kaisers kam nun zu Wort: „Unser Entschluss steht fest. Die Hölle und somit die Welt der Dämonen sagt sich von deiner Unterwelt los und du wirst dich zukünftig vom Dämonenreich fernhalten.“

Karon lachte künstlich: „Aber das ist unmöglich. Ich besitze die Seelen, die Ihr für Eure Armee braucht.“

„Nein. Wir werden uns unsere Seelen zukünftig selbst beschaffen. Wir sind nicht mehr von dir abhängig“, redete der Berater dagegen.

Karon blieb stehen: „Moment! Stopp! Das ist ein mieser Scherz, oder?“

„Keineswegs.“ Die Antwort fiel sehr knapp aus.

Sie waren in der Mitte der Halle angekommen, wo die Dämonen plötzlich verschwanden und Karon zurückließen.

Er starrte ein paar weitere Momente auf den Platz, wo sie zuvor verschwunden waren. Vor Wut hob er plötzlich mühelos einen riesigen Steinbrocken auf und donnerte diesen gegen die nächste Höhlenwand, die daraufhin bröckelte und eine Steinlawine auslöste, deren kleinster Stein durch die Höhle bis zu Kiyos Zelle rollte.

„Verdammter Mist! Wer zum Teufel hat mich verraten?“, fauchte Karon so wütend wie selten zuvor.

Kiyo verfolgte den Wutausbruch, was Karon natürlich sofort bemerkte.

Er erschien vor Kiyos Zelle: „Hör auf, so bescheuert zu glotzen! Du bist der Grund, warum sie mir nicht mehr vertrauen. Bastard!“

Kiyo keuchte.

Karon krallte sich Kiyos Hals: „Du bist schuld, wenn die Unterwelt wegen Seelen-Überfüllung dem Untergang geweiht ist.“

Seiji meldete sich zu Wort: „Karon, Meister! Wir brauchen neue Abnehmer.“

Karon fauchte: „Wunderbare Idee! Neue Kunden! Wo verdammt noch mal sollen wir schnell jemanden finden, der mir Millionen Seelen auf einmal abkauft?“ Karon hielt nichts von Seijis Einfall.

Kiyo hustete: „Meine Mutter erzählte mir, dass wir, wenn wir sterben, irgendwann wieder zurück auf die Erde kommen. Sie redete oft von Wiedergeburt.“

Karon ließ Kiyo zu Boden fallen: „Was deine Mutter erzählt hat, war falsch. Die Seelen, die sterben, kommen fast alle zu mir ins Totenreich, bis in alle Ewigkeit, vorausgesetzt, sie werden nicht von Dämonen gekauft. Diese begehren Seelen, die ihr Leben in Hass führten, und kreieren daraus ihre eigene Höllenbrut.“

„Kiyos Idee. Bitte hört Euch diese an“, keuchte Seiji.

Kiyo presste die Augen zu: „Wir werden wiedergeboren und bekommen so die Möglichkeit, uns zu entwickeln. Unsere Seelen haben zumindest eine zweite Chance verdient. Nur ein Leben zu führen und danach die Ewigkeit hier in der Unterwelt zu verbringen ist doch Verschwendung von Lebensenergie, oder? Es ist sinnvoller, Seelen ein neues Leben zu ermöglichen.“

Karon sah Kiyo lange an, bis er schließlich zu sprechen anfing: „Eine Seelenmaschine, die mir die Seelen für eine gewisse Zeit vom Hals hält, indem sie sie wieder auf die Erde schickt? Dann habe ich Zeit, mir neue Kunden zu suchen, und der Betrieb geht trotzdem weiter, aber das Beste an dieser Idee ist, die Dämonen wären weiter indirekt unsere Abnehmer, ohne es zu wissen. Ich bin ein Genie.“

Karons Laune hatte sich von einer Sekunde zur nächsten gehoben.

„Wartet hier. Ich werde meinen besten Maschinenbauer brauchen.“ Karon verließ Kiyos Zelle und marschierte weg.

Kiyo schnappte nach Luft: „Was macht er jetzt? Ich bin so müde.“

„Du hast viel Blut verloren. Halte durch. Karon kommt sicher bald wieder“, sprach Seiji so aufmunternd wie möglich.

„Mir ist eiskalt und ich könnte sofort einschlafen“, murmelte Kiyo gen steinigen Boden.

„Kiyo, du musst wach bleiben, es kann nur besser werden. Bitte gib nicht auf“, redete Seiji verzweifelt auf Kiyo ein.

„Hm … du hast recht, es kann nur noch besser werden.“

Seiji sah, wie Kiyo noch mehr in sich zusammensackte und nicht mehr atmete: „Kiyo!“

Nur wenige Sekunden vergingen, bis Karon auch schon wieder mit Glaskelchen in den Händen vor den Zellen stand.

„Meister! Kiyo ist bewusstlos. Er atmet auch nicht mehr“, gab Seiji aufgebracht von sich.

Der Rotäugige stellte einen Kelch auf den Boden, mit dem anderen betrat er Kiyos Zelle.

Er kniete sich nieder und hob Kiyos Oberkörper an: „Hey Kleiner, trink das.“

Karon hielt den Kelch an Kiyos Lippen, doch die Flüssigkeit rann bei dessen Mundwinkeln wieder hinunter auf den Bo­- den.

„Warum kannst du nicht das tun, was man dir sagt?“, schnaubte Karon, der daraufhin ein wenig von der roten Flüssigkeit in seinen Mund sog und seine Lippen auf die von Kiyo presste.

Mit seiner Zunge öffnete er den Mund des Bewusstlosen und flößte ihm die Flüssigkeit ein.

Seiji beobachtete das Geschehen mit betrübtem Blick.

Karon wiederholte die Prozedur, bis der Kelch geleert war: „Kiyo, wach endlich auf. Du hast genug geschlafen.“

Er tätschelte Kiyos linke und rechte Wange.

Plötzlich passierte etwas Eigenartiges. Die Wunde an Kiyos Kopf schloss sich. Die Bisswunde und auch die Kratzer an seinen Händen verschwanden.

Kiyo schnappte heftig nach Luft und hustete anschließend: „Mist. Ich habe Blutgeschmack im Mund.“

Als er erkannte, dass er in Karons Armen lag, sprang Kiyo mit ungewöhnlich viel Energie auf: „Was ist passiert?“

Er besah sich seinen makellosen Körper und wischte sich den Rest des Blutes, das danebengeronnen war, vom Mund: „Das ist nicht mein Blut. Aber wie ist das möglich? Ich war dabei, zu sterben.“

Karon erhob sich wieder und verließ Kiyos Zelle, ohne sie zu schließen. Er ergriff den Kelch, der am Boden stand, und ging damit zu Seiji.

Kiyo blickte auf die offene Tür und danach zu Karon: „Ich habe dich etwas gefragt!“

Karon seufzte und öffnete die Ketten, die Seiji fesselten.

Dieser fiel sofort zu Boden: „Ich danke dir, mein Meister.“

Die fahle Hand des Rotäugigen reichte dem blonden Diener den Kelch: „Hier. Trink es aus. Ich brauche meinen besten Maschinenbauer, und das bist du.“

Seiji starrte Karon überrascht an: „Ihr wollt mir Euer Blut geben?“

„Du brauchst in den nächsten Tagen deine volle Energie, um schnell zu Ergebnissen kommen zu können. Das ist der einzige Grund, warum ich dir mein Blut gebe“, antwortete Karon ruhig.

Kiyo blickte seine Hand mit dem abgewischten Blut an: „Du hast mir dein Blut zu trinken gegeben? Darum bin ich so schnell wieder auf die Beine gekommen?“

Karon nickte kurz und drückte Seiji nun endgültig den Kelch in die Hand, dieser schien sich nicht getraut zu haben, ihn anzunehmen.

Als Seiji den Kelch in seinen Händen hielt, ließ er sich nicht mehr lange bitten und trank alles aus.

Kiyo erkannte Seijis gierigen Blick, und die Tatsache, dass dieser freiwillig Karons Blut trank, ließ den jungen Vampir sich ekeln: „Wie kannst du so etwas wie Wasser trinken? Es ist Blut!“

Karon musterte Kiyo: „Blut ist der Hauptbestandteil eurer Nahrung. Ohne Blutzufuhr würdet ihr nach langen, qualvollen Jahren sterben. Diese Gier brennt in jedem Vampir, und soweit ich weiß, macht ihr geborenen Vampire dabei keine Ausnahme.“

Kiyo hörte das Wortbrennenund wusste, was ihm Karon damit mitteilen wollte: „Dieser starke Schmerz, der sich in jedem Winkel meines Körpers ausbreitet, das ist die Gier nach Blut?“

Karon hob seine Augenbrauen: „Du bist doch nicht etwa dabei, mir endlich zu glauben?“

Kiyos Augen weiteten sich plötzlich und starrten Seiji an, der neben Karon kniete.

Auch die Wunden des Blonden wurden kleiner, bis kaum noch Narben übriggeblieben waren. Seine lederne Haut sah frischer aus und das entstellte Gesicht veränderte sich zu einem harmonischen Äußeren.

Seiji stand langsam auf und blickte Kiyo in die Augen.

Dessen Hände fingen bei dieser geballten Schönheit unwillkürlich an zu zittern.

Der blonde Mann strahlte eine vornehme, geheimnisvolle Eleganz aus, und seine warmen Augen zogen jeden in den Bann, der sich in ihnen verlor.

Eine makellosere Gestalt hatte Kiyo bisher noch nie bewundern können.

Es war kaum zu glauben, dass dies der Mann war, der noch vor Sekunden zusammengekauert in seiner Zelle gesessen und keinen Willen besessen hatte.

„Meister, ich danke Euch für Euer Vertrauen. Ich werde Euch nicht enttäuschen“, sprach eine derart melodische, sinnliche Stimme, wie sie Kiyo noch nie zuvor gehört hatte.

Kiyo meldete sich zu Wort: „Seiji. Bist du es wirklich?“

Karon gab Seiji seine Kutte in die Hand: „Hier, zieh dich an.“

Seiji nickte mit einem Lächeln auf den Lippen und tat, was ihm befohlen worden war, dann näherte er sich Kiyo, der ihn weiterhin unentwegt anstarrte: „Ja, ich bin Seiji. Sieh mich nicht so an. Das gehört sich nicht.“

Der junge Vampir blickte daraufhin auf den Boden zu Seijis Füßen: „Wie kann Blut so viele Veränderungen in so kurzer Zeit bewirken?“

Karon verließ die Zelle und ließ auch Seijis Tür offen: „Mein Blut kann Wunden heilen, das ist alles. Man kann Schönheit verstümmeln, wenn man ihr nur genügend Narben beschert. Seiji war ein arroganter, narzisstischer Mensch, der als Vampir noch schlimmer war. Ich habe ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Schönheit ist vergänglich. Das hat er gelernt. So ist es doch, oder, Seiji?“

Seiji nickte: „Ja, Ihr habt recht, Meister. Auf Schönheit kann man sich nicht verlassen. Das Wichtigste sind der Zusammenhalt der Gemeinschaft und auch Hilfsbereitschaft.“

Kiyo war verwundert über das, was die beiden erzählten. Ihre Worte schienen Sinn zu ergeben, aber: „Welche Gemeinschaft?“

Karon ging voran und bedeutete den beiden, ihm zu folgen.

Kiyo ging ihm sofort hinterher, doch Seiji zögerte, denn er war über Jahrzehnte in dieser Zelle gefangen gewesen, und jetzt sollte er sie als ganzer Mann verlassen.

Der junge Vampir blickte zu Seiji zurück: „Was ist los?“

Seiji schüttelte den Kopf: „Nichts.“ Er lächelte und trat ins Licht der Halle. »Ein Engel ohne Flügel«, war Kiyos erster Gedanke, als er Seijis vollkommene Gestalt im Schein der Halle erfasste.

Schnell eilte der blonde Vampir Kiyo nach: „Die Gemeinschaft der Vampire. Es gibt nur wenige von uns. Wir müssen einander unterstützen, damit wir Teil des Ganzen werden können.“

Kiyo sah Seiji nun noch verwirrter an: „Unterstützen? Teil des Ganzen? Was soll das sein?“

Seiji musste über Kiyos Worte lachen: „Du hast gedacht, wir wären alle blutrünstige Mörder, nicht wahr? Der Gedanke an eine funktionierende Gemeinschaft passt mit diesem Aspekt im Hinterkopf nicht zusammen, aber du wirst dich an diese Vorstellung gewöhnen.“

Sie marschierten Karon weiter hinterher.

Ein Blick über den Tellerrand

Nun begriff Kiyo, und seine Augen schienen klarer als je zuvor zu sehen. Er hatte bisher nur die Bestien im Kopf gehabt, die in der Nacht kamen und Blut saugten, doch Seiji mit seinen Worten und dem wunderschönen Äußeren passte nicht in dieses Bild. Kiyo war erleichtert, dass es hier jemanden gab, der freundlich und aufgeschlossen war.

Sie waren den Gang des ersten Stocks des Anwesens entlangmarschiert, an Karons Gemächern vorbei, bis dieser stehen blieb und an der rechten Wand eine der vielen Türen öffnete: „Hier werdet ihr wohnen.“

Auf den ersten Blick waren eine Holzbank und ein Tisch zu erkennen. Bei genauerem Hinsehen fielen zwei weitere Türen, jeweils auf der linken und rechten Seite des Raumes, auf.