3,99 €
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Autoren. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Sisyphosarbeit und Ödipus-Komplex, Damokles-Schwert und Achillesferse: In unserer Sprache wimmelt es nur so von Begriffen, die aus der antiken Sagenwelt stammen. Welche Geschichten aber verbergen sich eigentlich dahinter? – Wenn es ein Buch gibt, das auf diese Frage prägnante und lebendige Antworten geben kann, so ist es bis heute Gustav Schwabs berühmte Sammlung aus dem 19. Jahrhundert.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 1562
Gustav Schwab
Die schönsten Sagen des klassischen Altertums
FISCHER E-Books
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Autoren.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Himmel und Erde waren geschaffen: das Meer wogte in seinen Ufern und die Fische spielten darin; in den Lüften sangen beflügelt die Vögel; der Erdboden wimmelte von Tieren. Aber noch fehlte es an dem Geschöpfe, dessen Leib so beschaffen war, daß der Geist in ihm Wohnung machen und von ihm aus die Erdenwelt beherrschen konnte. Da betrat Prometheus die Erde, ein Sprößling des alten Göttergeschlechts, das Zeus entthront hatte, ein Sohn des erdgeborenen Uranossohnes Iapetos, kluger Erfindung voll. Dieser wußte wohl, daß im Erdboden der Same des Himmels schlummere; darum nahm er vom Tone, befeuchtete denselben mit dem Wasser des Flusses, knetete ihn und formte daraus ein Gebilde, nach dem Ebenbilde der Götter, der Herren der Welt. Diesen seinen Erdenkloß zu beleben, entlehnte er allenthalben von den Tierseelen gute und böse Eigenschaften und schloß sie in die Brust des Menschen ein. Unter den Himmlischen hatte er eine Freundin, Athene, die Göttin der Weisheit. Diese bewunderte die Schöpfung des Titanensohnes und blies dem halbbeseelten Bilde den Geist, den göttlichen Atem ein.
So entstanden die ersten Menschen und füllten bald vervielfältigt die Erde. Lange aber wußten diese nicht, wie sie sich ihrer edlen Glieder und des empfangenen Götterfunkens bedienen sollten. Sehend sahen sie umsonst, hörten hörend nicht; wie Traumgestalten liefen sie umher und wußten sich der Schöpfung nicht zu bedienen. Unbekannt war ihnen die Kunst, Steine auszugraben und zu behauen, aus Lehm Ziegel zu brennen, Balken aus dem gefällten Holze des Waldes zu zimmern, und mit allem diesem sich Häuser zu erbauen. Unter der Erde, in sonnenlosen Höhlen, wimmelte es von ihnen wie von beweglichen Ameisen; nicht den Winter, nicht den blütevollen Frühling, nicht den früchtereichen Sommer kannten sie an sicheren Zeichen; planlos war alles, was sie verrichteten. Da nahm sich Prometheus seiner Geschöpfe an; er lehrte sie den Auf- und Niedergang der Gestirne zu beobachten, erfand ihnen die Kunst zu zählen, die Buchstabenschrift; lehrte sie Tiere ans Joch spannen und zu Genossen ihrer Arbeit brauchen, gewöhnte die Rosse an Zügel und Wagen; erfand Nachen und Segel für die Schiffahrt. Auch fürs übrige Leben sorgte er den Menschen. Früher, wenn einer krank wurde, wußte er kein Mittel, nicht was von Speise und Trank ihm zuträglich sei, kannte kein Salböl zur Linderung seiner Schäden; sondern aus Mangel an Arzneien starben sie elendiglich dahin. Darum zeigte ihnen Prometheus die Mischung milder Heilmittel, allerlei Krankheiten damit zu vertreiben. Dann lehrte er sie die Wahrsagekunst, deutete ihnen Vorzeichen und Träume, Vogelflug und Opferschau. Ferner führte er ihren Blick unter die Erde und ließ sie hier das Erz, das Eisen, das Silber und das Gold entdecken; kurz in alle Bequemlichkeiten und Künste des Lebens leitete er sie ein.
Im Himmel herrschte mit seinen Kindern seit kurzem Zeus, der seinen Vater Kronos entthront, und das alte Göttergeschlecht, von welchem auch Prometheus abstammte, gestürzt hatte.
Jetzt wurden die neuen Götter aufmerksam auf das eben entstandene Menschenvolk. Sie verlangten Verehrung von ihm für den Schutz, welchen sie demselben angedeihen zu lassen bereitwillig waren. Zu Mekone in Griechenland ward ein Tag gehalten zwischen Sterblichen und Unsterblichen, und Rechte und Pflichten der Menschen bestimmt. Bei dieser Versammlung erschien Prometheus als Anwalt seiner Menschen, dafür zu sorgen, daß die Götter für die übernommenen Schutzämter den Sterblichen nicht allzulästige Gebühren auferlegen möchten. Da verführte den Prometheus seine Klugheit, die Götter zu betrügen. Er schlachtete im Namen seiner Geschöpfe einen großen Stier, davon sollten die Himmlischen wählen, was sie für sich davon verlangten. Er hatte aber nach Zerstückelung des Opfertieres zwei Haufen gemacht; auf die eine Seite legte er das Fleisch, das Eingeweide und den Speck, in die Haut des Stieres zusammengefaßt, auf die andere die kahlen Knochen, künstlich in das Unschlitt des Schlachtopfers eingehüllt. Und dieser Haufen war der größere. Zeus, der Göttervater, der allwissende, durchschaute seinen Betrug und sprach: »Sohn des Iapetos, erlauchter König, guter Freund, wie ungleich hast du die Teile geteilt!« Prometheus glaubte jetzt erst recht, daß er ihn betrogen, lächelte bei sich selbst und sprach: »Erlauchter Zeus, größter der ewigen Götter, wähle den Teil, den dir dein Herz im Busen anrät zu wählen.« Zeus ergrimmte im Herzen, aber geflissentlich faßte er mit beiden Händen das weiße Unschlitt. Als er es nun auseinander gedrückt und die bloßen Knochen gewahrte, stellte er sich an, als entdeckte er jetzt eben erst den Betrug und zornig sprach er: »Ich sehe wohl, Freund Iapetionide, daß du die Kunst des Truges noch nicht verlernt hast!«
Zeus beschloß, sich an Prometheus für seinen Betrug zu rächen, und versagte den Sterblichen die letzte Gabe, der sie zur vollendeteren Gesittung bedurften, das Feuer. Doch auch dafür wußte der schlaue Sohn des Iapetos Rat. Er nahm den langen Stengel des markigen Riesenfenchels, näherte sich mit ihm dem vorüberfahrenden Sonnenwagen, und setzte so den Stengel in glostenden Brand. Mit diesem Feuerzunder kam er hernieder auf die Erde, und bald loderte der erste Holzstoß gen Himmel. In innerster Seele schmerzte es den Donnerer, als er den fernhin leuchtenden Glanz des Feuers unter den Menschen emporsteigen sah. Sofort formte er, zum Ersatz für des Feuers Gebrauch, das den Sterblichen nicht mehr zu nehmen war, ein neues Übel für sie. Der seiner Kunst wegen berühmte Feuergott Hephaistos mußte ihm das Scheinbild einer schönen Jungfrau fertigen; Athene selbst, die, auf Prometheus eifersüchtig, ihm abhold geworden war, warf dem Bild ein weißes, schimmerndes Gewand über, ließ ihr einen Schleier über das Gesicht wallen, den das Mädchen mit den Händen geteilt hielt, bekränzte ihr Haupt mit frischen Blumen und umschlang es mit einer goldenen Binde, die gleichfalls Hephaistos seinem Vater zuliebe kunstreich verfertigt und mit bunten Tiergestalten herrlich verziert hatte. Hermes, der Götterbote, mußte dem holden Gebilde Sprache verleihen, und Aphrodite allen Liebreiz. Also hatte Zeus unter der Gestalt eines Gutes ein blendendes Übel geschaffen und nannte sie Pandora, das heißt die Allbeschenkte, denn jeder der Unsterblichen hatte dem Mägdlein irgendein unheilbringendes Geschenk für die Menschen mitgegeben. Darauf führte er die Jungfrau hernieder auf die Erde, wo Sterbliche vermischt mit den Göttern lustwandelten. Alle miteinander bewunderten die unvergleichliche Gestalt. Sie aber schritt zu Epimetheus, dem argloseren Bruder des Prometheus, ihm das Geschenk des Zeus zu bringen. Vergebens hatte diesen der Bruder gewarnt, niemals ein Geschenk vom olympischen Zeus anzunehmen, damit dem Menschen kein Leid dadurch widerführe, sondern es sofort zurückzusenden. Epimetheus, dieses Wortes uneingedenk, nahm die schöne Jungfrau mit Freuden auf und empfand das Übel erst, als er es hatte. Denn bisher lebten die Geschlechter der Menschen, von seinem Bruder beraten, frei von Übel, ohne beschwerliche Arbeit, ohne quälende Krankheit. Das Weib aber trug in den Händen ihr Geschenk, ein großes Gefäß mit einem Deckel versehen. Kaum bei Epimetheus angekommen, schlug sie den Deckel zurück, und alsbald entflog dem Gefäße eine Schar von Übeln und verbreitete sich mit Blitzesschnelle über die Erde. Ein einziges Gut war zuunterst in dem Fasse verborgen, die Hoffnung; aber auf den Rat des Göttervaters warf Pandora den Deckel wieder zu, ehe sie herausflattern konnte, und verschloß sie für immer in dem Gefäß. Das Elend füllte inzwischen in allen Gestalten Erde, Luft und Meer. Die Krankheiten irrten bei Tage und bei Nacht unter den Menschen umher, heimlich und schweigend, denn Zeus hatte ihnen keine Stimme gegeben; eine Schar von Fiebern hielt die Erde belagert, und der Tod, früher nur langsam die Sterblichen beschleichend, beflügelte seinen Schritt.
Darauf wandte sich Zeus mit seiner Rache gegen Prometheus. Er übergab den Verbrecher dem Hephaistos, und seinen Dienern, dem Kratos und der Bia (dem Zwang und der Gewalt). Diese mußten ihn in die skythischen Einöden schleppen und hier, über einem schauderhaften Abgrund, an eine Felswand des Berges Kaukasos mit unauflöslichen Ketten schmieden. Ungern vollzog Hephaistos den Auftrag seines Vaters, er liebte in dem Titanensohne den verwandten Abkömmling seines Urgroßvaters Uranos, den ebenbürtigen Göttersprößling. Unter mitleidsvollen Worten und von den roheren Knechten gescholten, ließ er diese das grausame Werk vollbringen. So mußte nun Prometheus an der freudlosen Klippe hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie zu beugen. »Viele vergebliche Klagen und Seufzer wirst du versenden«, sagte Hephaistos zu ihm, »denn des Zeus Sinn ist unerbittlich und alle, die erst seit kurzem die Herrschergewalt an sich gerissen[1], sind hartherzig.« Wirklich sollte auch die Qual des Gefangenen ewig oder doch dreißigtausend Jahre dauern. Obwohl laut aufseufzend und Winde, Ströme, Quellen und Meereswellen, die Allmutter Erde und den allanschauenden Sonnenkreis zu Zeugen seiner Pein aufrufend, blieb er doch ungebeugten Sinnes. »Was das Schicksal beschlossen hat«, sprach er, »muß derjenige tragen, der die unbezwingliche Gewalt der Notwendigkeit einsehen gelernt hat.« Auch ließ er sich durch keine Drohungen des Zeus bewegen, die dunkle Weissagung, daß dem Götterherrscher durch einen neuen Ehebund[2] Verderben und Untergang bevorstehe, näher auszudeuten. Zeus hielt Wort: er sandte dem Gefesselten einen Adler, der als täglicher Gast an seiner Leber zehren durfte, die sich, abgeweidet, immer wieder erneuerte. Diese Qual sollte nicht eher aufhören, bis ein Ersatzmann erscheinen würde, der durch freiwillige Übernahme des Todes gewissermaßen sein Stellvertreter zu werden sich erböte.
Jener Zeitpunkt erschien früher, als der Verurteilte nach des Zeus Spruch erwarten durfte. Als er dreißig Jahre an dem Felsen gehangen, kam Herakles (Herkules) des Weges, auf der Fahrt nach den Hesperiden und ihren Äpfeln begriffen. Wie er den Götterenkel am Kaukasos hängen sah und sich seines guten Rates zu erfreuen hoffte, erbarmte ihn sein Geschick, denn er sah zu, wie der Adler, auf den Knien des Prometheus sitzend, an der Leber des Unglückseligen fraß. Da legte er Keule und Löwenhaut hinter sich, spannte den Bogen, entsandte den Pfeil und schoß den grausamen Vogel von der Leber des Gequälten hinweg. Hierauf löste er seine Fesseln und führte den Befreiten mit sich davon. Damit aber die Bedingung des Zeus erfüllt würde, stellte er ihm als Ersatzmann den Kentauren Chiron, der erbötig war, an jenes Statt zu sterben; denn vorher war er unsterblich. Auf daß jedoch das Urteil des Zeus, der den Prometheus auf weit längere Zeit an den Felsen gesprochen hatte, auch so nicht unvollzogen bliebe, so mußte Prometheus fortwährend einen eisernen Ring tragen, an welchem sich ein Steinchen von jenem Kaukasosfelsen befand. So konnte sich Zeus rühmen, daß sein Feind noch immer an den Kaukasos angeschmiedet lebe.
Die ersten Menschen, welche die Götter schufen, waren ein goldenes Geschlecht. Diese lebten, solange Kronos (Saturnus) dem Himmel vorstand, sorgenlos und den Göttern selbst ähnlich, von Arbeit und Kummer entfernt. Auch die Leiden des Alters waren ihnen unbekannt; an Händen, Füßen und allen Gliedern immer rüstig, freuten sie sich, von jeglichem Übel frei, heiterer Gelage. Die seligen Götter hatten sie lieb und schenkten ihnen auf reichen Fluren stattliche Herden. Wenn sie verscheiden sollten, sanken sie nur in sanften Schlaf. Solange sie aber lebten, hatten sie alle möglichen Güter, das Erdreich gewährte ihnen alle Früchte von selbst und im Überflusse, und ruhig mit allen Gütern gesegnet, vollbrachten sie ihr Tagewerk. Nachdem jenes Geschlecht nach dem Beschlusse des Schicksals von der Erde verschwunden war, wurden sie zu frommen Schutzgöttern, welche, dicht in Nebel gehüllt, die Erde rings durchwandelten, als Geber alles Guten, Behüter des Rechts und Rächer aller Vergehungen.
Hierauf schufen die Unsterblichen ein zweites Menschengeschlecht aus Silber; dieses war schon weit von jenem abgeartet, und glich ihm weder an Körpergestaltung noch an Gesinnung. Sondern ganze hundert Jahre wuchs der verzärtelte Knabe noch unmündig an Geist unter der mütterlichen Pflege im Elternhause auf, und wenn einer endlich zum Jünglingsalter herangereift war, so blieb ihm nur noch kurze Frist zum Leben übrig. Unvernünftige Handlungen stürzten diese neuen Menschen in Jammer, denn sie konnten schon ihre Leidenschaften nicht mehr mäßigen und frevelten im Übermute gegeneinander. Auch die Altäre der Götter wollten sie nicht mehr mit den gebührenden Opfern ehren. Deswegen nahm Zeus dieses Geschlecht wieder von der Erde hinweg, denn ihm gefiel nicht, daß sie der Ehrfurcht gegen die Unsterblichen ermangelten. Doch waren auch diese noch nicht so entblößt von Vorzügen, daß ihnen nach ihrer Entfernung aus dem Leben nicht einige Ehre zum Anteil geworden wäre, und sie durften als sterbliche Dämonen noch auf der Erde umherwandeln.
Nun erschuf der Vater Zeus ein drittes Geschlecht von Menschen, dieses nur aus Erz. Das war auch dem silbernen völlig ungleich, grausam, gewalttätig, immer nur den Geschäften des Krieges ergeben, immer einer auf des andern Beleidigung sinnend. Sie verschmähten es, von den Früchten des Feldes zu essen und nährten sich vom Tierfleische; ihr Starrsinn war hart wie Diamant, ihr Leib von ungeheuerem Gliederbau; Hände wuchsen ihnen von den Schultern, denen niemand nahe kommen durfte. Ihr Gewehr war Erz, ihre Wohnung Erz, mit Erz bestellten sie das Feld; denn Eisen war damals noch nicht vorhanden. Sie kehrten ihre eigenen Hände gegeneinander; aber so groß und entsetzlich sie waren, so vermochten sie doch nichts gegen den schwarzen Tod und stiegen, vom hellen Sonnenlichte scheidend, in die schaurige Nacht der Unterwelt hernieder.
Als die Erde auch dieses Geschlecht eingehüllt hatte, brachte Zeus ein viertes Geschlecht hervor, das auf der nährenden Erde wohnen sollte. Dies war wieder edler und gerechter als das vorige. Es war das Geschlecht der göttlichen Heroen, welche die Vorwelt auch Halbgötter genannt hat. Zuletzt vertilgte aber auch sie Zwietracht und Krieg, die einen vor den sieben Toren Thebens, wo sie um das Reich des Königs Oidipus (Ödipus) kämpften, die anderen auf dem Gefilde Troias, wohin sie um der schönen Helena willen zahllos auf Schiffen gekommen waren. Als diese ihr Erdenleben in Kampf und Not beschlossen hatten, ordnete ihnen der Vater Zeus ihren Sitz am Rande des Weltalls an, im Ozean, auf den Inseln der Seligen. Dort führten sie nach dem Tode ein glückliches und sorgenfreies Leben, wo ihnen der fruchtbare Boden dreimal im Jahre honigsüße Früchte zum Labsal emporsendet.
»Ach, wäre ich«, so seufzt der alte Dichter Hesiod, der diese Sage von den Menschenaltern erzählt, »wäre ich doch nicht ein Genosse des fünften Menschengeschlechts, das jetzt gekommen ist; wäre ich früher gestorben, oder später geboren! denn dieses Menschengeschlecht ist ein eisernes! Gänzlich verderbt, ruhen diese Menschen weder bei Tage noch bei Nacht von Kümmernis und Beschwerden, immer neue nagende Sorgen schicken ihnen die Götter. Sie selbst aber sind sich die größte Plage. Der Vater ist dem Sohne, der Sohn dem Vater nicht hold, der Gast haßt den bewirtenden Freund, der Genosse den Genossen; auch unter Brüdern herrscht nicht mehr herzliche Liebe wie vor Zeiten. Dem grauen Haare der Eltern selbst wird die Ehrfurcht versagt, Schmachreden werden gegen sie ausgestoßen, Mißhandlungen müssen sie erdulden. Ihr grausamen Menschen, denket ihr denn gar nicht an das Göttergericht, daß ihr euren abgelebten Eltern den Dank für ihre Pflege nicht erstatten wollet? Überall gilt nur das Faustrecht; auf Städteverwüstung sinnen sie gegeneinander. Nicht derjenige wird begünstigt, der die Wahrheit schwört, der gerecht und gut ist; nein, nur den Übeltäter, den schnöden Frevler ehren sie; Recht und Mäßigung gilt nichts mehr, der Böse darf den Edleren verletzen, trügerische, krumme Worte sprechen, Falsches beschwören. Deswegen sind diese Menschen auch so unglücklich. Schadenfrohe, mißlautige Scheelsucht verfolgt sie und grollt ihnen mit dem neidischen Antlitz entgegen. Die Göttinnen der Scham und der heiligen Scheu, welche sich bisher doch noch auf der Erde hatten blicken lassen, verhüllen traurig ihren schönen Leib in das weiße Gewand, lassen die Menschen, um sich wieder in die Versammlung der ewigen Götter zurückzuflüchten. Unter den sterblichen Menschen blieb nichts als das traurige Elend zurück, und keine Rettung von diesem Unheil ist zu erwarten.«
Als nun das eherne Menschengeschlecht auf Erden hauste, und Zeus, dem Weltbeherrscher, schlimme Sage von seinen Freveln zu Ohren gekommen, beschloß er selbst in menschlicher Bildung die Erde zu durchstreifen. Aber allenthalben fand er das Gerücht noch geringer als die Wahrheit. Eines Abends in später Dämmerung trat er unter das ungastliche Obdach des Arkadierkönigs Lykaon, welcher durch Wildheit berüchtigt war. Er ließ durch einige Wunderzeichen merken, daß ein Gott gekommen sei, und die Menge hatte sich auf die Knie geworfen. Lykaon jedoch spottete über diese frommen Gebete. »Laßt uns sehen«, sprach er, »ob es ein Sterblicher oder ein Gott sei!« Damit beschloß er im Herzen, den Gast um Mitternacht, wenn der Schlummer auf ihm lastete, mit ungeahntem Tode zu verderben. Noch vorher aber schlachtete er einen armen Geisel, den ihm das Volk der Molosser gesandt hatte, kochte die halb lebendigen Glieder in siedendem Wasser oder briet sie am Feuer und setzte sie dem Fremdling zum Nachtmahle auf den Tisch. Zeus, der alles durchschaut hatte, fuhr vom Mahl empor und sandte die rächende Flamme über die Burg des Gottlosen. Bestürzt entfloh der König ins freie Feld. Der erste Wehlaut, den er ausstieß, war ein Geheul, sein Gewand wurde zu Zotteln, seine Arme zu Beinen; er war in einen blutdürstigen Wolf verwandelt.
Zeus kehrte in den Olymp zurück, hielt mit den Göttern Rat und gedachte, das ruchlose Menschengeschlecht zu vertilgen. Schon wollte er auf alle Länder die Blitze verstreuen; aber die Furcht, der Äther möchte in Flammen geraten und die Achse des Weltalls verlodern, hielt ihn ab. Er legte die Donnerkeile, welche ihm die Kyklopen geschmiedet, wieder beiseite, und beschloß, über die ganze Erde Platzregen vom Himmel zu senden, und so unter Wolkengüssen die Sterblichen aufzureiben. Auf der Stelle ward der Nordwind samt allen anderen Wolken verscheuchenden Winden in die Höhlen des Aiolos (Aeolus) verschlossen, und nur der Südwind von ihm ausgesendet. Dieser flog mit triefenden Schwingen zur Erde hinab, sein entsetzliches Antlitz bedeckte pechschwarzes Dunkel, sein Bart war schwer von Gewölk, von seinem weißen Haupthaare rann die Flut, Nebel lagerten auf der Stirn, aus dem Busen troff ihm das Wasser. Der Südwind griff an den Himmel, faßte mit der Hand die weit umherhangenden Wolken und fing an sie auszupressen. Der Donner rollte, gedrängte Regenflut stürzte vom Himmel; die Saat beugte sich unter dem wogenden Sturm, danieder lag die Hoffnung des Landmannes, verdorben war die langwierige Arbeit des ganzen Jahres. Auch Poseidon, der Bruder des Zeus, kam ihm bei dem Zerstörungswerke zu Hilfe, berief alle Flüsse zusammen und sprach: »Laßt euren Strömungen alle Zügel schießen, fallt in die Häuser, durchbrechet die Dämme!« Sie vollführten seinen Befehl, und Poseidon selbst durchstach mit seinem Dreizack das Erdreich und schaffte durch Erschütterung den Fluten Eingang. So strömten die Flüsse über die offene Flur hin, bedeckten die Felder, rissen Baumpflanzungen, Tempel und Häuser fort. Blieb auch wo ein Palast stehen, so deckte doch bald das Wasser seinen Giebel, und die höchsten Türme verbargen sich im Strudel. Meer und Erde waren bald nicht mehr unterschieden; alles war See, und gestadeloser See. Die Menschen suchten sich zu retten, so gut sie konnten; der eine erkletterte den höchsten Berg, der andere bestieg einen Kahn und ruderte nun über das Dach seines versunkenen Landhauses oder über die Hügel seiner Weinpflanzungen hin, daß der Kiel an ihnen streifte. In den Ästen der Wälder arbeiteten sich die Fische ab; den Eber, den eilenden Hirsch erjagte die Flut; ganze Völker wurden vom Wasser hinweggerafft, und was die Welle verschonte, starb den Hungertod auf den unbebauten Heidegipfeln.
Ein solcher hoher Berg ragte noch mit zwei Spitzen im Lande Phokis über die alles bedeckende Meerflut hervor. Es war der Parnassos. An ihn schwamm Deukalion, des Prometheus Sohn, den dieser gewarnt und ihm ein Schiff erbaut hatte, mit seiner Gattin Pyrrha im Nachen heran. Kein Mann, kein Weib war je erfunden worden, die an Rechtschaffenheit und Götterscheu diese beiden übertroffen hätten. Als nun Zeus vom Himmel herabschauend die Welt von stehenden Sümpfen überschwemmt und von den vielen tausendmal Tausenden nur ein einziges Menschenpaar übrig sah, beide unsträflich, beide andächtige Verehrer der Gottheit, da sandte er den Nordwind aus, sprengte die schwarzen Wolken und hieß ihn die Nebel entführen; er zeigte den Himmel der Erde, und die Erde dem Himmel wieder. Auch Poseidon, der Meeresfürst, legte den Dreizack nieder und besänftigte die Flut. Das Meer erhielt wieder Ufer, die Flüsse kehrten in ihr Bett zurück; Wälder streckten ihre mit Schlamm bedeckten Baumwipfel aus der Tiefe hervor, Hügel folgten, endlich breitete sich auch wieder ebenes Land aus, und zuletzt war die Erde wieder da.
Deukalion blickte um sich. Das Land war verwüstet und in Grabesstille versenkt. Tränen rollten bei diesem Anblick über seine Wangen, und er sprach zu seinem Weibe Pyrrha: »Geliebte, einzige Lebensgenossin! So weit ich in die Länder schaue, nach allen Weltgegenden hin, kann ich keine lebende Seele entdecken. Wir zwei bilden miteinander das Volk der Erde, alle anderen sind in der Wasserflut untergegangen. Aber auch wir sind unseres Lebens noch nicht mit Gewißheit sicher. Jede Wolke, die ich sehe, erschreckt meine Seele noch. Und wenn auch alle Gefahr vorüber ist, was fangen wir Einsamen auf der verlassenen Erde an? Ach, daß mich mein Vater Prometheus die Kunst gelehrt hätte, Menschen zu erschaffen und geformtem Tone Geist einzugießen!« So sprach er, und das verlassene Paar fing an zu weinen; dann warfen sie vor einem halbzerstörten Altar der Göttin Themis sich auf die Knie nieder und begannen zu der Himmlischen zu flehen: »Sag’ uns an, o Göttin, durch welche Kunst stellen wir unser untergegangenes Geschlecht wieder her! O hilf der versunkenen Welt wieder zum Leben!«
»Verlasset meinen Altar«, tönte die Stimme der Göttin, »umschleiert euer Haupt, löset eure gegürteten Glieder und werfet die Gebeine eurer Mutter hinter den Rücken.«
Lange verwunderten sich beide über diesen rätselhaften Götterspruch. Pyrrha brach zuerst das Schweigen. »Verzeih mir, hohe Göttin«, sprach sie, »wenn ich zusammenschaudere, wenn ich dir nicht gehorsam bin und meiner Mutter Schatten nicht durch Zerstreuung ihrer Gebeine kränken will!« Aber dem Deukalion fuhr es durch den Geist wie ein Lichtstrahl. Er beruhigte seine Gattin mit dem freundlichen Worte: »Entweder trügt mich mein Scharfsinn oder die Worte der Götter sind fromm und verbergen keinen Frevel! Unsere große Mutter, das ist die Erde, ihre Knochen sind die Steine; und diese, Pyrrha, sollen wir hinter uns werfen!«
Beide mißtrauten indessen dieser Deutung noch lange. Jedoch, was schadet die Probe, dachten sie. So gingen sie dann seitwärts, verhüllten ihr Haupt, entgürteten ihre Kleider und warfen, wie ihnen befohlen war, die Steine hinter sich. Da ereignete sich ein großes Wunder: das Gestein begann seine Härte und Sprödigkeit abzulegen, wurde geschmeidig, wuchs, gewann eine Gestalt; menschliche Formen traten an ihm hervor, doch noch nicht deutlich, sondern rohen Gebilden, oder einer in Marmor vom Künstler erst aus dem Groben herausgemeißelten Figur ähnlich. Was jedoch an den Steinen Feuchtes oder Erdiges war, das wurde zu Fleisch an dem Körper; das Unbeugsame, Feste ward in Knochen verwandelt; das Geäder in den Steinen blieb Geäder. So gewannen mit Hilfe der Götter in kurzer Frist die vom Manne geworfenen Steine männliche Bildung, die vom Weibe geworfenen weibliche.
Diesen seinen Ursprung verleugnet das menschliche Geschlecht nicht, es ist ein hartes Geschlecht und tauglich zur Arbeit. Jeden Augenblick erinnert es daran, aus welchem Stamm es erwachsen ist.
Inachos, der uralte Stammfürst und König der Pelasger, hatte eine bildschöne Tochter mit Namen Io. Auf sie war der Blick des Zeus, des olympischen Herrschers, gefallen, als sie auf der Wiese von Lerna die Herden ihres Vaters pflegte. Der Gott ward von Liebe zu ihr entzündet, trat zu ihr in Menschengestalt, und fing an, sie mit verführerischen Schmeichelworten zu versuchen: »O Jungfrau, glücklich ist, der dich besitzen wird; doch ist kein Sterblicher deiner wert, und du verdientest des höchsten Zeus Braut zu sein! Wisse denn, ich bin Zeus. Fliehe nicht vor mir. Die Hitze des Mittags brennt heiß. Tritt mit mir in den Schatten des erhabenen Haines, der uns dort zur Linken in seine Kühle einlädt; was machst du dir in der Glut des Tages zu schaffen? Fürchte dich doch nicht, den dunkeln Wald und die Schluchten, in welchen das Wild hauset, zu betreten. Bin ich doch da, dich zu schirmen, der Gott, der den Szepter des Himmels führt, und die zackigen Blitze über den Erdboden versendet.« Aber die Jungfrau floh vor dem Versucher mit eiligen Schritten, und sie wäre ihm auf den Flügeln der Angst entkommen, wenn der verfolgende Gott seine Macht nicht mißbraucht und das ganze Land in dichte Finsternis gehüllt hätte. Rings umqualmte die Fliehende der Nebel, und bald waren ihre Schritte gehemmt durch die Furcht, an einen Felsen zu rennen, oder in einen Fluß zu stürzen. So kam die unglückliche Io in die Gewalt des Gottes.
Hera, die Göttermutter, war längst an die Treulosigkeit ihres Gatten gewöhnt, der sich von ihrer Liebe ab und den Töchtern der Halbgötter und der Sterblichen zuwandte; aber sie vermochte ihren Zorn und ihre Eifersucht nicht zu bändigen, und mit immer wachem Mißtrauen beobachtete sie alle seine Schritte auf der Erde. So schaute sie auch jetzt gerade auf die Gegenden hernieder, wo ihr Gemahl ohne ihr Wissen wandelte. Zu ihrem großen Erstaunen bemerkte sie plötzlich, wie der heitere Tag auf einer Stelle durch nächtlichen Nebel getrübt wurde, und wie dieser weder einem Strome, noch dem dunstigen Boden entsteige, noch sonst von einer natürlichen Ursache herrühre. Da kam ihr schnell ein Gedanke an die Untreue ihres Gatten; sie spähte rings durch den Olymp und fand ihn nicht. »Entweder ich täusche mich«, sprach sie ergrimmt zu sich selbst, »oder ich werde von meinem Gatten schnöde gekränkt!« Und nun fuhr sie auf einer Wolke vom hohen Äther zur Erde hernieder und gebot dem Nebel, der den Entführer mit seiner Beute umschlossen hielt, zu weichen. Zeus hatte die Ankunft seiner Gemahlin geahnt und um seine Geliebte ihrer Rache zu entziehen, verwandelte er die schöne Tochter des Inachos schnell in eine schmucke, schneeweiße Kuh. Aber auch so war die holdselige Jungfrau noch schön geblieben. Hera, welche die List ihres Gemahls alsbald durchschaut hatte, pries das stattliche Tier und fragte, als wüßte sie nichts von der Wahrheit, wem die Kuh gehöre, von wannen und welcherlei Zucht sie sei. Zeus, in der Not und um sie von weiterer Nachfrage abzuschrecken, nahm seine Zuflucht zu einer Lüge und gab vor, die Kuh entstamme der Erde. Hera gab sich damit zufrieden, aber sie bat sich das schöne Tier von ihrem Gemahl zum Geschenk aus. Was sollte der betrogene Betrüger machen? Gibt er die Kuh her, so wird er seiner Geliebten verlustig; verweigert er sie, so erregt er erst recht den Verdacht seiner Gemahlin, welche der Unglücklichen dann rasches Verderben senden wird! So entschloß er sich denn, für den Augenblick auf die Jungfrau zu verzichten und schenkte die schimmernde Kuh, die er noch immer für unentdeckt hielt, seiner Gemahlin. Hera knüpfte, scheinbar beglückt durch die Gabe, dem schönen Tier ein Band um den Hals und führte die Unselige, der ein verzweifelndes Menschenherz unter der Tiergestalt schlug, im Triumphe davon. Doch machte der Göttin dieser Diebstahl selbst angst, und sie ruhte nicht, bis sie ihre Nebenbuhlerin der sichersten Hut überantwortet hatte. Daher suchte sie den Argos, den Sohn des Arestor, auf, ein Ungetüm, das ihr zu diesem Dienste besonders geeignet schien. Denn Argos hatte hundert Augen im Kopfe, von denen nur ein Paar abwechslungsweise sich schloß und der Ruhe ergab, während die übrigen alle, über Vorder- und Hinterhaupt wie funkelnde Sterne zerstreut, auf ihrem Posten ausharrten. Diesen gab Hera der armen Io zum Wächter, damit ihr Gemahl Zeus die entrissene Geliebte nicht entführen könne. Unter seinen hundert Augen durfte Io, die Kuh, des Tages über auf einer fetten Trift weiden; Argos aber stand in der Nähe, und wo er sich immer hinstellen mochte, erblickte er die ihm Anvertraute, auch wenn er sich abwandte und ihr das Hinterhaupt zukehrte, hatte er Io vor Augen. Wenn aber die Sonne untergegangen war, schloß er sie ein und belastete den Hals der Unglückseligen mit Ketten; bittere Kräuter und Baumlaub waren ihre Speise, ihr Bett der harte, nicht einmal immer mit Gras bedeckte Boden, ihr Trank schlammige Pfützen. Io vergaß oft, daß sie kein Mensch mehr war; sie wollte Mitleid erflehend ihre Arme zu Argos erheben: da ward sie erst daran erinnert, daß sie keine Arme mehr hatte. Sie wollte ihm in Worten rührende Bitten vortragen; dann entfuhr ihrem Munde ein Brüllen, daß sie vor ihrer eigenen Stimme erschrak, welche sie daran mahnte, wie sie durch ihres Räubers Selbstsucht in ein Vieh verwandelt worden sei. Doch blieb Argos mit ihr nicht an einer Stelle, denn so hatte es ihn Hera geheißen, die durch Veränderung ihres Aufenthaltes sie dem Gemahl um so gewisser zu entziehen hoffte. Daher zog ihr Wächter mit ihr im Lande herum, und so kam sie auch mit ihm in ihre alte Heimat, an das Gestade des Flusses, wo sie so oft als Kind zu spielen gepflegt hatte. Da sah sie zum erstenmal ihr Bild in der Flut; als das Tierhaupt mit Hörnern ihr aus dem Wasser entgegenblickte, schauderte sie zurück und floh bestürzt vor sich selbst. Ein sehnsüchtiger Trieb führte sie in die Nähe ihrer Schwestern, in die Nähe ihres Vaters Inachos; aber diese erkannten sie nicht; Inachos streichelte wohl das schöne Tier und reichte ihm Blätter, die er von dem nächsten Strauche pflückte; Io beleckte dankbar seine Hand und benetzte sie mit Küssen und heimlichen menschlichen Tränen. Aber wen er liebkoste, und von wem er geliebkost wurde, das ahnte der Greis nicht. Endlich kam der Armen, deren Geist unter der Verwandlung nicht gelitten hatte, ein glücklicher Gedanke. Sie fing an, Schriftzeichen mit dem Fuße zu ziehen und erregte durch diese Bewegung die Aufmerksamkeit des Vaters, der bald im Staube die Kunde las, daß er sein eigenes Kind vor sich habe. »Ich Unglückseliger«, rief der Greis bei dieser Entdeckung aus, indem er sich an Horn und Nacken der stöhnenden Tochter hing, »so muß ich dich wiederfinden, die ich durch alle Länder gesucht habe! Wehe mir, du hast mir weniger Kummer gemacht, so lange ich dich suchte, als jetzt, wo ich dich gefunden habe! Du schweigst? Du kannst mir kein tröstendes Wort sagen, mir nur mit einem Gebrüll antworten! Ich Tor, einst sann ich darauf, wie ich dir einen würdigen Eidam zuführen könnte, und dachte nur an Brautfackel und Vermählung. Nun bist du ein Kind der Herde –.« Argos, der grausame Wächter, ließ den jammernden Vater nicht vollenden, er riß sie von dem Vater hinweg und schleppte sie fort, auf einsame Weiden. Dann klomm er selbst einen Berggipfel empor und versah sein Amt, indem er mit seinen hundert Augen wachsam nach allen vier Winden hinauslugte.
Zeus konnte das Leid der Inachostochter nicht länger ertragen. Er rief seinem geliebten Sohne Hermes und befahl ihm, seine List zu brauchen und dem verhaßten Wächter das Augenlicht auszulöschen. Dieser beflügelte seine Füße, ergriff mit der mächtigen Hand seine einschläfernde Rute und setzte seinen Reisehut auf. So fuhr er von dem Palaste seines Vaters zur Erde nieder. Dort legte er Hut und Schwingen ab und behielt nur den Stab; so stellte er einen Hirten vor, lockte Ziegen an sich und trieb sie auf die abgelegenen Fluren, wo Io weidete und Argos die Wache hielt. Dort angekommen, zog er ein Hirtenrohr, das man Syrinx nennt, hervor und fing an, so anmutig und voll zu blasen, wie man von irdischen Hirten zu vernehmen nicht gewohnt ist. Der Diener Heras freute sich dieses ungewohnten Schalles, erhob sich von seinem Felsensitze und rief hernieder: »Wer du auch sein magst, willkommener Rohrbläser, du könntest wohl bei mir auf diesem Felsen hier ausruhen. Nirgends ist der Graswuchs üppiger für das Vieh, als hier, und du siehst, wie behaglich der Schatten dieser dicht gepflanzten Bäume für den Hirten ist!« Hermes dankte dem Rufenden, stieg hinauf und setzte sich zu dem Wächter, mit welchem er eifrig zu plaudern anfing, und sich so ernstlich ins Gespräch vertiefte, daß der Tag herumging, ehe Argos sich dessen versah. Diesem begannen die Augen zu schläfern, und nun griff Hermes wieder zu seinem Rohre und versuchte sein Spiel, um ihn vollends in Schlummer zu wiegen. Aber Argos, der an den Zorn seiner Herrin dachte, wenn er seine Gefangene ohne Fesseln und Obhut ließe, kämpfte mit dem Schlaf, und wenn sich auch der Schlummer in einen Teil seiner Augen einschlich, so wachte er doch fortdauernd mit dem anderen Teile, nahm sich zusammen, und, da die Rohrpfeife erst kürzlich erfunden worden war, so fragte er seinen Gesellen nach dem Ursprunge dieser Erfindung. »Das will ich dir gern erzählen«, sagte Hermes, »wenn du in dieser späten Abendstunde Geduld und Aufmerksamkeit genug hast, mich anzuhören. In den Schneegebirgen Arkadien wohnte eine berühmte Hamadryade (Baumnymphe), mit Namen Syrinx. Die Waldgötter und Satyrn, von ihrer Schönheit bezaubert, verfolgten sie schon lange mit ihrer Werbung, aber immer wußte sie ihnen zu entschlüpfen. Denn sie scheute das Joch der Vermählung und wollte, umgürtet und jagdliebend wie Artemis, gleich dieser in jungfräulichem Stande verharren. Endlich wurde auf seinen Streifereien durch jene Wälder auch der mächtige Gott Pan der Nymphe ansichtig, näherte sich ihr und warb um ihre Hand dringend und im stolzen Bewußtsein seiner Hoheit. Aber die Nymphe verschmähte sein Flehen und flüchtete vor ihm durch unwegsame Steppen, bis sie zuletzt an das langsame Wasser des versandeten Flusses Ladon kam, dessen Wellen doch noch tief genug waren, der Jungfrau den Übergang zu wehren. Hier beschwor sie ihre Schutzgöttin Artemis, ehe sie in die Hand des Gottes fiele, ihrer Verehrerin sich zu erbarmen und sie zu verwandeln. Indem kam der Gott herangeflogen und umfaßte die am Ufer Zögernde; aber wie staunte er, als er, statt einer Nymphe zu umarmen, nur ein Schilfrohr umfaßt hielt; seine lauten Seufzer zogen vervielfältigt durch das Rohr und wiederholten sich mit tiefem klagenden Gesäusel. Der Zauber dieses Wohllautes tröstete den getäuschten Gott. ›Wohl denn, verwandelte Nymphe‹, rief er mit schmerzlicher Freude, ›auch so soll unsere Verbindung unauflöslich sein!‹ Und nun schnitt er sich von dem geliebten Schilfe ungleichförmige Röhren, verknüpfte sie mit Wachs untereinander und nannte die lieblich tönende Flöte nach dem Namen der holden Hamadryade, und seitdem heißt dieses Hirtenrohr Syrinx …«
So lautete die Erzählung des Hermes, bei welcher er den hundertäugigen Wächter unausgesetzt im Auge behielt. Die Mär war noch nicht zu Ende, als er sah, wie ein Auge um das andere sich unter der Decke geborgen hatte, und endlich alle die hundert Leuchten in dichtem Schlaf erloschen waren. Nun hemmte der Götterbote seine Stimme, berührte mit seinem Zauberstabe alle die hundert eingeschläferten Augenlider und verstärkte ihre Betäubung. Während nun der hundertäugige Argos in tiefem Schlafe nickte, griff Hermes schnell zu dem Sichelschwerte, das er unter seinem Hirtenrocke verborgen trug, und hieb ihm den gesenkten Nacken, da wo der Hals zunächst an den Kopf grenzt, durch und durch. Kopf und Rumpf stürzten nacheinander vom Felsen herab und färbten das Gestein mit einem Strome von Blut.
Nun war Io befreit und obwohl noch unverwandelt, rannte sie ohne Fesseln davon. Aber den durchdringenden Blicken Heras entging nicht, was in der Tiefe geschehen war. Sie dachte auf eine ausgesuchte Qual für ihre Nebenbuhlerin und sandte ihr eine Bremse, die das unglückliche Geschöpf durch ihren Stich zum Wahnsinn trieb. Diese Qual jagte die Geängstigte mit ihrem Stachel landflüchtig über den ganzen Erdkreis, zu den Skythen, an den Kaukasos, zum Amazonenvolke, zum Kimmerischen Isthmus und an die maiotische See, dann hinüber nach Asien und endlich nach langem verzweiflungsvollem Irrlaufe nach Aigypten. Hier am Strande des Nilufers angelangt, sank Io auf ihre Vorderfüße nieder und hob, den Hals rücklings gebogen, ihre stummen Augen zum Olymp empor, mit einem Blicke voll Haders gegen Zeus. Den jammerte dieses Anblickes; er eilte zu seiner Gemahlin Hera, umfing ihren Hals mit den Armen, flehte um Barmherzigkeit für das arme Mädchen, das schuldlos an seiner Verirrung war, und schwor ihr, beim Wasser der Unterwelt, bei dem die Götter schwören, von seiner Neigung zu ihr hinfort ganz abzulassen. Hera hörte während dieser Bitte das flehentliche Brüllen der Kuh, das zum Olymp emporstieg. Da ließ sich die Göttermutter erweichen, und gab dem Gemahl Vollmacht, der Mißstalteten den menschlichen Leib zurückzugeben. Zeus eilte zur Erde nieder und an den Nil. Hier strich er der Kuh mit der Hand über den Rücken: da war es wunderbar anzuschauen. Die Zotteln flohen vom Leibe des Tieres, das Gehörn schrumpfte zusammen, die Scheibe der Augen verengte sich, das Maul zog sich zu Lippen zusammen, Schultern und Hände kehrten wieder, die Klauen verschwanden, nichts blieb von der Kuh übrig als die schöne weiße Farbe. In ganz verwandelter Gestalt erhob sich Io vom Boden und stand aufrecht in menschlicher Schönheit leuchtend. Am Nilstrome gebar sie dem Zeus den Epaphos, und weil das Volk die wunderbar Verwandelte und Errettete göttergleich ehrte, so herrschte sie lange mit Fürstengewalt über jene Lande. Doch blieb sie auch so nicht ganz von Heras Zorne verschont. Diese stiftete das wilde Volk der Kureten auf, ihren jungen Sohn Epaphos zu entführen, und nun trat sie aufs neue eine lange vergebliche Wanderung an, den Geraubten aufzusuchen. Endlich, nachdem Zeus die Kureten mit dem Blitz erschlagen, fand sie den entführten Sohn an der Grenze Aithiopiens wieder, kehrte mit ihm nach Aigypten zurück und ließ ihn an ihrer Seite herrschen. Er heiratete die Memphis, und diese gebar ihm Libya, von der das Land Libyen den Namen erhielt.
Mutter und Sohn wurden von dem Nilvolke nach beider Tode mit Tempeln geehrt, und erhielten, sie als Isis, er als Apis, göttliche Verehrung.
Auf herrlichen Säulen erbaut stand die Königsburg des Sonnengottes, von blitzendem Gold und glühendem Karfunkel schimmernd; den obersten Giebel umschloß blendendes Elfenbein, gedoppelte Türen strahlten in Silberglanz, darauf in erhabener Arbeit die schönsten Wundergeschichten zu schauen waren. In diesen Palast trat Phaethon, der Sohn des Sonnengottes Phoibos, und verlangte den Vater zu sprechen. Doch stellte er sich nur von ferne hin, denn in der Nähe war das strahlende Licht nicht zu ertragen. Der Vater Phoibos, vom Purpurgewand umhüllt, saß auf seinem fürstlichen Stuhle, der mit glänzenden Smaragden besetzt war; zu seiner Rechten und seiner Linken stand sein Gefolge geordnet, der Tag, der Monat, das Jahr, die Jahrhunderte und die Horen; der jugendliche Lenz mit seinem Blütenkranze, der Sommer mit Ährengewinden bekränzt, der Herbst mit einem Füllhorn voll Trauben, der eisige Winter mit schneeweißen Haaren. Phoibos in ihrer Mitte sitzend wurde mit seinem allschauenden Auge bald den Jüngling gewahr, der über so viele Wunder staunte. »Was ist der Grund deiner Wallfahrt«, sprach er, »was führt dich in den Palast deines göttlichen Vaters, mein Sohn?« Phaethon antwortete: »Erlauchter Vater, man spottet mein auf Erden und beschimpft meine Mutter Klymene. Sie sprechen, ich erheuchle nur himmlische Abkunft und sei von einem dunklen Vater geboren. Darum komme ich, von dir ein Unterpfand zu erbitten, das mich vor aller Welt als deinen wirklichen Sprößling darstelle.« So sprach er; da legte Phoibos die Strahlen, die ihm rings das Haupt umleuchten, ab und hieß ihn näher herantreten; dann umarmte er ihn und sprach: »Deine Mutter Klymene hat die Wahrheit gesagt, mein Sohn, und ich werde dich vor der Welt nimmermehr verleugnen. Damit du aber ja nicht ferner zweifelst, so erbitte dir ein Geschenk! Ich schwöre beim Styx, dem Flusse der Unterwelt, bei welchem alle Götter schwören, deine Bitte, welche sie auch sei, soll dir erfüllt werden!« Phaethon ließ den Vater kaum ausreden. »So erfülle mir denn«, sprach er, »meinen glühendsten Wunsch, und vertraue mir nur auf einen Tag die Lenkung deines geflügelten Sonnenwagens.«
Schrecken und Reue ward sichtbar auf dem Angesicht des Gottes. Drei-, viermal schüttelte er sein umleuchtetes Haupt und rief endlich: »O Sohn, du hast mich ein sinnloses Wort sprechen lassen! O dürfte ich dir doch meine Verheißung nimmermehr gewähren! Du verlangst ein Geschäft, dem deine Kräfte nicht gewachsen sind; du bist sterblich und was du wünschest, ist ein Werk der Unsterblichen! Ja, du erstrebest sogar mehr, als den übrigen Göttern zu erlangen vergönnt ist. Denn außer mir vermag keiner von ihnen auf der glutensprühenden Achse zu stehen. Der Weg, den mein Wagen zu machen hat, ist gar steil, mit Mühe erklimmt ihn in der Frühe des Morgens mein noch frisches Rossegespann. Die Mitte der Laufbahn ist zuoberst am Himmel. Glaube mir, wenn ich auf meinem Wagen in solcher Höhe stehe, da kommt mir oft selbst ein Grausen an, und mein Haupt droht ein Schwindel zu fassen, wenn ich so herniederblicke in die Tiefe und Meer und Land weit unter mir liegt. Zuletzt ist dann die Straße ganz abschüssig, da bedarf es gar sicherer Lenkung. Die Meeresgöttin Thetis selbst, die mich dann in ihre Fluten aufzunehmen bereit ist, pflegt alsdann zu befürchten, ich möchte in die Tiefe geschmettert werden. Dazu bedenke, daß der Himmel sich in beständigem Umschwunge dreht und ich diesem reißenden Kreislaufe entgegenfahren muß. Wie vermöchtest du das, wenn ich dir auch meinen Wagen gäbe? Darum, geliebter Sohn, verlange nicht ein so schlimmes Geschenk, und bessere deinen Wunsch, solange es noch Zeit ist. Sieh mein erschrecktes Gesicht an. O könntest du durch meine Augen in mein sorgenvolles Vaterherz eindringen! Verlange, was du sonst willst von allen Gütern des Himmels und der Erde! Ich schwöre dir beim Styx, du sollst es haben! Was umarmst du mich mit solchem Ungestüm?«
Aber der Jüngling ließ mit Flehen nicht ab, und der Vater hatte den heiligen Schwur geschworen. So nahm er denn seinen Sohn bei der Hand und führte ihn zu dem Sonnenwagen, Poseidons herrlicher Arbeit. Achse, Deichsel und der Kranz der Räder waren von Gold, die Speichen Silber; vom Joche schimmerten Chrysolithen und Juwelen. Während Phaethon die herrliche Arbeit beherzt anstaunte, tut im geröteten Osten die erwachte Morgenröte ihr Purpurtor und ihren Vorsaal, der voll Rosen ist, auf. Die Sterne verschwinden allmählich, der Morgenstern ist der letzte, der seinen Posten am Himmel verläßt, und die äußersten Hörner des Mondes verlieren sich am Rande. Jetzt gibt Phoibos den geflügelten Horen den Befehl, die Rosse zu schirren; und diese führen die glutsprühenden Tiere, von Ambrosia gesättigt, von den erhabenen Krippen und legen ihnen herrliche Zäume an. Während dies geschah, bestrich der Vater das Antlitz seines Sohnes mit einer heiligen Salbe, und machte es dadurch geschickt, die glühende Flamme zu ertragen. Um das Haupthaar legte er ihm seine Strahlensonne, aber er seufzte dazu und sprach warnend: »Kind, schone mir die Stacheln, brauche wacker die Zügel; denn die Rosse rennen schon von selbst, und es kostet Mühe, sie im Fluge zu halten; die Straße geht schräg in weit umbiegender Krümmung; den Südpol wie den Nordpol mußt du meiden. Du erblickst deutlich die Geleise der Räder. Senke dich nicht zu tief, sonst gerät die Erde in Brand; steige nicht zu hoch, sonst verbrennst du den Himmel. Auf, die Finsternis flieht, nimm die Zügel zur Hand; oder – noch ist es Zeit; besinne dich, liebes Kind; überlaß den Wagen mir, laß mich der Welt das Licht schenken, und bleibe du Zuschauer.«
Der Jüngling schien die Worte des Vaters gar nicht zu hören, er schwang sich mit einem Sprung auf den Wagen, ganz erfreut, die Zügel in den Händen zu haben, und nickte dem unzufriedenen Vater einen kurzen, freundlichen Dank. Mittlerweile füllten die vier Flügelrosse mit glutatmendem Wiehern die Luft und ihr Huf stampfte gegen die Barren. Thetis, Phaethons Großmutter, welche nichts vom Lose des Enkels ahnte, tat diese auf; die Welt lag in unendlichem Raume vor den Blicken des Knaben, die Rosse flogen die Bahn aufwärts und spalteten die Morgennebel, die vor ihnen lagen.
Inzwischen fühlten die Rosse wohl, daß sie nicht die gewohnte Last trugen, und das Joch leichter sei als gewöhnlich; und wie Schiffe, wenn sie das rechte Gewicht nicht haben, im Meer schwanken, so machte der Wagen Sprünge in der Luft, ward hoch empor gestoßen und rollte dahin, als wäre er leer. Als das Rossegespann dies merkte, rannte es, die gebahnten Räume verlassend, und lief nicht mehr in der vorigen Ordnung. Phaethon fing an zu erbeben, er wußte nicht, wohin die Zügel lenken, wußte den Weg nicht, wußte nicht, wie er die wilden Rosse bändigen sollte. Als nun der Unglückliche hoch vom Himmel abwärts sah, auf die tief, tief unter ihm sich hinstreckenden Länder, wurde er blaß und seine Knie zitterten von plötzlichem Schrecken. Er sah rückwärts; schon lag viel Himmel hinter ihm, aber mehr noch vor seinen Augen. Beides ermaß er in seinem Geiste. Unwissend, was beginnen, starrte er in die Weite, ließ die Zügel nicht nach, zog sie auch nicht weiter an; er wollte den Rossen rufen, aber er kannte ihre Namen nicht. Mit Grauen sah er die mannigfaltigen Sternbilder an, die in abenteuerlichen Gestalten am Himmel herumhingen. Da ließ er, von kaltem Entsetzen gefaßt, die Zügel fahren, und wie diese herabschlotternd den Rücken der Pferde berührten, so verließen die Rosse ihre Spur, schweiften seitwärts in fremde Luftgebiete, gingen bald hoch empor, bald tief hernieder, jetzt stießen sie an den Fixsternen an, jetzt wurden sie auf abschüssigem Pfade in die Nachbarschaft der Erde herabgerissen. Schon berührten sie die erste Wolkenschicht, die bald entzündet aufdampfte. Immer tiefer stürzte der Wagen, und unversehens war er einem Hochgebirge nahe gekommen. Da lechzte vor Hitze der Boden, spaltete sich, und weil plötzlich alle Säfte austrockneten, fing er an zu glimmen; das Heidegras wurde weißgelb und welkte hinweg; weiter unten loderte das Laub der Waldbäume auf; bald war die Glut bei der Ebene angekommen: nun wurde die Saat weggebrannt; ganze Städte loderten in Flammen auf, Länder mit all ihrer Bevölkerung wurden versengt; rings brannten Hügel, Wälder und Berge. Damals sollen auch die Mohren schwarz geworden sein. Die Ströme versiegten, oder flohen erschreckt nach ihrer Quelle zurück, das Meer selbst wurde zusammengedrängt, und was jüngst noch See war, wurde trockenes Sandfeld.
An allen Seiten sah Phaethon den Erdkreis entzündet; ihm selbst wurde die Glut bald unerträglich; wie tief aus dem Innern einer Feueresse atmete er siedende Luft ein, und fühlte unter seinen Sohlen, wie der Wagen erglühte. Schon konnte er den Dampf und die vom Erdbrand emporgeschleuderte Asche nicht mehr ertragen; Qualm und pechschwarzes Dunkel umgab ihn; das Flügelgespann riß ihn nach Willkür fort; endlich ergriff die Glut seine Haare, er stürzte aus dem Wagen, und brennend wurde er durch die Luft gewirbelt, wie zuweilen ein Stern bei heiterer Luft durch den Himmel zu schießen scheint. Fern von der Heimat nahm ihn der breite Strom Eridanos auf und bespülte ihm sein schäumendes Angesicht.
Phoibos, der Vater, der dies alles mit ansehen mußte, verhüllte sein Haupt in brütender Trauer. Damals, sagt man, sei ein Tag der Erde ohne Sonnenlicht vorübergeflohen. Der ungeheuere Brand leuchtete allein.
Im Lande Tyrus und Sidon erwuchs die Jungfrau Europa, die Tochter des Königs Agenor, in der tiefen Abgeschiedenheit des väterlichen Palastes. Zu dieser ward nachmitternächtlicher Weile, wo untrügliche Träume die Sterblichen besuchen, ein seltsames Traumbild vom Himmel gesendet. Es kam ihr vor, als erschienen zwei Weltteile in Frauengestalt, Asien und der gegenüberliegende, und stritten um ihren Besitz. Die eine der Frauen hatte die Gestalt einer Fremden; die andere – und dies war Asien – glich an Aussehen und Gebärde einer Einheimischen. Diese wehrte sich mit zärtlichem Eifer für ihr Kind Europa, sprechend, daß sie es sei, welche die geliebte Tochter geboren und gesäugt hätte. Das fremde Weib aber umfaßte sie, wie einen Raub, mit gewaltigen Armen, und zog sie mit sich fort, ohne daß Europa im Innern zu widerstreben vermochte. »Komm nur mit mir, Liebchen«, sprach die Fremde, »ich trage dich als Beute dem Aigiserschütterer Zeus entgegen; so ist dir’s vom Geschicke beschieden.« Mit klopfendem Herzen erwachte Europa und richtete sich vom Lager auf, denn das Nachtgesicht war hell wie ein Anblick des Tages gewesen. Lange Zeit saß sie unbeweglich aufrecht im Bette, vor sich hinstarrend, und vor ihren weit aufgetanen Augensternen standen noch die beiden Weiber. Erst spät öffneten sich ihre Lippen zum bangen Selbstgespräche: »Welcher Himmlische«, sprach sie, »hat mir diese Bilder zugeschickt? Was für wunderbare Träume haben mich aufgeschreckt, die ich im Vaterhause süß und sicher schlummerte? Wer war doch die Fremde, die ich im Traume gesehen? Welch eine wunderbare Sehnsucht nach ihr regt sich in meinem Herzen! Und wie ist sie selbst mir so liebreich entgegengekommen und, auch als sie mich gewaltsam entführte, mit welchem Mutterblicke hat sie mich angelächelt! Mögen die seligen Götter mir den Traum zum Besten kehren!«
Der Morgen war herangekommen; der helle Tagesschein verwischte den nächtlichen Schimmer des Traumes aus der Seele der Jungfrau, und Europa erhob sich zu den Beschäftigungen und Freuden ihres jungfräulichen Lebens. Bald sammelten sich um sie ihre Altersgenossinnen und Gespielinnen, Töchter der ersten Häuser, welche sie zu Chortänzen, Opfern und Lustgängen zu begleiten pflegten. Auch jetzt kamen sie, ihre Herrin zu einem Gange nach den blumenreichen Wiesen des Meeres einzuladen, wo sich die Mädchen der Gegend scharenweise zu versammeln und am üppigen Wuchse der Blumen und am rauschenden Halle des Meeres zu erfreuen pflegten. Alle Mädchen waren in schmucke blumengestickte Gewänder gekleidet; Europa selbst trug ein wunderwürdiges goldgesticktes Schleppkleid voll glänzender Bilder aus der Göttersage; das herrliche Gewand war ein Werk des Hephaistos, ein uraltes Göttergeschenk des Erderschütterers Poseidon, das dieser der Libya geschenkt hatte, als er um sie warb. Aus ihrem Besitze war es von Hand zu Hand als Erbstück in das Haus des Agenor gekommen. Mit diesem Brautschmuck angetan, eilte die holdselige Europa an der Spitze ihrer Gespielinnen den Meereswiesen zu, die voll der buntesten Blumen standen. Jubelnd zerstreute sich die Schar der Mädchen da-und dorthin, jede suchte sich eine Blume aus, die nach ihrem Sinne war. Die eine pflückte die glänzende Narzisse, die andere wandte sich der Balsam ausströmenden Hyazinthe zu, eine dritte erwählte sich das sanfter duftende Veilchen, anderen gefiel der gewürzige Quendel, wieder andere mähten den gelben lockenden Krokus. So flogen die Gespielinnen hin und her; Europa aber hatte bald ihr Ziel gefunden, sie stand, wie unter den Grazien die schaumgeborene Liebesgöttin, alle ihre Genossinnen überragend und hielt hoch in der Hand einen vollen Strauß von glühenden Rosen.
Als sie genug Blumen gesammelt, lagerten sich die Jungfrauen, ihre Fürstin in der Mitte, harmlos auf dem Rasen und fingen an, Kränze zu flechten, die sie, den Nymphen der Wiese zum Dank, an grünenden Bäumen aufhängen wollten. Aber nicht lange sollten sie ihren Sinn an den Blumen ergötzen, denn in das sorglose Jugendleben Europas griff unversehens das Schicksal ein, das ihr der Traum der verschwundenen Nacht geweissagt hatte. Zeus, der Kronide, war von den Geschossen der Liebesgöttin, die allein auch den unbezwungenen Göttervater zu besiegen vermochten, getroffen und von der Schönheit der jungen Europa ergriffen worden. Weil er aber den Zorn der eifersüchtigen Hera fürchtete, auch nicht hoffen durfte, den unschuldigen Sinn der Jungfrau zu betören, so sann der verschlagene Gott auf eine neue List. Er verwandelte seine Gestalt und wurde ein Stier. Aber welch ein Stier! Nicht, wie er auf gemeiner Wiese geht oder unters Joch gebeugt den schwer beladenen Wagen zieht; nein, groß, herrlich von Gestalt, mit schwellenden Muskeln am Halse und vollen Wampen am Bug, seine Hörner waren zierlich und klein, wie von Händen gedrechselt und durchsichtiger als reine Juwelen; goldgelb war seine Leibfarbe, nur mitten auf der Stirn schimmerte ein silberweißes Mal, dem gekrümmten Horne des wachsenden Mondes ähnlich; bläuliche, von Verlangen funkelnde Augen rollten ihm im Kopfe.
Ehe Zeus diese Verwandlung mit sich vornahm, rief er zu sich auf den Olymp den Hermes und sprach, ohne ihm etwas von seinen Absichten zu enthüllen: »Spute dich, lieber Sohn, getreuer Vollbringer meiner Befehle! Siehst du dort unten das Land, das links zu uns emporblickt? Es ist Phönizien; dieses betritt, und treibe mir das Vieh des Königs Agenor, das du auf den Bergtriften weidend finden wirst, gegen das Meeresufer hinab.« In wenigen Augenblicken war der geflügelte Gott, dem Winke seines Vaters gehorsam, auf der sidonischen Bergweide angekommen und trieb die Herde des Königs, unter die sich auch, ohne daß Hermes es geahnt hätte, der verwandelte Zeus als Stier gemischt hatte, vom Berge herab nach dem angewiesenen Strande, eben auf jene Wiesen, wo die Tochter Agenors, von tyrischen Jungfrauen umringt, sorglos mit Blumen tändelte. Die übrige Herde nun zerstreute sich über die Wiesen fern von den Mädchen, nur der schöne Stier, in welchem der Gott verborgen war, näherte sich dem Rasenhügel, auf welchem Europa mit ihren Gespielinnen saß. Schmuck wandelte er im üppigen Grase einher, über seiner Stirn schwebte kein Drohen, sein funkelndes Auge flößte keine Furcht ein, sein ganzes Aussehen war voll Sanftmut. Europa und ihre Jungfrauen bewunderten die edle Gestalt des Tieres und seine friedlichen Gebärden, ja sie bekamen Lust, ihn recht in der Nähe zu besehen und ihm den schimmernden Rücken zu streicheln. Der Stier schien dies zu merken, denn er kam immer näher und stellte sich endlich dicht vor Europa hin. Diese sprang auf und wich anfangs einige Schritte zurück; als aber das Tier so gar zahm stehen blieb, faßte sie sich ein Herz, näherte sich wieder und hielt ihm ihren Blumenstrauß vor das schäumende Maul, aus dem sie ein ambrosischer Atem anwehte. Der Stier leckte schmeichelnd die dargebotenen Blumen und die zarte Jungfrauenhand, die ihm den Schaum abwischte und ihn liebreich zu streicheln begann. Immer reizender kam der herrliche Stier der Jungfrau vor, ja sie wagte es und drückte einen Kuß auf seine glänzende Stirn. Da ließ das Tier ein freudiges Brüllen hören, nicht wie andere gemeine Stiere brüllen, sondern es tönte wie der Klang einer lydischen Flöte, die ein Bergtal durchhallt. Dann kauerte er sich zu den Füßen der schönen Fürstin nieder, blickte sie sehnsüchtig an, wandte ihr den Nacken zu und zeigte ihr den breiten Rücken. Da sprach Europa zu ihren Freundinnen, den Jungfrauen: »Kommt doch auch näher, liebe Gespielinnen, daß wir uns auf den Rücken dieses schönen Stieres setzen und unsere Lust haben; ich glaube, er könnte unserer Viere aufnehmen und beherbergen, wie ein geräumiges Schiff. Er ist so sanftmütig anzuschauen, so holdselig; er gleicht gar nicht anderen Stieren, wahrhaftig, er hat Verstand wie ein Mensch und es fehlt ihm gar nichts als die Rede!« Mit diesen Worten nahm sie ihren Gespielinnen die Kränze, einen nach dem andern, aus den Händen und behängte damit die gesenkten Hörner des Stieres; dann schwang sie sich lächelnd auf seinen Rücken, während ihre Freundinnen zaudernd und unschlüssig zusahen.
Der Stier aber, als er die geraubt, die er gewollt hatte, sprang vom Boden auf. Anfangs ging er ganz sacht mit der Jungfrau davon, doch so, daß ihre Genossinnen nicht gleichen Schritt mit seinem Gange halten konnten. Als er die Wiesen im Rücken und den kahlen Strand vor sich hatte, verdoppelte er seinen Lauf und glich nun nicht mehr einem trabenden Stier, sondern einem fliegenden Roß. Und ehe sich Europa besinnen konnte, war er mit einem Satz ins Meer gesprungen und schwamm mit seiner Beute dahin. Die Jungfrau hielt mit der Rechten eines seiner Hörner umklammert, mit der Linken stützte sie sich auf den Rücken; in ihre Gewänder blies der Wind wie in ein Segel; ängstlich blickte sie nach dem verlassenen Land zurück und rief umsonst den Gespielinnen; das Wasser umwallte den segelnden Stier, und seine hüpfenden Wellen scheuend, zog sie furchtsam die Fersen hinauf. Aber das Tier schwamm dahin wie ein Schiff; bald war das Ufer verschwunden, die Sonne untergegangen und im Helldunkel der Nacht sah die unglückliche Jungfrau nichts um sich her als Wogen und Gestirne. So ging es fort, auch als der Morgen kam; den ganzen Tag schwamm sie auf dem Tiere durch die unendliche Flut dahin; doch wußte dieses so geschickt die Wellen zu durchschneiden, daß kein Tropfen seine geliebte Beute benetzte. Endlich gegen Abend erreichten sie ein fernes Ufer. Der Stier schwang sich ans Land, ließ die Jungfrau unter einem gewölbten Baume sanft vom Rücken gleiten und verschwand vor ihren Blicken. An seine Stelle trat ein herrlicher, göttergleicher Mann, der ihr erklärte, daß er der Beherrscher der Insel Kreta sei und sie schützen werde, wenn er durch ihren Besitz beglückt würde. Europa, in ihrer trostlosen Verlassenheit, reichte ihm ihre Hand als Zeichen der Einwilligung, und Zeus hatte das Ziel seiner Wünsche erreicht. Auch er verschwand wie er gekommen war. Aus langer Betäubung erwachte Europa, als schon die Morgensonne am Himmel stand. Mit verirrten Blicken sah sie um sich her, als wollte sie die Heimat suchen. »Vater, Vater!« rief sie mit durchdringendem Wehelaut, besann sich eine Weile und rief wieder. »Ich verworfene Tochter, wie darf ich den Vaternamen nur aussprechen? Welcher Wahnsinn hat mich die Kindesliebe vergessen lassen!« Dann sah sie wieder, wie sich besinnend, umher und fragte sich selbst: »Woher, wohin bin ich gekommen? – Zu leicht ist ein Tod für die Schuld der Jungfrau! Aber wache ich denn auch und beweine einen wirklichen Schimpf? Nein, ich bin gewiß unschuldig an allem, und es neckt meinen Geist nur ein nichtiges Traumbild, das der Morgenschlaf wieder entführen wird! Wie wäre es auch möglich, daß ich mich hätte entschließen können, lieber auf dem Rücken eines Untieres durch unendliche Fluten zu schwimmen, als in holder Sicherheit frische Blumen zu pflücken!« – So sprach sie und fuhr mit der flachen Hand über die Augenlider, als wollte sie den verhaßten Traum verwischen.
Als sie aber um sich blickte, blieben die fremden Gegenstände unverrückt vor ihren Augen; unbekannte Bäume und Felsen umgaben sie, und eine unheimliche Meeresflut schäumte, an unheimlichen Klippen sich brechend, empor am niegeschauten Gestade. »Ach, wer mir jetzt den verfluchten Stier auslieferte«, rief sie verzweifelnd; »wie wollte ich ihn zerfleischen; nicht ruhen wollte ich, bis ich die Hörner des Ungeheuers zerbrochen, das mir jüngst noch so liebenswürdig erschien! Eitler Wunsch! Nachdem ich schamlos die Heimat verlassen, was bleibt mir übrig, als zu sterben? Wenn ich nicht von allen Göttern verlassen bin, so sendet mir, ihr Himmlischen, einen Löwen, einen Tiger! Vielleicht reizt sie die Fülle meiner Schönheit, und ich muß nicht warten, bis der entsetzliche Hunger an diesen blühenden Wangen zehrt!« Aber kein wildes Tier erschien; lächelnd und friedlich lag die fremde Gegend vor ihr, und vom unumwölkten Himmel leuchtete die Sonne. Wie von Furien bestürmt, sprang die verlassene Jungfrau auf. »Elende Europa«, rief sie, »hörst du nicht die Stimme deines abwesenden Vaters, der dich verflucht, wenn du deinem schimpflichen Leben nicht ein Ende machst! Zeigt er dir nicht jene Esche, an welche du dich mit deinem Gürtel aufhängen kannst? Deutet er nicht hin auf jenes spitze Felsgestein, von welchem herab dich ein Sprung in den Sturm der Meeresflut begraben wird? Oder willst du lieber einem Barbarenfürsten als Nebenweib dienen, und, als Sklavin, von Tag zu Tag die zugeteilte Wolle abspinnen, du, eines hohen Königs Tochter?« So quälte sich das unglückliche verlassene Mädchen mit Todesgedanken, und fühlte doch nicht den Mut in sich, zu sterben. Da vernahm sie plötzlich ein heimliches spottendes Flüstern hinter sich, glaubte sich belauscht und blickte erschrocken rückwärts. In überirdischem Glanze sah sie da die Göttin Aphrodite vor sich stehen, ihren kleinen Sohn, den Liebesgott, mit gesenktem Bogen zur Seite. Noch schwebte ein Lächeln auf den Lippen der Göttin, dann sprach sie: »Laß deinen Zorn und Hader, schönes Mädchen! Der verhaßte Stier wird kommen und dir die Hörner zum Zerreißen darreichen, ich bin es, die dir im väterlichen Hause jenen Traum gesendet. Tröste dich, Europa! Zeus ist es, der dich geraubt hat; du bist die irdische Gattin des unbesiegten Gottes: unsterblich wird dein Name werden; denn der fremde Weltteil, der dich aufgenommen hat, heißt hinfort Europa!«
Kadmos war ein Sohn des phönizischen Königs Agenor, ein Bruder der Europa. Als Zeus, in einen Stier verwandelt, diese entführt hatte, sandte Agenor den Kadmos und dessen Brüder aus, sie zu suchen, und ohne sie erlaubte er ihnen nicht wieder zurückzukommen. Lange hatte Kadmos vergebens die Welt durchirrt, ohne die Schliche des Zeus entdecken zu können. Als er die Hoffnung verloren hatte, seine Schwester wieder aufzufinden, scheute er seines Vaters Zorn, wandte sich an das Orakel des Phoibos-Apollon und forschte, welches Land er inskünftig bewohnen sollte. Apollon gab ihm die Weisung: »Du wirst ein Rind auf einsamen Auen treffen, das noch kein Joch geduldet hat. Von diesem sollst du dich leiten lassen, und an dem Platze, wo es im Grase ruhen wird, erbaue Mauern und nenne die Stadt Theben.«