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Kommissar Ewen Kerber kann endlich seinen wohlverdienten Urlaub antreten. Gemeinsam mit seiner Frau Carla fährt er auf die Insel Ouessant. Carla hat den Urlaubsort ausgewählt, damit kein Anruf aus dem Büro Ewen Kerber veranlassen kann, mal schnell im Büro vorbeizusehen. Auf der Überfahrt lernen sie das jungverheiratete Ehepaar, Marie und Jean Le Goff kennen, das auch einige Tage auf der Insel verbringen will. Gleich nach der Ankunft machen Carla und Ewen sich auf, zu einem ersten Spaziergang über die Insel. Ihr Weg führt sie zum, weithin sichtbaren Leuchtturm, Phare du Créac´h. Plötzlich kommt ihnen der junge Mann, den sie auf der Fähre kennengelernt haben, entgegengerannt und ruft um Hilfe. Seine Frau Marie sei abgestürzt und er könne sie nicht alleine retten. Ewen und Carla folgen ihm zur Unglücksstelle. Auf dem Weg informiert Ewen die Notrufzentrale und bittet um Unterstützung. Angekommen an der Unglücksstelle, fehlt von Marie jede Spur. Nur das tosende Meer und die spitzen Felsen sind zu sehen. Aber auch an der Stelle, an der Marie abgestürzt sein soll, sind keinerlei Spuren zu entdecken. Ist Marie überhaupt abgestürzt? Hat Le Goff seine Frau vielleicht ermordet?
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Seitenzahl: 418
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Jean-Pierre Kermanchec
Die Schwarze Biene
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Andere Kriminalromane des Autors:
Impressum neobooks
Ewen Kerber war zufrieden. Er hatte sich zu ein paar freien Tagen durchgerungen. Eine Woche würde er auf der Île d´Ouessant verweilen. In den vergangenen Wochen hatte seine Frau abends oft lange auf ihn warten müssen. Der Mord des Abgeordneten Decroaz, in der Ville Close von Concarneau, hatte ihn sehr beansprucht. Nachdem die Mörderin dingfest gemacht werden konnte, waren einige freie Tage möglich geworden.
Es war Carlas Idee, diese freien Tage auf der 20 Km vor dem Festland liegenden Insel zu verbringen. Ihre Überlegung bestand schlicht und einfach darin, dass ein Urlaub auf einer entlegenen Insel die Möglichkeit bot, Ewen von seinem Büro zu trennen und ihn davon abzuhalten, zwischendurch am Arbeitsort anzurufen oder kurz vorbeizuschauen.
Sein Diensthandy sollte er ebenfalls zuhause lassen, damit er erst gar nicht in Versuchung kommen würde, sich kurzfristig mit seinem Kollegen Paul auszutauschen.
Paul Chevrier war nicht nur ein Kollege. Seit langer Zeit war er einer seiner besten Freunde. Ewen versuchte stets, seinem Freund nicht unnötig viel Arbeit aufzuhalsen und war der Meinung, dass er ihm einen Gefallen tat, wenn er regelmäßig nachfragte, ob er alleine klar kam.
Jetzt war es Freitagabend. Der letzte Arbeitstag vor dem Urlaub war vorbei. Ewen saß auf seiner Terrasse und genoss seinen Aperitif.
Carla war in seinen Augen eine besondere Frau. Stets war sie bemüht, ihm seinen Feierabend zu verschönern, sie verwöhnte ihn zum Aperitif mit feinsten Köstlichkeiten. Mit ihren amuses gueules könnte sie ein Vermögen verdienen, wenn sie diese kleinen Häppchen im großen Stil herstellen würde, dachte sich Ewen jedes Mal, wenn er wieder eine neue Sorte vorgesetzt bekam. Ewen war ein Liebhaber der Pâté au pommes, eine in der Bretagne verbreitete Fleischpastete. Carla schaffte es immer wieder, diese Pastete auf eine neue Art und Weise zu variieren.
Während er noch seinen Gedanken nachhing, war Carla dabei, die letzten Kleidungsstücke in den gemeinsamen Koffer zu verstauen. Am nächsten Morgen müssten sie schon sehr früh das Haus verlassen und nach Brest fahren. Die Fähre zur Insel verließ Brest bereits kurz vor 8 Uhr 30 und die Reederei sprach in ihren Broschüren davon, dass die Passagiere 40 Minuten vor der Abfahrt an Bord sein sollten. Die Fahrt nach Brest dauerte eine Stunde. Wenn er dann noch die Suche nach einem Parkplatz und den Fußweg zur Fähre berücksichtigte, mussten sie gegen halb sieben Uhr Quimper verlassen.
Ewen blätterte in den diversen Broschüren, die Carla aus der Stadt mitgebracht hatte. Er informierte sich über die Besonderheit der Insel, ihre Lage und Ausmaße und fand auch skurrile Textpassagen. So stand in einer der Broschüren, dass bereits seit ewigen Zeiten unter den Seefahrern der Spruch kursierte, qui voit Ouessant, voit son sang, was übersetzt so viel bedeutete wie, wer Ouessant sieht, sieht sein Blut. Damit war gemeint, dass derjenige, der sich der Insel näherte, seinem Ende entgegenging. Der Sinn, dieses doch sehr drastischen Seefahrerspruchs, lag in der besonderen Lage der Insel. Die Île d'Ouessant war von tückischen und gefährlichen Meeresgräben und Meeresströmungen umgeben. Es waren die Strömungen, die eine Annäherung so gefährlich machten. Man musste schon ein erfahrener Kapitän sein, um sein Schiff sicher in den Hafen zu bringen. Die Schiffe, die sich vom französischen Festland der Insel näherten, mussten die berüchtigte Fahrrinne, le Passage du Fromveur, durchqueren, in der die gewaltigste Gezeitenströmung Europas das Wasser aufpeitschte.
Ewen erinnerte sich an die Ölkatastrophe von 1978, dem Untergang der Amoco Cadiz. Dem Schiff war diese berüchtigte Fahrrinne zur Falle geworden. Ewen war jetzt gar nicht mehr so sicher, ob es vernünftig war, ausgerechnet auf die Île d´Ouessant zu fahren. Er las weiter in seinen Broschüren und fand dann doch auch Aussagen, die ihn wieder etwas beruhigten.
Um diese Passage, eine der gefährlichsten der Welt, sicherer zu gestalten und Schiffsunglücken vorzubeugen, war nach dem Unfall der Amoco Cadiz, die Rail d'Ouessant, die Schiene von Ouessant geschaffen worden. Diese maritime Einrichtung regelte und überwachte per Radartechnologie und dem Einsatz von Hubschraubern die stark frequentierte Durchfahrt. Mehr als 50.000 Schiffe passierten hier jährlich.
Ewen dachte darüber nach. War es von Vorteil, dass diese Schiffsstraße so viele Schiffe verkraften musste, oder barg das eher Potential für Unfälle?
Carla riss ihn aus seinen Überlegungen.
„Ewen, kommst du bitte zum Essen?“
„Ich bin schon auf dem Weg!“, erwiderte er und machte sich auf den Weg zum Speisezimmer.
„Hast du gewusst, dass die Strömungen rings um Ouessant zu den gefährlichsten auf der ganzen Welt gehören?“ Ewen sah Carla erwartungsvoll an.
„Jetzt übertreib mal nicht so schamlos, Ewen. Du willst dich doch nicht plötzlich vor dem Urlaub drücken?“
„Nein, natürlich nicht vor dem Urlaub, vielleicht doch ein wenig vor der Überfahrt. Ich habe gerade gelesen, wie gefährlich die Umgebung der Insel ist. Es steht alles in den Broschüren, die du mitgebracht hast.“
„Die Überfahrt? Warum soll die so gefährlich sein? Für einen Kommissar der police judiciaire gibt es bestimmt gefährlichere Momente als so eine knapp dreistündige Schiffsfahrt.“
„Wenn ich ehrlich bin, dann ist mir nur Angst vor einer eventuellen Seekrankheit. Ich bin mir nicht sicher, ob ich eine so raue See verkrafte.“
„Du wirst es überleben, mein Liebling. Darf ich dir etwas von dem Gemüse geben?“
Damit lenkte Carla das Gespräch wieder auf das Abendessen. Sie hatte nicht vor, die Koffer wieder auszupacken und die Reise nach Ouessant zu stornieren. Abgesehen davon, dass es auch reichlich spät dafür war.
Aber Ewen ließ nicht so schnell von dem Thema ab. Er war noch nie ein großer Freund der Seefahrt gewesen.
„Hast du gewusst, Carla, dass jedes Schiff, das die Insel vom Festland ansteuert, die sogenannte Passage de Fromveur überqueren muss?“
„Nein, das ist mir eigentlich auch egal. Warum fragst du mich danach?“
„Weil der Name Fromveur aus den bretonischen Worten froud und meur zusammengesetzt ist. Froud bedeutet Strömung und meur so viel wie groß. Es ist die größte Gezeitenströmung in ganz Europa. Das Meer wird hier regelrecht aufgepeitscht. Die Passage ist schon seit Jahrhunderten gefürchtet. Nicht umsonst gibt es das Sprichwort, Wer die Insel sieht, sieht sein Blut.“
„Ewen, mir scheint, du hast zu viel Seemannsgarn gelesen.“
„Ganz bestimmt nicht, das steht alles in deinen Broschüren.“
„Das mag ja sein, Ewen. Vieles gehört der Vergangenheit an. Heute ist alles sicherer.“
Damit war das Gespräch über das Für und Wider einer Fahrt nach Ouessant vorerst beendet. Ewen hoffte inständig, dass ihnen das Wetter am nächsten Morgen einigermaßen gut gesonnen war. Einen halben Orkan würde sein Magen sicherlich nicht überstehen.
Nach dem Essen rief Carla noch ihre Tochter Marie an. Marie hatte versprochen, ihren Briefkasten regelmäßig zu leeren und den Pflanzen in der Wohnung Wasser zu geben. Danach setzte sie sich zu Ewen in den Salon. Ewen saß mit seinem Weinglas auf dem Sofa und genoss den Rest des Rotweins, den sie zum Essen geöffnet hatten. Als Carla ihr Glas dazustellte, nahm er die Flasche und goss auch ihr noch einen Schluck ein. Die Unterhaltung drehte sich noch eine Zeit lang um die gefährlichen Strömungen rund um Ouessant und über die, nicht von der Hand zu weisende, Gefahr einer Seekrankheit.
Ewen erzählte Carla von einer früheren Überfahrt, von Marseille nach Korsika, die er mit seiner ersten Frau einst unternommen hatte. In allen Einzelheiten berichtete er jetzt von der damaligen Fahrt. Schon bei der Schilderung seiner Erlebnisse hatte er das Gefühl, sofort wieder krank zu werden. Carla bremste den Redefluss dadurch, dass sie ihr Weinglas in die Hand nahm und ihm zuprostete.
„Du musst die Vergangenheit auch ruhen lassen können!“
Ewen hielt ein und wechselte das Thema. Wenig später gingen sie zu Bett.
Am nächsten Morgen brachen sie kurz nach halb sieben Uhr auf. Die Voie Express zwischen Quimper und Brest war beinahe menschenleer. Vereinzelt begegneten ihnen LKWs, die unterwegs zu den zahlreichen Intermarchés, Leclercs und SuperUs waren.
Ewen konnte sich noch gut an frühere Zeiten erinnern, als schon recht früh am Morgen die LKWs mit den Schweinen die Voie Express befuhren, unterwegs zu den Schlachthöfen des Finistère. Seither hatten zahlreiche Firmen ihre Filialen geschlossen, und dadurch waren hunderte von Arbeitsplätzen verloren gegangen. Auch die Zahl dieser Transporte hatte sich deutlich verringert. Aus Sicht der bretonischen Agrarindustrie und deren Beschäftigten war die geplante Einführung der sogenannten Öko-Maut, die jeder LKW über 3,5 Tonnen auf den Schnellstraßen Frankreichs zahlen sollte, der Tod der bretonischen Landwirtschaft und des verarbeitenden Gewerbes.
Seine Kollegen hatten eine Menge Arbeit damit, die Leute ausfindig zu machen, die die Mautbrücken ansägten, um sie den Stürmen des Finistère zu überlassen. Die Mautbrücken, mit den darauf montierten Kameras, Sensoren und was man sonst noch so für die Erfassung und Differenzierung der Fahrzeuge benötigte, waren das bevorzugte Ziel der Bonnets Rouges, so genannt wegen der roten Mützen, die sie als Symbol ihres Widerstandes trugen. Inzwischen waren schon drei oder vier der Brücken wieder abgebaut worden. Man konnte von Glück sprechen, dass es noch zu keinem tödlichen Unfall gekommen war. Das Durchtrennen der dicken Bolzen, die die Brücken mit der Verankerung verbanden, war mehr als gefährlich. Bei Sturm hätten die Brücken auf ein Auto stürzen können und die Insassen unter sich begraben. Daher wurde Strafanzeige von der Straßenbauverwaltung gestellt, und seine Kollegen mussten versuchen, die Verantwortlichen ausfindig zu machen. Bis jetzt konnte noch niemand ermittelt werden.
All das ging Ewen auf dem Weg nach Brest durch den Kopf. Carla und Ewen trafen überaus pünktlich an der Anlegestelle des Schiffes ein. Das Schiff stand schon bereit, und die Fahrgäste konnten an Bord gehen. Es dauerte dann noch etwas mehr als 40 Minuten, bis der Kapitän die Motoren des Schiffes startete, und die Fähre sich langsam vom Pier entfernte.
Hier in der herrlichen, riesigen Bucht von Brest lag das Schiff ruhig im Wasser. Ewen kannte die Bucht. Er hatte schon früher mit seiner ersten Frau viele Ausflüge auf die Halbinsel von Crozon unternommen. Ihm gefiel der Blick von der Pointe des Espagnols, oder Beg ar Spagnoled, wie die Bretonen den Aussichtspunkt nannten. Von diesem Punkt aus schweifte der Blick vom Leuchtturm, Phare du Petit Minou, bis zu der alten Brücke über die Rade, die Pont Albert Louppe, und der dahinter liegenden neuen Brücke, der Pont de l´Iroise. Die neue Brücke, mit einer Länge von 800 Metern, am Ende der Rade de Brest, verband die Halbinsel Crozon mit Brest. Eine recht majestätisch wirkende Hängebrücke, die ihm absolut gelungen schien. Bei jeder neuen Überquerung war seine Begeisterung aufgeflammt. Erst vorhin, auf der Fahrt zum Hafen von Brest, hatte er ihre Konstruktion wieder bewundert.
„Siehst du, Ewen, wie ruhig die Überfahrt verläuft!“ Carla war ganz begeistert von ihrem Kurzurlaub, den sie gerade begonnen hatten.
„Wir sind auch noch nicht auf dem Meer!“, antwortete Ewen und war noch nicht bereit ihr zuzustimmen.
Er sollte recht behalten, denn noch bevor sie das offene Meer erreicht hatten, konnten sie bereits feststellen, dass der Wind auffrischte und die See rauer wurde. Dabei fuhren sie immer noch in der geschützten Bucht der Rade de Brest. Ewen und Carla setzten sich an einen der wenigen Tische im Unterdeck und bestellten einen Kaffee. Ein junges Ehepaar nahm ihnen gegenüber Platz, und nach wenigen Minuten kamen sie ins Gespräch.
„Wir verbringen unseren ersten Urlaub. Wir haben vor vier Wochen geheiratet und können uns keine richtige Hochzeitsreise leisten. Da haben wir uns eben für die Île d´Ouessant entschieden“, begann die Frau das Gespräch mit Carla.
„Ich heiße Marie, und das ist mein Mann Jean.“
„Angenehm Sie kennenzulernen, ich heiße Carla, und das ist Ewen. Mein Mann hat sich einen Urlaub wahrlich verdient. Er ist in seinem Beruf so eingespannt.“
„Das kenne ich gut“, meinte Marie.
„Jean kommt manchmal erst nach Mitternacht nach Hause. Er arbeitet bei einer der großen Konservenfabriken als Chefbuchhalter. Immer wenn es Ungereimtheiten in den Büchern gibt, muss er ran. Seit einigen Wochen ist es besonders schlimm. Sie haben einen neuen Mitarbeiter eingestellt, der ständig Fehler begeht, die Jean dann wieder finden und korrigieren muss. Was macht denn ihr Mann?“
Ewen war dieses Aushorchen eher lästig und er hatte den Eindruck, als ob auch sein Gegenüber dem Gespräch seiner jungen Frau wenig abgewinnen konnte.
„Oh, Ewen ist Leiter der Mordkommission in Quimper.“
Carla war schon seit Langem nicht mehr so gesprächig gewesen. Vielleicht lag es auch nur daran, dass er so selten Gelegenheit hatte, ihren Unterhaltungen zu lauschen, wenn sie sich mit ihren Freundinnen unterhielt.
In den letzten Jahren, seit der Vergewaltigung ihrer Tochter, hat sie sich fast ausschließlich um das Mädchen gekümmert. Ihre Tochter, die ebenfalls Marie hieß, ist für Carla für lange Zeit Dreh- und Angelpunkt ihres Lebens gewesen. Das hat sich erst geändert, als Ewen in ihr Leben getreten ist und die Vergewaltigung polizeilich und juristisch beendet werden konnte.
„Sind Sie auch auf einer besonderen Reise, so wie wir?“
„Nein, wir wollen einfach nur einige ruhige Tage auf der Insel verbringen.“
„Woher kommen Sie?“ Marie erkundigte sich nach allen Einzelheiten, ohne sich aus Höflichkeit Beschränkungen aufzuerlegen.
„Wir kommen aus Quimper? Sie auch?“
„Nein, wir kommen aus Melgven.“
„Das liegt ja nicht weit von Quimper entfernt.“
„Überhaupt nicht. Ich bin sehr oft in Quimper zum Einkaufen. Die Auswahl ist dort erheblich größer als in Concarneau.“
Das Schiff steuerte jetzt auf den offenen Ozean hinaus, und die Wellen waren inzwischen bestimmt schon einen Meter hoch. Ewen wäre froh gewesen, wenn das Schiff direkt Kurs auf die Insel genommen hätte, um die Fahrt möglichst schnell zu einem Ende zu bringen. Aber die Fahrt ging nicht in direkter Linie zur Île d´Ouessant, das Schiff steuerte zuerst noch den Hafen von Le Conquet und danach die Île Molène an. Dadurch dauerte die Fahrt über zweieinhalb Stunden. Langsam aber sicher meldete sich das Gleichgewichtsorgan von Ewen und signalisierte ihm, dass ihm das Schaukeln nicht gefiel.
„Entschuldige Carla, aber ich muss unbedingt an die frische Luft, ich bin gleich wieder zurück.“
Ewen stand auf und verließ die Runde. Er ging aufs Deck und versuchte mit Hilfe der frischen Luft sein Unwohlsein in den Griff zu bekommen. Einige Minuten später kam auch Jean, der jung verheiratete Ehemann nach oben.
„Ich bin nicht für die Seefahrt geschaffen“, meinte er zu Ewen gewandt.
„Das gilt für mich ebenso“, erwiderte Ewen. Die frische Luft half tatsächlich, und Ewen empfand das auf und ab nicht mehr so intensiv wie zuvor unter Deck.
„Ist bestimmt ein toller Beruf, Kriminalkommissar?“
„Geht so, nicht viel anders als andere Berufe auch.“
Ewen mochte es nicht, sich über seinen Beruf zu äußern. Er empfand es nicht spannend, Mörder zu jagen und zur Strecke zu bringen. Es war eine Aufgabe, eine Aufgabe im Dienste der Menschen. Es war eher entmutigend festzustellen, dass die Arbeit der Polizei nicht zu mehr Sicherheit führte. Der junge Mann gab sich mit der kurzen und knappen Antwort aber nicht zufrieden.
„Aber Sie erleben doch bestimmt Situationen, wo es um Leben und Tod geht?“
„Monsieur Jean, Sie stellen sich die Arbeit eines Kommissars vor, so wie sie in Büchern oder Filmen beschrieben wird. Das hat wenig mit der Realität zu tun. Der größte Teil unserer Arbeit liegt in der Auswertung von Spuren, im Zusammentragen von Beweisen und in der Kombinatorik. Es ist ein wenig wie in der Buchhaltung, da müssen die Rechnungen zu den Konten passen.“
Das Schiff ließ ein kräftiges Signal ertönen. Sie näherten sich dem Hafen von Le Conquet. Damit hatten sie ein Drittel der Strecke zurückgelegt. Das Meer war in den letzten Minuten nicht ruhiger geworden. Ewen hatte eher den Eindruck, dass der Wind noch kräftiger aufgefrischt war.
„Sind Sie eigentlich immer im Dienst?“, fragte Jean.
„Ich meine, müssen Sie auch bei Straftaten ermitteln, die nicht in Quimper und Umgebung verübt werden?“
„Normalerweise nicht. Es ist immer die regionale police judiciaire für die Strafverfolgung zuständig. Es gibt natürlich Ausnahmen. Nehmen wir an, auf der Île d´Ouessant passiert ein Mord und die Kommissare aus Brest können nicht auf die Insel kommen, weil zum Beispiel ein heftiger Sturm die Überfahrt verhindert, dann würde ich natürlich die Untersuchungen vor Ort beginnen. Aber das sind theoretische Überlegungen.“
Das Schiff hatte in Le Conquet angelegt und zahlreiche neue Passagiere kamen an Bord. Es dauerte nur wenige Minuten und das Schiff setzte seine Fahrt fort. Jetzt war die Île Molène das nächste Ziel. Ewen blieb eisern an Deck des Schiffes. Er stellte fest, dass er sich hier deutlich wohler fühlte als unter Deck, obwohl ihn der Wind ordentlich durchblies. Auch Jean machte keine Anstalten wieder hinunterzugehen. Seine Frau verweilte sicher noch im Gespräch mit Carla.
Die Fahrt zur Île Molène gestaltete sich deutlich ungemütlicher als das erste Drittel der Strecke. Die Wellen hatten an Höhe zugenommen. Beim Eintauchen in die Wellentäler brachen sich die Wellen am Bug des Schiffes und ließen die Gischt über das Vorderdeck hereinbrechen. Langsam begann die Fahrt unheimlich zu werden. Ewen hoffte, dass der Kapitän entsprechende Erfahrung besaß. Nach weiteren 40 Minuten gelangte das Schiff, vorbei an den mächtigen Felsformationen und den gefährlichen Riffen, die die Einfahrt zum Hafen der Insel säumten, sicher an den ins Meer hinaus gebauten Kai. Die Fahrt auf die Île Molène hätten sie sich sparen können, weder verließ ein Fahrgast das Schiff, noch stieg ein neuer ein, so dass der Kapitän nach wenigen Minuten das letzte Teilstück in Angriff nehmen konnte.
Ewen befürchtete, dass diese Strecke jetzt die schwierigste werden würde, so hatte er es zumindest den Broschüren von Carla entnommen. Auch sein Magen signalisierte ihm das. Bis gestern war ihm der Name Passage de Fromveur unbekannt gewesen. Seitdem er diese Broschüre gelesen und deren Inhalt durchdacht hatte, war der Name gleichbedeutend mit allen Übeln geworden, die einen nach dem Genuss von verdorbenen Lebensmitteln befallen können. Sein Unwohlsein steigerte sich. Je näher sie der berüchtigten Fahrrinne kamen, umso heftiger prallte die Gischt gegen die Bordwand, gegen die Fenster, und erste Fontänen erreichten bereits das Oberdeck. Bei Sturm, so war ihm in Erinnerung geblieben, war es keine Seltenheit, wenn die Wellen Höhen von 10 und mehr Metern erreichten. Allerdings würden die Fähren die Überfahrt dann einstellen. Es sei denn, dass sie bereits unterwegs waren. Er sah, dass die Matrosen ein Grinsen nicht unterdrücken konnten, als sich die ersten Passagiere den Weg zu den Toiletten bahnten. An den Wänden hingen Spender, aus denen die Passagiere kleine Plastiktüten entnehmen konnten, um bei einer Rebellion des Magens das Erbrochene aufnehmen zu können. Ein Matrose sah einer älteren Frau auf dem Weg zu einem Spender nach und rief ihr zu:
„Für drei volle Tüten gibt es eine kostenlose Überfahrt!“
Die Frau schien den Ausspruch nicht witzig zu finden und reagierte nicht darauf.
Je höher sich die Wellen aufschaukelten, und je lauter das Knirschen der Schiffskonstruktion zu vernehmen war, desto stiller wurde es auf dem Schiff. Ewen und Jean mussten das Deck verlassen, wenn sie nicht riskieren wollten, bis auf die Haut nass zu werden. Sie kämpften sich langsam die Treppe hinunter, zurück zu ihren Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, nichts von dem Unwetter mitzubekommen schienen. Carla und Marie unterhielten sich immer noch entspannt. Ewen sah zu seiner Frau. Sie saß lächelnd Marie gegenüber und gestikulierte heftig während ihrer Unterhaltung.
„Ach Ewen, habt ihr schon genug von der frisch Luft? Oh, du siehst aber bleich aus, mein Liebster. Schau, was ich uns gekauft habe, das gibt es nur hier an Bord.“
Carla holte aus ihrer Handtasche eine Seekarte hervor, die sie fein säuberlich eingerollt und in die Tasche gesteckt hatte.
„Schau, Ewen, auf dieser Karte sind alle Stellen markiert, an denen Schiffe untergegangen sind.“
„Toll, Carla, die Karte baut mich wieder richtig auf.“
Das seitliche Fenster neben ihrem Sitzplatz wurde immer wieder von dem Wasser der aufprallenden Wellen überspült, so dass Ewen den Eindruck hatte, auch ihr Schiff sei auf dem Weg zum Untergang. Ein Blick aus dem Fenster in Richtung des Bugs zeigte Ewen, dass die Matrosen in ihrem Ölzeug bereits damit beschäftigt waren, die Taue zum Anlegen des Schiffes vorzubereiten. Dieser Horrortrip wäre also gleich beendet. Viel länger hätte er dem Kampf mit den Elementen auch nicht mehr standhalten können. Carla machte sich zum Aussteigen bereit. Jetzt entdeckte Ewen den Namen des Schiffes. Fromveur II las er. Hätte er den Namen schon beim Einsteigen gesehen, wäre er vielleicht sofort wieder von Bord gegangen. Der Name konnte nur ein schlechtes Omen sein. Darunter stand jedoch, dass das Schiff von der Werft Piriou in Concarneau gebaut worden war. Die Werft war bekannt für solide Arbeit, was ihn wieder etwas beruhigte. Erst vor einem Jahr hatte die Reederei Penn Ar Bed das Schiff übernommen, las er weiter auf dem Plakat. Mit ihren 45 Metern Länge und beinahe 10 Metern Breite bot sie Platz für 365 Passagiere. Inzwischen hatte das Schaukeln fast völlig aufgehört, und die Fromveur II legte die letzten Meter zum Kai zurück. Dann vernahm er, wie die Motoren ausgeschaltet und die Gangway an Bord gezogen wurde. Er hatte die Fahrt überstanden. Die Passagiere, es waren vielleicht 100 oder 130, strebten dem Ausgang zu. Nur wenige zogen einen Trolley hinter sich her. Die überwiegende Zahl hatte lediglich einen größeren Rucksack dabei. Ewen schloss daraus, dass die Mehrzahl der Fahrgäste Tagesgäste oder Einwohner der Insel waren.
„Ich habe dich noch gar nicht nach unserem Hotel gefragt, Carla, wie heißt das Hotel und wo liegt es?“
„Das Hotel heißt Le Fromveur und liegt an der Rue du Fromveur.“
„Gibt es hier auf der Insel irgendetwas, das einen anderen Namen als Fromveur trägt?“
„Aber natürlich, Ewen, was hast du denn gegen diesen Namen? Wir haben diese gefährlichste Strömung Europas problemlos passiert. Es war doch ganz harmlos.“
Ewen sah das anders, wollte sich aber auf keine längere Diskussion einlassen.
Die Ankunft der Fähre schien das Hauptereignis auf der Insel zu sein. Es standen zahlreiche Menschen auf dem Kai und sahen zu, wie die Ankömmlinge von Bord kamen. Ewen hatte den Eindruck, als wäre das die tägliche Erheiterung für die Inselbewohner, mangels anderer Möglichkeiten der Belustigung. Auch Ewen verließ das Schiff und es kam ihm vor, als ob auch die Insel hin- und herschaukelte. Es dauerte einige Minuten, bis sich sein Gleichgewichtsorgan wieder auf den ruhigen festen Untergrund eingestellt hatte. Carla strebte zielsicher zu einer der bereitstehenden Navettes, die hier auf der Insel die Aufgaben eines Taxis übernahmen. Sie nannte dem Fahrer den Namen des Hotels. Der Mann, der ein großes Schild in Händen hielt, auf dem der Preis für eine Fahrt vom Hafen zum Hauptort Lampaul mit 2 Euro angegeben war, ging an die Rückseite seines Ford-Transit, öffnete die Hecktür und nahm Ewens Koffer entgegen. Carla sah, dass das frisch vermählte Ehepaar eine andere Navette ansteuerte. Gerade als Ewen in das Auto einsteigen wollte, erblickte er ein kleines Flugzeug, das sich der Insel näherte und bereits im Sinkflug war. Der Flughafen musste in unmittelbarer Nähe liegen. Der Navettefahrer schien zu ahnen, was Ewen gleichen fragen würde und beantwortete die unausgesprochene Frage.
„Die Landebahn liegt etwa 600 Meter entfernt von hier. Wir haben nur einen kleinen Flughafen auf unserer kleinen Insel.“
„Kommen viele Besucher mit dem Flugzeug?“, wollte Ewen wissen.
„Es hält sich in Grenzen, die überwiegende Zahl der Touristen kommt mit dem Schiff an. Das ist billiger. Ein einfacher Flug kostet immerhin um die 60 Euro pro Person. Die Finist’Air fliegt auch nicht das ganze Jahr über. Die Privatflugzeuge sind noch teurer. Zudem bleiben die Besucher meistens nur einige Stunden und fahren am späteren Nachmittag wieder mit dem Schiff zurück. Aber immerhin muss der Flughafen über 3000 Fluggäste im Jahr verkraften.“
Carla und Ewen bestiegen ihre Navette und fuhren die vier Kilometer zu ihrem Hotel, im Ortsteil Lampaul, dem Hauptort der Insel.
Alle Hotels, die Schule und die Geschäfte konzentrierten sich hier. Lampaul lag, vom Hafen aus gesehen, ziemlich exakt auf der gegenüberliegenden Seite der Insel.
„Früher hatten wir 1000 Einwohner, 1000 Schafe und ungefähr 500 Autos. Jetzt haben die Schafe die Mehrheit.“
„Hoffentlich nicht im Rathaus!“, meinte Ewen und grinste.
„Ha, ha, ha, dort hatten sie schon immer die Mehrheit!“, feixte der Mann und lachte.
„Im Sommer kommen bis zu 2500 Einwohner dazu. Leute, die hier auf der Insel ein Ferienhaus besitzen. Jetzt sind wir beinahe wieder unter uns.“
„Die Preise für Kraftstoff und für die nötigen Nahrungsmittel sind bestimmt hoch auf der Insel?“
„Ja, der Kraftstoff ist bis zu 35 Cent pro Liter teurer. Aber wir brauchen nicht so viel davon. Manchmal füllen wir den Tank nur alle zwei Monate auf. Die Entfernungen, die wir hier zurücklegen, sind nicht groß. Übrigens, wenn Sie eine Rundfahrt über die Insel wünschen, dann können Sie mich anrufen. Auf der Rundfahrt besuchen wir die Leuchttürme, die verschiedenen Aussichtspunkte und die religiösen Sehenswürdigkeiten der Insel. Kostet 14 Euro für zweieinhalb Stunden, natürlich mit allen Erklärungen!“
Er händigte Ewen sein Visitenkärtchen aus und fuhr davon.
Der Schriftzug Le Fromveur prangte in weißer Farbe auf schwarzem Grund über den beiden Eingangstüren des Hotels. Darüber standen links daneben restaurant und rechts brasserie. Vor den Fenstern der ersten Etage waren schwarze, halbhohe schmiedeeiserne Fenstergitter angebracht, die wohl verhindern sollten, dass jemand aus den Fenstern fallen konnte. Links neben der rechten Eingangstür hing ein Schaukasten mit der Speise- und Getränkekarte des Restaurants.
Sie betraten das kleine Hotel durch die linke Tür, die zum Empfang zu führen schien. Ein Durchgang führte in die Bar des Hotels. Ein großer Billardtisch stand quer im Raum, gleich unterhalb der Stufe, die die Theke von dem restlichen Raum trennte. Mehrere Tische standen hinter dem Billardtisch. An der Stirnseite des Raumes hing ein riesiger Bildschirm, dort lief gerade ein Fußballspiel. Die junge Frau am Empfang hieß sie willkommen und fragte nach ihrer Reservierung.
„Kerber aus Quimper“, antwortete Carla und nahm von der jungen Frau den Schlüssel für das Zimmer in Empfang.
„Einige kurze Erklärungen, Frühstück gibt es ab 7 Uhr 30 und Abendessen ab 19 Uhr. Das Restaurant befindet sich zu ihrer linken Seite.“
Sie zeigte dabei auf einen Durchgang.
„Das Frühstück servieren wir in der Bar. Bitte achten Sie auf die Stufe, nicht dass Sie stürzen.“
Dann wünschte sie ihnen einen schönen Aufenthalt und zeigte ihnen den Weg zu ihrem Zimmer.
Das Zimmer lag zur Frontseite des Hauses. Die Einrichtung war zweckmäßig aber nicht gerade luxuriös, was Ewen überhaupt nicht störte. Er war sowieso der Meinung, dass man keine Unsummen ausgeben musste, um eine Nacht in einem Hotelbett zu verbringen. Das Auspacken des Koffers überließ er gerne Carla. Er ging in die Brasserie und bestellte einen Lambig, um seinen geplagten Magen zu beruhigen.
Hinter dem Tresen stand ein leicht korpulenter Mann um die 50, der ihn bediente.
„So, haben Sie ihr Zimmer schon bezogen? Tanguy Kerlann, mein Name.“ Der Mann reichte Ewen seine Hand.
„Ja, gerade eben, meine Frau ist noch dabei unseren Koffer auszupacken. Ewen Kerber, angenehm.“
„Kerber? Stammen Sie von der Insel?“
„Nein“, antwortete Ewen dem Mann.
„Wir haben nämlich einen Lieu dit Kerber hier, unweit von Lampaul. Verbringen Sie zum ersten Mal Urlaub auf der Insel?“
„Ja, das erste Mal.“
„Wenn man die Insel erst einmal kennengelernt hat, will man sie nicht mehr verlassen“, meinte Monsieur Kerlann.
„Das kann ich mir vorstellen“, erwiderte Ewen und dachte dabei mehr an die Überfahrt als an die Schönheiten der Natur.
„Was sollte man denn gesehen haben, um die Insel zu kennen?“
„Alles!“, war die erste knappe Antwort.
„Wenn es Ihnen nur auf die Sehenswürdigkeiten ankommt, dann auf jeden Fall den Phare du Creac´h. Unseren, in den bretonischen Farben gehaltenen, schwarzweiß gestreiften Leuchtturm.“
Dann fuhr er fort:
„Der stärkste Leuchtturm Europas. Sein Lichtstrahl reicht mehr als 50 Kilometer weit, und ist das erste, was ein Schiff sieht, wenn es den Golf der Biskaya überquert hat. Zwischen Ouessant und Amerika liegt dann nur noch Wasser. Beim Leuchtturm gibt es auch ein kleines Museum, da können Sie alles über Navigation und Leuchttürme bewundern. Dann sollten Sie den Küstenabschnitt nördlich des Leuchtturms besuchen. Die Côte Sauvage unserer Insel ist phantastisch. Dort finden Sie spektakuläre Felsen und eine wilde Brandung. Der Pointe de Pern ist der südwestlichste Punkt unserer Insel. Der Leuchtturm Nividec ist dort zu sehen. Er liegt aber ein gutes Stück im Meer. Dann wäre da noch unser Écomusée de l‘île d´Ouessant. Dann können sie hier von Lampaul aus zur zweiten Halbinsel von Feuteun-Velen gehen. Da liegt die südlichste Landspitze, die Point de Porz Doun. Schließlich wäre dann der Phare du Stiff, den hat Vauban noch gebaut. Gleich dahinter steht der neue Radarturm, der ist für die Rail d´Ouessant gebaut worden. Sie werden bestimmt davon gehört haben?“
„Ich habe davon gelesen, die gesamte Schifffahrt durch den Kanal wird von dort aus kontrolliert.“
„Nun, von dem Radarturm nicht, das Kontrollzentrum ist auf dem Festland.“
„Vielen Dank für die ausführlichen Informationen, mal sehen, was wir uns alles in den wenigen Tagen ansehen können.“
„Wie lange bleiben Sie bei uns?“
„Eine Woche haben wir uns vorgenommen.“
„Ach, dann können Sie alles zweimal besuchen. Mit dem Fahrrad fahren manche Besucher die wesentlichen Sehenswürdigkeiten schon in einem Tag ab. Selbst wenn Sie alles zu Fuß unternehmen, was ich Ihnen raten würde, haben Sie in vier Tagen alles gesehen.“
Ewen bedankte sich nochmals für die Ausführungen, leerte seinen Lambig und ließ die Rechnung aufs Zimmer schreiben. Dann ging er zu Carla hinauf.
Carla hatte den Koffer ausgepackt und sich umgezogen. Sie war bereit zu einem ersten Inselspaziergang.
„Möchtest du dir auch noch etwas anderes anziehen?“
Ewens Kopfschütteln sagte ihr, dass sie sich auf den Weg machen konnten.
Ewen war von Tanguy Kerlann bestens instruiert worden und so machte er Carla den Vorschlag, doch gleich einmal zum Phare du Creac´h zu spazieren, auf der nördlichen von den beiden Halbinseln, den sogenannten Krabbenscheren, an der südwestlichen Seite der Île d´Ouessant. Die Côte Sauvage dort sei absolut sehenswert.
Das Wetter meinte es gut mit ihnen. Der heftige Wind schien sich während der Überfahrt ausgetobt zu haben, und die Sonne strahlte vom leuchtend blauen Himmel. Die Insel erschien wie eine Oase der Ruhe. Auf ihrem Weg zum Leuchtturm begegneten sie keiner Menschenseele. Sie gingen an zahlreichen Schafweiden vorbei und sahen vereinzelt einige Pferde auf den Koppeln stehen. Schon von Weitem war der Leuchtturm zu sehen, der wie eine schwarzweiß gestreifte Zuckerstange in den Himmel ragte.
Sie näherten sich einem der Wahrzeichen der Insel und den vom Wirt beschriebenen Klippen, als plötzlich ein wild gestikulierender Mann auf sie zugerannt kam. Ewen erkannte den jungen Jean Le Goff, der jetzt atemlos bei ihnen angelangt war.
„Marie, Marie! Sie ist abgestürzt, haben Sie ein Handy?“
Ewen zögerte nicht lange und wählte die Notrufnummer. Er gab den Standort durch und der Mann am anderen Ende versprach, umgehend Hilfe zu senden. Ewen machte sich keinerlei Gedanken, wer den Anruf entgegen genommen hatte. Ansonsten hätte er sich sofort die Frage gestellt, woher die Hilfe kommen könnte. Auf der Insel gab es nicht so viele Möglichkeiten. Er erinnerte sich, gelesen zu haben, dass nur in den Sommermonaten der Posten der Gendarmerie mit vier Männern besetzt war. War jetzt überhaupt jemand da?
Es dauerte nur wenige Minuten und Ewen hörte, wie sich ein Fahrzeug ihrem Standort näherte. Der Kleinlaster gehörte wohl einem Unternehmer, der hier auf der Insel einen Betrieb führt. Auf der Ladepritsche lagen mehrere Leitern und eine Reihe von Seilen. Ewen hatte den Eindruck, dass der Wagen stets vorbereitet auf so einen Einsatz wartete. Jean Le Goff eilte auf den Kleinlaster zu, als der zum Stehen gekommen war.
„Dort hinten an der Klippe, da ist meine Frau abgestürzt, beeilen Sie sich!“
Das Fahrzeug setzte sich in Bewegung, und Jean Le Goff rannte neben dem Wagen her. Ewen und Carla hatten jetzt keinen Blick mehr für den 55 Meter hohen Leuchtturm Phare du Creac’h, dem wichtigsten nautischen Punkt der Seefahrt in der Region, der in wenigen 100 Metern Entfernung in den Himmel ragte. Auch sie folgten schnellen Schrittes dem Lastwagen in Richtung der Klippen, ohne zu überlegen, was sie dort helfen konnten.
Als sie an den Klippen ankamen, sah Ewen, dass Jean mit den Helfern an der Abrisskante der Felsen hin und herging und immer wieder nach unten sah. Er schien seine Frau zu suchen, aber nicht sehen zu können. Carla war etwas weiter entfernt stehen geblieben, während Ewen zu dem Mann mit dem Kleinlaster an den Steilhang getreten war.
„Ist die Frau tief abgerutscht?“
„Schwer zu sagen, jedenfalls scheint sie verschwunden zu sein. Ihr Mann hat uns die Stelle gezeigt, an der sie abgerutscht sein soll, aber es ist nichts zu sehen, nicht einmal richtige Spuren. Das Gras ist etwas niedergetreten, das kann aber auch von ihrem Mann stammen.“
„Seltsam!“, sagte Ewen und ging in die Richtung der angeblichen Absturzstelle.
Er sah hinunter auf die Wellen, die sich an den Klippen brachen und auf das Wasser, das sich schäumend um die zahlreichen, herausragenden spitzen Felsbrocken zu winden schien. Mit jedem erneuten Auftreffen einer Welle stoben Wasserperlen in die Luft und bildeten für Sekunden einen Schleier. Mit großer Wucht trafen die Wellen auf den Granit der Insel. Zwischen den großen Steinen sammelte sich weißer Schaum, aus dem vom Wasser aufgeschlagenen Eiweiß der Meeresalgen und bildete einen dichten Teppich, der selbst noch aus einer Höhe von fast 30 Metern zu sehen war. Sollte die Frau an dieser Stelle hinuntergestürzt sein, dann wäre sie von den Wassermassen hinaus aufs Meer gezogen worden. Ewen konnte sich nicht vorstellen, dass sie einen Absturz an dieser Stelle überlebt haben konnte.
Mit den Augen suchte er den Hang nach Spuren ab, die ein rutschender Körper hinterlassen haben konnte. Ewen konnte nichts entdecken. Inzwischen waren Jean Le Goff, und zwei weitere Männer der herbeigeeilten Helfer, bei Ewen angekommen. Sie hatten die Klippenabschnitte rechts und links der beschriebenen Stelle auf einer Länge von 200 Metern abgesucht, ohne eine Spur von der Frau zu entdecken. Jean raufte sich unentwegt seine Haare und rief ständig:
„Hier war es, ich bin mir sicher, es war genau hier! Wo ist meine Frau?“
Einer der Helfer nahm sein Funksprechgerät in die Hand und rief die Leitstelle an. Er schilderte kurz die Situation und bat um Unterstützung von der Seenotrettung. Dann wandte er sich an Jean Le Goff.
„Monsieur Le Goff, ich habe um Unterstützung von der Seenotrettung gebeten. Es wird eine Weile dauern, bis das Boot hier eingetroffen ist, es muss um die Halbinsel herumfahren, denn das Rettungsboot ist im Hafen von Lampaul stationiert. Wir suchen dann vom Meer aus weiter. Ist Ihre Frau eine gute Schwimmerin?“
„Ja, sie kann sehr gut schwimmen.“
„Das Wasser ist kalt, da kann sie es nicht lange ohne einen Schutzanzug aushalten. Vielleicht ist sie ja ins Wasser gestürzt und hat sich an einer zugänglicheren Stelle wieder an Land retten können. Ich will Ihnen aber keine große Hoffnung machen. Wenn sie hier abgestürzt ist, stehen ihre Chancen nicht gut.“
Ewen beobachtete Jean, während ihm der Helfer die Situation erklärte. Ewen erkannte kaum eine Regung im Gesicht des Mannes.
Würde man ihn mit so klaren Worten auf den Tod von Carla vorbereiten, wäre seine Reaktion bestimmt nicht so gefasst. Er nahm wahr, wie sich sein kriminalistischer Instinkt breit zu machen begann und die Gedanken an einen ruhigen erholsamen Urlaub zu verdrängen schien. Carla trat jetzt zu Ewen und stellte sich neben ihn. Ihr entging die Veränderung in Ewens Gesicht nicht. Seine zuvor noch gelösten und ruhigen Gesichtszüge waren plötzlich durch eine angespannte und nachdenkliche Mimik verdrängt worden. Carla kannte diesen Gesichtsausdruck zu genau, sie wusste, dass jetzt nur wenig fehlte, und der so mühsam herbeigeführte Urlaub würde ein jähes Ende finden.
„Lass uns weitergehen, Ewen, wir können hier doch nicht helfen.“
„Ich muss noch bleiben, ich habe den Verdacht, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Wir sind im Urlaub, Ewen! Überlass die Arbeit den Kollegen vor Ort.“
„Aber hier ist doch niemand! Bis ein Kollege vom Festland hier ankommt, vergeht wertvolle Zeit. Ich muss mit Jean sprechen.“
Ewen ging auf Jean zu, der sich immer noch mit seiner rechten Hand durch die Haare fuhr.
„Monsieur Le Goff, erzählen Sie mir doch ganz genau, was sich vor dem Sturz Ihrer Frau ereignet hat.“
Le Goff, der die ganze Zeit abwechselnd auf das Gras unter seinen Füßen und auf die Klippen starrte, hob seinen Kopf und blickte Ewen an.
„Was haben Sie gesagt?“
„Ich habe Sie gefragt, was genau passiert ist, bevor Ihre Frau abgestürzt ist.“
„Nichts ist passiert, wir sind fröhlich hier an den Klippen entlang spaziert, haben uns über die kommenden Urlaubstage unterhalten und überlegt, was wir alles unternehmen wollen. Dann muss meine Frau in eine Bodenunebenheit getreten sein. Sie ist plötzlich hin und hergeschwankt und hat ihr Gleichgewicht verloren. Bevor ich nach ihr greifen konnte, ist sie bereits über den Klippenrand gerutscht und hat sich einige Meter tiefer an dem Ast eines Busches festgehalten. Ich habe ihr nicht helfen können. Ich habe ihr zugerufen, sie solle sich festhalten, ich würde Hilfe holen. Das war alles. Dann habe ich Sie getroffen und Sie haben Hilfe herbeigerufen.“
„Können Sie mir den Ast zeigen, an dem sich Ihre Frau festgehalten hat?“ Ewen sah Jean an.
„Ja, das kann ich, kommen Sie.“ Er ging die drei Schritte bis zum Klippenrand und sah sich um. Dann erblickte er den kleinen Stechginsterstrauch und zeigte darauf.
„An dem Busch dort hat Marie sich festgehalten.“
Ewen ging in die angezeigte Richtung und sah zu dem Stechginsterstrauch hinunter. Der Strauch schien völlig unbeschädigt zu sein. Auf dem Boden konnte er keine heruntergerissenen Blütenblätter erkennen, obwohl der Strauch noch jede Menge davon trug. Ewen überlegte, wenn die Frau hier abgerutscht war, dann muss es möglich sein, Spuren zu entdecken. Aber der Boden sah nicht aus, als ob hier ein Mensch ausgerutscht war. Warum sollte ihr Mann den Helfern aber eine falsche Absturzstelle zeigen? Hatte er etwas mit ihrem Absturz zu tun? Ist die Frau überhaupt abgestürzt? Die Fragen gingen Ewen durch den Kopf. Er sah Jean Le Goff an, der immer noch auf und abging und sich die Haare raufte.
Ewen erinnerte sich an die Überfahrt mit dem Schiff. Es war erst einige Stunden her. Jean war sehr liebevoll mit seiner jungen Frau umgegangen, nichts hatte darauf hingedeutet, dass die zwei einen Streit gehabt hätten, bevor sie an Bord des Schiffes gegangen waren. Ewen war unschlüssig, ob er seine Kollegen in Brest anrufen sollte. Die waren für die Insel zuständig. Wenn die Frau tatsächlich abgestürzt war, bedurfte es keiner Mordkommission. Aber wenn es ein Mord gewesen war? Er brauchte einen Anhaltspunkt, der ihm helfen konnte die richtige Entscheidung zu treffen. Wenn es doch wenigstens eine einzige Spur gäbe, die entweder auf einen Unfall oder auf ein Verbrechen hindeutete.
Ewen sah Carla ungefähr 20 Meter von sich entfernt stehen. Sie sah im Moment nicht gerade glücklich aus. Ewen ging auf sie zu und nahm ihre Hand.
„Carla, bitte verzeih, aber ich brauche vielleicht noch zehn Minuten, dann können wir weitergehen. Ich will mir nur noch den Erdboden, links und rechts der Absturzstelle, genauer ansehen. Die Frau kann unmöglich dort abgestürzt sein, wie Jean es uns weismachen will. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob die Frau überhaupt abgestürzt ist.“
„Zehn Minuten sollst du noch haben, aber dann sind wir wieder im Urlaub, einverstanden?“
„Versprochen!“, antwortete Ewen und ging raschen Schrittes an den Klippenrand. Vorsichtig bewegte er sich zuerst nach links, jeden Zentimeter des Erdbodens an der Abrisskante betrachtend. Nach guten 100 Metern kehrte er um und ging in die andere Richtung. Nichts, er konnte im Umkreis von mehr als 100 Metern keine einzige Spur entdecken. Seine Entscheidung stand fest, er würde die Kollegen in Brest informieren. Auch wenn er den Fall zu gerne sofort bearbeitet hätte, aber er war hier nicht zuständig.
Ewen nahm sein Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer seines Kollegen, Gilles Roudaut. Er war froh, dass er auch auf seinem privaten Handy einige wichtige Telefonnummern aus dem dienstlichen Bereich gespeichert hatte. Es dauerte ein wenig, dann meldete sich sein Kollege.
„Roudaut!“
„Hallo Gilles, Ewen hier.“
„Ewen, schön deine Stimme zu hören. Wie läuft es in Quimper?“
„Kann ich im Moment nicht sagen, ich halte mich auf der Île d´Ouessant auf. Ich denke, dass du herkommen solltest.“
„Auf die Insel? Was soll ich dort?“
„Ich bin heute Morgen mit der Fähre angekommen. Carla und ich wollen hier ein paar Tage Urlaub verbringen. Auf dem Schiff ist ein junges Ehepaar gewesen, das seine Flitterwochen auf der Insel verbringen will. Vor etwa einer Stunde ist uns der Ehemann begegnet und hat um Hilfe gebeten, seine Frau sei bei einem Spaziergang abgestürzt. An der von ihm genannten Unfallstelle sind aber keinerlei Spuren festzustellen gewesen, die auf einen Absturz hingewiesen hätten. Ich habe die Klippen, auf einer Länge von etwa 300 Metern, abgesucht aber rein gar nichts gefunden, was auf das Unglück hinweisen könnte. Ich bin mir unschlüssig, ob es sich hier um ein Verbrechen handelt oder um einen Unfall. Da du zuständig bist, wollte ich dich informieren.“
„Besten Dank, Ewen, ich hätte ansonsten nicht gewusst, wie ich meinen Tag verbringen könnte.“ Gilles lachte herzlich.
„Ich bin in einer Stunde bei dir. Ich lasse mir sofort einen Hubschrauber kommen. Kannst du mir sagen, wo genau sich die Stelle befindet, an der die Frau abgestürzt sein soll?“
„Das ist nur einige 100 Meter von dem Leuchtturm Phare du Creac’h entfernt. Ich werde jetzt mit meiner Frau unseren Spaziergang fortsetzen, komme aber dann zurück zu der vermeintlichen Absturzstelle. Wir können uns später noch einmal kurzschließen.“
„Danke mein Freund, bis später.“
Ewen legte auf und suchte Carla, die in der Zwischenzeit einige Schritte weitergegangen war. Ewen ging auf sie zu, nahm ihre Hand und sie setzten den begonnenen Spaziergang fort.
„Hast du Probleme entdeckt?“ Carla sah ihn fragend an.
„Ach, keine Probleme die mich betreffen, ich habe bereits mit Gilles in Brest telefoniert. Er wird gleich mit dem Hubschrauber herkommen. Es gibt ein paar Ungereimtheiten.“
„Welche Ungereimtheiten?“
„Der junge Le Goff hat gesagt, dass seine Frau Marie abgestürzt ist. Aber an der genannten Stelle finden sich keinerlei Spuren, die auf einen Absturz hindeuten. Auch an dem Strauch, an dem sie sich festgehalten haben soll, kann ich rein gar nichts erkennen. Ich bin mir unsicher, ob die Geschichte wirklich so abgelaufen ist. Die Bergungshelfer haben die Seenotrettung alarmiert und die werden gleich die Küste vom Meer aus absuchen. Wenn sie die Leiche von Marie Le Goff finden, muss geklärt werden, wie die Frau ums Leben gekommen ist.“
„Du glaubst, ihr Mann hat sie ermordet?“
„Im Augenblick kann ich nichts dazu sagen. Ich bin nur skeptisch. Es gibt für mich keine logische Erklärung, warum er lügen sollte. Wenn seine Frau abgestürzt ist, ohne mit dem Klippenrand in Berührung gekommen zu sein, dann würde niemand daran zweifeln. Wir müssten zwar immer noch ihre Leiche finden, aber über kurz oder lang gibt das Meer sie bestimmt wieder her. Wenn ein Verbrechen vorliegt, dann muss die Polizei dem nachgehen. Der Fall erinnert mich an die Ermordung der vier Vergewaltiger. Du kannst dich bestimmt auch daran erinnern?“
„Wie sollte ich den Fall je vergessen können, schließlich ist meine Tochter ein Opfer der Vergewaltigung gewesen.“
„Damals hat alles nach einem Unfall ausgesehen, wenn wir nicht der Möwenspur, wie mein luxemburgischer Freund Henri sie bezeichnet hat, nachgegangen wären.“
„Nur gut, dass du nichts damit zu tun hast, Ewen, wir machen hier Urlaub.“
Carla sah Ewen an und bemerkte die Falten auf seiner Stirn. Er dachte angestrengt nach. Es war zwar nicht sein Fall aber dennoch konnte er ihn nicht so einfach vergessen.
Der Weg führte sie vom Leuchtturm weg. Sie gingen in Richtung der südwestlichen Spitze der Insel. Sie kamen an türkisfarbigen Buchten vorbei, die am Fuße der steilen Granitwände lagen. Die hohen Felsen waren hier oben über und über mit Heidekraut bewachsen und bildeten einen wundervollen Kontrast zu dem darunter liegenden blaugrünen Wasser. Immer wieder stachen Felsen wie spitze Nadeln aus dem Wasser heraus und verliehen der Küste ein bizarres Aussehen. Aus der Entfernung wirkten manche der Felsformationen wie eine Mondlandschaft. Es war eine wunderbare, wilde naturbelassene Küste, die sie in dieser Art bisher nicht gesehen hatten. An der Point du Raz hatten sie auch eine wilde Küste bewundern können aber diese hier übertraf alles bisher Erlebte.
Der Boden und das Gras auf dem sie spazierten waren herrlich weich, und sie hatten das Gefühl auf einer Schaumstoffmatte zu gehen. Bei jedem Schritt gab der Boden angenehm nach. Es war eine Erholung für die Füße. Mehr als einmal hatte Ewen die Überlegung angestellt, sich einfach auf dieses weiche Gras zu legen, den Blick übers Meer schweifen zu lassen und seinen Träumen nachzugehen. An der Point de Pern angekommen, legte er sich auf das wunderbare weiche Grasund ließ seinen Blick über den mit Heide bewachsenen Boden, die Felsformationen und das Wasser schweifen, bis zum Leuchtturm von Nividic. Carla setzte sich zu ihm, auch sie genoss diesen wunderbaren weichen Untergrund. Auf dem Rückweg kamen sie an der Chapelle Notre-Dame de Bon Voyage vorbei, passierten zwei kleine Windmühlen und kleinere Siedlungen, die man auf dem Festland eher als Ansammlung von einigen Gehöften bezeichnet hätte, und gingen wieder zurück zum Leuchtturm.
Ewen bat Carla, ihn noch einmal zur Absturzstelle zu begleiten, damit er mit seinem Kollegen aus Brest, der bestimmt schon eingetroffen sein müsste, sprechen könnte. Carla wurde etwas missmutig bei dieser Bitte, sie fühlte, wie der Urlaub zu verschwinden drohte und Ewen in den nächsten Kriminalfall hineinglitt. Als sie sich der angeblichen Absturzstelle näherten, sah er den Hubschrauber auf der Wiese stehen und seinen Kollegen Gilles Roudaut an der Klippe auf und abgehen. Ewen bat Carla um Verständnis und eilte auf den Kollegen zu.
„Bonjour Gilles!“, sagte Ewen und reichte ihm die Hand.
„Du bist schneller zurück, als ich dachte!“, meinte Gilles und gab Ewen die Hand.
„Ich habe mir die Stelle bereits angesehen. Wie du am Telefon schon gesagt hast, es gibt keinerlei Spuren, die auf einen Absturz der Frau hinweisen. Ihr Mann spricht immer von einem Unfall, und dass er seiner Frau nicht hat helfen können und Hilfe geholt hat. Ich bin der Meinung, dass er uns etwas vormacht. Die Frau ist hier nicht abgestürzt. Ich habe vorhin noch mit der Seenotrettung gesprochen. Ihr Rettungsboot und ein Hubschrauber sind dabei, die Küste abzusuchen. Bis jetzt hat die Suchmannschaft keinerlei Spuren entdecken können, geschweige denn eine Leiche gesichtet. Die See ist allerdings ziemlich aufgewühlt, sagt der Pilot, mit dem ich gerade telefoniert habe.“
„Ich habe mir so etwas schon gedacht“, erwiderte Ewen und schien nachzudenken, dann meinte er:
„Ihr müsst wohl eine Untersuchung einleiten und Jean Le Goff zum Verhör nach Brest mitnehmen.“
„So ist es, wir müssen davon ausgehen, dass er etwas mit ihrem Verschwinden zu tun hat.“
Ewen verabschiedete sich von seinem Kollegen, Gilles Roudaut, und ging zu Carla zurück, die etwas angespannt auf ihn wartete. Auf dem weiteren Rückweg erklärte Ewen ihr die aktuelle Situation, und sie diskutierten über das Verschwinden von Marie Le Goff. Er vergaß nicht hinzuzufügen, dass sowohl sein Kollege Roudaut, als auch er erhebliche Zweifel an Jean Le Goffs Schilderung über den Vorfall hatten.
Marie und Jean Le Goff verließen nach dem Anlegemanöver das Schiff Fromveur II und gingen zu den Navettes. Marie nahm noch wahr, wie der Kriminalkommissar und seine Frau in eine andere Navette einstiegen. Marie nannte dem Fahrer den Namen des Hotels, La Duchesse Anne im Ortsteil Lampaul, und stieg mit Jean ein. Auf so einer kleinen Insel dauern die Taxifahrten nicht lange. Schon nach wenigen Minuten hielt die Navette vor der Unterkunft, in der sie sich in den nächsten Tagen aufhalten würden. Sie stiegen aus und betraten das Hotel.
Während Jean voranging, sah Marie sich auf der Straße vorsichtig um. Ihr Blick ging von rechts nach links, so als suchte sie etwas ganz Bestimmtes, das sie aber nicht erblicken konnte. Nach erneutem Umsehen betrat Marie das Hotel. Jean stand bereits an der Rezeption und füllte den Meldebogen aus. Die Frau an der Rezeption lächelte ihr freundlich zu.
„Zimmer drei haben wir für Sie reserviert“, sagte die Dame und reichte Jean den Zimmerschlüssel. Chipkarten hatten hier noch keinen Einzug gehalten. Jean und Marie gingen über die Treppe in den ersten Stock. Ihr Zimmer lag nach hinten hinaus, in südwestlicher Richtung. Die Abendsonne würde in ihr Zimmer scheinen.
„Was hast du jetzt vor, Marie?“, fragte Jean, nachdem er die Reisetasche abgelegt und die Tür hinter Marie sorgfältig verschlossen hatte.
„Ich habe mir noch keinen Plan zurechtgelegt, Jean. Ich weiß nur, dass ich mich hier auf der Insel sicherer fühle als in Melgven. Hier gibt es zahlreiche Möglichkeiten, mich zu verstecken. Ich kenne mich gut aus und kenne viele Menschen, denen ich vertrauen kann.“
„Aber du weißt doch überhaupt nicht, vor wem du dich verstecken musst. Wir wissen doch nur, dass dir jemand nach dem Leben trachtet. Woher willst du wissen, wem du vertrauen kannst?“
„Ich glaube einfach, dass mir die Menschen, die ich seit meiner frühesten Kindheit kenne, nichts antun wollen, und diese Menschen leben hier auf der Insel.“
„Wir müssen versuchen herauszufinden, wer hinter diesen Anschlägen steckt. Wir müssen wissen warum jemand deinen Tod will. Welche Gründe gibt es dafür?“
„Aber Jean, woher soll ich das wissen? Ich habe doch niemandem etwas getan. Was soll es denn für Gründe geben?“
„Nun, vielleicht hast du jemanden bloßgestellt, beleidigt, einem Schüler schlechte Noten erteilt. Es gibt tausend Gründe, warum Menschen durchdrehen und auf Rache sinnen.“
„Ach Jean, ich bin erst seit zwei Jahren als Lehrerin tätig. Jedes Kind meiner Klasse hat das Klassenziel bisher erreicht. Ich habe mehrfach mit allen Eltern gesprochen, und niemand hat sich mir gegenüber negativ geäußert. Ich habe auch niemandem etwas Böses gesagt oder eine Beleidigung ausgesprochen. Das kann alles nicht die Ursache sein. Ich weiß es einfach nicht!“
„Hmmm, vielleicht hast du etwas geerbt, und jemand möchte dir die Erbschaft streitig machen?“
„Ich habe keine reichen Verwandten. Wer soll mir etwas vererben, so dass es sich lohnen würde, einen Menschen zu töten? Meine Eltern sind schon lange tot.“
„War ja auch nur ein Gedanke.“