Die Schlei-Diva - Hendrik Neubauer - E-Book

Die Schlei-Diva E-Book

Hendrik Neubauer

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Beschreibung

Caroline von Iven ist jung, attraktiv und vor allem sehr erfolgreich. Ihr Unternehmen führt das internationale Geschäft mit der Erotik in neue Dimensionen; dazu gehören auch barocke Maskenbälle für handverlesene Gäste. Doch eine dieser Orgien endet für Caroline tödlich. Rasmussen und die Brix ermitteln in Eckernförde, Antwerpen und zwischen den Küsten. Dabei stoßen sie auf ungehemmten Exhibitionismus, Gier, Neid - und auf enttäuschte Liebe.

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Arnd Rüskamp ist am Essener Baldeneysee geboren, und Wasser war immer sein Element. Er hat Publizistik studiert, war Reporter und Moderator, Soldat und Biker, Autor und Verleger. Heute verdient er sein Geld noch immer in den Medien, ist aber vor allem Ehemann und Vater. Zum Schreiben über Schleswig-Holstein qualifiziert ihn, dass er drei Monate eines Jahres in seiner Wahlheimat an der Schlei lebt.

Hendrik Neubauer ist in Hamburg geboren und in Trittau aufgewachsen. Während er in Kiel Geschichte und Literatur studierte, lernte er im Sommer die Eckernförder Bucht schätzen. Danach zog es ihn in den wilden Westen der Republik. Nach über zwanzig Jahren in der Diaspora lebt er nun als Autor, Publizist und Kommunikationsberater wieder im hohen Norden. Ungefähr in der Mitte zwischen Eckernförde und Kiel, aber Hauptsache, an der See.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/Helgi Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Hilla Czinczoll eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-620-1 Küsten Krimi Originalausgabe

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Die Maske fällt, es bleibt der Mensch; was heldisch war, sinkt hin.

Jean-Jacques Rousseau

Freitag, 12.Juni

Inkompatibel

»Als hätten wir kein eigenes Leben.«

Marlene hatte versucht, ihrer Stimme etwas Unbeschwertes zu geben, und sie hatte sich um einen scherzhaft vorwurfsvollen Gesichtsausdruck bemüht. So, als könnten sie und Hans Rasmussen jederzeit umschalten. Von »NDR Talk Show« auf Freundetreffen, auf Badmintonspielen oder Pläneschmieden. Tatsächlich saßen sie auf dem Sofa und verfolgten mit gedrosselter Aufmerksamkeit, dass sich der alternde »Tatort«-Kommissar mit einer jungen Modedesignerin auf Lanzarote eine Schafzucht aufbaute.

Rasmussen brummte. Mehr nicht. Er schob sich noch ein paar Chips in den Mund, kratzte sich am Ohr und hielt seinen Blick auf den Fernseher gerichtet. Marlene Nissen und er kannten einander seit langer Zeit. Unstet und leidenschaftlich war ihre Beziehung gewesen. Seit letztem Sommer hatten sie es sich ein bisschen gemütlich gemacht. Nach nervenzehrenden Wochen, nach dem Tod von Lars Martens, dem Verdacht gegen Rasmussens Jugendfreundin Birte, nach gefährlichen Berührungen zwischen Polizeiarbeit und Privatleben, war ihnen der Rückzug in die Komfortzone zweier Staatsdiener ohne Verpflichtungen ganz natürlich vorgekommen.

In Marlene aber begehrte etwas auf. Unruhe hatte sie ergriffen. »Und wenn wir fünfzig sind, sitzen wir immer noch hier?«

Jetzt drehte Hans Rasmussen den Kopf nach links, fixierte Marlene und kniff die Augen leicht zusammen. »Nee, dann sitz ich in Hamburg oder in Berlin oder in Paris.«

»Ach, die Nummer. Hans Rasmussen, Exbulle und Security-Fuzzi von Eike Hansens Gnaden. C-Promis bewachen. Das hatten wir doch schon. Brauchst du das wirklich? Abgewetzter roter Teppich, abgehalfterte Schlagersternchen, Kokser auf dem Damenklo. Das macht dich an? Armselig, wirklich armselig.«

Rasmussen stand auf, reckte sich und ging zur Toilette. Dort griff er sich eine alte Ausgabe des »Rolling Stone« von der Fensterbank und blätterte, ohne zu sehen, ohne zu lesen.

Als er sich eine Viertelstunde später wieder aufs Sofa setzte, hatte sich Marlene entschieden, keine weiteren Scharmützel zu beginnen. Keine Scheingefechte mehr, jetzt musste sie den seit Wochen geplanten Vorstoß wagen, ganz beiläufig und entspannt. Mit Oper konnte sie Hans nicht kommen.

Der Zeitpunkt war ungünstig, aber sie konnte nicht anders. Es war die wichtigste Weichenstellung in ihrem Leben, und auf Hans sollte es leicht wirken. Tat es aber nicht.

»Ein Kind, du willst ein Kind?« Rasmussen war laut geworden. Sein Kopf war nach vorn geruckt. Seine Augen hatte er weit aufgerissen.

Sein Entsetzen traf ihre Sehnsucht. Traf Marlene an einem Punkt, der zwischen linkem Schlüsselbein und Brustwirbelsäule lag. Mitten ins Herz. Der Treffer ließ sie zusammensacken und verursachte Übelkeit. »Ich muss mal raus«, sagte sie.

Sie ging die Treppe hinunter, öffnete die Tür, trat in den noch kühlen Frühlingsabend hinaus und weinte. Laut, schluchzend und tränenreich. Über zwanzig Jahre schon flatterten sie und Rasmussen umeinander herum. Und jetzt, jetzt, wo es an der Zeit war …? Da machte er einen Rückzieher. Er hatte gekniffen, er war ein Feigling. Ein feiger Staatsdiener. So einer sollte Vater ihres Kindes werden?

Marlene trat mit Wut und Wucht von unten gegen den Schlagbaum an der Rampe zur Schlei-Fähre. Gut, dass Jörn schon Feierabend hatte. Nach zweiundzwanzig Uhr fuhr die »Missunde II« nicht mehr. Wut und Trotz verflogen. Der große Zeh tat weh. Marlene setzte sich auf das Geländer der Terrasse und blickte auf die Schlei. Wehmütig. Wie gern würde sie ihrem Kind hier das Schwimmen beibringen. Wie gern würde sie es im Segelkurs anmelden, ihm ein Eis kaufen, die Haare trocken rubbeln. Und Hans würde es mal im Streifenwagen mitnehmen, mit Blaulicht. Sie seufzte laut. Vor ihr aus dem Schilf flog ein Bartmeisenpärchen laut schimpfend davon.

Marlene schüttelte den Kopf, wenige Zentimeter nach links und wenige Zentimeter nach rechts. Beinahe unmerklich. Immer wieder. Sie konnte gar nicht damit aufhören. Feige, ignorant und manchmal sogar autistisch war dieser Mann. Sie hielt inne, atmete ein, und dann brüllte sie übers Wasser.

»Hans Rasmussen ist ein blödes Arschloch. Hans Rasmussen hat mich nicht verdient.«

Samstag, 13.Juni

Sodom und Camorra

Der Samstag verging still, sehr still. Sie schwiegen sich an. Alltägliche Verrichtungen. Er hatte Versicherungsunterlagen sortiert, sie das Bad geputzt. Der Tag war stickig warm. Das Wasser der Schlei lag wie Öl unter einem milchigen Himmel. Dann senkte sich die Sonne.

Kurz vor Ende der »Tagesthemen« hatte Marlene ein Glas Wein genommen und sich nach draußen gesetzt. Das war ihr Gesprächsangebot gewesen. Nun war es schon lange dunkel, und sie starrte noch immer allein in den Nachthimmel. Sie überlegte, ob sie wieder zu rauchen anfangen sollte. Da kratzte hinter ihr die Tür über den Steinboden. Er kommt spät, aber er kommt, dachte Marlene. Rasmussen ging rasch die paar Schritte zu ihr rüber und küsste sie von hinten aufs Haar.

»Sorry, ich muss weg. Leichenfund. Schlaf schön.« Er machte kehrt und schlurfte davon. Wenig später sprang hustend der Volvo an.

Ein beschissenes Wochenende war das. Rasmussens Laune war unterirdisch schlecht. Er hatte sich auf Kochen, Essen, Lieben und Bundesliga gefreut. Die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Marlenes Wunsch nach Familie hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Und jetzt musste er auch noch tanken und einen – wenn auch kleinen – Umweg über Eckernförde fahren. Je älter er wurde, desto unwirscher reagierte er auf Änderungen des gewohnten Ablaufs.

Höhe Ostlandstraße bog er von der B203 ab. An der Säule vor ihm ein tiefergelegter Golf, und er dachte an seinen Freund Eike, dem dazu nur eingefallen wäre: »Mit allem Furz und Feuerstein.« Den Spruch hatte er nie verstanden, er fuhr ja Volvo. Aber was ihn an dieser Kiste an Säule sieben tierisch nervte, war der Ausstoß reichlich lauter Umz-umz-umz-Mucke. Rasmussen ließ den sündhaft teuren Sprit in den Tank gluckern. Er fixierte den im Takt wippenden Jüngling. Kein Blickkontakt. Keine Reaktion.

»Mach das mal leiser. Das nervt.«

»Mich nicht.«

Rasmussen überließ die Zapfpistole sich selbst und ging zur Fahrertür des Golfs, öffnete sie, beugte sich ins Auto, drehte die Lautstärke runter, kam wieder hoch und staunte. Der Jüngling stand Aug in Aug vor ihm. So viel Arsch in der Hose hatte er dem Milchbart nicht zugetraut.

»Kommunikation bedeutet Verständigung, und Verständigung funktioniert dann, wenn die Botschaft des Senders vom Empfänger verstanden wird. So weit, so gut. Ihre Botschaft habe ich verstanden. Nur, damit die Message auch die gewünschte Handlung auslöst, wenn sie hier oben angekommen ist«, der Typ tippte sich demonstrativ an die Stirn, »sollte man auf den Volksmund hören. Und der sagt: ›Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.‹ Beim nächsten Mal denken Sie einfach daran, dann klappt’s auch mit dem Tanknachbarn. Tschüss.«

Der Jüngling stieg ein. Eine sehr blonde Frau mit sehr langen Beinen lächelte Rasmussen über das auf Hochglanz polierte Dach der mobilen Diskothek an und stieg ebenfalls ein. Durch das sich nun langsam schließende Seitenfenster der Fahrertür sah Rasmussen, wie die Dame ihrem Chauffeur eine Tankquittung zwischen die Beine legte. Der Jüngling startete den Motor, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Rasmussen blieb zurück und fühlte sich auch so. Atavistisch.

Es dauerte einen Moment, bis sich seine Sprachlosigkeit auflöste und einem Gefühl Platz machte, das nah an Heiterkeit heranreichte. Pfiffiges Bürschchen, dachte Rasmussen. Mehr von solchen, und uns muss nicht bange sein. Vorlaut, klug und mutig. Der Typ würde Pflegenotstand, Erderwärmung und Eurokrise einfach wegsprechen. Rasmussen zahlte, erweckte den Volvo zum Leben und fuhr Richtung Leiche.

Inzwischen amüsierte er sich auf eine Art, die ihm beinahe mild vorkam, altersmild etwa? So weit kam es noch. Und er sollte Vater werden? Vater eines Bürschchens wie dem von gerade eben? Marlenes Wunsch machte sich in seinem Kopf breit und breiter. Irritierte ihn. Ein Kind. Ein Kind, wie sollte das denn gehen? Sie wohnten ja nicht einmal zusammen. Das Klingeln seines Handys beendete das Grübeln.

»Noch langsamer, und du fährst rückwärts.« Amos Wiesel, sein Kumpel und Gerichtsmediziner aus Kiel. Rasmussen schaute in den Rückspiegel, und tatsächlich saß ihm Wiesels Porsche fast im Kofferraum.

»Moin, du bist aber schnell hier.«

»Als ich hörte, wohin die Reise geht, war ich flink in den Schuhen. Haben wir damals nicht manchmal gemeinsam ›die Guldenburgs‹ im Fernsehen geguckt? Der Adel, das Gut, die Leiche. Kann sich eine Nacht unverhofft schöner entwickeln?« Dann brach das Gespräch ab, und draußen röhrte es. Wiesel zog an Rasmussens Volvo vorbei.

In Ivenstedt bog Wiesel rechts ab. Kurze Zeit später standen sie vor dem Torhaus von Gut Ivenstedt. Die Kollegen hatten alles abgesperrt. Flatterband und Blaulicht beherrschten die Szenerie. Das wirkte bizarr hier draußen auf dem Land.

Rasmussen und Wiesel traten durch das Torhaus. Das Grün des Ehrenhofes war mit Fackeln ausgeleuchtet. Vier Fahnenmasten waren beflaggt. Weiße Kieswege liefen auf das Herrenhaus zu. Vornan lagen die backsteinernen Wirtschaftsgebäude. Vor einem der verschlossenen Tore stand ein gusseisernes Schild mit dem Schriftzug »eroque Outlet-Store«. Hier vorn waren alle Fenster dunkel, aber das hellgelbe Herrenhaus und die beiden Seitenflügel waren voll illuminiert. Hinter den Fensterfronten sah man den einen oder anderen Schatten hin und her huschen. Von ferne wehten Fetzen klassischer Musik heran. Wiesel zückte sein Smartphone und machte ein paar Fotos.

»Protzige Anlage«, murmelte Rasmussen schon beeindruckt. »Aber warum fotografierst du das, das ist doch einfach nur gespenstisch?«

»Genau, wie in einem Horrorfilm. Kein Mensch zu sehen. Gruselig. Die Faszination des Schrecklich-Schönen. Siehst du dahinten diese Schattenspiele? Dieses Kleinod des Barock und seine Bewohner waren in der letzten Zeit ziemlich oft in den Schlagzeilen«, redete Wiesel vor sich hin. Er löste noch mal die Smartphonekamera aus und schaute dann sofort auf sein Display.

»Ach, was du nicht sagst.« Rasmussen guckte den Pathologen provozierend an. Der aber redete, auf seinem Display herumklickend, weiter.

»Du kennst Caroline von Iven nicht, die Firmengründerin von ›eroque‹? Ob in den Wirtschaftsnachrichten oder im Feuilleton, sie ist in letzter Zeit allgegenwärtig. Die Lokalblätter prügeln sich förmlich um eine Homestory mit ihren Eltern. Hör mal«, Wiesel pausierte kurz, »Caroline von Iven ist die Beate Uhse des 21.Jahrhunderts. Und die Frau ist hier aufgewachsen.«

»Wiesel, hallo, schau mich mal an.« Rasmussen rüttelte den Pathologen an der Schulter.« Der tat wie ihm geheißen. »Du Schlaumeier, ich weiß sogar, wie die Dame aussieht.« Wiesel schien jetzt ein wenig eingeschnappt. »Und ich verrate dir noch was. Bei der Leiche, die du später auf deinem Tisch haben wirst, handelt es sich um ebenjene Dame«, raunte Rasmussen noch hinterher.

»Ach du Scheiße, denn mal los«, entgegnete Wiesel.

Im Gleichschritt strebten die beiden nun der Treppenanlage am Eingang zu. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Da ging die Tür auf, und Hinrichsen, das Urgestein der Eckernförder Kriminalen, trat heraus. Wie stets mit Parka und Prinz-Heinrich-Mütze gegen alle Unbilden und Fährnisse von Leben und Tod geschützt.

Einen Moment später drängelte sich eine Gruppe Uniformierter an ihm vorbei. Alle trugen eine Art Dreispitz, antiquierte Uniformen und schwarze Stiefel. Sie bauten sich unten vor der Treppe auf und zündeten sich Zigaretten an. Rasmussen und Wiesel staunten nicht schlecht.

»Die Wacht vom Rhein und Prinz Marlboro, oder wer marschiert hier auf, wenn ich fragen darf? Mein Name ist Rasmussen, Kripo Eckernförde.« Rasmussen konnte kaum ernst bleiben.

»Ist die Polizei jetzt auch endlich mal da? Ich sag Ihnen, das ist gar nicht lustig hier. Und das hier«, der Wortführer fasste sich ans Revers seiner Uniformjacke, »sind nun mal unsere Dienstuniformen. Wenn Sie Fragen zum Lustlager haben, dann wenden Sie sich an unseren Boss, Herrn Hansen von ›Hanse-Security‹.«

Damit hatte sich das Gespräch für den Anführer der zehn Kostümierten erledigt. Rasmussen und Wiesel schauten einander entgeistert an. Und Hinrichsen zwinkerte ihnen oben vom Treppenabsatz zu.

»Sodom und Camorra, sag ich, Sodom und Camorra«, flüsterte Hinrichsen, als sie ihn oben am Eingang erreicht hatten. »Mir nach.«

»Moment.« Wiesel hob den Zeigefinger und erklärte in ebenso gedämpftem Ton: »Sie meinen Gomorrha, Hinrichsen, Gomorrha. Das war wohl eine Stadt. Zumindest lesen wir das so in der Bibel. Camorra, das sind die Mafiabanden rund um Neapel.«

»Ach, warten Sie’s erst mal ab, Doktor. Sie haben die Schweinerei hier ja noch nicht gesehen«, flüsterte Hinrichsen immer noch. Er ließ sich nicht beirren. Schon gar nicht von diesem Akademikergeschwafel. Mit schweren Schritten führte er seinen Chef und den Gerichtsmediziner hinein in die Empfangshalle.

Diese war zwei Stockwerke hoch. Die Etagen hatten umlaufende Balkone, und ganz von oben herab hing ein gigantischer Kristalllüster. Gegenüber dem Eingang führte eine breite Freitreppe in den ersten Stock. Weiße Wände, weiße Treppen, weiße Geländer und weiße Mosaikfliesen. Rasmussen fühlte sich geblendet. Er wunderte sich über die weißen Würfel, die symmetrisch verteilt überall in der Halle herumstanden. Und dann sah er an den Wänden der Halle die Fotos, die er bereits aus den sozialen Medien kannte. Nur waren sie hier groß wie die Werbeplakate an der Rendsburger Straße.

»Hinrichsen, ist außer den Leuten von ›Hanse-Security‹ jemand im Haus? Wie ist es mit den Eltern des Opfers?«, fragte Rasmussen.

»Die Eltern halten sich in der Wirtschaftsküche auf und werden medizinisch betreut.« Hinrichsen deutete auf die Tür links neben der Freitreppe.

»Und wo ist Eike Hansen?«

»Hansen ist wohl gerade im Keller mit seinen Leuten und macht Inventur, Getränke und so. Die kriegen wir alle später.«

»Herrlich«, begeisterte sich Dr.Wiesel anderweitig und trat an eins der Fotos heran. »Siehst du, was das für tolle Rahmen sind? Handwerklich sehr beeindruckende Schnitzarbeiten, das bekommst du eigentlich nur in Italien. Und diese fotografischen Nachstellungen barocker Gemälde, kennst du die auch aus dem Netz, Hans?«

»Ja, kenn ich, aber das sagte ich dir ja schon.«

»Na ja, nicht so direkt.« Wiesel war voll in seinem Element. »Welch ein Kunstgenuss, diese Innenarchitektur und dann diese Bilder. Da hat sich der nachmitternächtliche Ausflug ja richtig gelohnt. Prachtvoll und verschwenderisch. ›Üppig‹ ist, glaube ich, das richtige Wort.«

»Üppig ist hier vor allem Alkohol ausgeschenkt worden. Rauch und Parfüm und menschliche Ausdünstungen. Das nimmt einem ja die Luft. Es stinkt wie im Puff«, meldete sich Hinrichsen ungeduldig wieder zu Wort. »Und ›Puff‹ ist überhaupt ein gutes Stichwort. Wir sollten jetzt mal in die Gemächer im ersten Stock gehen, meine Herren. Und, darauf sollten Sie sich besonders freuen, es gibt auch eine besonders üppige Leiche.«

»Caroline von Iven hat jetzt alle Zeit der Welt und kann sicher noch eine Minute warten«, meldete sich Wiesel noch mal ab.

»Ach, Sie sind informiert«, versuchte Hinrichsen, endlich ins Gespräch zu kommen. Wiesel hörte aber nur mit einem Ohr hin und betrachtete immer noch die Fotos.

»Was hast du eigentlich mit diesen Lappen?«, drängelte nun auch Rasmussen.

»Und hier!«, rief Wiesel spitz. »Oder guck mal dahinten, da hängt ja auch ein Wackerbarth, das Abendmahl, das er für eine Modemarke fotografiert hat. Jesus und seine weiblichen Jünger, alle mit nackten Oberkörpern und in Jeans gewandet.« Der Gerichtsmediziner ging noch ein paar Schritte und gestikulierte, breitete die Arme aus, deutete auf dem Foto hierhin und dahin. »Das war damals vor zwanzig Jahren ’ne ganz große Nummer. Du glaubst gar nicht, wie die Pfaffen sich aufgeregt haben.«

»Amos, das glaube ich dir gern. Aber nun fang dich mal wieder.«

Wiesel machte ein paar schnelle Schritte hin zum nächsten Motiv, das sich riesengroß auf der gegenüberliegenden Seite der Halle breitmachte. »›Der Raub der Sabinerinnen‹!« Er krächzte mehr, als dass er sprach.

»Na und? Ich sehe viele mehr oder weniger nackte Menschen in einer, sagen wir, Mantel- und Degenszene. Mein Tipp: Gleich blasen die da zur Orgie.«

»Mantel und Degen. Ja, sicher. Über Sissi bist du nie hinausgekommen, oder? Du bist wirklich ein schlimmer Banause. Das hier nennt sich Neobarock. Für jedes dieser Fotos gibt es ein barockes Gemälde als Vorlage. Peter Paul Rubens sagt ja wohl auch dir etwas. Die Kostüme und die Dessous sind alle von einer Designerin nach historischen Mustern entworfen worden. Das – ist – geniale – Werbung.« Wiesel schüttelte übertrieben den Kopf hin und her. »Das – ist – geniale – Fotokunst. Da gibt es offensichtlich Leute mit kunsthistorischem Wissen, mit Kreativität, mit Werbe-Know-how, mit Umsetzungskompetenz. Das ist ein ganz großer Wurf.«

»Amos, was hast du vorhin als Absacker gehabt? Oder hast du wieder mal geraucht?«

»Hans, ganz im Ernst …« Wiesel deutete auf ein Logo unten rechts und dann um sich herum, wo die Wände von weiteren dieser Riesenfotografien dominiert wurden. »Die Fotos werben für Unterwäsche …« Wieder deutete er auf das aus verschlungenen Buchstaben bestehende Logo. »… Unterwäsche.« Wiesel schien jetzt außer Rand und Band.

Rasmussen hob den Kopf, sodass er in den Genuss des unteren Teils seiner Gleitsichtbrille kam, die er erst seit zwei Wochen trug. Lästig, sehr lästig, wie er fand. Aber immerhin konnte er nun den Namen dieser ominösen Firma lesen: »eroque«. Er verstand nun, was es mit dem Namen auf sich hatte. Ein Lächeln ging über sein Gesicht. »Kombiniere. Erotik und Barock – eroque.«

Der Gerichtsmediziner verdrehte die Augen. Der Hauptkommissar war sich jetzt unsicher, ob das eins von Wiesels Spielchen war. Er hatte manchmal Anwandlungen. Auf der anderen Seite: Es war weit nach Mitternacht, da konnte einer von ihnen auch schon mal kleine Ausfälle haben.

»Was’n nu?« Hinrichsen stand immer noch mitten auf der Freitreppe und hatte Rasmussen und Wiesel ungläubig zugehört. »Wollen Sie jetzt vielleicht mal die Leiche sehen?«

Hinrichsen drehte sich um, und die beiden folgten ihm. Im ersten Stock ging es vom Haupthaus ab über einen Flur in den östlichen Seitentrakt. Hier hingen die Ahnen an den Wänden. »Privé«, stand an einer der Flügeltüren, die offen standen.

»Das gehört aber nicht so«, sagte Rasmussen und beäugte kritisch das geknackte Schloss und die beschädigten Kassetten der Tür.

»Da wollte wohl einer mit aller Gewalt rein oder raus«, merkte Hinrichsen an. »Wir wissen aber noch nicht, wer das war.«

Die drei betraten einen nur spärlich beleuchteten, mindestens zwanzig mal zehn Meter großen Raum. Rechts acht hohe Fenster, die linke Wand düster holzvertäfelt mit zahlreichen Gemälden von der hohen Decke bis hinunter zum Boden. Das schienen aber nun wirklich alte Meister oder Reproduktionen zu sein. Rasmussen nickte zu den Malereien hin, Wiesel lächelte ihn an und nickte zurück. Der Kommissar war beruhigt. Sie waren wieder im kontrollierten Arbeitsmodus angekommen.

An der Stirnseite des Raumes standen links Regale und mittig ein geschwungener, fast drei Meter breiter Schreibtisch aus dunklem Holz mit üppigen goldfarbenen Verzierungen. An der rechten Tischseite waren zwei Männer der KTU zugange. Nein, die Leichen kamen bei Rasmussen immer ganz zum Schluss. Leichen waren schon immer Aufmerksamkeitskiller gewesen. Sie ließen ihn Dinge übersehen, die wichtig sein konnten. Er drehte sich also bewusst weg von der Toten auf dem Tisch und schaute in Richtung der doppelflügeligen Eingangstür. Wer hatte die wohl im Laufe des Abends geknackt und warum?

Die Mitte des Raumes war weit und unverstellt. Zwischen den beiden entfernteren Fenstern, nun links von ihm, ein weiterer Tisch, groß, rund und von sechs gepolsterten Stühlen umstanden. Auf dem Tisch zahlreiche Zeitungen und Magazine, außerdem länglich ovale Gegenstände, schwarz glänzend mit Goldapplikationen. Sie erinnerten entfernt an Dildos.

Erst jetzt fiel Rasmussen die leise Musik auf. Es war Händel, da war er sicher. Die »Wassermusik«. Hatte er im letzten Sommer gemeinsam mit Margarete Brix in Hamburg gehört. Unter freiem Himmel, und die Brix hatte noch darauf verwiesen: »… wie bei der Uraufführung auf der Themse.« Händel in Kombination mit einem Leichenfundort wie diesem war ihm auch noch nicht untergekommen.

Rasmussen pirschte sich nun wieder an den Schreibtisch heran. Zwischen zwei Bücherregalen fiel ihm eine Tür auf Höhe des Schreibtisches auf, die in das Wandpaneel eingelassen war. Er rüttelte am Griff, doch es tat sich nichts.

Er drehte sich wieder um und fand, der Tisch war ein Ereignis an sich. Besonders auffällig waren die Frauenskulpturen an den Beinen des Tisches, Galionsfiguren nicht unähnlich. Die Tischplatte war in drei voneinander getrennten Quadraten einst mit grünem Leder bezogen worden. Das Leder war abgenutzt. Dazwischen aufwendige Intarsienarbeiten. Darauf stand ein hohes, ebenfalls grünes Gefäß, das an zwei Seiten mit dunklem Schildpatt verziert war. Es enthielt Schreibgeräte. Direkt davor lag ein Tablet-Computer. Er nahm das Ding, das hier deplatziert wirkte, an sich und tütete es ein, um es beizeiten Hinrichsen zu übergeben.

Als er dann einen Koffer mit den Initialen CvI neben dem Schreibtisch entdeckte, rief er einen der KTUler: »Kramer, bringen Sie das Tablet und den Koffer mal in meinen Wagen. Das ist der alte Volvo, der Kofferraum ist offen.« Kramer kam und zog dann ab.

»Eine Herausforderung ist das nicht«, hörte er Wiesel gegenüber am Tisch klagen. »Mit einer Schussverletzung wie dieser lebt es sich nicht besonders lange. Schöne Frau, unsere Leiche.«

Rasmussen schaute zu Wiesel hinüber, zu den anderen Kollegen der Spurensicherung und Hinrichsen. Nun hatte auch er die Leiche im Visier. Er ging um den Tisch herum. Zwischen Hinrichsens grünem Parka und dem weißen Papieranzug des dienstältesten Kriminaltechnikers konnte er ein Bein sehen. Ein unbekleidetes linkes Bein. Makellose weiße Haut. Rasmussen dachte an ganz viel Puder. Er machte einen Schritt nach vorn, der Kollege von der KTU trat zur Seite.

Die Frau lag vornüber auf dem Tisch, sie war über die Tischkante auf die Lederfläche gekippt. Der linke Arm lag schlaff neben ihr. Der rechte Arm war leicht abgewinkelt, die Hand befand sich wenige Zentimeter über Kopfhöhe. Die Hand begrub einen Revolverknauf. Der Kopf wies zur Stirnseite des Raumes und war von ihm weggedreht. Die Frau trug einen im Schritt offenen Slip und ein Oberteil, das wie eine Corsage aussah. Die schwarzen Dessous sprangen ins Auge, sie waren floral gemustert und golddurchwirkt. War das etwa Blattgold auf der Corsage? Was hatte er vorhin noch zu Wiesel gesagt: »Kombiniere: Erotik und Barock …« Die Dessous, der Schreibtisch, der Tanzsaal und die Eingangshalle, alles war harmonisch aufeinander abgestimmt. Nur die tote Frau passte nicht in diese perfekte Inszenierung.

Ein schmales Rinnsal bereits angetrockneten Blutes war von der rechten Schläfe über das Auge und die Nase der Toten gelaufen und hatte auf dem Schreibtisch eine Lache gebildet, in der sich immer wieder die Blitze des Fotoapparates spiegelten. Das Blut war aus einer Wunde geflossen, die auf den ersten Blick als Einschussloch infolge eines womöglich aufgesetzten Schusses zu identifizieren war. Der Revolver lag unter der leicht geöffneten Hand der jungen Frau.

Rasmussen umrundete den Tisch, um ihr ins Gesicht sehen zu können. Erst jetzt erkannte er, dass die Frau eine Perücke trug, eine Hochsteckfrisur. Die Haare waren fast weiß. In ihnen entdeckte er Schmuck, der aussah wie kleine Blumensträuße aus Diamanten. Dann fiel ihm die rechte Handkante auf, eine Tätowierung. »Die unsichtbare Hand«, notierte er, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.

Jetzt war der Moment gekommen. Er blickte in das Gesicht der Toten. In ihr atemberaubend schönes Gesicht. Klassische Züge. Edel, vornehm. »Sie sieht aus wie Grace Kelly«, sagte Rasmussen.

»Und sie ist so tot wie Grace Kelly«, erwiderte Wiesel. »Allerdings wog die Kelly vermutlich zwanzig Kilo weniger. Unsere schöne Leiche ist ja eher der Rubens-Typ.«

»Todesursache?« Rasmussen war gereizt.

»Na, friedlich eingeschlafen ist sie nicht.«

»Langsam gehst du mir echt auf die Nerven.«

Wiesel hob beschwichtigend die Hände. »Morgen weiß ich mehr. Aber es ist schon sehr wahrscheinlich, dass die Schussverletzung todesursächlich war.«

Rasmussen machte eine auffordernde Kopfbewegung in Hinrichsens Richtung. Nun folgte das Ritual.

»Caroline von Iven, neunundzwanzig Jahre alt, wohnhaft hier auf dem Gut, mit Zweitwohnsitz in Antwerpen, ledig, keine Kinder, das Gut gehört ihren Eltern, sind beide unten. Ein Arzt ist bei ihnen. Aber das sagte ich ja schon. Caroline von Iven ist Gründerin und Inhaberin von ›eroque‹, einem Unternehmen der Erotikbranche. Mehr weiß ich auch noch nicht über sie, aber wie ich vorhin mitbekommen haben, sind Herr Wiesel und Sie ja bereits bestens informiert.«

»Wer hat sie gefunden?«

»Um ein Uhr elf ging ein Anruf über 110 ein. Ein Mitarbeiter des Sicherheitsunternehmens, das –«

»Wo ist eigentlich Calloe?«, fiel Rasmussen Hinrichsen ins Wort.

»In Kiel. Hat doch jeden zweiten Freitag und Samstag diesen Sonderkommissionstermin.« Hinrichsen sprach betont gestelzt. Er war kein Freund des Landeskriminalamts, und Yvonne Calloes Karriere war ihm nicht recht. Er gönnte es ihr, wollte sie als Kollegin aber nicht verlieren.

Rasmussen fragte sich, wo Eike Hansen bloß steckte. Dass er hier mit seiner »Hanse-Security« involviert war, gefiel ihm überhaupt nicht.

Im Raum wurde weiter getan, was getan wird, wenn Spuren gesichert werden. Rasmussen schickte sich an, den Raum zu verlassen, drehte sich aber in der Tür zu Hinrichsen um. »Morgen, nein heute, zwölf Uhr, mit der Staatsanwältin in meinem Büro.« Und an Wiesel gerichtet: »Amos, komm dann bitte auch dazu, ja?«

»Wie soll das denn gehen? Ich komme, sobald ich sie wieder zuhab. Noch besser, du kommst nach Kiel.«

Rasmussen ging langsam den Gang Richtung Haupthaus und Freitreppe entlang. Links und rechts betrachtete er aus dem Augenwinkel Porträts längst verschiedener Ahnen. Würde hier bald auch ein Bild der Toten hängen?

Bevor er die weiteren Schauplätze des Treibens – wie hatte Prinz Marlboro das noch gleich genannt? Lustlager –, also bevor er die in Augenschein nahm, wollte er erst einmal die Eltern der Toten befragen. Die Halle war immer noch hell erleuchtet, und er schritt die Freitreppe hinunter. Solche Treppen stürmte man nicht rauf oder runter, das lief gemessenen Schrittes ab, fand er, überhaupt sah es hier aus wie in einem Museum. Und wieder wunderte er sich über die weißen Sockel, die überall herumstanden. Als hätten sich die Ausstellungsstücke aus dem Staub gemacht.

Im Erdgeschoss bog er zur Küche ab, deren Eingang ihm Hinrichsen vorhin gezeigt hatte. Er klopfte und trat ein. Eine Wirtschaftsküche, voll ausgestattet mit zeitgemäßen Geräten und Utensilien. Überall Platten mit Essensresten, angebrochene Flaschen. Am kleinen Tisch, der direkt an der rechten Wand stand, zwei Stühle und zwei Menschen auf ihnen, gebeugt. Die Frau hatte den Kopf in beide Hände gestützt, der Mann, mit dem Rücken zu Rasmussen, nahm von einem, der eine Weste mit der Aufschrift »Notarzt« trug, eine Blisterpackung Tabletten entgegen. Der sehr junge Arzt schaute Rasmussen an und kam sofort auf ihn zu.

»Moin, Herr Rasmussen, die beiden sind schwer neben der Spur. Ich möchte Sie bitten, nur kurz mit ihnen zu sprechen. Zumindest Frau von Iven muss ich wohl mitnehmen, zur Beobachtung.« Der Arzt hatte seine Hand ausgestreckt, Rasmussen erwiderte das.

»Kennen wir uns?«

»Ja, ich habe Ihren Freund Jörn im Krankenhaus versorgt, als der seinen Herzanfall hatte. Aber da war ich noch ohne Bart.« Er strich sich über die blonden, in zwei Stränge geteilten Haarbüschel an seinem Kinn und sah aus, als käme er geradewegs aus Wacken.

Rasmussen nickte, erkannte sein Gegenüber aber noch immer nicht. »Wissen Sie, es ist wichtig, Zeugen so rasch wie möglich zu befragen. Erinnerungen verblassen.«

»Sprechen Sie doch mit Herrn Hansen, der hat schon mit Herrn von Iven gesprochen.« Der Arzt wies zur Tür.

Rasmussen schaute über die Schulter. Gerade eben war Hansen zur Tür hereingekommen. Gepresst hielt Rasmussen die Luft an und war zum wiederholten Male an diesem Abend sprachlos. Sein Exkollege und Kumpel stand dort in der gleichen Kostümierung wie seine Sicherheitsleute, die er vor der Tür gesehen hatte.

Hansens Mimik und Körperhaltung strahlten eine verwirrende Mischung aus Schuldbewusstsein und Selbstverständlichkeit aus. Sein guter alter Freund fühlte sich wohl ertappt. Hansen war nach seinem wenig ehrenvollen Ausscheiden aus dem Polizeidienst mittlerweile Inhaber eines florierenden Sicherheitsunternehmens in Hamburg, der »Hanse-Security«, und Rasmussen liebäugelte seit einem Jahr damit, bei ihm einzusteigen. Rasmussen legte Hansen seine Hand auf den Rücken und schob ihn mit Nachdruck in die Eingangshalle.

»Also.« Mehr sagte Rasmussen nicht.

»Tja, mein Lieber, auch solche Einsätze gehören zu unserem Job.«

»Lustlager also …«, murmelte Rasmussen und ließ seinen Blick schweifen. Der blieb wieder an den weißen Sockeln hängen.

»Sag mal, was haben diese weißen Würfel zu bedeuten?«

»Du musst dir die Lustlager wie eine exklusive Upperclass-Swingerparty vorstellen, alle sind kostümiert, alle sind maskiert, und alle tragen Handschuhe. Nur die lebenden Skulpturen, die tragen nichts außer weißer Farbe und Puder auf ihrem Körper. Die stehen so lange auf ihrem Sockel, bis du sie berührst, und dann machen sie alles, was du willst.«

»Interessant. Aber fangen wir mal mit dem Naheliegenden an. Was tust du hier, Eike?«

»Caroline von Ivens Firma hat mich engagiert. Ganz simpel. Große Veranstaltung, Zahlreiche Gäste aus Wirtschaft, Kunst und Kultur mit dicken Portemonnaies, Diskretion erwünscht. Wie das so ist.«

»Wie viele Gäste, welche Gäste und wo sind die jetzt? Und wieso heißt das überhaupt Lustlager?«

»Lustlager ist genau das, was du dir darunter vorstellst.« Hansen schaute auf die Uhr. »Es ist schon spät. Musst du mal googeln, Zeithainer Lustlager, das August der Starke 1730 fast einen Monat lang in Sachsen feierte.«

»Lange her.«

Rasmussen und Hansen schoben jetzt zwei Sockel zusammen und setzten sich einander gegenüber.

»Ja, Caroline von Iven fand das wohl als Motto sehr inspirierend. Sie hat irgendwann mal eine Mottoparty in der Antwerpener Modeszene gefeiert, ihre Freundin hat die Dessous und Kostüme für diesen Bums geliefert, und so hat sich aus einer privaten Gruppensexparty ein kommerzieller Firmenevent entwickelt. Wenn du dazu Genaueres wissen willst – von Ivens belgische Geschäftspartner sind im ›Dänischen Hof‹ in Eckernförde abgestiegen. Meine Auftraggeberin war zwar immer nur Caroline von Iven, aber Jongen und Brunsma sind Teilhaber von ›eroque‹. Hundertsiebenundzwanzig Personen waren gestern hier zu Gast. Nachdem Caroline von Ivens Leiche gefunden worden war, sprach sich die Information rasend schnell rum, und binnen zehn Minuten war das Haus leer.«

»Warum habt ihr die Leute nicht aufgehalten?«

»Ich bin kein Polizist, Hans, und ich bin meinen Aufraggebern verpflichtet. Außerdem sah und sieht das ja nach Selbstmord aus.«

»Soso, hast du schon eine Leichenschau vorgenommen, oder was? Welcher deiner Topagenten hat uns angerufen? Komm, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.« Rasmussen war müde, und seine Laune wurde zusehends schlechter.

Hansen druckste ein bisschen rum. »Ein sehr junger Kollege, erst seit drei Monaten bei uns. Kevin Schnurre. Er war für die Runde oben auf dem Gang im ersten Stock eingeteilt. Da befindet sich der Darkroom mit den ganzen Himmelbetten. Ich nehme mal an, der hat sich ein wenig vom Treiben dort ablenken lassen und den Gang zum Seitenflügel aus den Augen verloren. Als Schnurre dann den Zugang zum Büro kontrollieren wollte, waren die Türen offen, und er hat unsere Auftraggeberin auf dem Schreibtisch liegen sehen. Und wohl einen Mann, der bei ihr stand. Dann hat er die Türen verschlossen und ist vollkommen verstört zu mir gekommen. Hatte Angst, der Sprechfunk wäre zu laut.«

»Wie, da war ein Mann? Dann hat der wohl die Flügeltüren aufgebrochen und hat sich aus dem Staub gemacht? Wo ist dein Frischling? Hol ihn her.«

»So ist das wohl.« Hansen drückte einen Taster und sprach in sein Mikro. »Er kommt.«

»Gästeliste?«

Hansen schüttelte den Kopf.

»Kameras?«

»Ja, aber nur im Außenbereich und unmittelbar vor dem Eingang. Alle Räume, in denen das Lustlager stattfand, waren tabu. Außerdem ist das da oben das Büro.«

Rasmussen dachte nach. »Immerhin können wir die Gäste identifizieren. Ist ja wohl jeder durch die Haustür gekommen.«

»Wieder nix. Alle Gäste kamen maskiert. Du wirst niemanden erkennen können, und Tonaufnahmen haben wir nicht.«

»Maskiert?«

»Ja, Masken. Guck dich doch um.« Hansen zeigte auf die Riesenfotos. »Auf den Fotos tragen die doch auch alle Masken. Für die Lustlager hat das prima funktioniert. Erstens blieben alle Gäste anonym, und zweitens sind Rollenspiele momentan unheimlich angesagt.«

Rasmussen winkte ab. »Kennzeichen der Fahrzeuge?«

»Nada. Es gab einen Shuttleservice. Drei Sammelstellen in Kiel, Eckernförde und Schleswig. Fünfzehn Fahrzeuge, zweiundsiebzig Fahrten. Zeitversetzt. Die Gäste setzen sich hinten in die Fahrzeuge, die kommen alle bereits kostümiert und maskiert. Alles absolut inkognito. Auf diesem Prinzip beruhen diese Veranstaltungen immer.«

»Immer?«

»Ja, ich organisiere das immer so oder so ähnlich, auch in Mailand, Paris und Berlin. Die Lustlager laufen bei den großen Modenschauen ganz gut als spezielle After-Show-Partys.«

Rasmussen rieb sich die Stirn. Er bekam Kopfschmerzen. »Überhaupt keine Anknüpfungspunkte. So eine Scheiße. Wer hat sich das bloß ausgedacht?«

»Ich, dafür hat sie mich bezahlt.«

»Das hilft mir jetzt wirklich aufs Pferd.« Rasmussen zählte auf: »Ein Mord, vielleicht auch ein Selbstmord, eine Waffe, die die Tatwaffe sein könnte, ein flüchtiger Zeuge oder Täter, keine weiteren Zeugen bisher, aber über hundertzwanzig mögliche Täter, deren Identität wir vermutlich in fünf Jahren noch nicht ermittelt haben, eine Spurenlage, die die KTU niemals bewältigen kann …«

Hansen unterbrach. »Apropos Spurenlage. Lass uns mal in den Ballsaal gehen.«

Sie standen auf und gingen über die Freitreppe in den ersten Stock. Die Treppe führte genau auf den Eingang des Ballsaals zu. Hansen bewegte das schwere Türblatt. Ein Schwall feuchter, alkoholgeschwängerter Luft schlug ihnen entgegen. Hier roch es besonders intensiv nach menschlichen Ausdünstungen. Ein bisschen wie in der Wurstküche eines Schlachters. Und was Rasmussen sah, sah aus wie, ja, wie eigentlich? Sodom und Camorra. Hinrichsen hatte recht gehabt. Ein regelrechtes Schlachtfeld ungezügelter Gier. Gier nach Fressen, Saufen und Sex.

Das hier war also der Ballsaal. Auf den Tischen weite Landschaften exotischer Obstsorten, Entenbrüste, Weinschläuche und vor Kopf auf einem riesigen Balkon tatsächlich ein Ochse am Spieß über dem noch immer glimmenden Holzkohlebett. In der Mitte des Saales ein überdimensionales Himmelbett, an den Wänden wie in der Eingangshalle weitere großformatige Fotos mit »eroque«-Motiven. Im hinteren Bereich acht oder zehn Himmelbetten im Halbkreis aufgestellt, und auch hier hörte Rasmussen Händel.

»Die Lustbarkeiten fanden in sieben weiteren Räumen statt. Was die Anwesenden betrifft, so kann ich dir eine Liste meiner Mitarbeiter machen. Die Eltern des Opfers hast du ja eben gesehen. Tja, und dann bleiben noch die beiden Geschäftspartner Fanny Jongen und John Brunsma, aber über die sprachen wir ja bereits.«

»Haben die sich womöglich nach dem Mord an ihrer Partnerin aus dem Staub gemacht?«

»Das glaubst du doch wohl selber nicht? Das Unternehmen ›eroque‹ erlebt einen Höhenflug sondergleichen.« Hansen lachte ein wenig höhnisch.

»Berufskrankheit. Streit gibt es überall, und ich traue jedem – und damit meine ich: wirklich jedem – einen Mord zu.«

»Herr Kommissar, nicht doch. Aber im Ernst jetzt. Beide haben die Empfangshalle zusammen mit Caroline von Iven um kurz nach Mitternacht verlassen. Vielleicht dreißig Minuten später sind sie dann ins Hotel gefahren. Brunsma hat einem meiner Mitarbeiter noch ein fettes Trinkgeld zugesteckt. Für Sonntagnachmittag waren mit uns eine Nachbesprechung und die Übergabe der Kasse vereinbart. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Brunsma und Jongen dabei sein wollten. Jetzt wäre das besser. Aber meine Auftraggeberin war immer nur Caroline von Iven. Mit den anderen beiden hatte ich nie direkt zu tun. Ich hatte sowieso den Eindruck, dass sie nur eine Nebenrolle bei ›eroque‹ spielen.«

Rasmussen versuchte, den Ablauf zu rekonstruieren. »Von wo aus sind die drei raus und warum gemeinsam?«

»Der offizielle Teil der Veranstaltungen endet immer um Mitternacht mit einer Ansprache von Caroline von Iven. Danach geht es dann ohne Programm weiter. Ohne Hemmungen. Ohne die Gastgeber. Die Ansprache fand in der Empfangshalle statt. Von Iven hielt die Rede von der Freitreppe aus. Gute Stimmung, viel Applaus, dann sind die drei weg.«

»Wohin?«

»Ich nehme mal an, dass sie in das sogenannte Büro im oberen Seitentrakt verschwunden sind.«

»Du meinst den Tatort, den Leichenfundort?« Rasmussen bearbeitete seine Nasenwurzel. »Wo soll die Nachbesprechung stattfinden?«

»Hier im Herrenhaus.«

Rasmussen machte sich weitere Notizen. »Wo bleibt dein Mitarbeiter?«

Hansen fragte kurz nach. »Der ist auf dem Klo und kotzt. Hat noch nie eine Leiche gesehen. Schon gar nicht mit einer Schusswunde am Kopf.«

Rasmussen griff gedankenverloren nach einem Apfel, der auf einem großen silbernen Tablett voller Früchte lag, und drehte ihn vor seinen Augen hin und her. In der glatt polierten Schale spiegelte sich das flackernde Licht der Kerzen. Dann biss er hinein. »Ich hatte nicht mal Abendbrot.«

Er stand auf und klopfte Hansen freundschaftlich auf die rechte Schulter. »Mach du mal weiter deine Inventur und die Abrechnung. Ich habe genug gesehen und gehört. Ich muss das erst mal sacken lassen. Wir telefonieren.«

»Hans, da ist noch was, das solltest du unbedingt wissen. Als ich an den Fundort kam, da stand die Tresortür mit den Tageseinnahmen offen. Ich bin mir nicht sicher, ob Schnurre oder jemand anders nicht in den Tresor gegriffen hat. Schnurre hat auf mich gewartet. Er war sofort zum Büro zurückgegangen, ich musste noch was regeln. Da lagen ein paar Minuten dazwischen.«

»Deine Auftraggeberin wird tot aufgefunden, und du hast noch was zu regeln? Warum stand der Tresor offen?«

»Caroline von Iven hat einen Schlüssel. Sie wird ihn geöffnet haben. Und das mit Schnurre kläre ich selber. Halt du bitte in der Sache erst mal die Füße still. Du kannst dir nicht vorstellen, was so ein Lustlager für eine komplexe Sicherheitslage mit sich bringt«, sagte Hansen im Brustton der Überzeugung.

Rasmussen schaute in den großen Spiegel, der an der gegenüberliegenden Wand hing. Darin sah er das Schlachtfeld, das die Lustlager-Gäste hinterlassen hatten, und mittendrin stand sein Exkollege mit seiner Uniform und blank gewichsten Stiefeln. Der Ritter von der traurigen Gestalt. »Komplexe Sicherheitslage, da sagst du was, Eike.«

Die beiden trotteten aus dem Ballsaal. Im Treppenhaus polterten drei weitere Kriminaltechniker mit Koffern und sperrigen Gerätschaften nach oben. Das würde eine Dauerbaustelle werden hier. Am Treppenabsatz stieß Rasmussen auf einen riesigen, kahl geschorenen Asiaten in Uniform.

»Kevin Schnurre, sind Sie Herr Rasmussen?«

Rasmussen nickte. In dem Moment kam Hinrichsen kauend aus der Wirtschaftsküche und stellte sich zu ihnen.

Der große Mann, nach dem Kotzen noch ganz blass um die Nase, erzählte, was Rasmussen schon wusste. Die Flügeltüren zum Büro seien angelehnt gewesen, das sei ihm verdächtig vorgekommen, Caroline von Iven habe er auf dem Schreibtisch gesehen und, mit dem Rücken zu ihm, einen Mann, der über das Opfer gebeugt war. Dieser Mann hatte wie alle hier eine Maske getragen und ein Kostüm, aber keine Handschuhe. Das machte Rasmussen ein bisschen Mut. Fingerspuren waren möglich.

»Herr Schnurre, Sie haben dann den großen Unbekannten mit der Leiche eingeschlossen?«

»Genau so, Herr Kommissar. Und dann komm ich zurück, und die Tür steht offen. Typ weg, Tür im Arsch. Voll abgefuckt.«

»Halten Sie sich zu unserer Verfügung, es kann sein, dass wir uns in den nächsten Tagen noch mal unterhalten müssen«, sagte Rasmussen, klopfte Hinrichsen auf die Schulter und verließ grußlos das Herrenhaus.

Wie sollte er bloß herausfinden, wer der Unbekannte war, den Schnurre gesehen hatte? Vielleicht gab es Fingerabdrücke oder Hinweise auf die Gäste bei der Durchsicht des Rechners und des Koffers. Ausgerechnet jetzt war Calloe nicht da, der er gern solche Aufgaben aufs Auge drückte.

Die Nacht würde er nicht zur Ruhe kommen. Rasmussen schaute auf die Uhr. Schon vier. Er beschloss, direkt ins Büro zu fahren.

Sonntag, 14.Juni

Selbstgespräche unter der Dienstdusche

Rasmussen rieselte das warme Wasser den Rücken hinunter. Das Duschbad in der Zentralstation war kein Wellnesstempel, es tat aber seinen Dienst. Er seifte sich von Kopf bis Fuß ein. Das musste jetzt sein.

Ein wenig Erholung hatte er sich in den letzten Stunden verdient. Er hatte das Passwort des konfiszierten Tablets geknackt und konnte sich kaum einkriegen. Bravo, so konnten sie also bereits im Laufe des Sonntags loslegen. Rasmussen, du bist ein Held. Er reckte die Faust durch den Wasserstrahl empor zur Decke.

Zuerst hatte er mit dem Firmennamen der Toten herumgespielt. »Eroque«, »Baroque« und so weiter. Dann hatte er einfach mal »Caroque2009« eingegeben. Bingo. Die ersten drei Buchstaben des Vornamens der Gründerin Caroline von Iven durch den Teil des Firmennamens plus Gründungsdatum ergänzt. Eigentlich ganz simpel. Das Datum hatte er kurz gegoogelt.

Was für eine Karriere, dachte er, wer in den letzten Jahren auf Facebook oder so unterwegs war, musste schon blind und blöde sein, um diese abgefahrene Unterwäschewerbung nicht wahrzunehmen. Die Models waren schön füllig und nicht solche Hungerhaken. Dass alle Modelle maskiert waren, hatte ihm immer besonders gefallen. Bis auf eine. Caroline von Iven stach auf allen Standbildern hervor, sie verdeckte ihre Rundungen mit den schärfsten Dessous, und sie trug nie eine Maske. Er packte seinen Penis fest an und richtete den Strahl der Dusche auf seine Körpermitte.

Als er drin war in Caroline von Ivens E-Mail-Verzeichnissen, war ihm ein Ordner besonders aufgefallen. »Wurst« hieß der. Hinrichsen oder Calloe sollten sich schnellstens in Kleinarbeit dieses Mailwechsels annehmen. Wobei, Wechsel konnte man es nicht nennen. Die Tote war offensichtlich über Jahre gestalkt worden, so viel hatte er beim Überfliegen herausfinden können. Bent Mommsen hieß der Typ.

»Woher kenn ich bloß den Namen?« Da hatte sich Rasmussen gerade zum zweiten Mal die Haare schamponiert. Richtig, die Wurstfabrik bei Kappeln. Was haben Stalker nicht schon alles angerichtet, schoss es ihm durch den Kopf. Er war gerade dabei, seine Matte auszuspülen. Friseur war demnächst mal wieder angesagt. Ach ja, die Ohren. Erst noch mal den äußeren Gehörgang fluten.

Höchst aufschlussreich war aber auch die Geschäftsmappe aus dem Koffer der Toten gewesen. Ganz obenauf lag ein Anwaltsbrief aus Antwerpen. Im Auftrag eines gewissen Ralph Dupont ging es um Vertriebsrechte. Dupont war wohl Galerist und hatte die Kampagnenbildchen aus dem Internet mit großem Erfolg zu Kunstobjekten erklärt. »Alter Gierlappen, ich dreh dir den Hahn ab. Verlass dich drauf!«, stand handschriftlich unter dem Brief. Das Ganze roch nach Stunk. Gerangel um viel Geld. Wohin das führen konnte, das hatte Rasmussen mehr als einmal erlebt.

Allerdings hatten weder die Geschäftspapiere aus dem Reisegepäck noch eine erste Internetrecherche Hinweise auf Geschäftspartner ergeben. Überall tauchte nur der Name Caroline von Iven auf wie der einer absolutistischen Alleinherrscherin – Barock und Ludwig XIV. ins 21. Jahrhundert gebeamt.

Für die Presse war die Geschichte sowieso ein gefundenes Fressen. Europas neue Erotikunternehmerin, adlig, jung und auf ihre Art schön, stammte aus Schwansen. Vom Landei zum Start-up-Star. An dieser Geschichte hatten sie in den Redaktionen doch alle Spaß, die Edelfeder genauso wie der Schmierfink. Fynn, der ab und an zu den Treffen mit Eike Hansen und Amos Wiesel in Hamburg stieß, ließ sie manchmal mit seinen Anekdoten hinter die Kulissen der Zeitungs- und Magazinverlage blicken. Rasmussen waren diese Mediengeschichten zuwider, aber gleichzeitig konnte er sich auch nicht satt daran hören. Seinen beiden Kumpels schien es ähnlich zu gehen. Fynn war zuletzt ein selten gesehener Gast in ihrer Runde.

Er lehnte den Kopf gegen die weißen Kacheln. Kalt. Warm. Kalt. Warm. Er zählte jeweils bis dreißig. So, die gewohnten Wechselduschen am Ende waren jetzt auch geschafft. Rasmussen drehte das Wasser ab und schnappte sich sein Handtuch. Wie gut, dass er noch ein letztes dickes, flauschiges Exemplar in seinem Büroschrank gefunden hatte. Gründlich rubbelte er sich ab. Jetzt fühlte er sich gerüstet für den Tag.

Es war Punkt neun. Sein iPhone klingelte. »Ich hoffe, wenigstens Sie konnten ein Nickerchen machen, Hinrichsen. Wir sehen uns gleich im ›Dänischen Hof‹. Oder besser: Holen Sie mich in der Zentralstation ab.«

Hinterher

Der Chef hatte schon draußen vor der Tür gewartet, als Hinrichsen ihn an der Zentralstation aufgabelte. Jetzt saß Rasmussen in Hinrichsens Opel und berichtete ununterbrochen über all das, was er in den frühen Morgenstunden bei seinen Recherchen herausgefunden hatte – immer mit dem Zusatz: »Das besprechen wir nachher um zwölf alles im Detail.« Hinrichsen konnte sich nicht erinnern, wann er Rasmussen um diese Uhrzeit mal so aufgedreht erlebt hatte.

Der Mann am Steuer rückte seine Prinz-Heinrich-Mütze gerade und konzentrierte sich auf die Straße. Den Chef ließ er einfach reden. Wenn er sich jetzt sortiert, dann arbeiten wir nachher umso effektiver, dachte er so bei sich. Auf seine Frage hin, wer denn nun verdächtig sei, hatte der Hauptkommissar geantwortet: »Es gibt zwei heiße Spuren, aber lassen Sie uns erst einmal das enge Umfeld der Toten abgrasen.«

Sie kurvten durch den Kreisverkehr am Ortsausgang Richtung Goosefeld. Dort hatte vor Kurzem das Hotel und Restaurant »Dänischer Hof« eröffnet. Die zwei belgischen Geschäftspartner Caroline von Ivens seien für die Dauer des Events in dem neuen Hotel abgestiegen, das hatte Hinrichsen noch in der Nacht im Gespräch mit dem Vater, Tristan von Iven, erfahren. Rasmussen war diesem Hinweis heute Morgen auf der Zentralstation kurz nachgegangen. Nicht nur Eike Hansen wusste Bescheid.

»Chef, muss es uns eigentlich wundern, dass die Edelorgie da draußen im Herrenhaus in Ivenstedt stattgefunden hat?«, sprach Hinrichsen in Richtung Windschutzscheibe.

»Hinrichsen, irgendwann findet jede Schweinerei nach Hause«, sagte Rasmussen und schaute zum Seitenfenster hinaus. Grüne Wiesen und dann die ersten roten Backsteinhäuser in Goosefeld.

»Allein schon ›nach Hause‹«, meinte Hinrichsen spitz. »Der Vater hat die ganze Zeit von ›dem Ereignis‹ gesprochen. Ihm sei es so vorgekommen, als hätte die gerade volljährige Tochter die Eltern hinters Licht geführt und ohne deren Wissen eine ganz schlimme Party in deren Haus gefeiert. Tagelange Aufbauarbeiten, Security, Catering – von Ivens Sicht der Dinge war in Anbetracht des Aufwandes für das Lustlager schlichtweg lächerlich, und das wusste der Gutsherr wohl auch selber. Noch so ein dämlicher adliger Lackaffe«, fasste Hinrichsen seine Eindrücke zusammen.

Rasmussen summte mittlerweile nur noch die Songs im Autoradio mit. Pharrell Williams mit »Happy« war gerade dran. Jetzt fing Rasmussen auch noch an, auf dem Beifahrersitz rumzujuckeln. Erst ein Lackaffe, dann ein Tanzaffe, dachte Hinrichsen so bei sich, mal sehen, was dieser Sonntag noch so bringt.

Der Wagen rollte auf den großzügigen Kieselsteinparkplatz vor dem »Dänischen Hof«. Die beiden Beamten öffneten die Türen, schwangen sich aus dem Wagen und ließen ihre Blicke über den Wagenpark mit überraschend vielen Edelkarossen schweifen. Eckernförde zog offensichtlich Besucher mit gut gefüllten Bankkonten an. Das war vor ein paar Jahren noch anders gewesen. Die Sonne blendete, und Rasmussen schob seine Ray-Ban-Sonnenbrille auf die Nase. Hinrichsen lugte blinzelnd unter dem Schirm seiner Prinz-Heinrich-Mütze hervor. Unter den Schritten der Ermittler knirschten die Steine.

»Ein belgisches Kennzeichen ist nicht zu sehen«, sagte Rasmussen.

An der Rezeption wurden Rasmussen und Hinrichsen enttäuscht. Die Herrschaften hätten gestern Abend schon bezahlt und seien heute nach einem kurzen Frühstück bereits um halb acht aus dem Haus. Auf die Frage, mit welchem Wagen die beiden unterwegs seien, bekamen sie die Antwort, es müsse sich um einen Mietwagen gehandelt haben. Einen weißen 7er BMW mit Münchner Kennzeichen. Außerdem hätten die Gäste angegeben, dass sie unbedingt den Morgenflug von Hamburg-Fuhlsbüttel nach Brüssel erwischen müssten.

»Klingt alles vollkommen schlüssig«, sagte Hinrichsen beim Herausgehen.

»Das bringt uns nur alles gar nichts«, grummelte Rasmussen und schaute auf die Uhr seines iPhones. »Zehn Uhr. Die sind doch schon längst außer Landes.«

»Und nun. Hinterher? Großfahndung? Interpol?«

»Ach, kommen Sie, Hinrichsen. Das sind die Geschäftspartner, die laufen uns nicht weg, selbst wenn sie Mörder sein sollten. Wir testen hier mal das Frühstück.«

»Sie meinen also, es war Mord?«, fragte Hinrichsen und kratzte sich am Ohr.

»Am Ende ist es irgendwie immer Mord«, sagte Rasmussen. »Frühstück, oder ich verhungere.«

Sie machten also kehrt. Die freundliche Rezeptionistin schaute sie fragend an.

»Sie haben doch sicherlich ein ordentliches Frühstück für uns, Frollein«, dröhnte Hinrichsen in Richtung Empfangstresen.

»Wir haben ein skandinavisches Frühstück mit einer vortrefflichen Sildauswahl, das Büfett sucht hier in der Gegend seinesgleichen«, antwortete die junge Dame mit hörbarem Stolz in der Stimme.

Hinrichsen lüftete die Mütze, Rasmussen nahm nicht mal die Sonnenbrille ab. Touristensprech gegen Einheimische. Das bedeutete Höchststrafe und in diesem Fall Missachtung durch den Hauptkommissar. Selbst schuld.

Vollversammlung Punkt zwölf

»Ich mag diese Sonntagsruhe auf der Zentralstation«, flötete die Staatsanwältin und bleckte die etwas stark geratenen Zahnreihen.

»Manchmal kann die Ruhe aber ganz schön laut sein«, bemerkte Rasmussen. Nebenan gab die edle Siebträgerkaffeemaschine Zischlaute von sich. Calloe rückte auf ihrem Stuhl hin und her, Hinrichsen auch. Beide hatten einen Kaffeebecher in der Hand. Rasmussen thronte hinter seinen Aktenbergen. Die Staatsanwältin hatte Rasmussen nach seinem Einwurf kurz angeblitzt. Dabei wollte er nur ein wenig Konversation betreiben, und eigentlich hätte er lieber mit ihr Seite an Seite im Strandkorb vor dem »Luzifer« gesessen.

Die Staatsanwältin lehnte jetzt jedoch locker am verstaubten Aktenregal. In der Hand hielt sie eine Tasse. Die wurde hier im Kommissariat extra für sie vorgehalten, sie mochte keinen Kaffee aus dem Becher. Jedes Mal, wenn sie die Beine zur anderen Seite kreuzte, raschelten ihre schwarzen Seidenstrümpfe. »Auf wen warten wir eigentlich?«, fragte die Staatsanwältin. Sie flötete schon wieder.

»Wir warten auf Wiesel. Ich hatte gehofft, er würde uns mit ein paar Schnellschüssen beglücken, das wird aber wohl nichts«, sagte Rasmussen. »Okay, es ist fünf nach zwölf. Lassen Sie uns anfangen.« Er räusperte sich und begann, den Fall für Calloe und die Staatsanwältin zu skizzieren. Er nannte das gerne »erstes Einkreisen«. Bei den Namen Caroline von Iven und »eroque« bemerkte er sofort die gesteigerte Aufmerksamkeit der anwesenden Damen.

Rasmussen fragte sich, ob die beiden wohl Unterwäsche dieser Marke ihr Eigen nannten oder ob sie nur in den einschlägigen Frauenzeitschriften über den Start-up-Star gelesen hatten. Er hatte sich heute Morgen noch ganz schnell irgendwo im Netz die Biografie der »eroque«-Gründerin abgegriffen und ausgedruckt, nun ratterte er diese herunter, und Calloe und die Staatsanwältin nickten zustimmend.

»Sie kennen die Dame also?«

»Was glauben Sie denn, Herr Hauptkommissar?«, entrüstete sich die Staatsanwältin. »Von Iven ist ja wohl die berühmteste Eckernförderin der letzten hundert Jahre.«

»Ivenstedterin, Ivenstedterin«, warf Hinrichsen ein. »Die Eckernförder haben sie nur kurzerhand eingemeindet, unsere Zeitung schreibt ja in letzter Zeit nichts anderes. Wissen Sie, wie oft die auf Seite eins war? Dabei ist sie nur zwei Jahre auf die Jungmannschule gegangen, ihr Abitur hat sie übrigens in Louisenlund gemacht.«

»Hinrichsen, ich staune«, mischte sich Calloe ein. »Sie sind nicht schlecht informiert. Aber auch schon wieder leicht angefressen. Es ist der Landadel. Der treibt gleich wieder ihren Blutdruck hoch. Und dann auch noch das anrüchige Geschäftsfeld und die Orgie da draußen auf dem Gut von Iven.«

»Wenn ich könnte, wie ich wollte … Aber so als Beamter, na ja, Sie wissen schon.« Hinrichsen grummelte herum, wie er eben so herumgrummelte. Dabei drehte er die Prinz-Heinrich-Mütze in den Händen und guckte ganz biestig.

»Leute, eure Sticheleien in allen Ehren, aber was wissen wir bisher wirklich?« Rasmussen schaute fragend in die Runde. Schweigen. »Wir müssen ganz genau rekonstruieren, was am Leichenfundort geschehen ist. Stichwort Lustlager, was verbirgt sich hinter diesem Begriff, wer hat Zugang zu solchen Events, wie funktioniert das? Wir müssen die Karriere der Toten ganz genau rekonstruieren. Was ist das überhaupt, ›eroque‹? Nach dem, was Hinrichsen und ich da im Herrenhaus gesehen haben, scheint das viel mehr als ein Onlineversand für erotische Unterwäsche mit einer genialen Werbekampagne bei Facebook und Co. zu sein. Ich sag mal, das sah da aus wie in einem edlen Themenpuff, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Nö, Chef, weiß ich nicht«, sagte Calloe und lächelte keck.

»Ihre Bewerbung für diesen Job ist angekommen, Frau Kollegin, machen Sie sich schlau. Die Sache scheint vertrackt, Sie werden in den nächsten Tagen das Thema ›eroque‹ und Lustlager bis in die kleinsten Kleinigkeiten ausloten. Sprechen Sie Französisch?«

Calloe nickte Rasmussen zu. Sie machte dabei einen sehr zufriedenen Eindruck.