Die Schimäre von Fouesnant - Jean-Pierre Kermanchec - E-Book

Die Schimäre von Fouesnant E-Book

Jean-Pierre Kermanchec

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  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Die Hobbyornithologin Swana Roué will an die Pointe de Trévignon fahren und das dortige Naturschutzgebiet besuchen, ihrer Meinung nach das wundervollste Brutgebiet für die verschiedenen Vögel der Küste der Cornouaille. Früh am Morgen fährt sie in die Dünenlandschaft am Loc´h Coziou. Sie hat ihr Fernglas in der Hand und will ihren Blick gerade auf einen im Wasser stelzenden Reiher lenken als ein Schuss die Ruhe durchbricht. Der Schuss kommt von der gegenüberliegenden Seite des Weihers. Swana beobachtet durch ihr Fernglas eine Gestalt in einem schwarzen Umhang, deren Gesicht sie nicht erkennen kann. Die Gestalt beugt sich über etwas auf dem Boden Liegendes. Swana nimmt ihren Fotoapparat und macht eine Reihe von Aufnahmen. Sie hat den Eindruck, dass die Gestalt zu ihr herübergesehen und dann die Wiese verlassen hat. Swana will sich die Stelle genauer ansehen und geht um den See herum. Dort angekommen ist aber nichts zu sehen. Sie hätte schwören können, einen Gegenstand gesehen zu haben. Damit beginnen ihre Schwierigkeiten.

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Jean-Pierre Kermanchec

Die Schimäre von Fouesnant

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Epilog

Vorankündigung

Bisher erschienen

Impressum neobooks

Kapitel 1

Die Schimäre von Fouesnant

Jean-Pierre Kermanchec

Es war früh am Morgen, gerade erst 4 Uhr, als Swana Roué ihren Fotorucksack auf den Rücken schwang und ihr Fernglas zur Hand nahm. Die Sonne hatte es noch nicht über den Horizont geschafft, und die Schatten, die die Straßenbeleuchtungen um diese Uhrzeit auf die Bürgersteige warfen, ähnelten noch kleinen Monstern. Die zahlreichen Katzen, die über die ruhige, wenig befahrene Straße der Allée de Penfoulic huschten, schienen alle grau zu sein.

Swana verließ ihr Haus und ging zu ihrem Renault Clio, der unter dem kürzlich erbauten Carport stand. Sie wollte an die Pointe de Trévignon fahren und das dortige Naturschutzgebiet besuchen und fotografieren, ihrer Meinung nach das wundervollste Brutgebiete für die verschiedenen Vögel der Küste in der Cornouaille.

Die Allée de Penfoulic erschien ihr um diese frühe Morgenstunde noch unheimlicher als bei Tag. Die enge Allée, an der nur an wenigen Stellen zwei Fahrzeuge aneinander vorbeikamen, war auf beiden Seiten von steinigen Hügeln begrenzt, die die Bretonen talus nannten, und auf denen sich die in die Jahre gekommenen, und daher schon recht hohen, Bäume wie schwankende Riesen im Wind bewegten. Während der Wintermonate kam durch die laubfreien Äste noch etwas Licht hindurch, aber jetzt im Sommer hatte man selbst im hellen Sonnenschein den Eindruck, durch einen dunklen Schlauch zu fahren. Kurz vor dem Sonnenaufgang erhellten nur die Scheinwerfer ihres Wagens den Weg durch die Allee. Nach einem Kilometer erreichte sie die Hauptstraße und fuhr auf Concarneau zu. Swana mochte diese frühen Morgenstunden, wenn nur wenige Autofahrer unterwegs waren. Am frühen Sonntag musste sie allerdings besonders gut aufpassen. Einige der ihr entgegenkommenden Fahrzeuge könnten Nachtschwärmer sein, die den Samstagabend bis in die Morgenstunden des Sonntags ausgedehnt hatten und alkoholisiert, müde und high nach Hause fuhren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihr ein Fahrzeug auf der falschen Fahrbahnseite entgegenkam.

Sie hatte Glück, die Fahrt an die Trévignon war reibungslos verlaufen. Swana stellte ihren Clio auf dem Parkplatz am Maison du Littoral ab, der um diese Uhrzeit völlig leer war. Erst am späteren Vormittag würde er sich mit Touristen füllen, die an den herrlichen Strand kamen, um ihren Körper der Sonne preiszugeben und die Kinder mit ihren kleinen Eimerchen im Sand spielen zu lassen. Swana schätzte den Strand auch, gerne ging sie am Rand des Wassers spazieren und hielt Ausschau nach den Amethysten, die hier zu finden waren.

Sie nahm ihren Rucksack aus dem Wagen, schulterte ihn, schnappte sich das Fernglas und machte sich auf den Weg zu dem Beobachtungspunkt, den sie vor einigen Jahren ausgewählt hatte. Der Weg führte sie an der Schranke, die den Zugang für Fahrzeuge zum Schutzgebiet versperrte, an dem Bunker aus dem zweiten Weltkrieg, der übersäht war von Graffiti und an dem Schilfgürtel des dahinterliegenden Weihers vorbei. Nach weiteren vierhundert Metern hatte sie ihren Lieblingsplatz erreicht. Es war ein kleiner Hügel, umgeben von Artemisia maritima, dem Strand-Beifuß, herrlichen Stranddisteln, die ihre hübschen blauen Blüten zeigten, und gelben Stechginstersträuchern, so dass sie sich sehr gut dahinter verbergen konnte und von den Vögeln nicht sofort bemerkt wurde. Sie nahm ihren Fotoapparat und das Stativ aus dem Rucksack, baute alles auf, setzte sich ins noch feuchte Gras und wartete. Geduld war das Wichtigste bei ihren Beobachtungen. Mit dem Fernglas suchte sie den Schilfgürtel und die Wasseroberfläche auf der Suche nach Enten, Reihern, Möwen, Kormoranen und was sich sonst noch hier tummelte ab.

Swana fotografierte jeden entdeckten Vogel und hielt sowohl die Anzahl der Vogelarten als auch deren Namen fest. Ihr Notizbuch füllte sich bei jedem neuen Ausflug an die Trévignon. Bachstelzen, Blässhühner, Brandenten, Eichelhäher, Kormorane, Sumpfschnepfen und Lachmöwen sowie Seidenreiher und Turmfalken hatte sie bereits beobachten können.

Swana Roué saß jetzt schon seit über einer Stunde an ihrem Beobachtungspunkt. Die Sonne war bereits aufgegangen und der Himmel leuchtete im Osten herrlich orangerot. Zahlreiche Silbermöwen flogen über den Weiher und die Dünen, um Nahrung aus dem Meer zu holen. An manchen Tagen wanderte Swana am Ufer entlang und beobachtete die Regenpfeifer, Gravelots wie man sie hier nannte, diese kleinen lustigen Vögel, die dem abfließenden Wasser nachliefen und ihre Nahrung im Sand suchten. Sobald die Ausläufer der nächsten Wellen über den Sand flossen, rannten sie vor dem herannahenden Wasser weg. Dieses hin und her der kleinen Vögel amüsierte Swana immer wieder. Sie hatte unzählige Aufnahmen von den kleinen witzigen Vögelchen mit dem hübschen Collier um ihren Hals.

Sie hatte ihr Fernglas in der Hand und wollte ihren Blick gerade auf einen im Wasser stelzenden Reiher lenken, da störte ein Knall die Ruhe, ein Schuss. Die Vögel flogen in hektischem Durcheinander auf und die Enten entfernten sich mit lautem Geschnatter. Swana wandte ihren Kopf in Richtung der Lärmquelle. Der Knall oder Schuss war von der Seite des Weihers gekommen. Swana hob das Fernglas und sah in die Richtung. Sie konnte eine Gestalt ausmachen, die große Ähnlichkeit mit Merlin aus der Artus-Sage aufwies. In ihrem Buch, das sie bereits als Kind gelesen hatte, gab es ein Bild, das den Zauberer mit einem langen Kapuzenumhang zeigte. Genau einen solchen Umhang trug die Gestalt auf der anderen Weiherseite. Die Entfernung zwischen ihr und der Gestalt betrug bestimmt 300 Meter. Selbst durch das Fernglas konnte sie das Gesicht des Mannes, sie nahm an, dass es ein Mann war, nicht erkennen. Sie sah nur, dass die Gestalt sich über etwas beugte, das auf dem Boden lag. Swana schwenkte ihren Fotoapparat und drückte auf den Auslöser. Jetzt erhob sich die Person und sah sich um. Swana hatte das Gefühl, dass sie zu ihr herübersah. Instinktiv duckte sie sich und versuchte, sich hinter den Ginstersträuchern zu verstecken. Vorsichtig blickte sie wieder über das Gestrüpp hinweg auf die andere Seite.

Die Gestalt ging über die Wiese und war dabei, aus ihrem Blickfeld zu verschwinden. Swana schwenkte den Fotoapparat erneut und versuchte, weitere Bilder von ihr zu erhaschen. Sie drückte wieder auf den Auslöser. Sie war neugierig, sie wollte wissen, was dort drüben vorgegangen war. Rasch packte sie alles zusammen und machte sich auf den Weg um den Loc´h Coziou, wie der Weiher auf Bretonisch hieß. Obwohl die Stelle lediglich 300 Meter Luftlinie von ihrem Standpunkt entfernt lag, musste sie fast eineinhalb Kilometer um den See gehen. Nach zwanzig Minuten hatte sie die Stelle erreicht. Sie suchte das Gebiet nach einem auffälligen Gegenstand ab. Aber sie fand nichts. Sie nahm den Fotoapparat aus dem Rucksack und betrachtete noch einmal das Bild, das sie vor ihrem Aufbruch aufgenommen hatte. Es war eindeutig, an der Stelle, an der sie jetzt stand, hatte ein Gegenstand gelegen. Aber sie konnte hier nichts finden.

Hatte der Vermummte das Objekt entfernt, während sie auf dem Weg um den See war? Dann würde die Person sich immer noch hier aufhalten können. Swana bekam Angst. Sie sah sich um, konnte aber nichts und niemanden erkennen. Sie nahm ein weiteres Foto von der Wiese auf und machte sich dann auf den Weg zurück zu ihrem Fahrzeug.

Swana legte ihren Rucksack in den Kofferraum und stieg ein. Beim Verlassen des Parkplatzes ließ ihre Anspannung nach. Was war auf der Wiese geschehen? Wer war der Vermummte? Wo hatte er sich versteckt? Fragen, die sie gerne beantwortet hätte.

Auf der Fahrt zurück nach Fouesnant kreisten ihre Gedanken unentwegt um das Geschehen auf der Wiese. Sie nahm sich vor, das Foto später auf ihrem Computer genauer zu betrachten, vielleicht könnte sie auf dem Bild doch noch etwas entdecken. Swana war so sehr in Gedanken, dass sie nicht bemerkte, dass ihr ein blauer Peugeot 206 folgte.

Kapitel 2

Ergat Lozac´h, ein kräftiger und muskulöser Mann von 42 Jahren, schritt gemächlich über den sandigen, steinigen und ausgetretenen Weg, der zwischen den Dünen der Trévignon und dem Loc´h Coziou vorbeiführte. Hier führten die einen ihre Hunde aus, die anderen kamen auf ihrer Wanderung um die Küste vorbei. Es war 10 Uhr, ein herrlicher Sonntagmorgen. Der Himmel hatte sich aufgehellt und die Sonne strahlte über der Trévignon. Vor wenigen Stunden hatte es noch nach Regen ausgesehen, jetzt deutete nichts mehr darauf hin. Das Wetter änderte sich schnell in der Bretagne. Die Bretonen hatten recht mit ihrer scherzhaften Bemerkung, in der Bretagne sei es immer schön, mindestens fünf Mal am Tag.

Ergat Lozac´h hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Gelege der Gravelots zu schützen. Gemeinsam mit anderen Naturschützern der Gemeinde suchte er die Stellen am Strand auf, an denen die Vögel ihre Eier im Sand abgelegt hatten, legte Umzäunungen an und überwachte, dass die Badegäste den Schutz respektierten. Ergat war für den Strand, Plage de Kerouini, zuständig.

Um diese Zeit waren nur wenige Strandbesucher vor Ort, die umzäunten Brutstätten wurden nicht belästigt. Die zwei Kilometer, vom Maison du Littoral bis zum Strand von Kerouini, hatte er in zwanzig Minuten abgeschritten. Die Umzäunungen waren intakt. Den Rückweg zum Parkplatz würde er heute über die Nordseite des Loc´h Coziou nehmen. Hier führte zwar kein angelegter Weg entlang aber Ergat wusste, wie er gehen konnte, ohne die Vögel zu stören und ohne das Schutzgebiet zu schädigen. Er hatte gestern einen Reiher entdeckt und wollte sich heute davon überzeugen, dass der Vogel noch hier weilte. Er suchte mit seinem Blick den ausgedehnten Schilfgürtel des Sees nach dem großen Vogel ab. Das Schilf bewegte sich leicht im Wind und rauschte sacht. Höchstens 250 Meter links oberhalb seines Weges lagen die Häuser der Ansiedlungen von Kerviniec und Kerlin.

Er hatte gut die Hälfte des Weges um den See zurückgelegt, da sah er einen Gegenstand im Schilf liegen. Er konnte nicht sagen, um was es sich handelte. Er müsste näher herangehen. Der Boden unter seinen Schuhen gab mehr und mehr nach, er befand sich hier bereits in dem sumpfigen Teil um den See. Er ging weiter und näherte sich dem Gebilde. Er war jetzt keine vier Meter mehr von der Stelle entfernt als er erkannte, dass es sich bei dem Objekt um einen menschlichen Körper handelte. Auf dem morastigen Grund war deutlich der Kopf eines Mannes sichtbar, der restliche Körper lag zwischen dem Schilf versteckt.

Ergat griff zu seinem Handy und wählte die Notrufnummer der Gendarmerie von Trégunc.

Dinan Le Coc nahm das Gespräch entgegen.

„Ergat Lozac´h hier, ich habe eine Leiche am nördlichen Ufer des Loc´h Coziou gefunden“, sagte er.

„Sie haben eine Leiche gefunden? Wo genau haben Sie die Leiche gefunden, Monsieur Lozac´h?“, fragte der Gendarm nach.

„Zwischen Kerviniec und Kerlin. Sie kennen bestimmt den Campingplatz, Les Étangs. Wenn Sie die Straße nehmen, die an dem Platz vorbei zum See führt, dann sind Sie genau auf der Höhe der Fundstelle.“

„Bitte warten Sie dort auf uns, wir sind sofort bei Ihnen“, erwiderte der Gendarm und legte auf.

Ergat steckte sein Handy in die Tasche und wartete ab. Von Trégunc bis hierher würden die Gendarmen bestimmt zehn Minuten brauchen. Ergat trat ein gutes Stück von der Leiche zurück und setzte sich ins trockene Gras der Wiese. So hatte er sich seinen morgendlichen Spaziergang nicht vorgestellt. An den Reiher dachte er schon nicht mehr.

Nach wenigen Minuten hörte er die sich nähernden Sirenen der Fahrzeuge der Gendarmerie. Kurz darauf kamen die beiden Gendarmen auf ihn zu.

„Dinan le Coc, mein Kollege Claude Huet“, stellten sie sich ihm vor.

„Wo liegt der Leichnam?“, fragte le Coc.

„Dort unten, keine zehn Meter entfernt, zwischen dem Schilf.“ Ergat zeigte auf die Stelle.

Die beiden Gendarmen gingen in die gewiesene Richtung, blieben dann stehen und besprachen leise etwas. Dann kehrten sie zu Ergat zurück.

„Wir werden die Fundstelle absperren und die police judiciaire benachrichtigen. Bitte warten Sie hier bis die Kollegen aus Quimper eintreffen“, bat le Coc und ging mit seinem Kollegen zum Dienstwagen.

Kapitel 3

Anaïk Pellen-Bruel, so lautete nun ihr vollständiger Name, war seit einer Woche verheiratet.

Die Hochzeit mit Brieg war ein großartiges Fest gewesen. Die Braut im weißen Hochzeitskleid erstrahlte unter dem königlichen blauen Himmel wie eine Prinzessin. Selbst die Verbrecher und Mörder schienen Rücksicht auf den Hochzeitstermin genommen zu haben, denn in den Tagen vor dem großen Ereignis waren keine großen Vorkommnisse passiert. Die Trauung auf dem Standesamt in Sainte-Marine war von den engsten Familienmitgliedern und den Freunden der beiden begleitet worden. Die anschließende kirchliche Trauung, die hatte sich Anaïk gewünscht, hatte in der Chapelle de Sainte-Marine stattgefunden. Die kleine Kapelle war bis auf den letzten Platz gefüllt gewesen, zahlreiche Neugierige hatten auf dem Platz vor der Kapelle warten müssen, um einen Blick auf die Braut werfen zu können. Anaïks Kollegin Monique und Briegs Freund Moran waren die Trauzeugen gewesen.

Im Auto-Cortège sind die geladenen Gäste danach zum Manoir de Kerazan gefahren. Hupkonzerte hatten die Fahrzeuge auf ihrem Weg begleitet. Die Feier hätte nicht glanzvoller sein können.

Kurz vor Ende des großen Festes hatte Anaïk ihren Brautstrauß geworfen. Er war in weitem Bogen hinter ihr durch die Luft geflogen. Monique hatte ihn aufgefangen. War das ein Wink des Schicksals? Wäre ihre Kollegin die Nächste, die in den Stand der Ehe träte?

Monique und ihr Freund Alain kannten sich nicht so lange, sodass sie von einer Hochzeit noch nicht sprachen. Vielleicht würde der aufgefangene Brautstrauß die Situation verändern.

Anaïk und Brieg hatten ihre Hochzeitsreise nach Madagaskar für November geplant. In der Zeit war das Klima für gewöhnlich sehr angenehm auf der großen Insel.

Anaïk saß jetzt wieder in ihrem Büro, das Telefon riss sie aus ihren Gedanken.

„Pellen-Bruel“, meldete sie sich. An den neuen Namen hatte sie sich schnell gewöhnt.

„Madame La Commissaire?“, vernahm sie eine fragende Stimme.

„Ja, Pellen-Bruel“, antwortete sie und wartete.

„Madame La Commissaire, hier ist Dinan le Coc aus Trégunc. Wir haben im Naturschutzgebiet an der Pointe de Trévignon eine Leiche. Die Fundstelle ist bereits abgesperrt.“

„Wenn Sie mir den Fundort bitte genau beschreiben, dann kommen wir sofort“, erwiderte Anaïk und notierte sich die Ortsbeschreibung des Gendarmen.

Umgehend informierte sie Yannick Detru, ihren Pathologen und Dustin Goarant, den Leiter der Spurensicherung.

„Muss das denn noch vor dem Mittagessen sein?“, fragte Yannick scherzhaft, dann legte er den Hörer auf.

Anaïk schnappte sich ihre Handtasche und eilte aus ihrem Büro. An der Tür zu Monique Duponts Zimmer blieb sie stehen und informierte ihre Kollegin über den neuen Mordfall. Gemeinsam fuhren sie an die Pointe de Trévignon.

Sie stellten das Auto auf dem Weg ab und gingen zu Fuß über die Wiese zu dem kleinen See. Die Absperrbänder flatterten leicht im Wind und die beiden Gendarmen waren nicht zu übersehen.

„Bonjour Mesdames Les Commissaires“, begrüßte le Coc die Kommissarinnen und führte sie ohne lange Vorrede zur Fundstelle.

„Wer hat die Leiche gefunden?“, fragte Monique den Gendarmen.

„Das ist Monsieur Ergat Lozac’h gewesen. Der Mann wartet dort drüben auf Sie.“ Der Gendarm zeigte auf den Mann.

Während Anaïk zur Leiche ging, machte sich Monique auf den Weg zu Monsieur Lozac‘h.

Yannick Detru und Dustin trafen gemeinsam an der Fundstelle ein. Anaïk ließ Yannick den Vortritt und wartete geduldig, ebenso wie Dustin, bis Yannick seine ersten Untersuchungen gemacht hatte. Nach wenigen Minuten stand Yannick auf und kam zu Anaïk.

„Der Mann ist erschossen worden! Der Schuss ist direkt ins Herz gegangen, alles andere kann ich erst nach der Obduktion sagen. Der Mann ist heute Morgen erschossen worden. Ich schätze, dass es zwischen sechs und sieben Uhr passiert ist.“

„Danke Yannick, dann haben wir ja schon einen ersten Anhaltspunkt“, sagte Anaïk und wollte sich den toten Mann jetzt ansehen.

„Darf ich zuerst noch die Spuren sichern?“, fragte Dustin.

„Wann genau haben Sie die Leiche gefunden“, hörte sie Monique fragen.

Der kräftige muskulöse Mann neben Monique sah auf seine Uhr, bevor er zu einer Antwort ansetzte.

„Wenn ich das richtig sehe, dann muss es gegen elf Uhr gewesen sein. Ich habe die Gendarmerie sofort angerufen.“

„Aus welcher Richtung sind Sie gekommen?“, fragte Monique weiter.

„Ich arbeite als freiwilliger Helfer bei der Überwachung der Nistplätze der Gravelots mit. Ich bin vom Maison du Littoral aus zum Strand von Kerouini gegangen, um die Absperrungen rund um die Nistplätze zu überprüfen und bin dann hier vorbeigekommen.“

„Das ist aber nicht der direkte Weg. Hier kann ich keinen Fußweg erkennen.“

„Da haben Sie völlig Recht. Ich bin rund um den See gegangen, um einen besseren Blick auf die Vögel zu haben. Gestern habe ich hier einen Reiher gesehen und wollte wissen, ob der Vogel sich immer noch hier aufhält. Deswegen bin ich über die Nordseite des Loc´h gegangen.“

„Bonjour Monsieur“, mischte sich jetzt Anaïk in das Gespräch ein.

„Haben Sie auf ihrem Weg irgendetwas Außergewöhnliches beobachtet?“

„Nein, nichts. Es sind mir nicht einmal Spaziergänger begegnet.“

„Sie haben also niemanden getroffen?“

„Nein, wie ich schon gesagt habe, niemand ist mir auf dem GR oder am See entlang begegnet.“

„Ist Ihnen ein Fahrzeug aufgefallen als Sie beim Maison du Littoral angekommen sind?“, fragte Monique, die sich erinnerte, dass es dort einen großen Parkplatz gab.

„Nein, ich habe kein Fahrzeug gesehen. Der Platz ist völlig leer gewesen.“

„Dann bedanken wir uns bei Ihnen“, sagte Monique und wandte sich zu Anaïk.

„Hast du schon einen Anhaltspunkt?“

„Noch nicht, Dustin ist gerade dabei, die Spuren zu sichern. Vielleicht findet er ja einen Ausweis. Wenn Monsieur Lozac´h kein Fahrzeug auf dem Parkplatz am Maison du Littoral gesehen hat, dann muss der Mann zu Fuß unterwegs gewesen sein“, meinte Anaïk.

„Verzeihen Sie Madame La Commissaire, wenn ich mich einmische. Aber der Tote könnte seinen Wagen auch auf einem der anderen Parkplätze stehen haben. Hier an der Küste gibt es eine ganze Anzahl von Parkplätzen. Zum Beispiel der Parkplatz beim Loch ar Guer, der liegt am Nudistenstrand, dem Plage de Kerouini, somit nur wenige Schritte vom westlichen Ende des Sees entfernt, dann gibt es noch die Parkplätze unmittelbar an der Straße zum Maison du Littoral“, meinte Monsieur Lozac´h.

„Danke für den Hinweis, wir werden diese Möglichkeiten überprüfen“, erwiderte Anaïk und ging zu Dustin.

„Hast du schon etwas für uns?“

„Ja und nein, der Mann hat kein Portemonnaie bei sich gehabt aber wir haben einen Autoschlüssel gefunden. Der Schlüssel gehört zu einem Rover 75. Das Fahrzeug wird schon lange nicht mehr gebaut. Ich bin mir nicht sicher aber ich glaube, dass die Produktion 2005 eingestellt worden ist. Der Mann besitzt damit fast schon einen Oldtimer. Dann habe ich noch ein Handy sichergestellt, allerdings befinden sich keine wesentlichen Daten darauf. Es sieht fast so aus, als habe er das Handy erst vor Kurzem erworben. Die Kontaktliste ist fast leer. Die wenigen Anschlüsse gehören Personen, die in Großbritannien leben. Wir haben nicht viel gefunden, wir suchen aber weiter.“

„Danke Dustin“, sagte Anaïk und machte sich auf den Weg zu ihrem Dienstwagen. In ihrem Fahrzeug lagen einige Landkarten, sie wollte sich die Gegend auf der Karte ansehen.

„Monsieur Lozac´h hat von einem weiteren Parkplatz beim Strand von Kerouini gesprochen. Das müsste dieser hier sein.“ Anaïk zeigte auf eine Stelle auf der Karte. Vielleicht finden wir diesen alten Rover dort.“

„Oder auf den Parkplätzen hier unten, kurz vor der Pointe de Trévignon.“ Monique zeigte auf die Straße, die zur Spitze führt.

„Lass und beides überprüfen“, sagte Anaïk, faltete die Karte zusammen und stieg ein.

Sie folgten der Route des Étangs. Die Straße machte eine Kurve und erlaubte einen Blick auf den Parkplatz vor dem Maison du Littoral. Dort stand nur ein Fahrzeug, vermutlich der Wagen von Monsieur Lozac´h. Sie fuhren auf der Straße weiter, überquerten eine kleine Brücke und konnten schon vom Weitem einen nächsten Parkplatz rechts der Straße sehen, der war in ihrer Karte nicht verzeichnet. Aber auch dort stand kein Auto. Anaïk wendete und fuhr zurück. Jetzt suchten sie die Route de Kerouini, folgten dem Hinweis zum Strand und erreichten den Parkplatz nach einem weiteren Kilometer.

Der Platz war von der Straße aus nicht gut einsehbar, ein Talu begrenzte ihn. Sie fuhren unter der Höhenbegrenzung hindurch. Am hinteren Ende des Parkplatzes stand ein Wagen. Es könnte ein Rover sein. Anaïk hielt hinter dem Fahrzeug und stieg aus.

„Der ist in England zugelassen“, meinte Monique. LE54ZTL war auf dem Nummernschild zu lesen, daneben GB.

„Wenn das der Wagen unseres Toten ist, dann könnte er Engländer sein. Ein Tourist? Das ist um diese Jahreszeit keine Seltenheit“, meinte Anaïk und griff bereits zum Autoschlüssel, den Dustin ihr gegeben hatte. Intuitiv drückte sie auf den Schlüssel aber der Wagen hatte noch keine Zentralverriegelung. Sie ging an die Fahrertür und steckte den Schlüssel ins Schloss. Mühelos ließ sich die Tür öffnen.

„Wir haben das Fahrzeug gefunden“, stellte Anaïk fest und zog sich Latexhandschuhe an, während Monique bereits Dustin anrief, um ihm von dem Fahrzeugfund zu berichten.

„Im Handschuhfach liegt Munition und ein Waffenschein“, sagte Anaïk. Sie nahm den Waffenschein heraus.

„Ein Privatdetektiv. Die Waffe ist zugelassen auf einen Dan Cromwell aus London, Brunswick-Gardens-Street, Kensington“, konstatierte Anaïk und tütete den gefundenen Waffenschein ein. Äußerlich zeigte das Fahrzeug keinerlei Schäden. Es hatte niemand versucht, das Fahrzeug aufzubrechen. Anaïk verließ den Parkplatz und suchte den Weg zum See, einen Fußweg, der zum Naturschutzgebiet und zum Strand führte. Dan Cromwell musste über diesen Weg zum See gegangen sein. Warum hatte er hier geparkt und war zum See gegangen? Hatte er jemanden verfolgt? War er auf der Suche nach einer Person gewesen?

„Wir verschließen den Wagen und bringen den Schlüssel Dustin zurück. Danach machen wir uns wieder auf den Weg ins Kommissariat“, meinte Anaïk.

Dustin war immer noch mit der Sicherung aller Spuren rund um die Fundstelle beschäftigt als sie bei ihm ankamen.

„Der Schlüssel zum Fahrzeug von Mister Cromwell“, sagte Anaïk und gab Dustin die Plastiktüte.

„Hat der Tote bereits einen Namen?“ Dustin sah Anaïk erstaunt an.

„Ja, im Handschuhfach lag ein Ausweis. Der Mann ist Privatdetektiv aus London. Vielleicht hat er hier jemanden gesucht oder observiert. Sieh dir das Fahrzeug bitte genauer an.“

„Wenn du mir noch den Standort des Fahrzeugs verrätst, dann mache ich es sobald wir hier fertig sind. Der Tote hatte eine Pistole in der Tasche. Wir haben inzwischen mehrere Schuhabdrücke gefunden und eine Patronenhülse, 9 mm. So wie es aussieht, ist der Mann hier erschossen worden. Der Fundort ist also auch der Tatort“, sagte Dustin.

„Der Wagen steht auf dem Parkplatz an der Route de Kerouini Dustin“, antwortete Monique und wandte sich dann Anaïk zu.

„Bevor wir zurück ins Kommissariat fahren, können wir doch noch mit den Bewohnern der Häuser dort oben sprechen.“ Monique zeigte auf die Häuser, an denen sie ihren Wagen abgestellt hatten.

„Wenn der Mann hier erschossen worden ist, dann müsste doch jemand etwas gehört haben“, ergänzte sie und sah Anaïk an.

„Machen wir, bevor sich die Erinnerung der Bewohner eintrübt.“

Sie gingen über die Wiese zurück und begannen mit der Befragung der Bewohner.

Das erste Haus war verschlossen und aktuell unbewohnt. Auch das Nachbarhaus schien ein Ferienhaus, ein Zweitwohnsitz, zu sein, die Fensterläden waren geschlossen und das Gras war schon seit Längerem nicht gemäht worden. Die Kommissarinnen gingen auf dem unbefestigten Weg weiter. Das einzige Haus, das Sie jetzt noch aufsuchen konnten, war ein größeres Anwesen mit einem Swimming-Pool und einer enormen Wasserrutsche. Es schien zum Campingplatz zu gehören, die Rutsche war wohl für die Kinder der Campingplatzbesucher gedacht. Sie klingelten an der Haustür. Eine gut gekleidete Dame öffnete und sah die beiden Frauen verwundert an.

„Bonjour Mesdames, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie erstaunt.

„Entschuldigen Sie die Störung, Madame, mein Name ist Anaïk Pellen-Bruel und das ist meine Kollegin, Monique Dupont. Wir sind von der police judiciaire aus Quimper.“

„Police judiciaire? Ist bei uns etwas passiert?“

„Haben Sie heute früh etwas Außergewöhnliches beobachtet oder einen Schuss oder Knall gehört? Wir haben eine Leiche am Loc´h Coziou gefunden.“

„Nein, ich habe nichts mitbekommen. Wer wurde denn getötet?“, fragte sie.

„Darüber können wir noch nicht sprechen. Sie haben wirklich nichts gehört? Ihnen ist auch kein Fahrzeug aufgefallen?“, fragte Anaïk nach.

„Nein, ich habe mich im Wohnzimmer aufgehalten und das geht nach Westen. Da bekomme ich nicht mit, was sich am See oder auf dem schmalen Weg abspielt.“

„Haben Sie vielen Dank“, sagte Anaïk und verabschiedete sich.

„Schon seltsam, dass man in einem Haus, das keine 400 Meter entfernt liegt, nichts hört. Einen Schuss hört man doch.“

„Nun, es kann schon sein, dass Sie nichts gehört hat. Zwischen ihrem Haus und dem See liegen zwei Gebäude, die quer zum See stehen. Die reduzieren vielleicht den Schall“, meinte Monique.

„Lass uns zurück ins Kommissariat fahren, hier können wir nichts mehr machen. Wir sollten versuchen, etwas über den Toten herauszufinden“, entgegnete Anaïk und ging zum Fahrzeug.

Kapitel 4

Tom Sullivan lief zwischen Fenster und Wohnungstür hin und her. Er wartete auf den Briefträger, der in den letzten zehn Tagen zwar immer an seinem Haus vorbeigegangen war, aber nichts in den Briefkasten gelegt hatte. Er wartete auf eine Ansichtskarte seiner Tochter. Seine Tochter war vor zwei Wochen nach Spanien gefahren, sie wollte dort auf einem Campingplatz ihren Urlaub verbringen. Sie hatte ihn angerufen als sie ihr Ziel auf dem Campingplatz Valdoviño erreicht hatte. Sie schwärmte von der tollen Landschaft und den großartigen Stränden rund um Ferrol und hatte ihm versprochen, eine Ansichtskarte zu schicken.

Auf diese Karte wartete er. Kate hatte sich seitdem nicht mehr gemeldet. Am Ende der ersten Woche hatte er versucht, sie zu erreichen. Erfolglos, obwohl Kate ihr Handy nie ausschaltete. Vor zwei Tagen war er dann zur nächsten Polizeidienststelle gegangen, in Colchester, und hatte die Polizisten gebeten, ihm zu helfen. Die Polizisten hatten versucht, ihn zu beruhigen. Bestimmt hätte sie ihr Handy nur ausgeschaltet oder ihr Urlaub sei so toll, dass sie schlichtweg vergessen hatte anzurufen oder das Handy sei kaputtgegangen.

Tom Sullivan hatte sich damit aber nicht zufriedengegeben. Die Polizisten ließen sich schließlich dazu überreden, mit den Kollegen in Ferrol in Kontakt zu treten. Nach einem Tag traf die Antwort aus Ferrol ein und traf Tom Sullivan wie ein Blitzschlag. Das Zelt von Kate stand noch auf dem Campingplatz, es war aber leer. Der Besitzer des Platzes hatte bereits eine Strafanzeige gestellt, da das Mädchen den Platz anscheinend vor acht Tagen verlassen und die Rechnung nicht beglichen hatte.

Bis nach Spanien war sie mit einer Mitfahrgelegenheit gereist, ein junger Mann aus der Nachbarschaft hatte sie mitgenommen. Die Rückreise wollte sie mit Bahn und Bus zurücklegen, von Ferrol aus mit der Bahn bis nach Oviedo und von Oviedo über San Sebastian nach Saint Jean de Luz mit dem TGV, von dort nach Bordeaux und anschließend mit Ouibus nach Brest. Das letzte Stück bis nach England würde sie von Roscoff mit der Fähre zurücklegen. In Plymouth würde ihr Vater sie dann abholen und sie würden drei gemeinsame Tage in London verbringen.

Eben weil sie diese gemeinsamen Tage in London verabredet hatten, war er beunruhigt als kein weiteres Lebenszeichen von seiner Tochter eintraf. Die spanische Polizei fahndete nun nach dem Mädchen. Suchaktionen rund um den Campingplatz wurden durchgeführt, Zeugen, die das Mädchen gesehen hatten wurden befragt, ihr Bild in den regionalen Zeitungen veröffentlicht und schließlich wurde sie auch mit Hilfe des Fernsehens gesucht. Nichts führte zu einem Ergebnis. Das Mädchen blieb verschollen. Ein Verbrechen konnte nicht mehr ausgeschlossen werden.

Tom Sullivan war verzweifelt. Er war seit einigen Jahren Witwer und lebte alleine. Er zählte zur Oberschicht der Stadt. Seine Tochter war Schülerin im College und wohnte noch bei ihm. Als nach weiteren vier Wochen immer noch kein Lebenszeichen von ihr aufgetaucht war, die Polizei in Spanien auch nichts Neues sagen konnte, entschied er sich, einen zusätzlichen Weg einzuschlagen. Er suchte den Privatdetektiv Dan Cromwell in London auf, der sich bei verschiedenen ähnlich gelagerten Fällen einen guten Namen gemacht hatte, und bat ihn, die Suche nach seiner Tochter aufzunehmen. Die Kosten spielten keine Rolle. Dan Cromwell sagte zu, ließ sich über alle bekannten Einzelheiten unterrichten und machte sich auf den Weg nach Spanien.

Dan Cromwell war ein Hüne. Mit seinen 1,94 Metern überragte er die meisten Menschen. Seine Kleidung entsprach der eines Engländers der Upperclass, die Anzüge waren maßgeschneidert und die Schuhe auf Maß angefertigt. Er fuhr einen Rover 75. Er hatte ihn gekauft, bevor die Produktion dieser Baureihe eingestellt worden war. Er liebte das Fahrzeug und es hatte ihn in all den Jahren noch nie im Stich gelassen.

Dan Cromwell hatte entschieden, die Reise nach Spanien mit der Fähre zurückzulegen. Die einfache Fahrt kostete ihn ca. 600 Pfund. Von Portsmouth aus würde er direkt bis Santander in Spanien fahren. Mit der Fähre käme er ausgeschlafen und fit in Spanien an. Dann hatte er nochmal 400 Kilometer bis nach Ferrol, beziehungsweise nach Valdoviño zum Campingplatz, zurückzulegen. Seine Suche wollte er dort beginnen, wo Kate Sullivan sich zuletzt aufgehalten hatte.

Für die 120 Kilometer von Brunswick Gardens nach Portsmouth hatte er etwas über eine Stunde gebraucht. Um 22 Uhr 30 bestieg er die Fähre in Portsmouth. Seine Kabine hatte einen kleinen Balkon mit einem Liegestuhl, so dass er während der Überfahrt ein Sonnenbad genießen konnte.

Dan stellte seinen Koffer in der Kabine ab. Sein restliches Gepäck hatte er im Wagen gelassen. Dann schlenderte er durch den schmalen Gang zum Aufgang, ging in die Schiffsbar, bestellte sich einen Whisky on the rocks und beobachtete die mitreisenden Gäste. Er liebte es, Menschen zu beobachten, ihre Gewohnheiten und Ticks zu studieren und sie in seine Schubladen einzuordnen.

Da gab es die Gehetzten, die ständig auf die Uhr oder ihr Smartphone blickten, zwischendurch immer kurz an ihren Drinks nippten, ohne wirklich zu schmecken, was sie da tranken. Die Ruhigen, etwas rundlich, mit Haut und Haar dem Genuss verfallen, die saßen entspannt auf ihren Hockern und genossen in aller Seelenruhe ihren Drink. Die feingliedrigen melancholischen Gäste, die mit hoher Aufmerksamkeit schmeckten und beobachteten und ihre Drinks beinahe sezierten, um auch die letzten Geruchsgeheimnisse zu lüften. Die cholerischen Typen erkannte Dan sofort. Sie konnten es nicht brauchen, wenn der Barkeeper nicht direkt auf ihre Wünsche einging oder wenn der Drink nicht dem entsprach, was sie sich vorgestellt hatten. Nach seinem Whisky machte er sich auf den Weg zurück in seine Kabine und legte sich schlafen.

Am Dienstagmorgen fuhr Dan Santander gut erholt und bester Laune von Bord. Er gab das Ziel in Valdoviño in sein Navigationsgerät ein und ließ sich bis zum Campingplatz leiten.

Sein erster Weg führte ihn zum Verwalter des Platzes. Er stellte sich in perfektem Spanisch als der Privatdetektiv Dan Cromwell vor, der auf der Suche nach dem vermissten Mädchen sei. Spanisch, Französisch und Deutsch sprach er fließend.

„Ich kann mich gut an das Mädchen erinnern. Eine sympathische und lebenslustige junge Frau. Sie war immer freundlich. Ich habe manchmal einige Worte mit ihr gewechselt und sie hat mir von ihren Zukunftsplänen erzählt. Sie wollte unbedingt Pilotin werden und ihre Ausbildung nach dem Urlaub beginnen. Umso erstaunter bin ich gewesen, dass sie verschwunden ist, ohne die Rechnung beglichen zu haben.“

„Ist Ihnen in den Tagen davor etwas Außergewöhnliches aufgefallen? Hat sie jemanden kennengelernt?“

„Nein, sie hat ihre Tage alleine verbracht. Sie war oft am Strand. Am Abend habe ich sie häufig vor ihrem Zelt kochen gesehen.“

„Wenn Sie den Platz verlassen hat, hat sie da jemand verfolgt? Oder vielleicht ist Ihnen jemand aufgefallen, der ihr nachgesehen hat?“, fragte Dan.

„Lassen Sie mich nachdenken“, sagte der Platzwart.

„Nein, mir fällt nichts Besonderes ein, höchstens ein Camper, der sein Wohnmobil in unmittelbarer Nähe zu ihrem Zelt platziert hatte. Es war ein Mann um die vierzig, der hat ihr oft aus der Distanz zugewunken.“

„Sie sagen ein Camper mit Wohnmobil? Können Sie sich genauer an den Mann erinnern? Woher er kam oder so?“

„Ich kenne mich etwas mit den französischen Kennzeichen aus, sodass ich sagen kann, dass er aus dem Finistère gekommen sein muss. Die Nummer des Departements auf seinem Kennzeichen war 29.“

„Haben Sie Namen und Adresse dieses Herrn?“, fragte Dan weiter.

„Ja, die habe ich, der Mann kam aus einem Ort, den ich fast nicht aussprechen kann. Warten Sie, ich hole mein Buch.“

Er verschwand in seinem Büro und kam nach wenigen Minuten wieder zurück. Er zeigte auf die Eintragung in seinem Buch. Dort stand der Name des Campers, Martin Tosser, er kam aus Fouesnant, Bréhoulou, in der Bretagne. Eine Haunummer fehlte. Die Schrift unterschied sich deutlich von den anderen Eintragungen.

„Haben Sie das geschrieben?“, fragte er den Verwalter.

„Nein, das hat Herr Tosser selbst eingetragen. Er hat gemeint, dass es einfacher sei, wenn er die Eintragungen selbst vornehme, die Namen seien etwas kompliziert. Ich habe das Angebot gerne angenommen“, antwortete er.

„Können Sie mir sagen, wann der Mann den Platz verlassen hat?“

„Das steht doch auch in dem Buch. Sehen Sie, hier steht seine Ankunft und hier seine Abreise mit der Uhrzeit. An dem Abend ist er der einzige gewesen, der den Platz verlassen hat.“

Demnach hatte Tosser den Platz am Donnerstagabend verlassen. Es war der Abend, an dem Kate Sullivan zum letzten Mal gesehen worden ist. Ein seltsames Zusammentreffen, dachte Dan. Er notierte die Adresse des Mannes und die Zulassungsnummer seines Campingwagens.

„Haben Sie auch eine Kopie seines Personalausweises?“, fragte Dan.

„Nein, ich habe seinen Ausweis nicht einmal angesehen, der Mann erschien mir sehr aufrichtig zu sein. Er hat auch seine Gebühren vor der Abfahrt bezahlt.“

„Wissen Sie, was für einen Camper der Mann gefahren hat?“

„Oh ja, das kann ich Ihnen genau sagen. Es war ein sehr großes Gefährt, ein Hymer PremiumLine, eines der luxuriösen Wohnmobile.“

Dan verabschiedete sich von dem Platzwart und suchte die Polizeidienststelle in Ferrol auf. Sie waren mit den Recherchen nach dem Mädchen beauftragt. Die Polizisten waren unbürokratisch zur Auskunft bereit, was ihn sehr erstaunte. Sie ließen ihn die Protokolle der Befragungen und die Ergebnisse der Nachforschungen einsehen. Auf seine Frage nach dem Fahrer des Wohnmobils erhielt er eine negative Antwort. Die Polizisten wussten nichts von einem Fahrer eines Wohnmobils. Der Mann war nicht in ihre Recherchen einbezogen worden. Dan Cromwell bedankte sich und verließ das Büro.

Er hatte eine Spur, der er nachgehen wollte. Er vermutete, dass der Mann mit dem Camper etwas mit dem Verschwinden des Mädchens zu tun haben könnte. Allen anderen Hinweisen war die Polizei in Ferrol nachgegangen. Das Mädchen hatte keine Bahnkarte gelöst, war in keinem Taxi unterwegs gewesen und hatte auch keinen Mietwagen benutzt. Auch alle Buslinien waren überprüft worden, das Mädchen hätte nur noch zu Fuß die Stadt verlassen haben können. Aber warum sollte sie das gemacht haben? Sie hatte ihr gesamtes Gepäck zurückgelassen, Kleider, Zelt, Schlafsack, alles befand sich noch auf dem Campingplatz. Wäre das Mädchen entführt worden, hätte es ein Erpresserschreiben gegeben. Er ging von einem Gewaltverbrechen aus.

Dan hatte keinerlei Nachlässigkeiten der hiesigen Polizei entdeckt. Er bestieg seinen Rover und machte sich auf den Weg nach Frankreich, in die Bretagne. Seine erste Etappe führte nach Bordeaux. Am nächsten Tag würde er dann Fouesnant erreichen.

Kapitel 5

Dan Cromwell stieg aus seinem Rover und betrat das Hotel Les Sables Blancs in Concarneau. Von Bordeaux aus hatte er das Zimmer bereits gebucht. Der Mann an der Rezeption begrüßte ihn freundlich und fragte nach seinen Wünschen. Dan nannte seinen Namen. Der Empfangschef griff nach einem Umschlag und zog den Zimmerschlüssel und die Anmeldekarte heraus. Dan Cromwell musste nur noch unterschreiben und konnte dann sein Zimmer beziehen.

Sein Zimmer hatte einen kleinen Balkon mit Blick aufs Meer. Hier würde er gerne einige Tage Urlaub verbringen, nun war er geschäftlich hier. Er trat auf den Balkon. Er blickte hinaus aufs Meer. Er konnte bis zu den vorgelagerten Îles Glénan sehen. Möwen flogen in großen Bögen über den Strand und landeten auf dem feuchten und mit einigen Algen bedeckten Sand. Ein Mann spazierte über den Strand und fotografierte die Möwen im Flug. Zahlreiche Badegäste tummelten sich auf der westlichen Seite des Hotels. Ein Kind rannte mit seinem Eimerchen über den feinen Sand zum Wasser. Einige junge Männer spielten Fußball, andere Frisbee.

Dan sah den Vögeln eine Zeitlang zu, dann ging er zurück in sein Zimmer, nahm eine Dusche und zog sich frische Kleidung an. Anschließend ging er ins Restaurant des Hotels zum Abendessen. Am nächsten Morgen würde er in Fouesnant mit der Suche nach Monsieur Martin Tosser beginnen.

Die Speisekarte enthielt eine kleine Auswahl, eher ein gutes Zeichen. Er bestellte sechs Austern zur Vorspeise, ein gratiniertes Kabeljaufilet mit frischen, kleinen gebackenen Tomaten und gebutterten Kartoffeln in Hummersauce. Zum Dessert wählte er ein Stück Apfelkuchen. Er gönnte sich eine halbe Flasche Muscadet-Sèvre-et-Maine von der Kellerei Bruno Cormerais.

Nach dem Essen unternahm er noch einen Spaziergang entlang der Strandpromenade von Concarneau. Sein Weg führte ihn an einem anderen Hotel, dem Hotel Ocean, vorbei. Er ging am Boulevard Katerine Wylie entlang, dann an alten Villen und Häusern, die aus der Vergangenheit noch einen exklusiven Zugang zum Meer besaßen, so dass heute keine Möglichkeit bestand, dort einen öffentlichen Fußweg zu errichten. Danach kam er wieder auf die Promenade zurück, die rund um die Meeresseite der Stadt angelegt war. Auf seinem Spazierweg hatte er über den aktuellen Auftrag nachgedacht.