Die Schiffbrüchige - Ali Zamir - E-Book

Die Schiffbrüchige E-Book

Ali Zamir

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Beschreibung

Im Indischen Ozean ertrinkt eine junge Frau. Die Wellen sind erbarmungslos, ihre Kräfte lassen nach, aber im Angesicht des Todes bäumt sie sich auf, in einem letzten Aufbegehren reißt Anguille uns mit in die Erzählung ihres Lebens und in die Tiefe des Meeres.

Ein gleichermaßen atemloser wie bezaubernder Roman mit einer nie da gewesenen Heldin und einer Sprache, die ihresgleichen sucht. DIE SCHIFFBRÜCHIGE ist ein literarisches Wunder.


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Seitenzahl: 378

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungVorspannVorace, mon amourStill, Crotale kommtEin krachender SkandalTranquille zerschlägt mit einem Knall ihren FelsenWer mich liebt, der folge mir

Über dieses Buch

Im Indischen Ozean ertrinkt eine junge Frau. Die Wellen sind erbarmungslos, ihre Kräfte lassen nach, aber im Angesicht des Todes bäumt sie sich auf, in einem letzten Aufbegehren reißt Anguille uns mit in die Erzählung ihres Lebens und in die Tiefe des Meeres. Ein gleichermaßen atemloser wie bezaubernder Roman mit einer nie da gewesenen Heldin und einer Sprache, die ihresgleichen sucht. »Die Schiffbrüchige« ist ein literarisches Wunder.

Über den Autor

Ali Zamir ist dreißig Jahre alt und lebt auf der Insel Anjouan auf den Komoren. Der Roman ist sein Erstlingswerk und hat den Prix Senghor 2016 erhalten.

Ali Zamir

Die Schiff-brüchige

Aus dem Französischen vonThomas Brovot

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © Le Tripode, 2016

Titel der französischen Originalausgabe: »Anguille sous roche«

This edition is published by arrangement with Le Tripode in conjunction with its duly appointed agent L’Autre agence, Paris, France. All rights reserved.

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Ilona Jäger, Berlin

Umschlaggestaltung: Christina Hucke, www.christinahucke.de

Umschlagmotiv: Cover design and illustration by Juliette Maroni

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-8387-2543-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

mein Vater Connaît-Tout glaubt wirklich, dass er alles kennt und alles weiß

Das Land, ja, das Land hat mich ausgespuckt, das Meer verschlingt mich, der Himmel wartet, und kaum komme ich wieder zu mir, sehe ich nichts, höre ich nichts, spüre ich nichts, aber das fällt nicht ins Gewicht, denn ich bin nichts wert, warum sollte ich den Kopf hängen lassen, wo alles hier endet, »ein Toter darf keine Angst haben vorm Verrotten«, sagte mein Vater Connaît-Tout immer, und der hatte die Weisheit mit Löffeln gefressen, trotzdem wusste er nicht, auch wenn er mir den Namen Anguille gegeben hatte, ja, genau, einen Aal hat er mich genannt, trotzdem wusste er nicht, dass alle ihre eigene Aalstatt haben, dass jede Höhle einen Aal reifen lässt, jede Stille eine Überraschung, aber dass die Überraschungen je nach Tiefe der Stille schwanken, und wenn ich sagte, »mein Vater Connaît-Tout«, dann weil ich noch einen anderen habe, und wie hieß es doch gleich, das ist jemand, der durch die Natur zieht, das sollte niemanden wundern, denn wenn es Leute gibt, die nur einen Vater haben, gibt es auch welche, die haben mehr als zwei, ich jedenfalls habe bisher zwei, aber das ist eine andere Geschichte,

alles hier ist wie ein Spuk und zugleich eine Wüste, mir kommt es vor, als wäre ich in einem großen finsteren Schlund, ein Grab ist dieser Ort, etwa nicht, nun sagt doch was, die ihr mich hört, dann wäre ich also an meiner letzten Ruhestätte, denn da ist weder dieser erbärmliche Haufen, zu dem ich gehörte, noch die entsetzliche Angst, die um mich war, ohne mich auch nur zu streifen, sind keine jämmerlichen Schreie, nicht mal die Schluchzer und herzzerreißenden Tränen, die immer wieder hervorbrachen, Himmel, von nichts mehr eine Spur, kein Wesen könnte hier behaupten, in irgendeiner Form zu existieren, aber was rede ich, nicht mal für das, was man existieren nennt, gibt es in einem solchen Zustand einen echten Beweis, schlimm ist das, aber noch mal, wer sagt mir, dass ich lebe, einem Aal zuliebe, bitte, kann mir vielleicht jemand antworten und mir meine Zweifel nehmen, wenigstens das, nur das Halluzinieren hat hier noch einen Sinn, alles ist eigenartig nichtig und leer, angefangen bei dieser Finsternis, die nichts mehr fasst und nichts mehr wiegt und nur noch blutleere Dunkelheit ist, bloß Dunkelheit, und dann diese unangenehmen Geräusche, die sich in meinem Kopf sammelten und die ich für den Lärm der gespenstischen Wellen hielt, ja, denn die Wellen, die über uns herfielen wie wütende Ungeheuer, verbanden sich mit den gellenden Schreien der verängstigten Frauen und Kinder, den Stimmen der Männer, die um Hilfe riefen, bis ihre Rufe erstarben, als hätten die Menschen begriffen, dass sie sich diesem tragischen Schicksal ergeben mussten, als wären sie Ausgestoßene, besiegt und lautlos umgekommen in den Grauen eines Schlachtfelds, aber am merkwürdigsten ist, dass ich jetzt, wo ich mit mir spreche, nicht die geringste körperliche oder seelische Empfindung verspüre, alles ist ein einziges Chaos, oder bin ich in der Welt der Manen, verdammt noch mal, was genau ist passiert, ich spüre weder die Fluten, die mich ein für alle Mal begraben wollen, noch die Wellentürme, die sich an meinem Körper brechen und mir ins Gesicht schlagen, noch die schneidende Kälte,

dafür ist eines ganz sicher, denn zumindest kann ich in diesem leeren Labyrinth, trotz der Dunkelheit, der eigenartigen Stille und meiner Empfindungslosigkeit, auf einmal alles wieder sehen, aber nicht mit den Augen, nein, das nicht, nur wie dann, ich habe nicht die geringste Ahnung, ich spiele also, wie ich es in diesem Theater namens Welt gelernt habe, den Papagei, sehe Bilder, die in meinem Kopf umgehen, eins nach dem anderen, ungestüme Bilder, purzelnde Bilder, die sich vordrängeln, aufeinanderprallen, ich weiß gar nicht, welches ich auswählen soll aus diesem Schwarm aufdringlicher Gespenster, zuerst sehe ich meine Stadt, Mutsamudu, und in ihrem Herzen die Medina, die für mich auch eine schützende Höhle war, während ich hier verwundbarer bin als die Ferse dieses angeblichen Helden Achill, während ich an dieser Sterbestatt dahindämmere, weil ich gezwungen war, meine Höhle zu verlassen, nur ihre Seele hatte ich bewahrt, die Stille, und jetzt durchbreche ich auch sie mit einem Schlag, habt ihr schon mal einen Aal gesehen, der die Stille durchbricht, nun, ich tue es, weil ich jetzt nichts bin, denn wer seine Höhle verliert, verliert auch seine Stille, sein Schweigen, sein wahres Leben also, mit all seinen Geheimnissen, das ist doch klar, da muss ich euch nicht belehren, und wenn ich zu einer armseligen Heimatlosen geworden bin, dann weil ich ein schnödes, unbedeutendes Etwas war, lasst mich also freiheraus erzählen, bis in den Taumel der ewigen Ruhe,

schon habe ich ein erstes flüchtiges Bild eingefangen, so flüchtig wie ein wildes Tier, immerhin weiß ich jetzt, woher ich komme, aber mühsam ist das, meine Güte, und da wieder eins, ich sehe unsere Gegend, Mjihari, das älteste Viertel von Mutsamudu, wie schön es doch ist, sich inmitten der Katastrophe zu erinnern, fern aller saturnischen Visionen, denn ich bereue nichts, und wie angenehm, sich zu spüren, und sei es beim Hinübergang, fürs Erste begnüge ich mich mit diesen beiden Beutestücken, bei der Jagd darf man nämlich nie vergessen, dass man schon eine Beute in der Hand hat, wenn man eine weitere erlegen will, sonst verliert man alles und hat am Ende nur einen leeren Magen, tatsächlich habe ich meine liebe Not mit dem Erinnern, die Erinnerung ist mein Hunger, sie frisst den Verstand, und in meiner Not habe ich zwei Säugetiere gejagt, ich weiß nicht, zu welcher Gattung sie gehören, fragt mich das bitte nicht, Hauptsache, ich habe sie, da, Mutsamudu und Mjihari, mit den Namen kommt mir so vieles wieder in den Sinn, die Freuden meiner jungen Jahre, die wunderbarsten Abenteuer, ein so aufregendes wie übersprudelndes Leben, und ausgehend von diesen beiden Namen kann ich alles wieder sehen, denn andere Namen gesellen sich hinzu, die brauche ich gar nicht zu rufen, Gott sei Dank, wenn man im Begriff ist, diese Welt zu verlassen, ist es wirklich besser, man erinnert sich, tastet sich voran, stochert in der Vergangenheit, als dass man sich hängenlässt, jammert und mit den Zähnen klappert wie irgendeine Knalltüte, die ihre Rolle vermasselt hat,

jetzt ist das Viertel ganz nah, ich sehe es, spüre es, es schaut mich an wie ein strahlendes Kindergesicht, so munter ist es, rege, voll pulsierendem Leben, ich sehe das Ufer, die Pirogen, aufgereiht nicht nur hintereinander, sondern auch parallel zueinander, von links nach rechts und umgekehrt, am Strand beim Felsvorsprung, genau wie die Autos, die immer auf den Bürgersteigen parkten, wenn es unterm Seemandelbaum ein Hochzeitsfest gab, und auch die Fischer sind noch da, ja, diese Helden des Meeres, geben an mit ihren Pirogen wie die Reichen mit ihren Autos, sind nur neidisch aufeinander, zanken sich, schnauzen sich an und raufen wie die Vorschulkinder auf dem Pausenhof, wenn sie sich um ein Spielzeug balgen, das war schon immer so, seit dem Anbeginn der Welt, aber was rede ich, als hätte es jemals keine Welt gegeben, ich fange schon an zu spinnen, dabei habe ich bisher kaum etwas erzählt, und was ich rede, was ist das überhaupt, ah, klar, wie mein Vater Connaît-Tout immer sagte, »wenn man nicht weiß, was für ein Exkrement man ausscheiden soll, sagt man einfach irgendwas«,

aber zurück zu unseren Schäfchen, und da seht ihr, was aus meinem Clownsmaul herauskommt, um welche Schäfchen soll es schon gehen, he, ich bin doch kein Hirte, der Mussa Mudu war einer, und der war noch mal wer, fragt ihr, dieser Mussa Mudu, das sehen wir später, der spielt keine Rolle für das, was ich euch erzählen will, der ist eher was für Historiker, und ich bin für die Tiefen an Land, was der Aal für den Bauch des Meeres ist, also, wenn ihr mein Leben verstehen wollt, versteht erst mal das Leben eines Aals im Meer, denn selbst die Leute, die einen Aal eigentlich kennen sollten, kennen ihn nicht, das ist das Problem, und für die Fischer gilt das zuallererst, es gibt also einen großen Unterschied zwischen meinem Leben und der Geschichte dieses Hirten, ich wollte damit nur sagen, dass ich diese Redeweise hasse, das sind Floskeln, die irgendwelche Komödianten durchgesetzt haben, schaffen wir uns unsere eigenen und zeigen wir, dass wir gute Schauspieler sind, du musst nur die richtigen Worte finden, Anguille, kehren wir lieber zurück nach Mjihari, um zu verstehen, was mir passiert ist,

ich sprach von den Fischern, die Männer kamen aus verschiedenen Vierteln, aber in Mjihari kamen sie alle zusammen, dort, wo sich das Leben wirklich Leben nennt, und was für eins, schließlich gibt es Orte auf der Welt, wo das Leben praktisch nichts ist, so wie hier, und trotzdem ist es ein guter Ort für einen Aal, der bei einer Aalerei umkommt, das heißt, während er mit dem Körper Schläge austeilt, nichts anderes tue ich jetzt, auch wenn ich ganz allein bin, aber das ist ja immer so, wenn ein Aalleben an sein Ende kommt, die Fischer jedenfalls, wollte ich sagen, stritten sich dauernd, entweder weil sie nicht wussten, wie sie die Kunden unter sich aufteilen sollten, wenn sie mal Fische zuhauf hatten, oder weil niemand den Verkauf in die Hand nehmen wollte, wenn sie es mit einer Unmenge von Kunden zu tun hatten und der Fisch vorn und hinten nicht reichte, jeder stahl sich aus der Verantwortung, nicht dass ein böser Blick ihn traf, Augen gab es nämlich immer viele, sobald der Fisch knapp war, es bedurfte eines Nichts, und der Streit fiel vom Zaun,

so ruppig die Fischer miteinander umgingen, verstanden sie doch, dass sie zur selben Sippe gehörten, und betrachteten sich als Brüder vom selben Blut, und wenn ein Kunde sich mal mit einem von ihnen anlegte, hatte er es gleich mit allen zu tun, ausnahmslos allen, denn sobald eine äußere Macht ihre Familie bedrohte, waren sie immer bereit, einander mit Zähnen und Klauen zu verteidigen, bei einem Überfluss an Fisch litten sie natürlich unter dem Mangel an Kunden, und die nutzten es aus und diktierten den Preis, was noch mal gutging, wenn einer der Fischer unauffällig die vom Kunden angebotene Summe akzeptierte, auch wenn er damit seinen Kameraden in den Rücken fiel, aber meist ließen sie sich nicht verführen, und wenn ein Fischer gegenüber einem Kunden laut wurde, mischten sich gleich alle anderen ein und hielten zusammen wie Pech und Schwefel, dem armen Kunden blieb dann nichts anderes übrig, als zu dem Preis zu kaufen, den alle festgelegt hatten, sie blafften ihn gleich an und sagten, sie würden ihren Fisch lieber selber essen, zu Hause, auch wenn er verfaulte, schließlich besaß kaum einer von ihnen einen Kühlschrank, jawohl, den hatten nur die allerwenigsten, sie wollten einfach nicht den teuren Strom bezahlen, und wenn sie das sagten, dann um dem Kunden etwas vorzumachen, damit er anbiss, genau wie die Fische im Meer, eher würden sie etwas Verfaultes essen, sagten sie, als sich von einem geizigen Kunden narren zu lassen, aber welcher Fischer konnte einem Geldstück schon widerstehen oder irgendwelchen Gammelfisch essen, nein, das war alles Theater, und natürlich musste ich lachen, aber ich habe immer gerne von der Terrasse unseres Hauses aus dem Spektakel zugesehen, das waren bühnenreife Szenen, und sie erinnerten mich an manch komischen Text, den wir auf dem Gymnasium gelesen hatten, ja, ich musste an diese Texte denken, wenn ich am Strand die Fischer sah, wie sie sich ihre Fische oder eine Waage aus den Händen rissen oder auch ein Ruder und es nicht schafften, sich auch nur über irgendwas zu einigen,

für mich war dieses Schauspiel eine Augenweide, ich konnte mich kaum sattsehen, meist schaffte ich es zwar nicht, zu hören, was sie einander erwiderten, aber ich versuchte mir vorzustellen, was sie sagten, und wartete darauf, dass mein Vater Connaît-Tout nach Hause kam und es in allen Einzelheiten erzählte, ich musste ihn gar nicht darum bitten, er sprach von allein, jeden Tag, denn er sprach gerne mit sich selbst, wie ein Automat, einmal hatte ich gesehen, wie ein Fischer einen Kunden hart anging, ich verstand kaum, was er sagte, weil auch der Wind wehte und mir hinter die Ohrmuscheln pfiff, die Sonne schien ebenfalls zu hell, aber mit der Hand als Augenschirm konnte ich erkennen, wie Connaît-Tout lachte, während sein Kollege einen Kunden, und das war ein alter Mann, anraunzte, »wenn Sie sähen, was wir jeden Tag draußen auf dem Meer zu erdulden haben, dann wüssten Sie, dass Ihre mageren Kröten uns kaum begeistern, das ist ja schon ein Akt der Barmherzigkeit, was wir für Sie tun, bloß weil Sie nicht in der Lage sind, es uns zu bezahlen, aber wir haben sowieso nichts zu verlieren«, und da hatte ein anderer Fischer, der neben ihm stand, diesen Spruch losgelassen, der Connaît-Tout so gut gefiel, dass wir ihn jeden Tag zu hören bekamen, »ein Seemann hat nichts zu verlieren«, nur wenn er sich selber mal über einen Kunden aufregte, verrauchte seine Wut nicht so schnell, er kam derart aufgewühlt nach Hause, dass er gleich anfing mit seinen Reden, ich weiß gar nicht, wie ich die bezeichnen soll, denn offenbar wandte er sich an niemanden, er sprach mit sich selbst, und ich dachte, vielleicht machte ihm sein Geplapper ja das Leben leichter, vor allem wenn er sagte, »ein Seemann hat nichts zu verlieren« oder auch »wer kommen will, der komme, ein jeder ist König in seinen Dingen«, außerdem sagte mein Vater Connaît-Tout, dass ein Kunde, der immer feilschen wolle, wie ein Jäger sei, der in den Wald gehe, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen, wehe dem also, der den Fischern in die Quere kam, sie fanden immer einen Vorwand, um sich wie wütende Löwen zu verteidigen,

erst dachte ich, dass außer mir nur die paar vergnügten Zuschauer auf dem Mäuerchen Zeugen dieser Szenen waren, aber dann merkte ich, dass ebenso die Ochsen, ohne dabei auch nur zu blinzeln, ihren Spaß hatten an diesem grandiosen Schauspiel, die Leute hielten ihre Rinder nämlich am Strand, außerdem genossen die Tiere eine große Freiheit, ein größere jedenfalls als ich, die ich wie in einem Bunker lebte, damit ich ein guter Aal würde, aber warum sage ich das, pah, einem Aal zuliebe, versetzt euch mal in meine Lage, diese Tiere waren frei, sie durften hinaufgehen in die Stadt, wenn es abends spät wurde, und dort herumspazieren wie Verliebte, die ihre Hochzeitsnacht im Schlaraffenland verbringen, sie kannten die Medina gut, besser als ich, und ließen es sich nicht nehmen, auf sich aufmerksam zu machen und die Leute auf dem Weg zum Morgengebet zu überraschen, einmal haben sie sogar eine alte Frau getötet, ohne es überhaupt zu merken, sie hatten sie ja nicht mal berührt, kein Wunder, die alte Frau hatte die Tiere plötzlich gesehen, als sie an einer Biegung auf sie stieß, und war für immer stehen geblieben, Mund und Augen weit aufgerissen, erst am Morgen fand man diesen stehenden Leichnam, das heißt, niemand wusste, dass es ein Leichnam war, er ähnelte eher einer Marmorstatue, die einen Platz im Museum verdient hätte, und als jemand diesen Körper kurz antippte, um sich zu überzeugen, dass es sehr wohl ein Mensch war, kippte er um wie ein entwurzelter Baum, nur die Ochsen ließen sich durch nichts aus der Ruhe bringen, für sie war es ja bloß ihr Spazierweg, sie gingen einfach weiter, als wenn nichts wäre, trotteten hintereinanderher und schwenkten ihre Schwänze, als wollten sie sagen, dass es an ihnen sei, die Stadt zu regieren, aber das ist eine andere Geschichte, wir waren bei den Rindern am Ufer und den Fischern mit ihrem Spektakel, quatsch einfach nicht so viel, Anguille, verdammt, dir bleibt nicht viel Zeit, Schluss mit dem Drumherumgerede, du dummes Ding,

die Rinder sahen sich die Streitereien also ebenfalls an und mischten sich mit Vergnügen ein, denn wenn sich die Sache zuspitzte, muhten sie, um die Leute zu beruhigen, und kackten dabei, und wenn ein Rind mal auf einen der Fischer zuging, warfen die Männer Steine nach ihm, sie verstanden einfach nicht, dass dieser Ochse sich mit seinen Bemühungen, Frieden zu stiften, einen Namen machen wollte, er hätte glatt eine Auszeichnung verdient, den Nobelpreis, warum nicht, während die anderen Geschöpfe, die man Tiere genannt hat, sich lieber entfernten, damit das Blut sie nicht berührte, wie man bei uns sagt, sie muhten nur und zerstampften die Küchenabfälle, die die Leute an den Strand warfen, käuten wieder und blinzelten, um zu bedeuten, dass sie unzufrieden waren oder eine solche Situation entsetzlich fanden, einmal erzählte mein Vater Connaît-Tout, wie ein Ochse ihm auf den rechten Fuß gepinkelt hatte, er hatte ganz aufgeregt mit seinem besten Freund Garanti gesprochen und kein gutes Haar an dem Tier gelassen, am liebsten hätte er ihm die Kehle durchgeschnitten, aber Garanti hatte sich auf seinen Freund gestürzt, als der schon die Hand hob, diese Dummheit wäre ihn nämlich teuer zu stehen gekommen, der Eigentümer hätte ihn bestimmt nicht in Frieden gelassen, also hatte Garanti sich selber ein großes Messer geschnappt, mit dem er immer die Fische aufschlitzte, bevor er sie ausnahm und wog, und Connaît-Touts Hand abgeblockt und zu ihm gesagt, »du willst doch nicht einen Ochsen abstechen, bloß weil er auf dich gepinkelt hat, das ist keine gute Idee, das wäre Wahnsinn, meinst du nicht, oder glaubst du, du könntest danach noch ruhig schlafen«, aber Connaît-Tout hatte bloß geantwortet, »ach was, das Gerichtsverfahren macht mir keine Angst, selbst wenn man mich in den Kerker wirft, ein Seemann hat nichts zu verlieren, dass du es weißt, für wen hält sich dieser blöde Ochse, schüttet einfach seine scheiß Pisse auf mich, der glaubt wohl, er wäre Wunder wer«, und dann war er um das Tier herumgegangen, hatte ihm von hinten einen Fußtritt verpasst und zum Schluss noch allen Rindern eine Warnung mitgegeben, selbst denen, die bloß Zuschauer der Szene waren, »glaubt nicht, ich wäre wie diese arme Frau, die ihr in der Medina getötet habt, wenn ihr Ochsen seid, müsst ihr euch schon welche suchen, die noch dümmere Ochsen sind als ihr«, worauf der Ochse weggegangen war, aber Connaît-Tout hatte sich einfach nicht mehr eingekriegt, man hätte meinen können, er wäre nicht ganz dicht, er grummelte die ganze Zeit nur und schaute auf seinen Fuß, »so ein Mistvieh, ich weiß nicht, wieso ich dir nicht die Kehle durchgeschnitten habe, du hast es nicht verdient, dass du überhaupt noch lebst«, und so hatte er nach seiner Rückkehr vom Strand immer noch geredet, als hätte er Klowasser getrunken, wie man bei uns sagt, er meinte, der Ochse hätte ihn beim Pinkeln wie ein Lausejunge angeguckt, was ein Beweis sei für den Hochmut des Ochsen, »wenn ich ihm nicht in den Hintern getreten hätte, hätte er sich weiter über mich lustig gemacht, eine Plage ist das«, ich hatte echt die Nase voll, ihn wie einen Irren reden zu hören, so viel Aufregung wegen ein bisschen Ochsenurin, mir reichte es, ich sagte ihm, ich hätte etwas Schönes für ihn gekocht, sein Lieblingsgericht, damit er aufhörte zu reden, und für einen Moment sah er mich an, als hätte er verstanden, worauf ich hinauswollte, aber in seinem Blick las ich, »du hältst besser die Klappe«,

ich hatte Brotfrüchte mit Fisch zubereitet, Connaît-Tout mochte dieses Brotfruchtgericht sehr, Mtsongolo heißt das bei uns, man macht es mit gekochten Brotfrüchten und mischt es dann mit einer Fisch- oder Fleischsoße, aber Connaît-Tout mochte sein Mtsongolo lieber scharf gewürzt,

bevor er das Wort direkt an mich richtete, fragte er immer zuerst, ohne mich auch nur anzuschauen, als spräche er mit der Wand, »und Crotale ist noch nicht zurück, was macht sie denn um diese Zeit noch in der Schule«, und dann ging es los, er sprach von meiner Schwester und nahm mich zum Zeugen seiner mahnenden Worte, dabei sah er aus wie ein kleines Kind, das keine Lösung findet, andauernd machte er sich Gedanken über Crotales Benehmen und wurde nicht müde, sie herunterzuputzen, oder er sagte, wann immer sie nicht da war, »ich mag das nicht, deine liebe Schwester treibt ein böses Spiel mit mir, und dabei weiß sie nicht, dass sie mit dem Feuer spielt, das kannst du mir glauben, aber eines Tages wird sie es wissen, wollen doch mal sehen, wer hier den größeren Dickkopf hat und wer sich am Ende durchsetzt«, immer wieder brach seine Rede ab, aber ich irrte mich, wenn ich dachte, er hätte aufgehört zu sprechen, wahrscheinlich wartete er nur darauf, dass ich etwas sagte, mich vielleicht seiner Meinung anschloss, eine Bestrafung Crotales unterstützte, aber den Gefallen tat ich ihm nicht, ich schenkte ihm nicht das kleinste Wort, und dann fing er wieder an, »wie oft habe ich ihr gesagt, sie soll nicht länger als eine halbe Stunde mit diesen Strolchen herumziehen, wie streunende Hunde sind die, aber nun ja, früher oder später wird sie wissen, wer ich bin, man muss einem Kind nicht beibringen, dass Pfefferschoten scharf sind«, irgendwann schien er einen anderen Ton anschlagen zu wollen, wie um sich zu rechtfertigen für alles, was er von uns verlangte, er nahm sich Zeit und malte uns anschaulich aus, was er vom Leben dachte, und dann rief er laut, »ach, was seid ihr nur für eine Enttäuschung, wo ich alles dafür tue, dass ihr Erfolg habt im Leben, ich war doch nicht verrückt, als ich euch diese Namen gegeben habe«, und schon ging es los mit dem Erklären unserer Namen, ja, wann immer mein Vater Connaît-Tout sich uns gegenüber ereiferte, kamen unsere Namen aufs Tapet, vor allem der von Crotale, und dann hieß es, »ich habe dich Crotale genannt, um dir das Leben zu retten, wann verstehst du das endlich, Crotale bedeutet Klapperschlange, du darfst nur Krach machen, um die Halunken zu verscheuchen, die sich dir nähern wollen, aber nicht, um mir auf die Nerven zu gehen und eine Enttäuschung nach der anderen zu bereiten, wo ich solche Anstrengungen unternommen habe, du gehorchst mir einfach nicht, Crotale, wann wachst du endlich auf und lässt dich nicht länger von diesen Kerlen begleiten, wann hörst du auf mit diesem Vagabundenleben, das ihr auf den Straßen führt wie wilde Katzen, ich fürchte, du wirst noch mal eine Schlange, die man gefahrlos mit einem Schrei verjagen kann«, und dann machte er eine Pause, als dächte er über eine Lösung nach, bevor er weitersprach, und ich sah, wie aufgeregt er war, so aufgeregt, als würde die Situation ihn überfordern, aber gleich wies er sie weiter zurecht, »kannst du dich denn nicht benehmen wie deine Schwester Anguille, versuch einfach, ihrem Beispiel zu folgen, noch nie habe ich sie mit diesen Halunken zusammen gesehen, außerdem kommt sie pünktlich nach Hause, und ich bin sicher, sollte irgendein Strolch ihr zu nahe kommen, wird sie nicht zögern, ihm zu antworten, was ich euch immer gesagt habe, ›wenn du ein ganzer Mann bist, geh zu meinem Vater, bevor du mit mir sprichst‹«, das war natürlich Blödsinn, also ehrlich, nie hätte ich so was zu irgendwem gesagt, meine Natur reichte aus, damit die Leute mir misstrauten, klar war ich ganz anders als Crotale, stimmt schon, aber ich war auch nicht die Anguille, die Connaît-Tout vor sich sah, da bildete er sich was ein, wie er später auf schreckliche Weise erfahren sollte, er wusste gar nicht, was er da sagte, sonst hätte er Crotale nie geraten, meinen Schritten zu folgen, meine lautlosen Schritte waren nämlich gefährlich unsichtbar für das bloße Auge, nicht jedes Auge kann dort sehen, wo die Stille ein gellender Hilferuf ist, das ist nun mal so, nur die grauen Zellen können in einer solchen Situation ihr Glück versuchen, wenn nicht die Fäkalien, um das Schauspiel zu würzen,

Connaît-Tout ritt weiter auf unseren Namen herum, um uns die Geheimnisse des Lebens näherzubringen, das war seine Art, die Dinge zu betrachten, ein armseliger Philosoph, weitab vom Schuss auf einer Insel im Indischen Ozean, aber ich hasste es, und wie, dass er mich mit Crotale verglich, er kannte mich ja gar nicht, ein schwerer Fehler war das, wenn er andere beurteilte und sich selber zum Maßstab nahm, Scheiße, wann begreifen diese Eiferer endlich, dass die Welt ein riesiger Ozean ist, wo die Lebewesen sich unterscheiden, auch wenn sie derselben Klasse angehören,

wo waren wir stehengeblieben, ach ja, wir sprachen von Connaît-Tout, unserem Moralisten, und wieso er unsere Namen gewählt hatte, er zog also weiter gegen Crotale vom Leder, nach einer kurzen Pause nur, »wer ist diese Klapperschlange, die all diese Burschen um sich schart, ist so dumm und spielt den Clown oder wird zu einem Kätzchen, das man anfasst, hätschelt und streichelt«, bei Crotale ging seine Fantasie immer gleich mit ihm durch, zu mir hatte Connaît-Tout sehr viel mehr Vertrauen, mindestens an drei Tagen der Woche schimpfte er mit Crotale, aber sie machte einfach weiter, trennte sich nicht von ihren Freunden und änderte auch nicht ihr Verhalten, im Gegenteil, sie genoss das Zusammensein mit ihrer Bande und schwänzte den Unterricht, das wusste ich, weil ich sie manchmal mit anderen Mädchen auf dem Schulhof sah, unter einem Baum, eine jede mit ihrem Freund, dort lagen sie dann auf dem Rasen wie Katzen, denen kalt war und die sich in der Sonne rekeln, aber ich ging weiter, als hätte ich nichts gesehen, und wenn mein Vater mich später fragte, gab ich immer dieselbe Antwort, »ihr Unterricht ist noch nicht zu Ende«, natürlich wusste Crotale, dass ich ihm nichts sagen würde, aber andere erzählten es Connaît-Tout, und diese Leute, das wussten wir auch, gehörten zu denen, die immer unter dem Seemandelbaum saßen, und unter diesem riesigen Baum, nicht weit von unserem Haus entfernt, passierten viele Dinge, aber he, trödeln wir nicht, du willst doch nicht in die ewige Ruhe eingehen, ohne dass wir erfahren, wie du in diesen Schlamassel geraten bist, verdammt noch mal, also weiter und quatsch nicht drum rum, Anguille, du hohle Träne, man darf sich nicht so dusselig anstellen, wenn man stirbt,

also wieder zurück, zurück zu Connaît-Tout und dem Tag, an dem der Ochse ihm auf den Fuß gepinkelt und diese Flut von Wörtern ausgelöst hatte, sein Quasselkopf war ganz rot geworden, als er von Crotale sprach, und die ganze Zeit fuchtelte er herum und grummelte irgendwas, ich konnte ja verstehen, dass der Ärger über den Ochsen und der Ärger über Crotales Abwesenheit durcheinandergerieten, mir wurde schon angst und bange, als ich ihn so sah, wutschnaubend wie ein Löwe, und abgesehen von einer Bemerkung zu dem Essen, das ich gekocht hatte, antwortete ich nichts, aber irgendwann hatte er seine Wut im Griff, und da hörten wir auf einmal die Haustür quietschen, das war so eine alte Blechtür, mit mehr als fünfzig Jahren auf dem Buckel, mein Vater hatte sie nämlich niemals ausgetauscht, seit er sie als junger Mann angefertigt hatte,

das war natürlich Crotale, die nach Hause kam, Connaît-Tout warf ihr einen strengen Blick zu, starrte sie lange an, und Crotale tat, als hätte sie nichts bemerkt, ließ nur wie üblich ein »Tag allerseits« fallen und ging weiter, schnurstracks in unser Zimmer, auch an diesem Tag, es dauerte immer eine Weile, bis sie wieder rauskam und mir beim Kochen half, wir hatten beide dasselbe Zimmer, ein ziemlich kleines, vor unserer Geburt hatten unsere Eltern es als Wohnzimmer benutzt, das Haus hatte also zwei Zimmer, dazu eine kleine Küche und ein winziges Bad, die Schularbeiten machten wir auch in diesem Zimmer, und wenn Crotale mich mit ihrem lauten Lesen nervte, ging ich hoch auf die Terrasse, ich lernte gerne dort oben, weil ich dort die friedliche Stille genießen konnte, meine Leidenschaft, meinen Felsen vor allem, merkt euch das gut,

wenn Crotale nach Hause kam und ihre unerträgliche Gleichgültigkeit vor sich hertrug, sagte Connaît-Tout nichts, so wie auch an diesem Tag, und ließ sie bis zum Abend in Ruhe, erst dann sprach er mit ihr, ein verzweifelter armer Teufel, und erklärte ihr noch mal den Sinn ihres Namens, und indem er ihr bis zum Abend Zeit gab, das war mir klar, hielt er sich an seine Sprüche, mit denen er uns immer in den Ohren lag, etwa »man isst das Fleisch nicht heiß, man muss es abkühlen lassen, so wie man auch keinem Haushuhn hinterherrennt, es kommt zu gegebener Zeit schon von allein in den Käfig«,

seit Crotale die elfte Klasse wiederholt hatte, versuchte mein Vater tatsächlich, weniger streng zu ihr zu sein, aber geändert hatte es nichts, Crotale benahm sich nicht anders als vorher, wie eine Hauskatze kam sie immer zur selben Zeit nach Hause, das heißt, immer zu spät, zwei Stunden nach dem Unterricht, obwohl das Gymnasium nicht weit war, selbst im Schneckentempo brauchte man höchstens fünfzehn Minuten, aber da Connaît-Tout wusste, dass Crotale noch mit ihrer Bande herumzog und erst spät kam, sagte er ständig, dass es ihm egal sei, wenn andere Eltern dem Treiben ihrer Kinder keine Bedeutung beimäßen oder ihr abweichendes Verhalten duldeten, er jedenfalls sei nicht bereit, es ihnen gleichzutun, deshalb ließ er sich am Schuljahresbeginn auch immer in der Schule blicken, er ging mit uns und informierte sich genauestens über unseren Stundenplan, beim Direktor und selbst bei den Lehrern, deren Namen er sich alle merkte und von denen viele später zu seinen Freunden wurden, klar, sie hofften, dass sie auf diese Weise beim Fischkauf ordentlich bedient würden, für ganz schön schlau hielten sich diese Lehrer, und sobald Connaît-Tout sie sah, versammelte er sie um sich wie ein weiser alter Mann, und in der Schule empfingen sie ihn überaus höflich und gaben ihm zu verstehen, dass er mit seiner Tätigkeit großen Respekt verdiene, weil er die Bürger ernähre, der alte Fischer fühlte sich also hoch geachtet, hätte gar nicht darüber lachen können, bei diesen Worten glaubte unser Moralist ja tatsächlich, er wäre ein bedeutender Mensch, er, der in einer Stadt wie Mutsamudu von Größe träumte und keinen Augenblick zögerte, sich mit Nelson Mandela zu vergleichen, sein Kampf, sagte er, sei es, für sich und die anderen Fische zu fangen, so wie er auch sagte, er habe sich dem Kampf gegen die Jugendkriminalität verschrieben, wozu er die Lehrer ebenfalls bewegen wollte, »wir alle, Sie und ich, sind gefordert«, sagte er, »übernehme ein jeder die Verantwortung«, und schon gab man ihm recht, und alles war heiteres Gelächter,

außer den Fächern prägte Connaît-Tout sich ein, was immer auf unserem Stundenplan stand, angefangen bei den Uhrzeiten, den Klassenräumen und den Namen der Lehrer, und obwohl die Fächer für ihn gar nicht wichtig waren, fragte ich mich schon, wie er es schaffte, in wenigen Minuten zu behalten, was wir in einem ganzen halben Jahr nicht in unsere Köpfe kriegten, das heißt die Uhrzeiten und die Klassenräume, einmal meinte ich zu Crotale, unser Vater Connaît-Tout würde sich die Fächer bestimmt nicht merken, weil es für ihn zu schwer sei, zu hoch für ihn, vielleicht verstand er gar nicht, was Philosophie war, Geografie oder auch Mathematik, dabei wusste ich genau, dass das nicht stimmte, nicht umsonst wurde er Connaît-Tout genannt, wie er immer sagte, das bekamen die Leute ständig von ihm zu hören, er wisse genauso viele Dinge wie die, die eine höhere Bildung genossen und sogar studiert hätten, ja, niemals hätte er zugegeben, dass er irgendwas nicht wusste, deshalb war dieser Name, Connaît-Tout, den Einwohnern von Mutsamudu und vor allem Mjihari auch so vertraut,

Connaît-Tout hatte nicht das Glück gehabt, weiter auf die Schule zu gehen, seine Eltern waren sehr arm gewesen, und obwohl sein Vater ebenfalls Fischer war, schaffte der es nicht, für den Unterhalt der Familie zu sorgen, so dass der junge Connaît-Tout die Schule verließ, die Mittelschule in Hombo, im siebten Schuljahr, lesen und schreiben konnte er also, nur war seine Schrift kaum zu entziffern, das war fast Irokesisch, ja, irgend so ein krudes Zeug, aber er selber sagte, das Wichtigste sei, lesen zu können, nicht schreiben, und als ich das hörte, musste ich innerlich lachen, ich dachte daran, was er uns immer sagte, wenn er angesichts eines Verlierers von einer uneingestandenen Sehnsucht sprach, das klang dann so, »Satan wollte auch das Paradies, er hat es nicht bekommen, aber gesagt hatte er es, voll Bitterkeit, was soll’s«, das Wichtigste war also, lesen zu können, sagte Connaît-Tout ohne jede Scham und machte eine selbstgefällige Miene, deshalb las er auch immer alles, was auf den Plakaten stand, an denen er vorbeikam, und nahm sich dabei Zeit, damit die Leute sahen, dass er lesen konnte und dass das ausreichte, als wäre er der Einzige, so ein Angeber, mit den Händen in den Taschen las er die Werbeplakate der großen Geschäfte an den Plätzen in der Medina, oder die Reklame der Apotheken, von diesem Franzosen zum Beispiel, der schon lange bei uns war, das ist die bekannteste Apotheke von Mutsamudu, glaube ich, die Pharmacie Patrick, dabei hätte Connaît-Tout es nie gewagt, einen Fuß über die Schwelle dieser Apotheke zu setzen, immer gab er vor, die Medikamente seien zu teuer, die Preise unangemessen, der Apotheker würde übertreiben, versuchen wir also erst mal zu verstehen, wer Connaît-Tout war, ein alter Geizhals nämlich, der seine Familie lieber mit Heilpflanzen behandelte, die seien wirksamer, wenn man jemanden kurieren wolle, sagte er, und zu Hause zog er dann über den Eigentümer der Apotheke her, »was bildet der sich ein, dieser Franzose, dass ich ihm mein Geld gebe, bloß weil seine Medikamente aus Paris kommen, sind das vielleicht Medikamente, die den Tod auf Erden abschaffen, Medikamente, die dafür sorgen, dass man nach dem Tod schnurstracks ins Paradies kommt oder was, das soll er uns mal erklären«, sagte er forsch, und wenn man ihn hörte, hätte man meinen können, er würde wirklich die Preise dieser Medikamente kennen, aber von wegen, das hatte er alles von Leuten, die noch geiziger waren als er, bestimmt Fischer, die sind alle vom selben Schlag,

Connaît-Tout verfolgte jeden Tag die Nachrichten aus aller Welt, er las die Zeitungsfetzen, die er irgendwo vom Boden aufsammelte, und wenn er auf ein Wort stieß, das er nicht kannte, unterbrach er nicht, sondern las einfach weiter, nahm das Stück Zeitung aber mit nach Hause und schlug im Petit Robert nach, den hatte er extra für uns gekauft, und in dieses Wörterbuch vertiefte er sich dann, bis seine Neugier stumpf geworden war, sein Leben lang legte er diese Angewohnheit nicht ab, daher kannte er auch den Sinn vieler Wörter, und genauso hatte er es mit unseren Namen gemacht,

Connaît-Tout war nämlich auf der Straße nach Mjihari über den herausgerissenen Teil einer Zeitschrift gestolpert, das war offenbar so eine Fachzeitschrift für Zoologie, und darin war er auf Erklärungen gestoßen, wie manche im Wasser und auf dem Land lebenden Tiere geboren werden und sich entwickeln, dazu gehörten die Schildkröten, die Frösche, die Aale, die Krebse, die Schlangen und die Skorpione, aber das alles interessierte ihn nicht umsonst, denn die charakteristischen Eigenschaften dieser Tiere sagten ihm viel, er war fasziniert von ihren Verteidigungsstrategien und ihrer Lebensweise, zum Beispiel erfuhr er so, dass der Aal, abgesehen davon, dass er verschiedene Lebensräume bewohnt, ruhig ist, geduldig, vorsichtig, außerdem hat er eine schleimige Haut, die ihm erlaubt, sich zu verteidigen, er kann also auf Bedrohungen reagieren, die ihn sonst teuer zu stehen kämen, selbst auf die allergrößte, das sind die Haie, und genau diese Taktiken, die die Tiere anwenden, um neue Kraft zu schöpfen und sich zu verteidigen, hatten es Connaît-Tout angetan, was auch der Grund dafür war, dass er seinen Kindern Namen gab, die bei uns nicht existierten, er wollte sich abheben, denn er war ein Mann, der sich gerne von den anderen unterschied, ja, der gerne die Köpfe durcheinanderbrachte, damit man ihn wahrnahm, »meine lieben Freunde«, so sprach er oft zu den Leuten, die unterm Seemandelbaum saßen, »ich lese Zeitung, darum solltet ihr zuhören, wenn ich euch eine Neuigkeit verkünde, ich bin der informierteste aller Fischer, also sperrt die Ohren auf, die Welt ist eine kuriose, das kann ich euch sagen, man muss nur alles auf den Kopf stellen, schon wird man respektiert, bekommt ein großartiges Begräbnis, und unsere Asche erhält ihren Platz in einem Pantheon wie in Paris, noch nie hat man Asche aus dem Pantheon von Paris in ein psychiatrisches Labor geschickt, um den Wurm zu bestimmen, der das Hirn des Verstorbenen bewohnte, die Unordnung sorgt in ihrem Furor also für eine Weiterexistenz, eine Weiterexistenz sogar der Parasiten, umso besser, ich werde es genauso machen«, und wenn er solche Reden hielt und sah, dass man ihm zuhörte, nahm es kein Ende, ermattet verließen die Leute einer nach dem anderen den Ort, bis nur noch die blieben, die auf den Bänken schliefen und grässlich schnarchten, Connaît-Tout machte dann verzweifelt Schluss und ging nach Hause, schnaufend wie ein Rind,

als unsere Mutter schwanger wurde, stand für Connaît-Tout mein Name bereits fest, der von Crotale nicht, weil er noch nicht wusste, dass meine Mutter mit Zwillingen schwanger war, er hatte nur den Namen Anguille im Sinn, »das ist ein weit verbreiteter Fisch, schlau, sehr begehrt und von allen anderen Fischen beneidet«, erklärte er uns, und er erzählte, an dem Tag, an dem er die Idee gehabt habe, sei er wie ein Wilder gerannt, um schnellstens nach Hause zu kommen, er hatte Mama verkündet, dass das Baby Anguille heißen sollte, »ob Junge oder Mädchen, das wird der Name sein«, sagte er noch, natürlich hatte sie nicht verstanden, was er meinte, aber dann erklärte Connaît-Tout es ihr, »ich würde mich gerne abheben, möchte aus meinem Kind ein Vorbild machen, für die ganze nächste Generation, ein Kind, das sich einen Platz in der Welt erkämpfen kann, das den Mund nur auftut, um die dunklen Seelen zu erleuchten«, und Mama hörte aufmerksam zu, während er dieses Kind schilderte, von dem er in seinem Wahn träumte, damals dachte er ja noch, er könnte die Welt verändern, und dann sagte er, »wenn es ein Mädchen wird, soll es wissen, wie es den Fallen der Jäger entgeht, denn davon gibt es viele, im Leben muss man immer wissen, wie man mit allen Arten von Fallen fertigwird, damit man heil wieder rauskommt, und wie unsere Vorfahren sagten, einmal geblinzelt, schon verloren, Pech für die verträumten Zikaden«, ja, Connaît-Tout war so vernarrt in seine Träume, dass er sich ständig mit den Eltern anlegte, die ihre Töchter schon mit fünfzehn über ihr Schicksal entscheiden ließen, die Eltern seien schließlich verantwortlich für diese jungen Dinger, sagte er, und die hielt er für Versager, für die säuerlichsten Gewächse auf der Welt, nicht besser als die Jungs, die auf den Straßen von Mutsamudu herumhingen, »ich werde alles tun, damit mein Blut nicht vom Weg abkommt«, bekam meine Mutter ein ums andere Mal zu hören, was sie wortlos hinnahm, so wie immer, doch was den Namen Anguille betraf, traute sie ihren Ohren nicht, nur ließ Connaît-Tout ihr keine Zeit, was auch immer zu antworten, außerdem war er sowieso keiner, der seine Meinung ändert, will der Hahn krähen, muss der Mensch still sein und ihm zuhören, jawohl, ohne den kleinsten Laut, und als meine Mutter ihm dann zu erklären versuchte, dass das viel zu ausgefallen und auch anmaßend sei, einem Kind einen solchen Namen zu geben, holte er aus und legte noch einen drauf, »alles ist ausgefallen im Leben, warum nicht ein ausgefallener Name für das eigene Kind, dann macht es schon vor der Geburt Bekanntschaft mit dem, was es auf Erden erwartet, mit einer solchen Welt ist nicht zu spaßen, heute kann jeder Name die Bedeutung erhalten, die man ihm zuspricht, selbst Tieren gibt man Namen von Menschen, warum dann nicht Menschen auch Tiernamen, also, was soll das, da kann ich ja nur lachen, als hättest du nie den Namen der Nachbarskatze gehört, wie heißt sie noch mal, Bacari, das findest du wohl gar nicht ausgefallen, oder als die Sowjets am 3. November 1957 diese kleine Hündin in den Weltraum schickten, Laika, ein hübscher Name, wie ihn eine schöne Frau wie du verdient hätte, das findest du vernünftig oder was, nun sag schon«, und so argumentierte Connaît-Tout endlos weiter, an Vorwänden mangelte es ihm nie, wenn seine Redseligkeit mit ihm durchging, und wann immer er jemanden überzeugen wollte, war ihm keine Geschichte der Welt, ob wirklich oder erfunden, zu fern, »neulich habe ich dir von diesem Schriftsteller erzählt, der so viel Erfolg hatte mit einer Geschichte über ein Tier, das sich über die Menschen lustig macht, da weiß man doch gleich, in welcher Welt wir leben, oder, frag mich ruhig, woher ich das alles habe, das habe ich aus den Zeitungsseiten, die ich jeden Tag lese, sollen die Leute mich ruhig für verrückt halten, das ist mir egal, irgendwann wird ihnen schon aufgehen, dass der Hühnerarsch nur einer ist und trotzdem mehrere Dinge tut, kacken, pinkeln, bumsen und Eier legen«, ja, er konnte nichts sagen, ohne es durch lapidare oder zweideutige Sprüche zu unterlegen, manchmal fragte ich mich, ob sein Denken nicht wie ein mechanisches Gerät war, das allein von Batterien in Gang gehalten wurde, er hielt sich für den intelligentesten Menschen von allen, platzte vor Stolz, wenn er zu Mama sagte, »ich lese die Zeitungen, die ich aus den Abfällen am Strand klaube, während die anderen bloß träumen, ich schwöre dir, selbst die Leute, die sie wegwerfen, wissen nicht, was drinsteht, da bin ich mir sicher, sie kaufen sie nur, um uns weiszumachen, sie seien gebildet, die glauben, wer eine Zeitung für ein paar Sekunden in der Hand hält, die Brille auf der Nasenspitze, gilt schon als Intellektueller, also ehrlich, wenn ich an keiner Zeitung vorbeigehen kann, selbst wenn sie zerfetzt ist, dann weil ich ein gieriger Leser bin, beim Angeln lese ich alles, manchmal vergesse ich sogar, dass ich angle, ich werfe meine Leine aus, lese, und ein paar Schlaufische nutzen es aus und futtern mir den Köder weg, lassen nur einen leeren Angelhaken zurück, das passiert mir oft, aber egal, ich verfluche diese verdammten Fische, werde es aber nie leid, und wenn ich morgens in der Frühe aufs Meer fahre, suche ich vorher am Strand immer nach irgendwelchen Zeitungsresten und nehme sie mit, so habe ich auch von all den Dummheiten erfahren, die die Menschen begehen, weit schlimmer übrigens als das, was ich zu tun gedenke, ich will wenigstens meine Nachkommenschaft schützen, habe ein klares Ziel, verstehst du, und darauf kommt es an in der Welt, zum Überleben muss man sich das Gegenteil von dem einfallen lassen, was die anderen tun, Frieden werden wir nur haben, wenn wir unser Kind Anguille nennen, und weniger Ärger habe ich dann auch, denn die Leute werden sich vor ihm in Acht nehmen, außer dem Menschen, der sich ihm wahrhaft würdig erweist, schließlich hat ein Mensch, der ein Herz hat, keine Angst, auf ein Tier zuzugehen, und sei es noch so wild, da weicht das Tier zurück, es wäre ja auch keins, wenn es keine Fallen gäbe, die die Jäger überall auslegen«, und so blieb meiner Mutter nichts anderes übrig, als sich mit der Idee abzufinden, sie war einfach nur sprachlos, wie versteinert, bezwungen,