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Märchenhaft wie ihre Natur: die schönsten Sagen der Bretagne. Ob er will oder nicht – Kommissar Dupin bekommt es während seiner Ermittlungen immer wieder mit wundersamen bretonischen Geschichten zu tun – mit Sagen, Märchen und Legenden. In der Bretagne sind sie allgegenwärtig, wie ein Schlüssel zum Verständnis dieses verzauberten Reiches, in dem Feen, Gnome, Riesen und ihre Abenteuer fortzuleben scheinen. In der wilden Natur, in verwunschenen Wäldern, uralten Gemäuern und labyrinthischen Tälern, auf bizarren Klippen und unwirklichen Inseln haben die fabelhaften Figuren und Motive die Zeit überdauert: Der Totengott Ankou lehrt das Fürchten, der Untergang der sagenhaften Stadt Ys, die sich in der Bucht von Douarnenez befunden haben soll, lehrt die Ehrfurcht. Selbst Merlin und König Artus mussten im Wald Brocéliande einige ihrer schwersten Prüfungen bestehen. So verschieden all diese Geschichten auch sein mögen, so eint sie doch ihre ausgeprägte Poesie, ein charakteristischer Humor und die typisch bretonische Stimmung. Jean-Luc Bannalec und Tilman Spreckelsen, beide Kenner und Liebhaber der Region, haben die schönsten und eindrucksvollsten Erzählungen in diesem Band zusammengetragen. Es gibt viel zu entdecken – für Dupin- und Bretagne-Fans gleichermaßen!
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Seitenzahl: 278
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Titelseite
Inhaltsverzeichnis
Über Jean-Luc Bannalec / Tilman Spreckelsen
Über dieses Buch
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
Bretonisches Zauberreich
Peronnik der Einfältige
Ewenn Congar
Die Steine von Plouhinec
Die beiden Buckligen
Mao Kergarec oder Der Pakt mit dem Teufel
Die Wäscherin der Nacht
Die Groac’h von der Insel Lok
Goldhans
Comorre
Die neun Brüder, die in Lämmer verwandelt wurden, und ihre Schwester
Pierre Le Rûns Vision
Die Gattin des Todes
Die fünf Toten aus der Bucht
Die versunkene Stadt Ys
Die weiße Frau im Moor
Der Ring des Kapitäns
Der Gerechte
Bag-noz, das Geisterschiff
Die beiden alten Bäume
Petit-Jean und die Rätselprinzessin
Der Wald von Brocéliande
Quellenverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Es gibt, so heißt es, in der Bretagne mehr Sagen und Märchen, als der Himmel Sterne zählt – mehr als an irgendeinem anderen Ort der Welt. Diese wunderbaren Geschichten gehören zum Wesen der Bretagne wie ihre atemberaubende Natur. Wie der tosende Atlantik, wie die wütenden Stürme, die einem die Gischt ins Gesicht wehen, voller Salz und Jod. Wie die weiten, ungeheuren Himmel, die unendlichen Wolkengestalten, die sintflutartigen Regengüsse. Wie das grandiose Lichtspektakel, die zerklüfteten, hoch aufragenden Felsen und Klippen, die unzugänglichen Buchten oder die geheimnisvollen Wälder, unheimlichen Moore und ihre Welten aus Nebel und Zwielicht.
So kolossal sich in der Bretagne die Kräfte der Natur äußern, so außerordentlich tun es die imaginären und erzählerischen Kräfte der keltischen Fantasie. Die bretonische Einbildungskraft gibt sich überbordend, verschwenderisch und poetisch, über Jahrtausende gebar sie einen einzigartigen Reichtum an Erzählungen. Jeder Kapelle, jedem Baum, jedem Felsvorsprung hat sie eine eigene wundersame Geschichte gewidmet, die von ihren Geheimnissen erzählt. Von den Dingen zwischen Himmel und Erde, die der menschliche Verstand nicht zu fassen vermag. So existieren tatsächlich unendlich viele Erzählungen, und überall findet man eine Bretonin oder einen Bretonen, der sie zu erzählen weiß.
Man muss nur einmal in der Dämmerung durch eines der kleinen bretonischen Urwäldchen streifen – die Bäume voller Moos, Flechten, Efeu und Misteln, überall dichtes Unterholz – und plötzlich neben einer Hunderte Jahre alten, unendlich verwachsenen Eiche, deren Äste knochigen Fingern gleichen, einen bizarren Granitfelsen aufragen sehen. Und darunter einen vorlauten Gnom. Oder eine zauberhafte Elfe über einem unwirklich spiegelnden Teich.
Die Bretagne nimmt sich als ein verzaubertes Reich der Sagen und fantastischen Erzählungen aus. Wer einige der bretonischen Sagen kennt, vermag durch sie noch mehr von der Region zu sehen und zu spüren, noch tiefer in ihre einmalige Aura einzudringen und sich so der bretonischen Seele zu nähern, sprich: den Bretonen, ihrer Sicht auf die Welt und das Leben.
Es handelt sich dabei um viel mehr als eindrucksvolles altes Kulturgut. Man kann die »übernatürliche Bretagne« nicht von der gewöhnlichen Wirklichkeit trennen, die man als Besucher der Region erlebt. Beide Sphären überlagern sich und gehen auf schwindelig machende Weise ineinander über. Die Geschichten vom Wunderbaren gehören wesentlich zur gewöhnlichen Welt dazu. Auch die Zeiten unterliegen diesem eigentümlichen Taumel: Vergangenheit und Gegenwart vermischen sich, bisweilen auch die Zukunft. Im Heute ist alles Vergangene enthalten. Nie ist es bloß vergangen, tot, im Gegenteil: Es lebt, und das äußerst intensiv. Das ein oder andere kann heutzutage dennoch befremdlich wirken: etwa die ausgiebige Beschäftigung mit dem Tod, die Vorstellungen von Sünde und Buße sowie das archaische Geschlechterbild. Solche Kontraste markieren den dokumentarischen Charakter dieser schriftlichen Zeugnisse eines historischen Weltbilds.
Die wundersamen Geschichten sind allgegenwärtig. So bekommt auch Kommissar Georges Dupin es während seiner Ermittlungen immer wieder mit ihnen zu tun, egal wohin es ihn verschlägt. Es gibt keinen Fall, in dem nicht auch bestimmte Sagen, Legenden oder Erzählungen eine Rolle spielen. Und nicht selten sind diese von ermittlerischer Bedeutung, helfen dem Kommissar, die Bretagne zu begreifen, die Menschen und die Rätsel, die sich ihm unentwegt stellen. Zuweilen liegt in ihnen eine Fährte oder am Ende sogar der Schlüssel zur Lösung eines Falles. Für gewöhnlich ist es Riwal, Dupins erster Inspektor – ein Bretone »pur beurre« und eine lebende Enzyklopädie der Bretagne –, der sie erzählt. Meistens in eher unpassenden Situationen, zugegeben. Und auch nicht knapp und bündig, sondern, wie es sich für einen wahren Erzähler gehört, gerne episch, mit aufwendiger Dramaturgie und voller detaillierter Ausschmückungen. Natürlich sind die Details das Wichtigste! So nimmt Dupin sie oft nicht ernst – meistens nur, um später zu merken, dass er doch besser zugehört hätte …
Die Protagonisten der Geschichten sind vielfältig; Königinnen und Könige, Prinzessinnen und Prinzen, Ritter, Barden, Zauberer, Zwerge, Riesen, Sirenen, Meerjungfrauen, Feen, Gnome oder Drachen – alle kommen sie vor. Einige sind weltberühmt: König Artus, die Ritter seiner Tafelrunde und der Zauberer Merlin, die im Wald von Brocéliande abenteuerliche Prüfungen bestehen müssen. Nicht zu vergessen König Gradlon und seine Tochter Dahut, die mit der legendären Stadt Ys im schäumenden Atlantik versinken. Darüber hinaus treten Figuren und Phänomene auf, die es so nur in der Bretagne geben kann: Die charakteristischste Figur ist ohne Zweifel Ankou, eine Gestalt des Todes selbst. Er, der Tod, ist in der Bretagne gegenwärtig und geläufig, der selbstverständliche Kompagnon des Lebens. Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits ist fließend, sodass die Figuren sie bisweilen – wie es scheint: fast nach Belieben – in beide Richtungen passieren. Und dies betrifft nicht bloß die fantastischen Märchengestalten. Im Gegenteil: Die allermeisten Geschichten erzählen von gewöhnlichen Menschen, einfachen Bretoninnen und Bretonen, denen mit einem Mal Außergewöhnliches und Ungeheures widerfährt.
Für den vorliegenden Band haben wir einundzwanzig bretonische Geschichten vom Wunderbaren ausgewählt. Gemessen am immensen Fundus der in Büchern überlieferten Erzählungen ist dies eine winzige Anzahl. Und selbst die unzähligen Bücher stellen nur einen Bruchteil dessen dar, was über die Jahrhunderte ersonnen wurde. Das mündliche Erzählen nämlich stellt das hauptsächliche Medium keltischer Kultur dar; in ihm, so die keltische Überzeugung, lebt das Erzählte, seine Figuren, sein Stoff. Alles uralte Wissen, alle Fertigkeiten, alle Traditionen wurden – darüber staunte bereits Caesar während seines gallischen Feldzuges – in den keltisch-druidischen Schulen auswendig gelernt und von einer Generation an die nächste weitererzählt.
Das mündliche Erzählen hält die Geschichten lebendig, insbesondere durch die permanente Weiterentwicklung, die steten Neuerfindungen durch jeden einzelnen Erzähler. Nie gibt es eine endgültige Fassung einer Geschichte. Riwal formuliert es einmal so: Man müsse sich den Sagenschatz »wie ein wild wucherndes Frühlingsbeet vorstellen. Überall sprießt es, kreuz und quer. Es ist ein ewiges Erzählen, der Stoff ist unerschöpflich, er wird immer wieder neu gefasst, niemals wird es enden.« Noch heute gibt es eine große Anzahl professioneller conteurs in der Bretagne, die einem die Geschichten von sagenhaften Orten kunstvoll vortragen, immer mit ihrer eigenen individuellen Färbung.
Und dennoch sind wir, wenn wir nicht gerade bei einem solchen Vortrag anwesend sind, auf die Hilfe derer angewiesen, die das Erzählte schriftlich festhalten und damit aufbewahren – auch für die Nachgeborenen. Aus diesem Geiste entstand im neunzehnten Jahrhundert – dem Beispiel der Brüder Grimm folgend, wie andernorts in Europa auch – eine Reihe von schriftlichen Fassungen bretonischer Sagen. Wir verdanken sie vor allem Émile Souvestre (1806 bis 1854), François-Marie Luzel (1821 bis 1895) und Anatole Le Braz (1859 bis 1926). Besonders reizvoll sind Momente während der Lektüre, in denen wandernde Märchenmotive erkennbar werden – etwa die sieben Raben der Brüder Grimm, die hier zu neun Lämmern werden, oder Gevatter Tod, dessen bretonische Version entschieden mehr Gelassenheit ausstrahlt als sein deutscher Bruder.
Das Erzählen erweist sich als ureigenes Element des Bretonischen. Oder anders: Das grundlegende bretonische Verhältnis zur Welt ist im Kern erzählerisch und poetisch. Das Erzählen schafft einen besonderen Zugang zur Welt. Es schafft Bedeutung. Es korrigiert und komplementiert die rein rationale Weltsicht. Es rückt eine existenzielle menschliche Fähigkeit in den Mittelpunkt: die Imagination. Dank ihr können wir sehen und schaffen, was über das schon Bestehende hinausgeht. Und das ist bloß eine ihrer vielfältigen Kräfte.
Jean-Luc Bannalec & Tilman Spreckelsen
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Ihr seid sicher schon einem dieser armen Einfältigen begegnet, die der Priester mit Hasenschmalz getauft hat und die nichts können, als an den Türen stehen und betteln. Sie sind wie Kälber, die den Weg zu ihrem Stalle verloren haben. Sie schauen sich nach allen Seiten mit großen Augen und offenem Maule um, als ob sie etwas suchten, aber was sie suchen, das ist in diesem Lande nicht so gemein, dass man es auf den Landstraßen findet: Es ist nämlich der Verstand.
Peronnik war einer von diesen armen Schelmen, die anstatt auf Vater und Mutter auf die Mildtätigkeit ihrer Brüder in Christo angewiesen sind. Er ging immer der Nase nach und wusste nicht, wohin. Wenn ihn dürstete, trank er aus den Quellen, und wenn ihn hungerte, so erbettelte er von den Frauen, die auf den Türschwellen standen, die Abfallkrusten. Wollte er schlafen, so suchte er sich einen Strohhaufen und grub sich hinein wie eine Eidechse.
Übrigens war Peronnik für seine Verhältnisse nicht schlecht gekleidet, er hatte eine Leinenhose, der nichts als der Boden fehlte, eine Weste mit einem Ärmel und die Hälfte einer Mütze, die einst neu gewesen war. Daher sang Peronnik aus Herzensgrunde, sooft er satt war, und dankte morgens und abends Gott, der ihm so viele Geschenke gab, ohne ihn dadurch zu etwas zu verpflichten.
Ein Handwerk hatte Peronnik nie gelernt, aber er war in vielerlei Dingen geschickt. Er aß so viel, wie man verlangte, er schlief länger als irgendjemand und ahmte mit seiner Zunge den Gesang der Lerchen nach. Heute gibt es mehr als einen im Lande, der solches nicht nachmachen könnte.
Zur Zeit, von der ich spreche, das heißt vor tausend und mehr Jahren, war das Land des weißen Kornes noch nicht so beschaffen, wie ihr es jetzt seht. Seit jener Zeit haben viele Edelleute ihr Erbe aufgezehrt und ihre Hochwälder in Holzschuhe verwandelt; so kam es, dass der Wald von Paimpont sich damals über mehr als zwanzig Gemeinden erstreckte.
Wie dem auch sei, jedenfalls kam Peronnik eines Tages auf einen Hof, der am Rande des Waldes erbaut war, und da es schon lange her war, dass es in seinem Magen das »Benedicite« geläutet hatte, trat er näher, um etwas Essen zu erbetteln.
Die Bäuerin kniete gerade auf der Türschwelle und war dabei, ihren Breikessel mit harten Steinen zu säubern; aber als sie die Stimme des Einfältigen hörte, der sie im Namen Gottes um Nahrung bat, hielt sie inne und streckte ihm den Kessel entgegen:
»Nimm!«, sagte sie, »mein armer Dummhans, iss das Zusammengescharrte und bete dafür ein Paternoster für unsere Ferkel, die nicht gedeihen wollen!«
Peronnik setzte sich auf den Boden, nahm den Napf zwischen seine Beine und begann, ihn mit den Nägeln auszukratzen; aber er erwischte nur wenig, denn alle Löffel des Hauses waren schon darin gewesen. Indessen schleckte er sich die Finger ab und ließ ein befriedigtes Grunzen hören, als hätte er nie etwas Besseres genossen.
»Es ist Hirsemehl«, sagte er halblaut, »Hirsemehl angerührt mit Milch von einer schwarzen Kuh, und das von der besten Köchin im ganzen Unterland.«
Die Bäuerin, welche sich abgewandt hatte, drehte sich geschmeichelt um.
»Armer Dummling«, sagte sie, »es ist nur wenig mehr übrig, aber ich werde dir ein Stück Schwarzbrot dreingeben.«
Sie brachte dem Burschen eine Schnitte von einem Laib, der gerade aus dem Backofen kam.
Peronnik biss hinein wie ein Wolf in einen Lammschenkel und rief, dass der Teig vom Leibbäcker Sr. Eminenz des Bischofs von Vannes geknetet sein müsse. Die Bäuerin antwortete stolz, es wäre noch ganz etwas anderes, wenn man das Brot mit frisch gerührter Butter bestriche, und um es zu beweisen, brachte sie ein wenig Butter in einer kleinen bedeckten Schüssel. Der Dummling pries die Butter aufs Höchste, und um sein Lob zu bekräftigen, strich er alles, was sich in der Schale vorfand, auf seine Brotschnitte. Aber die Befriedigung über das Lob hinderte die Bäuerin, dies zu merken, und sie fügte dem, was sie schon gegeben hatte, noch ein Stück Speck hinzu, welches von der Sonntagssuppe übrig geblieben war. Peronnik rühmte ein Stück noch mehr als das andere und verschlang alles, als ob es Quellwasser gewesen wäre, denn schon lange hatte er kein solches Mahl mehr gehabt. Die Bäuerin ging und kam und gab hin und wieder ein paar Brocken dazu, die er sich bekreuzigend entgegennahm.
Während er so beschäftigt war, neue Kräfte zu erwerben, erschien ein bewaffneter Ritter an der Haustür und wandte sich an die Frau, um den Weg nach dem Schlosse Kerglas zu erfragen.
»Jesus, mein Gott, Herr Ritter! Dorthin wollt Ihr?«, rief die Frau.
»Ja!«, antwortete der Krieger, »und zu diesem Zweck bin ich aus einem so fernen Lande hergekommen, dass ich drei Monate lang Tag und Nacht habe reiten müssen, um hierher zu gelangen.«
»Und was wollt Ihr in Kerglas?«, erwiderte die Bretonin.
»Ich suche das goldene Becken und die diamantene Lanze.«
»Das sind wohl zwei wertvolle Dinge?«, fragte Peronnik.
»Wertvoller als alle Kronen der Erde«, entgegnete der Fremde, »denn abgesehen davon, dass das goldene Becken augenblicklich alle Speisen und alle Reichtümer hervorbringt, die man sich wünscht, genügt es, daraus zu trinken, um von allen Leiden geheilt zu werden, und die Toten selbst stehen auf, wenn es ihre Lippen berührt. Die diamantene Lanze aber tötet und zerschlägt alles, was sie trifft.«
»Und wem gehörten diese Lanze und dieses Gefäß?«, fragte Peronnik verwundert.
»Einem Zauberer namens Rogéar, welcher im Schlosse von Kerglas wohnt!«, antwortete die Bäuerin, »man sieht ihn täglich am Waldesrande auf seiner schwarzen Stute sitzend vorüberreiten, gefolgt von deren Füllen von dreizehn Monaten; aber niemand würde es wagen, ihn anzugreifen, denn er hält in seiner Hand die erbarmungslose Lanze.«
»Ja«, warf der Fremde ein, »aber ein Befehl Gottes verbietet ihm, sich ihrer im Schlosse Kerglas zu bedienen. Sobald er dort ankommt, werden Becken und Lanze in der Tiefe eines dunklen Verlieses, welches kein Schlüssel zu öffnen vermag, verwahrt; dort will ich den Zauberer angreifen.«
»Weh! Das wird Euch nicht glücken, Herr!«, entgegnete die Bäuerin. »Mehr als hundert andere Edelleute haben das Abenteuer vor Euch gewagt, aber nicht einer ist zurückgekommen.«
»Ich weiß es, gute Frau«, versetzte der Ritter, »aber sie haben nicht wie ich zuvor die Unterweisungen des Eremiten von Blavet erhalten.«
»Und was hat Euch dieser Eremit gesagt?«, fragte Peronnik.
»Er hat mich alles gelehrt, was ich tun muss«, antwortete der Fremde, »zunächst muss ich durch den Irrwald reiten, wo alle Arten von Zauber angewendet werden, um mich zu erschrecken und mich meinen Weg verfehlen zu lassen. Die Mehrzahl von denen, die mir vorangegangen sind, hat sich dort verirrt und ist erfroren oder vor Hunger und Ermattung gestorben.«
»Und wenn Ihr ihn durchschreitet?«, fragte der Einfältige.
»Wenn ich ihn durchschreite«, fuhr der Edelmann fort, »werde ich einem Zwerg begegnen, der mit einem feurigen Stachel bewaffnet ist, welcher alles, was er berührt, in Asche verwandelt. Dieser Zwerg bewacht einen Apfelbaum, von dem ich eine Frucht pflücken muss.«
»Und dann?«, fragte Peronnik weiter.
»Dann werde ich die lachende Blume finden; sie wird von einem Löwen behütet, dessen Mähne aus Schlangen besteht, und ich muss diese Blume brechen. Darauf muss ich den Drachensee überschreiten, den schwarzen Mann mit der Eisenkugel bekämpfen, welche immer ihr Ziel erreicht und von selbst zu ihrem Herrn zurückkehrt; schließlich werde ich das Tal der Freuden betreten, wo ich alles erblicken werde, was einen Menschen verführen und zurückhalten kann, und ich werde zu einem Fluss kommen, der nur eine Furt hat. Dort wird sich eine schwarz gekleidete Dame befinden, die ich hinter mich aufs Ross nehme und die mir sagen wird, was ich weiter tun muss.«
Die Bäuerin versuchte dem Fremden zu beweisen, dass er niemals all diese Proben bestehen würde; aber dieser erwiderte, darüber könne eine Frau nicht urteilen; und nachdem er sich den Eingang zum Walde hatte zeigen lassen, spornte er sein Ross und verschwand zwischen den Bäumen. Die Bäuerin seufzte tief auf und meinte, das sei ein Toter mehr, der vor Gottes Gericht treten müsse; sie gab Peronnik noch einige Krusten und forderte ihn dann auf, seinen Weg weiterzugehen. Dieser folgte ihrem Rate, zumal der Bauer gerade vom Felde heimkehrte. Er hatte den Knaben, der seine Kühe am Rande des Waldes hütete, davongejagt und überlegte sich, wie er dafür Ersatz schaffen könne. Der Anblick des Dummlings war für ihn ein Lichtstrahl, er glaubte, gefunden zu haben, was er suchte, und nach einigen Bemerkungen fragte er Peronnik geradeheraus, ob er auf dem Hofe bleiben wolle, um das Vieh zu hüten. Peronnik hätte es vorgezogen, nur sich selber zu hüten, denn niemand war besser als er zum Nichtstun aufgelegt; aber er spürte noch den Geschmack des Specks, der frischen Butter, des Schwarzbrotes und des Hirseschmarrens auf seinen Lippen, daher ließ er sich verleiten und nahm den Vorschlag des Bauern an.
Dieser führte ihn sogleich an den Waldrand, zählte ihm laut die Kühe vor, ohne die Färsen zu vergessen, und schnitt ihm eine Haselgerte ab, damit er sie zusammenhalten könne; dann trug er ihm auf, das Vieh bei Sonnenuntergang heimzutreiben.
So war Peronnik Viehhüter geworden, er musste den Kühen verwehren, dass sie Schaden anrichteten, und musste von den schwarzen zu den roten und von den roten zu den weißen laufen, um sie gehörig beisammenzuhalten.
Während er so von einer Kuh zur andern lief, hörte er plötzlich Pferdegetrappel und gewahrte in einem Baumgange des Waldes den Zauberer Rogéar, der auf seiner Stute saß, und dahinter das Füllen von dreizehn Monaten. Am Halse trug er das goldene Becken und in der Hand die diamantene Lanze, die leuchtete wie eine Flamme.
Peronnik verbarg sich erschrocken hinter einem Busch; der Riese ritt nahe an ihm vorbei und setzte seinen Weg fort. Als er verschwunden war, verließ Peronnik sein Versteck und schaute in die Richtung, die der Zauberer eingeschlagen hatte, ohne jedoch den Weg erkennen zu können, dem er gefolgt war. Indessen kamen unaufhörlich bewaffnete Ritter, die das Schloss Kerglas suchten, aber keinen von ihnen sah man wiederkehren. Der Riese jedoch machte täglich seinen Rundgang. Der Dummling, der allmählich kühner wurde, verbarg sich nicht mehr, wenn er vorüberritt, und betrachtete ihn von Weitem mit neidischen Augen, denn das Verlangen, das goldene Becken und die diamantene Lanze zu besitzen, wuchs von Tag zu Tag in seinem Herzen. Aber es verhielt sich damit wie mit einem guten Weib: Man kann es sich leichter wünschen als erwerben.
Eines Abends war Peronnik wie gewöhnlich allein auf der Weide, da stand mit einem Male ein weißbärtiger Mann am Waldesrand. Der Dummling glaubte, das sei wieder irgendein Fremder, der gekommen sei, um die Abenteuer zu wagen, und er fragte ihn, ob er etwa den Weg nach Kerglas suche.
»Ich suche ihn nicht, denn ich kenne ihn«, entgegnete der Unbekannte.
»Ihr seid ihn gegangen und der Zauberer hat Euch nicht getötet?«, rief der Einfältige.
»Weil er von mir nichts zu fürchten hat«, erwiderte der weißbärtige Greis. »Man nennt mich den Zauberer Bryak, und ich bin der ältere Bruder Rogéars. Wenn ich ihn besuchen will, komme ich hierher, aber da ich trotz meiner Zaubermacht den Irrwald nicht durchschreiten könnte, ohne mich zu verirren, so rufe ich das schwarze Füllen, damit es mich führe.« Bei diesen Worten zog er drei Kreise mit seinem Finger in den Sand, murmelte einige Worte, wie sie der Teufel die Zauberer lehrt, und rief: »Füllen mit den leichten Füßen, Füllen mit den scharfen Zähnen, Füllen, ich bin da, komm geschwind, ich wart auf dich!«
Das kleine Ross erschien augenblicklich. Bryak legte ihm ein Halfter und eine Fußfessel an, stieg auf seinen Rücken und ließ es in den Wald zurückkehren.
Peronnik sagte keinem Menschen ein Wort von diesem Abenteuer; aber er wusste jetzt, dass es das Erste war, wenn man nach Kerglas wollte, das Füllen zu besteigen, welches den Weg kannte. Unglücklicherweise verstand er weder die drei Kreise zu zeichnen noch die Zauberworte auszusprechen, die nötig waren, um den Anruf wirkungsvoll zu machen. Er musste also ein anderes Mittel finden, sich seiner zu bemächtigen und dann den Apfel zu pflücken, die lachende Blume zu brechen, der Kugel des schwarzen Mannes zu entgehen und das Tal der Freuden zu durcheilen. Peronnik dachte lange darüber nach, und es schien ihm zuletzt, dass es ihm gelingen könne. Die Starken suchen der Gefahr mit ihrer Stärke zu begegnen, und oft gehen sie dabei zugrunde, aber die Schwachen packen die Dinge von der Seite an. Da der Dummling nicht hoffen durfte, den Riesen zu bestehen, so beschloss er, ihn zu überlisten. Vor den Schwierigkeiten schrak er nicht zurück, er wusste, dass die Mispeln hart wie Kiesel sind, wenn man sie pflückt, und dass sie mit ein wenig Stroh und viel Geduld schließlich doch weich werden.
Er traf also alle Vorbereitungen für die Stunde, in welcher der Riese am Waldesrande erscheinen musste. Er richtete zunächst ein Halfter und eine Fußfessel aus schwarzem Hanf her, dann eine Schnepfenschlinge, deren Haare er in Weihwasser tauchte, einen Leinenbeutel, den er mit Vogelleim und Lerchenfedern füllte, einen Rosenkranz, eine Hollerpfeife und ein Stück Brotrinde, bestrichen mit ranzigem Speck. Hierauf zerbröckelte er sein Frühstücksbrot längs des Weges, den Rogéar mit seiner Stute und seinem Füllen von dreizehn Monaten einschlagen musste. Alle drei erschienen zur gewohnten Stunde und durchschritten die Weide, wie sie es alle Tage taten; aber das Füllen, das mit hängendem Kopf und auf dem Boden schnüffelnd einherging, roch die Brotbrocken und blieb stehen, um sie zu fressen, sodass es bald allein und außer Sehweite des Riesen war. Dann schlich sich Peronnik heran, warf ihm sein Halfter über, fesselte zwei seiner Füße mit den Spannstricken, sprang auf seinen Rücken und ließ es nun laufen, wohin es wollte, denn er war sicher, dass das Füllen, welches den Weg kannte, ihn zum Schloss Kerglas führen würde.
Das Rösslein schlug wirklich ohne Zaudern einen der wildesten Wege ein und lief so schnell, wie es ihm die Fußfesseln erlaubten. Peronnik zitterte wie ein Blatt, denn alle Zauber des Waldes vereinigten sich, um ihn zu schrecken. Bald schien es ihm, als öffnete sich ein Abgrund vor seinem Reittier, bald schienen die Bäume in Flammen zu stehen und er sich inmitten einer Feuersbrunst zu befinden, oft, wenn er einen Bach überschritt, wurde der Bach zu einem reißenden Strom und drohte ihn fortzutragen; ein andermal, als er einem Pfad am Fuße eines Hügels folgte, schienen sich ungeheure Felsmassen abzulösen und auf ihn herabzustürzen, um ihn zu zerschmettern. Der Dummling mochte sich noch so oft sagen, dass dies Trugbilder des Zauberers seien, er fühlte doch sein Mark vor Angst erstarren. Schließlich zog er seine Kappe über die Augen, um nichts zu sehen und sich vom Füllen fortbringen zu lassen.
So kamen sie beide in eine Ebene, wo die Zauber aufhörten. Nun nahm Peronnik seine Mütze ab und blickte um sich. Es war eine dürre Heide und trauriger als ein Friedhof. Von Zeit zu Zeit sah man die Gerippe der Ritter, die gekommen waren, um das Schloss Kerglas zu suchen. Sie lagen da, neben ihren Rossen hingestreckt, und graue Wölfe nagten an ihren Gebeinen. Schließlich gelangte der Dummling auf eine Wiese, die ganz und gar von einem einzigen Apfelbaum überschattet wurde, der so mit Früchten beladen war, dass die Äste sich bis zur Erde niederbogen. Vor dem Baume stand ein Zwerg, der in seiner Hand die feurige Waffe hielt, die alles, was sie berührte, in Asche verwandelte. Als er Peronnik erblickte, schrie er wie eine Meerkrähe und erhob seine Waffe; aber ohne Erstaunen zu zeigen, zog der junge Mann höflich seine Mütze.
»Lasst Euch nicht stören, mein kleiner Prinz«, sagte er, »ich möchte nur vorüber, um mich nach Kerglas zu begeben, wohin mich der Zauberer Rogéar bestellt hat.«
»Dich?«, erwiderte der Zwerg, »wer bist du denn?«
»Ich bin der neue Diener unseres Herrn«, antwortete der Dummling, »Ihr wisst doch, der, den er erwartet.«
»Ich weiß von nichts«, sagte der Zwerg, »und du siehst mir ganz wie ein Schwindler aus.«
»Verzeihung«, unterbrach ihn Peronnik, »das ist nicht mein Beruf, ich bin lediglich Vogelsteller und Vogelabrichter. Aber, mein Gott, haltet mich nicht auf, denn der Herr Zauberer rechnet auf mich und hat mir sogar sein Füllen geliehen, wie Ihr seht, damit ich schneller ins Schloss gelange.«
Der Zwerg bemerkte nun wirklich, dass Peronnik das junge Pferd des Zauberers ritt, und begann zu glauben, dass jener die Wahrheit sagte. Der Dummling sah übrigens so unschuldig aus, dass man ihn nicht für fähig halten konnte, eine Geschichte zu erfinden. Indessen schien er noch zu zweifeln und fragte ihn, wozu der Zauberer einen Vogelsteller brauche.
»Er hat ihn dringend nötig, wie es scheint«, entgegnete Peronnik, »denn, wie er sagt, wird gegenwärtig alles, was im Garten von Kerglas keimt und reift, von den Vögeln gefressen.«
»Und wie willst du sie daran hindern?«, fragte der Zwerg.
Peronnik zeigte die kleine Falle, die er verfertigt hatte, und sagte, kein Vogel könne ihr entgehen.
»Davon will ich mich überzeugen«, versetzte der Zwerg. »Mein Apfelbaum wird auch von den Amseln und Drosseln geplündert; stell deine Falle, und wenn du sie fangen kannst, so lasse ich dich vorbei.«
Peronnik war einverstanden; er band sein Füllen an einen Baum und näherte sich dem Stamm des Apfelbaums, befestigte das eine Ende der Schlinge daran und rief dann dem Zwerg zu, er solle das andere Ende halten, während er die Futterhölzchen aufrichten wolle. Dieser tat, was der Dummling verlangte; nun zog Peronnik plötzlich den Schiebeknoten zu, und der Zwerg war selbst wie ein Vogel gefangen. Er stieß einen Wutschrei aus und wollte sich losmachen, aber die Schlinge, die in Weihwasser getaucht war, widerstand allen seinen Anstrengungen. Der Dummling hatte Zeit, zum Baume zu laufen, dort einen Apfel zu pflücken und dann wieder auf sein Füllen zu steigen, welches nun seinen Weg fortsetzte.
So verließen sie die Ebene und befanden sich vor einem Lustwäldchen, das aus den schönsten Pflanzen zusammengesetzt war. Dort gab es Rosen in allen Farben, spanischen Ginster, rotes Geißblatt, und über alldem erhob sich eine Wunderblume, welche lachte; aber ein Löwe mit Schlangenmähne lief um das Wäldchen herum, rollte die Augen und knirschte mit den Zähnen wie mit zwei frisch geschliffenen Mühlsteinen. Peronnik blieb stehen und begrüßte ihn wieder, denn er wusste, dass vor Großen die Mütze auf dem Kopf weniger am Platze ist als in der Hand. Er wünschte dem Löwen und seiner Familie alles erdenkliche Glück und fragte ihn, ob er auf dem rechten Wege nach Kerglas sei.
»Und was suchst du in Kerglas?«, rief das wilde Tier mit fürchterlicher Miene.
»Mit Eurer Erlaubnis«, antwortete der Dummling furchtsam, »bin ich im Dienste einer Dame, welche eine Freundin des Herrn Rogéar ist und welche ihm als Geschenk etwas sendet, wovon er eine Lerchenpastete machen kann.«
»Lerchen?«, wiederholte der Löwe und schleckte mit der Zunge seinen Schnurrbart ab, »es ist ein Jahrhundert her, dass ich eine gegessen habe. Hast du viele dabei?«
»Alles, was dieser Sack fassen kann, gnädiger Herr!«, erwiderte Peronnik und wies den Leinenbeutel vor, den er mit Federn und Leim gefüllt hatte. Und um seinen Worten Glauben zu verschaffen, fing er an, das Zwitschern der Lerchen nachzumachen.
Dieser Ton vergrößerte den Appetit des Löwen.
»Lass sehen«, sagte er und kam näher, »zeig mir deine Vögel, ich will wissen, ob sie fett genug sind, um unserem Herrn aufgetischt zu werden.«
»Ich wünsche mir nichts Besseres«, entgegnete der Dummling, »aber wenn ich sie aus dem Sack hole, fürchte ich, dass sie mir davonfliegen.«
»Öffne ihn nur so weit«, versetzte das wilde Tier, »dass ich hineinschauen kann!«
Das war es, was Peronnik erhofft hatte, er hielt dem Löwen den Leinenbeutel vor, der seinen Kopf hineinsteckte, um die Lerchen zu packen, da aber sah er sich in den Federn und dem Leim festgehalten. Der Dummling zog geschwind die Schnur des Sackes um seinen Hals zu, machte ein Kreuzzeichen über den Knoten, um ihn unauflöslich zu machen, und lief dann zur lachenden Blume, pflückte sie und eilte mit der ganzen Geschwindigkeit seines Füllens von dannen.
Aber alsbald traf er auf den Drachensee, den er durchschwimmen musste, und kaum war er darin, so eilten die Drachen von allen Seiten herbei, um ihn zu verschlingen. Diesmal unterhielt sich Peronnik nicht damit, vor ihnen die Mütze zu ziehen, sondern er warf ihnen die Perlen des Rosenkranzes vor, wie man den Enten Korn vorwirft, und bei jeder verschluckten Perle drehte sich ein Drache auf den Rücken und verendete, sodass der Dummling das andere Ufer ohne Schaden erreichen konnte.
Es blieb also noch das Tal, das von dem schwarzen Mann bewacht wurde. Peronnik gewahrte ihn gleich am Eingang, mit den Füßen an den Felsen geschmiedet und in der Hand die Eisenkugel haltend, welche, nachdem sie ihr Ziel erreicht hatte, stets von selbst zurückkehrte. Er hatte sechs Augen rund um den Kopf, welche abwechselnd wachten, aber in diesem Augenblick hatte er alle sechs geöffnet. Peronnik wusste, dass ihn, sobald er bemerkt würde, die Eisenkugel treffen würde, noch bevor er hätte reden können, daher zog er es vor, am Unterholz entlangzuschleichen. So kam er, hinter dem Gebüsch verborgen, bis auf einige Schritte an den schwarzen Mann heran. Dieser setzte sich gerade nieder, und zwei seiner Augen waren zum Schlummer geschlossen. Peronnik glaubte, jener sei müde, und er begann, halblaut den Anfang der Messe zu singen. Der schwarze Mann schien zuerst erstaunt, er wandte den Kopf; dann aber, da der Gesang auf ihn wirkte, schloss er das dritte Auge. Peronnik stimmte nun das Kyrie eleison an im Ton jener Priester, die vom Schlafteufel besessen sind. Der schwarze Mann schloss sein viertes Auge und das fünfte zur Hälfte. Peronnik begann die Vesper, aber ehe er zum Magnifikat gekommen war, war der schwarze Mann eingeschlafen.
Nun nahm der Bursch das Füllen beim Zügel und führte es leise über moosbedeckte Stellen; dann gelangte er, rasch am Wächter vorbeigehend, ins Tal der Freuden.
Das war die schwerste Probe, denn es handelte sich hier nicht darum, einer Gefahr zu entgehen, sondern einer Versuchung zu widerstehen. Peronnik rief alle Heiligen der Bretagne zur Hilfe. Das Tal, das er durchquerte, glich einem Garten voller Früchte, Blumen und Quellen, aber aus den Quellen flossen Wein und süße, berauschende Getränke, die Blumen sangen mit zarten Stimmen wie die Cherubim im Paradies, und die Früchte boten sich von selber dar. Bei jeder Biegung des Weges sah Peronnik große Tafeln, die gedeckt waren, als sollten Könige daran speisen; er roch den Duft des Backwerks, das man gerade aus dem Ofen zog, er sah Diener, die ihn zu erwarten schienen, während etwas weiter abseits schöne junge Mädchen aus dem Bade stiegen und auf dem Rasen tanzten; sie riefen ihn beim Namen und baten ihn, den Reigen anzuführen. Der Dummling machte zwar das Zeichen des Kreuzes, aber er verlangsamte doch den Schritt seines Füllens, ohne es zu merken, er hob die Nase in den Wind, um besser den Duft der Schüsseln zu riechen und die badenden Mädchen zu sehen; fast hätte er angehalten, und dann wäre es um ihn geschehen gewesen; da zuckte ihm der Gedanke an das goldene Becken und die diamantene Lanze durch das Hirn, und sogleich begann er auf seiner Holunderpfeife zu flöten, um die lockenden Stimmen nicht zu hören, er aß sein mit ranzigem Speck bestrichenes Brot, um den Duft der Schüsseln nicht zu riechen, und er betrachtete die Ohren seines Pferdes, um die Tänzerinnen nicht zu sehen. Auf diese Weise gelangte er ohne Unfall zum Ende des Gartens und sah nun endlich das Schloss Kerglas vor sich.
Aber noch trennte ihn von diesem der Fluss, von dem man ihm erzählt hatte und der nur eine einzige Furt besaß. Glücklicherweise war sie dem Füllen bekannt, und es trat am rechten Ort ins Wasser.
Peronnik schaute um sich, ob er nicht die Dame erblickte, die ihn ins Schloss führen sollte, und er bemerkte sie auf einem Felsblock sitzend. Sie war in schwarze Seide gekleidet und ihr Antlitz war gelb wie das einer Maurin. Der Dummling zog wieder seine Mütze und fragte sie, ob sie nicht den Fluss überschreiten wolle.
»Deshalb erwarte ich dich«, entgegnete die Dame, »komm näher, damit ich mich hinter dich setzen kann!«
Peronnik ritt herzu, ließ sie hinten aufsitzen und begann die Furt zu durchreiten. Mitten im Fluss sagte die Dame zu ihm: »Weißt du auch, wer ich bin, du armer Junge?«
»Verzeihung«, antwortete Peronnik, »aber nach Euren Kleidern zu urteilen, seid Ihr wohl eine adlige und mächtige Dame.«
»Adlig muss ich wohl sein, denn mein Stamm geht auf den ersten Sündenfall zurück; und mächtig bin ich auch, denn alle Völker der Erde beugen sich vor mir.«
»Und wie ist Euer Name, gnädige Frau, wenn ich bitten darf?«, fragte Peronnik.
»Man nennt mich die Pest!«, erwiderte die gelbe Frau.
Der Dummling machte einen Satz auf seinem Pferd und wollte sich in den Fluss stürzen, aber die Pest sagte zu ihm: »Bleib ruhig sitzen, armer Junge, du hast von mir nichts zu fürchten, und ich könnte dir sogar einen Dienst leisten.«
»Ist es möglich, dass Ihr so gütig sein wolltet, Frau Pest?«, sagte Peronnik und zog diesmal seine Mütze, um sie nicht wieder aufzusetzen. »Ich erinnere mich jetzt in der Tat, dass Ihr mir angeben solltet, wie ich mich des Zauberers Rogéar entledigen kann.«
»Soll der Zauberer sterben?«, sprach die gelbe Dame.
»Nichts wäre mir lieber«, erwiderte Peronnik, »aber er ist leider unsterblich.«
»Höre und suche mich zu verstehen!«, entgegnete die Dame. »Der Apfelbaum, den der Zwerg bewacht, ist ein Steckling des Baumes des Guten und Bösen, den Gott selbst ins irdische Paradies gepflanzt hat. Seine Frucht macht wie die, von welcher Adam und Eva aßen, die Unsterblichen für den Tod empfänglich. Sieh zu, dass der Zauberer den Apfel genießt, dann brauche ich ihn nur zu berühren, damit er aufhört zu leben.«