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Ökologie, Tradition, Gemeinschaft – eine perfekte Idylle? Katharina Hoffmanns bisheriges Leben gerät aus der Bahn, als sie Opfer eines Überfalls wird. Fast zeitgleich erreicht sie ein Hilferuf ihrer Schwester Sara – die dann spurlos verschwindet. Katharina begibt sich auf die Suche. In Rostock, wo Sara als Gerichtsvollzieherin arbeitete, stößt sie auf einen Hinweis, der sie weiter nach Grantzow führt. Ein Dorf, in dem scheinbar die perfekte Idylle herrscht … Der bislang politischste Roman des Friedrich-Glauser-Preisträgers Marc-Oliver Bischoff. Mit einem Nachwort der Amadeu Antonio Stifung.
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Seitenzahl: 390
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Marc-Oliver Bischoff
Die Sippe
Kriminalroman
©2016 by GRAFIT Verlag GmbH
Chemnitzer Str.31, D-44139 Dortmund
Internet: http://www.grafit.de
E-Mail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagbild: biloba / photocase.de
eBook-Produktion: CPI books GmbH, Leck
eISBN 978-3-89425-713-2
Der Autor
Marc-Oliver Bischoff wurde 1967 in Lemgo geboren und wuchs in einem kleinen Dorf am Stadtrand von München auf. Nach dem wirtschaftswissenschaftlichen Studium verschlug es ihn in verschiedene Städte. Inzwischen lebt er mit seiner Frau und zwei Kindern in Ludwigsburg und arbeitet als Technologieberater. Für sein Debüt Tödliche Fortsetzung wurde er mit dem ›Friedrich-Glauser-Preis‹ ausgezeichnet.
Dieses Buch widme ich meinen Söhnen Nils und Leo, die in einer Welt ohne Rassismus, Menschenverachtung und Demagogie aufwachsen sollen.
August der Schäfer hat Wölfe gehört, Wölfe mitten im Mai, mehr als zwei. Und der Schäfer, der schwört, sie hätten zusammen das Fraßlied geheult, das aus früherer Zeit, und er schreit. Und sein Hut ist verbeult. Schreit: »Rasch, holt die Sensen, sonst ist es zu spät. Schlagt sie tot, noch ehe der Hahn dreimal kräht.« Doch wer hört schon auf einen alten Hut und ist auf der Hut? Und ist auf der Hut?
Wölfe mitten im Mai,
Der Mann auf der Schaukel sitzt in einem Garten, der in seiner überbordenden Üppigkeit den Gewächshäusern des Botanischen Gartens Rostock Konkurrenz macht. Eine Handvoll Apfelbäume ragt rundherum auf. An diesem Tag im Frühsommer ächzen die Äste schon unter dem Gewicht der Früchte, auch wenn diese noch weit von der Erntereife entfernt sind: Die Äpfel der in diesem Landstrich fast vergessenen Sorte Alter Krummstiel sind grün und nicht etwa von der fahlbraunen Färbung, die sie bald unter der Kraft der mecklenburgischen Sonne annehmen werden. Einer der Apfelbäume, der größte und dem Wohnhaus am nächsten stehende, beginnt jedoch abzusterben. An einem kahlen Ast ist eine Kinderschaukel aufgehängt. Auf dieser Schaukel sitzt der Mann, der nicht aussieht wie jemand, der das Leben allzu ernst nimmt. Doch der erste Eindruck täuscht: Der Tod ist es, den der Mann auf der Schaukel belächelt.
Er trägt ein verblichenes T-Shirt und eine einfache Leinenhose. Sein blondes ins Graue changierende Haar ist kurz gestutzt. Seine markanten Züge und die asketische Erscheinung sind das Ergebnis einer Diät aus streng veganer Kost und bewusstseinserweiternden Substanzen.
Von der Straße her ertönt das Aufheulen eines Motors. Der Mann auf der Schaukel öffnet schläfrig die Augen. Nun sieht man das beunruhigend blaue Leuchten seiner Iris. Ein rostiger schwarzer Kombi rauscht mit halsbrecherischem Tempo in die Hofeinfahrt, passiert einen hellgrauen Findling, stößt einen Eimer um, treibt ein halbes Dutzend panische Hühner vor sich her und rumpelt mitten durch den Garten, bis er mit einer Vollbremsung vor dem halbtoten Apfelbaum zum Stehen kommt. Der Motor wird abgewürgt. Die Reifen haben tiefe Schneisen ins Gras geschlagen. Die Fahrertür springt auf und ein Mann von bulliger Erscheinung – blonder Bürstenschnitt, Holzfällerhose und Bundeswehrstiefel – schwingt sich aus dem Sitz. Er öffnet den Fond und zieht einen Jungen, etwa zehn Jahre alt, vom Rücksitz. Der Bullige packt das Kind grob am Nacken und schiebt es vor sich her, bis die beiden Neuankömmlinge ihre Schatten auf den Mann auf der Schaukel werfen.
»Na los, erzähl schon«, fordert der Bürstenschnitt den Jungen mit einem Klaps auf den Hinterkopf auf.
»Es war keine Absicht«, schnieft der Junge. Seine Augen sind rot und verquollen, Rotz läuft aus einem Nasenloch. Mehr bringt er nicht heraus.
Der Mann auf der Schaukel sieht den Bürstenschnitt fragend an.
»Du siehst dir das besser selber an, Freyr.«
»Im Wagen?«, will der Angesprochene wissen.
Der Bürstenschnitt nickt. Sie gehen zum Auto und öffnen die Heckklappe. Freyr wirft einen Blick hinein, fährt sich nachdenklich durch die Bartstoppeln und summt eine Melodie.
»Was machen wir jetzt?«, flüstert der Bürstenschnitt, der nicht will, dass der Junge die Unterredung mithört.
»Gib mir die Waffe«, fordert Freyr.
Der Bürstenschnitt zieht eine Glock 30 aus dem Hosenbund und reicht sie ihm.
»Sag Hiske Bescheid. Sie soll dir helfen.«
Der Bürstenschnitt verschwindet im Haus.
Freyr wiegt die Waffe in der Hand. Er lässt das Magazin herausgleiten, zieht den Schlitten nach hinten und arretiert ihn, er prüft den Inhalt des Magazins, setzt es wieder ein und lässt den Schlitten nach vorne schnappen. Alles in einem einzigen kurzen Augenblick, wie es nur ein Mann mit jahrelanger Erfahrung im Umgang mit Waffen zu tun vermag. Er kehrt zur Schaukel zurück, wo der blonde Junge immer noch herumsteht und beschämt zu Boden blickt. Freyr lässt die Glock in die Hosentasche gleiten, nimmt auf der Schaukel Platz und zieht den Jungen auf seinen Schoß. Der kleine Oberkörper bebt, als sich ihm ein Schluchzen entringt.
»Schhhh!«, beruhigt der Mann den Jungen, streicht ihm übers Haar und trocknet seine Tränen. Sanft schwingt die Schaukel vor und zurück. Als das Kind endlich verstummt, spricht Freyr ihm ins Ohr und spürt sogleich, wie die beruhigende Kraft seiner Stimme ihre Wirkung entfaltet. Das Schluchzen verebbt.
»Du bist ein cleverer Bursche, nicht wahr? Du hast sicher eine Ahnung davon, was passiert, wenn diese Angelegenheit herauskommt.«
»Ich komme ins Gefängnis.«
»Du bist ein Kind. Sie können dich nicht ins Gefängnis stecken.«
Der Junge drückt sich vertrauensvoll an ihn.
»Aber deine Eltern müssen ins Gefängnis. Für viele Jahre. Und dann werden sie dich und deine Geschwister ins Waisenhaus geben. Oder zu Pflegeeltern.«
Der Junge fängt wieder an zu weinen.
»Na na. Schhhh. Aber das muss nicht sein.«
»Ich darf niemandem etwas sagen, nicht wahr?«
»Kein Sterbenswort.«
»Außer meiner Mutter.«
»Auch der nicht.«
»Nicht mal ihr? Das wird schwer. Ich kann sie nicht anlügen.«
Freyr sieht in die untergehende Sonne. Er kann es eigentlich nicht riskieren, den Jungen am Leben zu lassen. Kinder sind ein Sicherheitsrisiko. Sie plappern. Und es lässt sich nicht verhindern, dass sie das Dorf von Zeit zu Zeit verlassen. Dann sickern Informationen durch. Er stellt den blonden Jungen auf die Füße und dreht ihn herum. Sieht ihm tief in die Augen.
»Schwöre, dass du es für dich behältst.«
»Ich schwöre, Freyr.«
»Auf dein Leben.«
»Auf mein Leben.«
Freyr liest in den Augen des Jungen. Das ist eine seiner vielen außergewöhnlichen Begabungen: Jemandem in die Augen zu sehen und zu wissen, was tief im Innern dieses Menschen vor sich geht. Ob er ein Versprechen halten, ob er es brechen wird. Niemals hat er sich in einer solchen Einschätzung geirrt.
Der Mann auf der Schaukel lächelt, aber es ist ein trauriges Lächeln. Im Blick des Jungen hat er nicht gefunden, was er gesucht hat.
Er versenkt die Hand in der Hosentasche. Wie automatisch schließen sich seine Finger um den Griff, legt sich sein Zeigefinger neben den Abzug in Warteposition.
»Komm, wir gehen ein bisschen spazieren. Dahinten im Unterholz gibt es etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Sie setzen sich in Bewegung und plötzlich spürt Freyr, wie die Hand des Jungen sich in seine schmiegt. Die Wärme der kleinen Hand stimmt ihn milder, als es in dieser Situation geboten scheint. Der Junge ist nur ein nettes Kind, das einen unverzeihlichen Fehler begangen hat.
Sie haben die Grenze des paradiesischen Gartens erreicht, als eine Stimme hinter ihnen erschallt.
»Freyr! Komm schnell!«
Er sieht sich um. Hiske Rossbach steht in der Tür, die Naturlocken wirr in die Stirn hängend, die Hände blutverschmiert. Freyr sieht den Jungen an – und lässt sowohl die Waffe in seiner Tasche als auch die Hand des Jungen los.
»Lauf nach Hause. Und kein Wort.« Er legt den Finger auf die Lippen.
»Und das Unterholz?« Der Junge klingt enttäuscht.
»Ein andermal.«
»Versprochen?«
»Fest versprochen.« Er setzt sein wärmstes Lächeln auf.
Der Junge rennt davon und Freyr sieht ihm mit einer Mischung aus Wehmut und Erleichterung hinterher. Die warme Sommerluft kühlt sein Gesicht und trägt den Duft von frisch geschnittenem Gras mit sich.
Vielleicht muss er seine Pläne ändern.
Hamburg
Die Pfütze vor dem Eingang zum Motel Sieben in St.Pauli ist fast so groß wie der Eppendorfer Mühlenteich. Seit gestern Nachmittag bis vor gut einer Stunde hat es ohne Unterlass geregnet. Auf der glatten Wasseroberfläche spiegelt sich die blaue Neonbeleuchtung über dem Eingang zur Lobby.
Katharina Hofmann packt den Griff ihrer Reisetasche fester und sucht nach einem Weg um die nasse Barriere herum. Ein Taxi braust heran und pflügt eine Schneise ins Wasser, das in einer hohen Fontäne zur Seite spritzt. Katharina springt im letzten Moment zurück, doch eine korpulente Dame mit Hund hat weniger Glück. Katharina weiß nicht, wen sie mehr bemitleiden soll: die fluchende triefnasse Dame oder ihr Haustier, das mit herabhängendem Fell aussieht wie der sprichwörtliche begossene Pudel. Aus ihrer Reisetasche zieht Katharina ein kleines Handtuch und reicht es der Frau, die sich dankbar Haare und Gesicht damit trocknet. Für die Nachtschicht wird Katharina sich ein Handtuch aus dem Stationsvorrat nehmen müssen.
In der Lobby des Hotels herrscht nüchterne Leere. Einen Empfang gibt es nicht, dafür zwei Check-in- und einen Getränkeautomaten. Das ist der Grund, warum Roland und sie sich hier treffen. Keine Rezeption, keine Fragen, keine neugierigen Blicke. Und diese billige Unterkunft ist kein Stundenhotel, worauf Katharina im Gegensatz zu Roland Wert legt, weil sie sich sonst wie eine Prostituierte fühlen würde.
Der Anblick der menschenleeren Halle versetzt ihr einen Stich, darum beeilt sie sich, diesen Ort hinter sich zu lassen. Sie besteigt den Fahrstuhl und drückt auf die Zwei, aber der Aufzug rührt sich nicht. Neben dem Bedienfeld befindet sich ein kleiner Schlitz, in den die Zimmerkarte einzuführen ist. Natürlich hat Katharina keine. Roland hat das Zimmer übers Internet reserviert, er hat es mit seiner Kreditkarte bezahlt. »Sugardaddy hat die Karte«, würde Leonie jetzt mit ihrer heiseren Stimme sagen und anzüglich kichern.
Gerade als Katharina ihr Handy aus der Tasche kramt, um ihn anzurufen, betritt ein älterer Herr die Fahrstuhlkabine. Er nickt ihr ebenso freundlich wie unverbindlich zu und drückt auf die Drei. Das Licht erlischt wieder, er drückt noch einmal, erneut erfolglos, es dauert ein paar Sekunden, bis er begreift, warum. Höflich schweigend, schiebt er seine eigene Karte ein, wählt sein Stockwerk und fragt sie nach ihrem. Während der Fahrt starrt sie beschämt auf ihr stumpfes Spiegelbild im Metall der Türverkleidung. Sie spürt die Blicke des Mannes auf ihrem Körper. Vermutlich rechnet er sich aus, ob er sich eine Nacht mit ihr leisten kann, und Katharina kämpft den Impuls nieder, ihn aufzuklären, dass sie so eine nicht ist. Jetzt hat Roland es doch geschafft, dass sie sich käuflich fühlt.
217.
Katharina klopft. Im Türspalt erscheint Rolands Gesicht. Er lächelt sein Bubenlächeln und im selben Augenblick hat sie ihre Scham und ihren Kummer fast vergessen.
»Katharina.«
Er lässt sie ein. Über den einzigen Stuhl im Zimmer hat er seinen weißen Kittel gehängt. Aus der Brusttasche baumelt das Stethoskop. Katharina findet es albern, dass er sich schon zu Hause umzieht und dann in voller Kluft ins Hotel fährt. Ihre Arbeitskleidung liegt ordentlich gebügelt und zusammengefaltet in der Sporttasche, wo sie auf ihren Einsatz wartet.
Roland und sie halten sich nicht lange mit Vorgeplänkel auf. Ganz Gentleman, hilft er ihr aus dem Mantel und hängt ihn an die Garderobe. Kaum hat sie die Tasche abgestellt, spürt sie schon die Wärme seines Körpers hinter ihrem. Zärtlich streicht er mit seinen Fingern über ihre Unterarme. Katharina schließt die Augen und öffnet den Mund, während seine Fingerkuppen über ihre Schultern fahren und seine Lippen die Härchen auf ihrem Nacken streicheln.
Ihr iPhone klingelt. Dieser spezielle Klingelton ist für die Mitglieder ihrer ziemlich überschaubaren Familie reserviert. Katharina schlängelt sich aus Rolands Umarmung und holt das Handy aus der Manteltasche. Sie wirft einen Blick auf das Bild ihrer Schwester. Seit dem Streit an Weihnachten hat Sara den Kontakt zu ihr deutlich heruntergefahren und ausgerechnet in der unpassendsten aller Situationen beschließt sie, ihn wieder aufzunehmen. Katharina ist unschlüssig – das Lachen in Saras rundlichem Gesicht ist eingefroren. Nein Schwesterlein, macht sie schließlich mit sich aus, du wirst warten müssen, bis ich meinen Spaß hatte. Sie leitet den Anruf direkt auf die Mailbox um und wirft das Handy aufs Bett. Schon ist Roland wieder hinter ihr und umfasst ihre Hüften. Seine Hände sind plötzlich überall und die sich in ihrem Unterleib ausbreitende Wärme macht ihr schmerzlich bewusst, dass sie schon wieder viel zu lange keinen Sex mehr hatte.
Wenn wir fertig sind, rufe ich zurück – aber keine Sekunde früher, denkt Katharina, während Rolands Fingerkuppen sanft um ihre Brustwarzen kreisen und alles um sie herum sich in Licht und Erregung auflöst.
*
Max Klee lächelt den beiden Hünen, die die Eingangstür zum großen Sitzungssaal bewachen, aufmunternd zu. Mit dem einen war er bei der Bereitschaft, aber der Kerl erinnert sich nicht an ihn: Er sieht auf ihn herab, wie Goliath auf David. Kleine Menschen werden gerne unterschätzt, denkt Max.
Vor einem Tipi, in dem wichtige Häuptlinge noch wichtigere Entscheidungen treffen, auf einen dieser Häuptlinge zu warten – oder in Klees Fall sogar auf zwei–, lässt einen Indianer noch ein bisschen bedeutungsloser wirken, als er es tatsächlich ist. Nicht nur in Bad Segeberg, denkt Max, sondern auch beim LKA in Rampe am Schweriner See, selbst wenn man sich hier schon längst seine Hörner abgestoßen hat.
Schließlich schiebt sich die schwere Bronzetür einen Spalt weit auf und zwei Männer gesetzten Alters, denen ihr Beamtentum aus jeder Pore strömt, zwängen sich flüsternd heraus. Beide tragen ähnlich graue Einreiher und die Beamtenblässe, die von einem Mangel an natürlichem Sonnenlicht zeugt. Nur die Farbe ihrer Krawatten unterscheidet sich: Während der eine ein kräftiges Grün bevorzugt, das seiner sterbenslangweiligen Erscheinung ein bisschen Leben einhaucht, trägt sein Kollege Grau in Grau, was ihn aussehen lässt wie einen Bestatter. Nur dass dieser Mann im Laufe seiner Karriere vermutlich mehr Menschen unter die Erde gebracht hat als alle Beerdigungsunternehmer aus dem mecklenburgischen Rampe zusammen.
»Sie haben hoffentlich einen guten Grund, uns aus einer Sitzung der Innenminister zu holen«, sagt der Grüne.
»Wir sind gleich dran«, drängt der Graue.
Ein Lächeln umspielt die Lippen des blonden Hünen neben der Tür.
»Ich hätte Sie nicht gestört, wenn mein Anliegen nicht wichtig wäre«, sagt Max.
Der Grüne übernimmt ohne Federlesens die Führung, lotst die Gruppe in ein Besprechungszimmer und schließt die Tür hinter ihnen.
Als alle in den schweren Lederfauteuils Platz genommen haben, zupft Klee nervös an seinen Ärmeln und ergreift das Wort.
»Grantzow. Es gibt Neuigkeiten.«
»Welcher Art?«, will der Grüne wissen.
»Es gibt Grund zur Annahme, dass sich eine Querverbindung zwischen dem Dorf und Ablegern der Reichsbürgerbewegung etabliert hat.«
Die Beamten sehen sich irritiert an.
»Sie meinen diese Irren, die sich selbst Fantasieausweise einer fiktiven Regierung ausstellen und gegen jedes Bußgeld den Rechtsweg einlegen, weil die BRD nicht legitimiert ist, sie zur Kasse zu bitten?«
»Ich glaube, Sie unterschätzen diese Leute. Die leugnen auch den Holocaust und lehnen die Demokratie ab. Von der anderen Sorte Neonazis unterscheidet die nur, dass sie eine andere Art der Unverfrorenheit zur Schau stellen. Ein Oberbürgermeisterkandidat der AfD hat letztes Jahr behauptet, seit dem Mauerfall gäbe es gar keinen souveränen deutschen Staat mehr, der ihm etwas zu sagen habe.«
Der Graue seufzt nachsichtig. »Dann haben wir jetzt also einen Haufen Ökospinner mit fragwürdiger Gesinnung auf der einen Seite und einen Haufen Durchgeknallter mit überkandidelten Webseiten und selbst gebastelten Sheriffsternen auf der anderen, die sich zum Tee treffen. Was gibt das? Einen Zwergenaufstand?«
Die beiden Herren röcheln ein Lachen, das so auch an einem Stammtisch gehört werden könnte.
Max Klee beugt sich weit nach vorne. »Die Grantzower haben etwas vor. Sie horten Lebensmittel, sie vernetzen sich deutschlandweit mit gefährlichen Gruppierungen und ich habe Informationen, dass ein Waffenlager angelegt worden ist.«
»Informationen von wem?«, will der Grüne wissen. »Etwa von Ihrer Verbindungsperson?«
Klee nickt.
»Ist das dieselbe V-Person, die uns mit ihrem Bericht von nackt ums Feuer hüpfenden Bauersfrauen erheitert hat?«
»Sie waren nicht nackt. Und es wurde Musik von verbotenen Gruppen gespielt.«
»Jaja«, spottet der Grüne, »ziemlich schockierend, diese außer Rand und Band geratenen unrasierten Weiber.«
Klee will widersprechen, aber der Grüne wehrt ab: »Hören Sie, Klee, Sie sind ein guter Polizist. Engagiert, clever, hartnäckig. Aber da haben Sie sich in etwas verrannt. Wir haben ein Verbotsverfahren gegen die NPD laufen, da sitzen die echten bösen Buben, und dass wir sie diesmal vielleicht drankriegen, liegt unter anderem auch daran, dass wir keine V-Leute mehr im Einsatz haben. Das ganze Konzept ist hinfällig. Dass Ihr Informant ein Fehlgriff ist, bestätigt das nur. Ich verstehe den Jungen ja: Jetzt, wo er weiß, dass er nicht in den Zeugenschutz kommt, kriegt er es mit der Angst zu tun. Also denkt er sich eine Weltverschwörung aus. Worauf steuert das in Grantzow denn Ihrer Meinung nach zu? Auf einen Krieg?«
Wohin das seiner Meinung nach führt, behält Klee tunlichst für sich. Wie auch die Tatsache, dass seine Verbindung nach Grantzow mehr als nur professioneller Natur ist. Die beiden Herren ihm gegenüber nehmen ihn ja jetzt schon nicht mehr ernst. »Mein Kontakt hat seine Leute verraten. Und ich habe ihm mein Wort gegeben, dass ich ihn da raushole.«
»Tut mir leid, aber was Sie eigenmächtig versprechen, dafür können Sie uns nicht in die Verantwortung nehmen. Was Ihr V-Mann bislang geliefert hat, war entweder völlig unbedeutend…«, erklärt der Graue.
»…oder erfunden«, vollendet der Grüne den Satz. Er erhebt sich, der Graue tut es ihm nach. »Damit ist alles besprochen, denke ich, oder wie sehen Sie das, Herr Kollege?«
»Herr Klee«, nickt der Graue dem Ermittler zu. Sein Mund lächelt jovial, während seine kalten Augen durch Max hindurchsehen.
»Wenn ich Ihnen Beweise für Waffen bringe, ändert das etwas an den Chancen für meinen Kontakt?«, ruft Max den Beamten hinterher, bevor sie wieder im Sitzungsraum verschwinden können.
Der Grüne dreht sich noch einmal um. Er wirkt beinahe belustigt. »Wenn Sie bis Ende übernächster Woche etwas liefern können – gerichtsverwertbare Beweise, urteilsrelevante Beweise–, dürfen Sie gerne einen Termin machen. Ansonsten räumen Sie und Ihre beiden Kollegen den Horchposten im Wald. Diese Sache zieht sich schon viel zu lange hin. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich diese Ressourcenverschwendung dem Direktor gegenüber weiter verkaufen soll. Aber ich warne Sie: Falls Sie uns noch mal wegen derartiger Albernheiten aus einer wichtigen Sitzung holen, sorge ich dafür, dass Sie im Anschluss in die Beschaffung versetzt werden. Bei einem renitenten Berliner Kollegen hat das Wunder gewirkt. Wenigstens eine Weile lang. Schönen Tag noch.«
Die Tür fällt ins Schloss und Max fühlt sich noch ein paar Zentimeter kleiner, als er sowieso ist.
*
Roland erbebt leise stöhnend unter ihr. Sie haben das Fenster geöffnet, aber die feuchtwarme Luft von draußen bringt keine Abkühlung. Katharina kann ihre sich sanft wiegenden, schweißglänzenden Körper als Silhouetten im Spiegel neben dem Badezimmer sehen, umwölkt von einer blauen Aura, die das Neonschild direkt neben dem Fenster auf sie projiziert.
Trotz seiner Erschöpfung gibt Roland sich alle Mühe, bei der Sache zu bleiben. Wie gesagt: ein echter Gentleman. Schließlich kommt die Welle und sie kommt so heftig, dass Katharinas Arme einknicken und sie auf ihn sinkt. Mit einem Zischen entweicht Luft aus seinen Lungen, während sie ihren Höhepunkt auskostet.
Die Zeiten postkoitaler Komplimente sind vorbei. Nach einer stummen Pause, in der außer schwerem Atmen nichts zu hören ist, gleitet er aus ihr heraus und rollt zur Seite. Roland zieht das Kondom ab und lässt es in den Mülleimer fallen. Er steigt aus dem Bett, lehnt sich gegen den kleinen Schreibtisch und zündet sich eine Zigarette an. Das schweißnasse Haar hängt ihm in die Stirn. Er ist fast doppelt so alt wie sie, aber gut in Form: an seinen Hüften kein Gramm Fett, die Geheimratsecken überschaubar. Nur dass er sich den Schambereich rasiert, findet Katharina albern, aber der Grund dafür ist wohl, dass er seine roten Haare selbst nicht leiden kann. Sein glänzender Penis wippt leicht auf und ab, er scheint zu pulsieren, und das bringt sie zum Lachen.
»Was?«
»Dein Ding bewegt sich.«
Roland sieht an sich herunter und lacht ebenfalls. »Dehnübungen.«
Die Glut leuchtet mit einem Knistern auf.
»Wolltest du nicht aufhören?«
»Nach der nächsten HTX.«
»Du bist doch gar kein Herzchirurg.«
»Eben drum.« Da ist es wieder – sein jungenhaftes Lächeln. Dafür ist Katharina ihm gegen alle Vernunft verfallen.
Sie starrt an die Decke. Lichtreflexe von Autoscheinwerfern, Taxis, die Leute ins Hotel bringen und wieder dort abholen. Ein ständiges Kommen und Gehen. Das genaue Gegenteil von Zuhause, von Heimat. Das Gefühl der Verlorenheit, das sie schon in der Eingangshalle erfasst hat, kehrt zurück und macht ihr das Herz schwer. Sie hört sich seufzen.
Roland versucht, ihre Stimmung zu heben: »Ich rede diese Woche mit Steffens. Wegen der Stationsleitung. Gibt keinen Grund, warum du die Stelle nicht kriegen solltest. Du bist am besten von allen qualifiziert.«
»Du weißt, dass ich…«
»Dass du nicht deshalb mit mir schläfst? Weiß ich.« Er drückt die Zigarette aus, kommt zu ihr ans Bett und küsst sie auf den Bauchnabel. »Du bist einfach zu gut für diese Welt, Katharina.«
Der leichte Duft von Zigarettenrauch weht in ihre Nase und sie dreht sich zur Seite. Rauchende Ärzte waren Katharina schon immer ein Graus. Und noch grauenhafter findet sie, dass es so viele davon gibt.
Roland geht zurück zum Stuhl, zieht sich an, zuletzt schlüpft er in den weißen Kittel. Er tut es bedächtig und sehr sorgfältig, so wie er auch seine Arbeit erledigt. Noch ein paar Jahre, dann wird er die Klinik verlassen und eine eigene Praxis eröffnen. Er wird ein guter niedergelassener Arzt sein: sorgfältig und clever und humorvoll. Sie wird kein Teil dieser Zukunft sein, da macht sie sich keine Illusionen.
Er setzt sich ans Bett. Gleich wird er sein Stethoskop herausholen und seine Patientin abhören, denkt sie. Dann wird er sie abtasten. Wenn er die geheimen Stellen erreicht hat, wird sie ihn ins Bett ziehen und sie werden noch mal von vorne anfangen.
Stattdessen zieht er zwei Eintrittskarten aus der Innentasche des Kittels.
»Im Kellertheater geben sie Biedermann und die Brandstifter. Steffens hat die Karten gewonnen, aber er muss auf eine Konferenz, und da hat er sie an mich weitergereicht. Ich dachte, du hast vielleicht Lust?«
»Du gehst mit mir ins Theater?« Katharina ist sich nicht sicher, ob sie träumt.
Roland lächelt gequält. »Frag doch Leonie, ob sie dich begleitet.«
Er hat es geschafft, ihre Gefühle innerhalb weniger Augenblicke auf eine Achterbahnfahrt zu schicken. Es kostet sie sehr viel Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Natürlich bemerkt er das verdächtige Schimmern in ihren Augen, dumm ist er nicht.
»Hast du Lust, noch was mit mir zu essen?«
»Fürchtest du dich nicht, im Restaurant mit mir gesehen zu werden?« Es klingt sarkastischer, als es gemeint ist.
Roland sieht hilflos aus, wie soll er darauf auch reagieren. Die ehrliche Antwort wäre: »Klar habe ich Angst davor, aber wenn ich dich jetzt alleine in diesem kargen Hotelzimmer zurücklasse, verletzt und traurig, kann ich mir gleich eine andere Stationsschwester zum Vögeln suchen.«
»Tut mir leid, Katharina. Ich weiß doch, dass das alles dämlich ist. Dass ich dämlich bin.«
Immerhin – so etwas wie Selbstkritik. Der Wasserstand in ihren Augen sinkt. Sie versucht, zuversichtlich zu klingen: »Lass die Karten hier. Vielleicht frage ich Leonie wirklich. Obwohl die wohl lieber ins Fundbureau geht.«
Er legt die Karten auf den Nachttisch und steht auf. »Soll ich dich in die Klinik mitnehmen?«
Sie schüttelt stumm den Kopf. Sie will noch duschen. Und sie will sich die Demütigung ersparen, von ihm an der Lübecker rausgelassen zu werden, damit die Kollegen sie nicht zusammen kommen sehen. Dann fährt sie lieber gleich mit der U-Bahn wie jeder vernünftige Single.
Nachdem er gegangen ist, liegt sie noch eine Weile auf dem Bett, lauscht den Geräuschen vor dem Hotel. Eine Frau traktiert jemanden mit unflätigen Beschimpfungen, ihre Stimme schraubt sich regelrecht in eine Hysterie hinein. Dann verstummt die Stimme ganz plötzlich.
Katharina denkt daran, dass Roland und sie nie eine normale Beziehung führen werden. Nie werden sie nebeneinander in einem Doppelbett aufwachen und Frühstück für gemeinsame Kinder machen. Nie gemeinsam in den Sommerurlaub fahren, auf den Weihnachtsmarkt gehen oder an einer Kreuzfahrt teilnehmen. Wie gehabt, werden sie sich alle paar Wochen in einem Hotel ohne Empfang treffen, um Sex zu haben – mal mehr, mal weniger flott–, und das Zimmer verlassen, bevor einer von ihnen auf die Idee kommt, Ansprüche an den anderen zu stellen. Jahrelang wird das so gehen. Bis zu dem Tag, wo eine andere Frau unten im Fahrstuhl darauf wartet, dass ihr Sugardaddy sie abholt. Eine jüngere.
Vielleicht ist es besser, einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen, denkt sie. Pimmel-Dehnübungen hin oder her.
Den Anruf auf ihrem Handy hat Katharina Hofmann in diesem Moment vergessen.
*
Zwei Männer, einer im Anzug, der andere in Jogginghose, Feinripp und Jeansjacke, stehen um einige große Metalltonnen herum. Jemand hustet leise. Im schwachen Licht erkennt man gerade so, dass eine der Tonnen mit dem roten Gefahrenkennzeichen für hochentzündliches Material beklebt ist, was der Anzugträger aber nicht sehen kann. Im Hintergrund verlaufen Dachbalken diagonal zum Boden.
»Herr Schmitz…«, setzt der Anzugträger zögerlich an und legt eine Hand auf die Tonne.
Der andere, den Blick fest auf sein Handy gerichtet, wirkt abwesend. Sein Gesicht leuchtet teuflisch im kalten Widerschein des Displays.
»Hmm?«
»Sie versprechen es mir aber: Sie sind wirklich kein Brandstifter?«
Schmitz sieht auf, öffnet den Mund, als wolle er etwas sagen, beginnt dann aber stattdessen zu lachen. Er lacht so heftig, dass die Speichelfetzen fliegen, und klopft dem Anzugträger auf die Schulter, als hätte dieser einen besonders amüsanten Witz erzählt.
Katharina schüttelt innerlich den Kopf. Sie kann nicht nachvollziehen, dass jemand wie dieser Fabrikant so ignorant sein kann. Fast hat es den Anschein, als wollte er gar nicht sehen, was für alle anderen offensichtlich ist. Wenn Leonie jetzt da wäre, würden sie bedeutungsvolle Blicke wechseln oder genervt mit den Augen rollen. Aber Leonie hat einen Abend im Technoklub dem Besuch des Kellertheaters vorgezogen. Ansonsten hat Katharina nicht viele Freunde in dieser Stadt und von den wenigen ist keiner besonders theaterbegeistert.
In diesem Moment vibriert es in ihrer Tasche. Vorsichtig zieht sie das Handy heraus. Ihr Nebenmann schenkt ihr einen despektierlichen Blick.
Eine Nachricht aus der WhatsApp-Gruppe der Stationsschwestern. Mandy ist krank. Ob jemand heute Abend einspringen kann. Im Sekundentakt gehen die Antworten ein. Steffi, Cora, Tulay, alle unabkömmlich.
Der Sitznachbar räuspert sich. Als Katharina zu ihm schaut, weist er sie stumm mit den Augen zurecht. Sie ignoriert ihn, verfasst ihre Antwort. Natürlich wird sie einspringen. Wie das letzte und das vorletzte Mal, wie die Male davor. Von der angehenden Stationsleitung darf man überdurchschnittliches Engagement erwarten. Und sie will diesen Job, mehr als alles andere.
Zehn Minuten später geht es in die Pause. Katharina holt ihren Mantel von der Garderobe und verlässt das Kellertheater – neben der Sektbar sieht sie ihren Sitznachbarn mit seiner Frau oder Freundin tuscheln, sie folgen ihr mit ihren Blicken und schütteln die Köpfe. Eine Kulturbanausin ist sie, jawohl. Dabei würde es sie schon interessieren, ob dieser Schmitz am Ende tatsächlich die ganze Stadt abfackelt.
Vermutlich nicht, jemand wird ihm das Handwerk legen. Eine Welt voller solcher Typen wäre ja ein Pulverfass.
Katharinas Fußweg vom Theater nach Hause, wo sie in ihre Arbeitskleidung schlüpfen will, bevor sie sich auf den Weg in die Klinik macht, führt durch den Park Planten un Blomen und über den Sievekingplatz. Die drei Kerle mit den dunklen Lederjacken, den glasigen Augen und den schlechten Zähnen bemerkt sie schon in Höhe des Landgerichts. Sie sitzen an einer Bushaltestelle, lassen eine Flasche kreisen. Sie spürt ihre Blicke im Nacken, hört ihre schweren Zungen, die in einer fremden Sprache miteinander palavern, nur gelegentlich unterbrochen von heiserem Lachen.
Als sie links ins Heiligengeistfeld abbiegt, wird ihr klar, dass die Stimmen nicht leiser werden, wie erwartet: Die Männer folgen ihr.
Ihr Herz klopft wie verrückt. In der linken Manteltasche befindet sich normalerweise das Pfefferspray, aber Katharina greift ins Leere. Zweites Pfefferspray kaufen, notiert sie sich auf ihrer mentalen To-do-Liste. Oder besser noch: eines für jede Jackentasche. Sie beschleunigt ihren Gang. Aber die Schritte der Männer kleben nicht nur an ihr, sie scheinen sogar näher zu kommen.
Hinter den Sportplätzen hat die Angst sie so weit im Griff, dass sie eine Entscheidung von der Sorte fällt, die man in klischeehaften Horrorfilmen sieht und dabei ungläubig den Kopf schüttelt. Statt auf dem Heiligengeistfeld zu bleiben, wo wenigstens eine Chance besteht, dass ihr ein Passant begegnet, beschließt sie, in einen Seitenweg abzubiegen. Eine Abkürzung zur U-Bahn-Station, wo es mehr Leben und Licht gibt. Auf halbem Weg entdeckt sie die provisorischen Bauzäune, die den Durchgang verstellen. Als sie sich umdreht, biegen die drei Gestalten um die Ecke.
Sie sitzt in der Falle.
Ein Bauschuttcontainer bietet ihr fürs Erste Sichtschutz, aber sie ist sich völlig im Klaren, dass ihre Verfolger sie früher oder später finden werden. Sie zieht ihr Handy aus der Handtasche, wählt mit zitternden Fingern den Polizeinotruf. Viel mehr als ihren Standort und die Lage, in der sie sich befindet, kann sie nicht mitteilen, da hört sie erneut die Schritte. Mitten im Gespräch legt sie auf. Was die Stimme am anderen Ende der Leitung an Verhaltensratschlägen parat hat, hört sie nicht mehr. Es drängt sie, sich auf den Boden zu kauern, sich klein zu machen, sich so winzig zusammenzurollen, dass die Männer sie übersehen. Aber das wäre das falsche Signal. Sie will sich nicht selbst zum Opfer machen.
Stattdessen entscheidet sie sich für einen Überraschungsangriff. Sie packt ihre Handtasche fest und sprintet los, so gut das mit den hohen Absätzen geht. Sie wird die Männer einfach überrumpeln, an ihnen vorbeirennen, sie falls nötig zur Seite stoßen. Die werden gar nicht realisieren, was ihnen geschieht.
Aber als sie den Schutz des Containers verlassen hat, stehen die drei breitbeinig nebeneinander auf dem Weg und zwischen ihnen ist kein Durchkommen. Als hätten sie Katharina erwartet. Sie kommt abrupt zum Stehen. Einer, der Älteste, wie es scheint, greift reflexartig in die Tasche seiner Lederjacke, zieht ein Messer heraus und legt bedeutungsvoll den Finger auf die Lippen.
Er richtet das Wort an seinen direkten Nachbarn, einen Jungen mit Milchbart.
Es geht um »dikkat« und um »kösche«, Katharina hat keine Ahnung, was das bedeuten soll, aber der Junge widerspricht dem Älteren, bis dieser Befehle bellt und der Junge sich widerwillig fügt. Mit wachsender Panik beobachtet sie, wie der Milchbart zurück zum Gasseneingang schlendert und sich an der Ecke postiert, wo er sich eine Zigarette anzündet und die Umgebung sondiert. Immer wieder sieht er zu ihr her, mit gieriger Erwartung in den Augen. Wenn die anderen mit ihr fertig sind, wird auch er zum Zug kommen.
»Önlemek«, sagt der Alte und sein Nebenmann dreht sich mit dem Rücken zu ihr.
Ein Telefon klingelt, aber es ist nicht ihres. Der Junge, der an der Ecke Schmiere steht, ruft etwas, der Alte dreht sich kurz um. Diesen Moment nutzt Katharina. Auf ihrem Handy sucht sie die Klingeltöne heraus, sie braucht einen ganz bestimmten, legt den Daumen über das Play-Symbol, und als der Alte sich Augenblicke später wieder zu ihr umdreht, hält sie das Handy bereits hinter dem Rücken versteckt. Die Messerspitze weist in ihre Richtung. Sie spürt das kalte Glas des Handybildschirms unter ihrem Daumen.
Weit entfernt erklingt die Sirene eines Streifenwagens.
Ihr Daumen ertastet die Lautstärkeregler an der Seite des Gehäuses, die Sirene wird etwas lauter.
Der Alte dreht sich erschrocken um, ruft dem Jungen etwas zu. Der Junge zuckt verwirrt die Schultern. Katharina erhöht die Lautstärke weiter und wundert sich selbst, dass die Männer den Trick nicht durchschauen. Aber die Sirene klingt ziemlich echt, die Mauern des neben ihr im Dunkeln aufragenden Stadions werfen das Geräusch zurück und verschleiern seine Herkunft, außerdem sind die Männer ziemlich angetrunken.
Bevor die Lautstärke ein weiteres Mal ansteigt, treten die Kerle endlich den Rückzug an. Einen letzten wehmütigen Blick wirft der Alte ihr zu, bevor er und seine Kumpane sie unbehelligt in der Gasse zurücklassen und hinter der Ecke verschwinden.
Katharina muss sich am Container festhalten, um nicht vor Schwäche umzukippen. Mit einem Klappern fällt das Handy zu Boden und schlittert über den aufgeworfenen Teer. Die Tränen kommen schnell, aber sie verebben genauso rasch.
Als sich ihr Puls beruhigt hat, fährt sie durch ihr Haar und wischt die Feuchtigkeit von den Wangen. Dann setzt sie ihren Weg fort.
Sie kommt nur wenige Schritte weit. Noch bevor sie den Ausgang der Gasse erreicht, taucht der Schatten einer großen schlaksigen Gestalt an der Ecke auf.
Ihr Verstand ist zu langsam, um zu verstehen, was in diesem Moment passiert: Eine kräftige Hand umschließt ihren Hals und stößt sie brutal gegen eine Betonmauer.
Als ihr Blick und ihr Denken sich klären, ist der Milchbart über ihr, und während sein alkoholischer Atem über ihr Gesicht streicht, öffnet er mit der anderen Hand den Knopf seiner Jeans.
»Ich mach dich aus, Schlampe!«
Der Streifenbeamte gibt Katharina den Ausweis zurück, nachdem er ihre Personalien umständlich mit einem Kugelschreiber in ein Formular eingetragen hat. Auf seinem Uniformhemd ist sein Name eingestickt: Çetin.
»Mir wäre trotzdem wohler, wenn Sie sich in einem Krankenhaus durchchecken lassen. So eine Sache ist kein Pappenstiel. Manchmal setzt der Schock erst Stunden später ein.«
»Ich bin quasi auf dem Weg dorthin.«
Er zieht eine Augenbraue hoch.
»Ich arbeite im Marienkrankenhaus. Wenn ich nachher im Nachtdienst bin, lasse ich mich von einem Kollegen anschauen.« Einen Teufel wird sie tun, sich von jemandem untersuchen zu lassen, mit dem sie denselben Stempelautomaten benutzt. Aber sie muss dringend zur Arbeit und der Polizist, auch wenn er es gut meint, steht ihrer Pflicht im Weg.
Der wiederum kämpft mit seiner Pflicht – für ihr Wohlergehen und ihre Sicherheit zu sorgen. Aber weil Katharina ihr unwiderstehlichstes Krankenschwesternlächeln aufsetzt, gibt er sich geschlagen.
»Also gut, aber dann fahren wir Sie wenigstens direkt in die Klinik.«
»Da sage ich nicht Nein. Aber lassen Sie mich bitte nicht direkt vor der Eingangshalle, sondern an der Lübecker raus, sonst denken die Kollegen noch wer weiß was von mir.«
Das große Zittern überfällt sie auf halbem Weg zur Arbeit. Sie sitzt auf dem Rücksitz des Streifenwagens, eingelullt von Funksprüchen, der Wärme im Innenraum und der Vibration des Motors. Sie hört, wie ihre Zähne klappern. Ihr Blick und der des Polizisten treffen sich im Rückspiegel. Sie versucht, ihn mit einem Lächeln zu beruhigen. Diesmal lächelt er nicht zurück. Er hat genug Opfer von Gewalttaten gesehen, um zu erkennen, wann die Fassade bröckelt.
Fünf Minuten später kommt der VW Passat an der U-Bahn-Haltestelle Lübecker Straße zum Stehen. Der Beifahrer dreht sich um. Seine Lederjacke knarzt bei der Bewegung.
»Ein wohlmeinender Rat: Suchen Sie einen Arzt auf. Manchmal hält man sich für stärker, als man ist.«
»Vielen Dank, dass Sie rechtzeitig gekommen sind. Ein paar Augenblicke später, und der Kerl hätte mich tatsächlich vergewaltigt.«
»Und Sie wollen wirklich kein Phantombild anfertigen lassen? Wir kriegen mithilfe der Öffentlichkeit immer wieder Täter aufgrund von Beschreibungen der Opfer.«
Sie will nicht. Im Moment ist ihre Erinnerung verschwommen, wie hinter einer Milchglasscheibe. Irgendwann wird jemand die Scheibe zur Seite ziehen und sie wird klare Sicht auf das Gesicht des Mannes haben. Dann wird sie zur Polizei gehen. Aber nicht heute.
Unwillkürlich streichen ihre Finger über ihren Kehlkopf. Die Haut brennt.
»Ich melde mich, sobald ich mich wieder an Einzelheiten erinnern kann. Versprochen.«
»Machen Sie’s gut, Frau Hofmann.«
Es hört sich oft eigenartig an, wenn ein Wildfremder einen bei Namen nennt. Aber nicht hier und nicht jetzt.
Sie steigt aus und schlägt die Tür zu. Der Streifenwagen fädelt in den Verkehr auf der Lübecker ein. Noch bevor er am Ende der Straße aus ihrem Sichtfeld verschwindet, leuchtet das Blaulicht auf.
Der nächste Einsatz. Ein Einbruch, eine Schlägerei oder eine Vergewaltigung. Eine von einer Handvoll an diesem Tag. Katharinas Überfall ist nicht der Anfang und nicht das Ende dieser Nacht. Sie ist nur eines von vielen Opfern.
Und sie hat noch Glück gehabt.
Die junge Frau, die zwei Stunden später in die Notaufnahme gebracht wird, wird intubiert. Ihre Pupillen gleichen schwarzen Zehncentmünzen und ihre Füße sind nackt und dreckverkrustet. Der Anblick der Strangulationsmale an ihrem Hals bringt Katharina, die seit ihrer Ankunft die Geschehnisse am Heiligengeistfeld verdrängt hatte, schmerzliche Erinnerungen zurück.
Während sie die Liege in den OP 3 schieben, Katharinas Blick ist zumeist fest auf den Pulsoxymeter gerichtet, zwinkert Roland ihr verschwörerisch zu. Mehr Kommunikation am Arbeitsplatz ist zwischen ihnen kaum drin und für jemanden mit Mundschutz und Haube auch ziemlich schwierig. Die Krankenhausleitung heißt Beziehungen zwischen Ärzten und Schwestern nicht gut. Und solche zwischen Topchirurgen und angehenden Stationsleitungen in einer konfessionellen Klinik ganz sicher noch weniger. Die Edelstahltüren schieben sich zu, und Roland und das Mädchen verschwinden dahinter wie ein Schatz im Tresor einer Bank.
Katharina kehrt ins Stationszimmer zurück, in Zimmer 14 leuchtet ein Lämpchen auf: Der alte Stackelberg, Kapitän zur See a.D., braucht irgendetwas, vermutlich vor allem Gesellschaft. Aber sie fühlt sich außerstande, seine frauenfeindlichen Witze zu ertragen. Erschöpft lässt sie sich auf eine Liege sinken und kämpft gegen die Tränen. Die Hand an ihrer Kehle lässt ihr keine Ruhe. Eine schwielige, raue Hand, die Fingernägel ungepflegt, der ungewaschene Geruch. In den letzten dreißig Minuten hat Katharina mehrmals das beklemmend realistische Gefühl gehabt, die Hand des Milchbarts würde sie erneut packen und gegen die nächste Wand pressen. Es ist unmöglich, sich gegen diese Visionen zur Wehr zu setzen.
Die Tür schwingt auf und Leonie kommt herein. Ihr hell blondiertes Haar glänzt unter der Neonbeleuchtung wie eine Perücke, und obwohl sie ebenso viele Nachtdienste hinter sich hat wie Katharina, bewegt sie sich mit der Energie der unbekümmerten Jugend.
»Hast du die Kleine gesehen?«, will sie wissen. »Die war ja höchstens fünfzehn.«
»Ich hab die Striemen am Hals bemerkt. Hat sie versucht, sich umzubringen?«
Leonie nickt. »Dr.Keller sagt, sie hing ziemlich lange, bis ihr Vater sie gefunden hat. Ihr Gehirn hat ordentlich was abgekriegt. Die macht kein Abitur mehr.«
Erst jetzt bemerkt Leonie Katharinas Zustand. Mit vorsichtigen Schritten geht sie zur Liege und legt ihr eine Hand auf die Schulter.
»Geh nach Hause, Kathi. Jeder hier hat Verständnis dafür, dass du durch den Wind bist.«
»Ist schon wieder okay. Es ist nicht nur der Überfall. Immer dieses Kunstlicht hier drinnen tut mir auch nicht gut. Und ich hatte wenig Schlaf die letzten Nächte.«
Auf Leonies Gesicht macht sich verschwörerische Neugier breit. »Es ist doch nicht etwa – jemand aus der Klinik?«
Katharina setzt eine ratlose Miene auf, aber Leonie durchschaut sie. »Komm schon, verkauf mich nicht für dumm. Immer mal wieder übernachtest du aushäusig, aber aus dem ›wo‹ und ›mit wem‹ machst du ein Staatsgeheimnis. Das ist also der Grund für deine Müdigkeit.« Sie sieht Katharina so durchdringend an, dass es unmöglich ist, sie anzulügen. Eigentlich ein Wunder, dass Leonie nicht schon längst spitzgekriegt hat, was läuft.
»Er will nicht, dass man es an die große Glocke hängt.«
Theatralisch schlägt Leonie die Hände über dem Kopf zusammen. »O Gott, das ist ja schlimmer als befürchtet: Er ist verheiratet!«
In diesem Moment geht die Tür zum Schwesternzimmer auf und ein Kopf unter einer grünen Haube lugt herein. Der Mundschutz baumelt lose von Rolands Ohr. »Schwester Katharina, ich bräuchte Sie mal kurz im Verbandszimmer.«
Sie sieht erschrocken erst zu Roland, dann zu Leonie. Das Schicksal macht sich lustig über sie. Aber Leonie rollt mit den Augen, sie hält Dr.Roland Keller für ein arrogantes Arschloch, etwas, das Katharina in diesem Moment sehr zupasskommt. Von allen potenziellen Liebhabern ist Roland in den Augen ihrer Mitbewohnerin sicher der unwürdigste.
»Ich bin gleich da.«
Roland verschwindet mit einem Zwinkern im Gang.
Leonie verdreht die Augen.
Nach einem Moment der Überlegung nimmt sie Katharina in den Arm. »Jedenfalls finde ich es bewundernswert, wie stark du bist.«
Sie löst die Umarmung. Bevor Katharina das Stationszimmer verlässt, ruft Leonie ihr hinterher, ob sie nach Dienstschluss einkaufen könne, der Kühlschrank zu Hause sei schon wieder bedrohlich leer.
*
Auf die Nachtschicht, die Katharina für die ausgefallene Kollegin übernommen hat, folgen zwei weitere reguläre Nachtdienste. Am Donnerstagmorgen um Viertel vor sieben steigt sie in die U3Richtung Barmbek. Sie fühlt sich körperlich und geistig völlig ausgelaugt. Jetzt hat sie zwei Tage frei, und die wird sie im Bett verbringen.
Der Wagen ist überfüllt mit Berufspendlern, die meisten wirken wie Zombies, die auf ihre Handydisplays starren; jemand raschelt mit einer Zeitung. Ein paar Kinder auf dem Schulweg lachen am anderen Ende des Waggons. Auf den für Behinderte und Senioren reservierten Plätzen haben sich zwei pubertierende Jungs breitgemacht und ihre Füße auf die gegenüberliegende Bank gelegt. Immer mal wieder tuschelt jemand im Gang über die respektlose Jugend von heute, aber niemand bringt den Mut auf, die beiden zurechtzuweisen.
Am Berliner Tor besteigt eine junge Frau den Wagen. Ihre Haut hat die Farbe von Milchkaffee und sie ist hochschwanger. An ihrem schweren Keuchen ist zu erkennen, wie mühevoll selbst eine einfache Fahrt mit der U-Bahn für sie ist. Die Menschen im Gang öffnen eine Gasse, um die Frau zu den Sitzplätzen durchzulassen.
»Entschuldigung«, macht die Schwangere mit leiser Stimme auf sich aufmerksam.
Einer der Jungen hebt kurz den Blick von seinem Handybildschirm, nur um sich diesem dann mit noch mehr Interesse als zuvor zu widmen.
Katharina kann es nicht fassen. Und noch unfassbarer scheint ihr, dass niemand im Waggon Partei für die Frau ergreift.
»Hey!«, ruft sie den Jungen zu. Der mit dem Handy blickt erneut auf. »Mach bitte mal Platz für die Frau hier. Du siehst doch, dass sie den Sitz viel dringender benötigt als du.«
Gleichmütig schiebt der Junge das Handy in die Hosentasche, nimmt die Sneakers vom Sitz und steht auf. Obwohl er kaum älter als sechzehn ist, überragt er Katharina um Haupteslänge. Ohne ihn überhaupt zu beachten, schiebt er einen grauen Schreibtischtäter zur Seite, der sich das auch noch widerstandslos gefallen lässt, baut sich vor Katharina auf und sieht auf sie herunter.
»Mach mich nicht an, sonst mach ich dich aus, Schlampe.«
Ich mach dich aus, Schlampe.
Ich mach dich aus, Schlampe, echot es in ihrem Kopf.
Sie schluckt. Eine heiße Welle überrollt sie und dann bewirkt die unerwartete Übereinstimmung der Situation, dass etwas in ihr zerspringt wie feines Glas: vermutlich die hauchdünne Hülle, die ihr Nervenkostüm mit letzter Kraft zusammengehalten hat. Die Welt verengt sich zu einem schmalen Korridor, Katharina hört sich laut schluchzen und im nächsten Moment ist sie umgeben von einem Wald aus Beinen, Schuhen und Aktentaschen.
Die Tränen kommen und es scheint, als ob nichts und niemand sie aufhalten kann.
Als fünfzehn Minuten später die Sanitäter eintreffen, ist Katharina Hofmann nach wie vor nicht ansprechbar.
Die Oberlichter rauschen durch Katharinas Gesichtsfeld wie Sternschnuppen. Jedes Mal wenn sie durch ein Tor in eine weitere Station rollen, rumpelt die Sanitätsliege unter ihr. Ihr ist kalt und ein wenig übel. Jemand beugt sich über sie und trocknet ihr Gesicht mit einem Tuch, eine warme Hand tätschelt ihren Arm. Die Stimmen um sie herum klingen seltsam vertraut.
»Auf keinen Fall ins Marienhospital«, darum hat sie schon im Rettungswagen gebeten, und auch jetzt noch versucht sie, es zu sagen, aber es klingt wie das Krächzen einer heiseren alten Frau. Sie kann mit allem leben, aber dass ihre Kolleginnen sie so sehen, ein nervliches Wrack, das darf nicht sein.
Die Lichter erlöschen, die Stimmen hören sich plötzlich gedämpfter an, sie wird in ein Bett gehoben und jemand richtet das Kopfteil auf, sodass sie sich umsehen kann. Ein kahles Krankenhauszimmer, an der Wand ein großes Kruzifix, wie in jedem Raum in dieser Klinik. Als sie aus dem Fenster sieht, erkennt sie die vertrauten Dächer von Hohenfelde.
»Wir haben ein Einzelzimmer organisiert, jedenfalls solange wir genug Platz haben«, sagt eine Stimme und verstummt, als die Zimmertür sich schließt.
Sehr lange, einige Stunden möglicherweise, liegt Katharina einfach nur da, unfähig, sich auf irgendetwas zu konzentrieren. Bilder wirbeln in ihrem Kopf herum: die Gasse am Heiligengeistfeld, die Jungs aus der U-Bahn, regennasse Bürgersteige, ein zerwühltes Hotelbett. Dann beginnt alles von vorne. Gelegentlich kommt jemand ins Zimmer, fühlt ihre Stirn, stellt eine Kanne Tee ab oder eine kleine Vase mit Blumen. Als die Sonne schon tief steht, betritt ein Mann im weißen Kittel das Zimmer. Er setzt sich neben sie auf einen Stuhl, schlägt lässig ein Bein über das andere. Sein würziges Aftershave erfüllt die Luft: Azzaro – sein Lieblingsduft.
»Na, du machst mir ja Sachen, Katharina.«
»Ich wollte nicht hierher. Aber sie haben nicht auf mich gehört.«
»Warum? Traust du unserer ärztlichen Kunst nicht?« Es soll sie aufheitern, aber ihr ist nicht nach Witzen zumute. Sie starrt an die Wand und kämpft gegen die aufsteigenden Tränen.
»Tut mir leid, dass ich erst jetzt kommen konnte. Unten ist die Hölle los. In zehn Minuten muss ich wieder im OP stehen.«
»Ich wollte nicht, dass du mich so siehst.« Das Kissen wird von ihren Tränen feucht.
»Jetzt ruhst du dich erst mal aus und kommst zu Kräften. So ein Überfall nimmt einen doch mehr mit, als man denkt. Ich sage der Kollegin auf Station, sie soll dir ein Schlafmittel für die Nacht geben.«
»Ich will nicht noch mehr Medikamente.«
Roland nickt bedeutungsschwer. Dieses Nicken kennt Katharina gut: Ärzte setzen es gern bei renitenten Patienten ein.
»Kann ich sonst noch was für dich tun?«
»Jetzt wo alle denken, dass ich ein Psycho bin, krieg ich die Stationsleitung auf keinen Fall.«
»Ach Katharina, das ist doch jetzt das geringste Problem. Werde erst mal wieder fit. Der Rest ergibt sich.«
»Hast du schon mit Steffens gesprochen?«
»Nein.«
»Wirst du es tun?«
»Eins nach dem anderen. Mach dir keinen Kopf und komm auf die Beine.«
Er wird es nicht tun, da ist sie sich in diesem Moment sicher. Er hat einen Ruf zu verlieren.
Die Tür geht auf, eine Kollegin marschiert mit einem Tablett herein. »Abendbro… oh, Herr Dr.Keller, was machen Sie denn hier?«
Roland steht ohne Hast vom Stuhl auf. Er lässt sich überhaupt nichts anmerken. »Ich wollte nur sichergehen, dass die Kollegin gut behandelt wird«, feixt er. »Und Sie, Schwester Katharina, sehen zu, dass Sie bald wieder auf dem Damm sind. Wir vermissen Sie jetzt schon in den Katakomben.«
Mit diesen Worten verlässt er den Raum. Sie hört seine Birkenstocksandalen auf dem Flur klappern.
Die Kollegin stellt das Tablett auf dem Tisch ab und guckt ratlos. »Was ist denn in den gefahren?«
Katharina zuckt die Schultern. Wie alles andere ist ihr auch das völlig egal.
»Soll ich ein Telefon bringen? Damit Sie Ihre Angehörigen informieren können?«
Ihre Angehörigen. Sie sollte ihre Mutter anrufen, oder wenigstens Sara. Ihre Mutter wird ihr Vorhaltungen machen, von wegen Leichtsinn. Für einen Anruf bei ihrer Schwester ist Katharina noch zu stolz.
Es ist ja auch nichts wirklich Schlimmes passiert: keine echte, sondern nur eine Beinahe-Vergewaltigung.
Also lehnt sie das Angebot der Schwester ab.
Zwei Tage später wird Katharina aus dem Marienkrankenhaus entlassen. Roland hat sich nicht mehr blicken lassen. Die kleine Tasche unter den Arm geklemmt, die Leonie ihr von zu Hause mitgebracht hat, nimmt sie den Aufzug direkt in die Tiefgarage, damit sie nicht durch die Eingangshalle gehen muss, wo sie auf Kollegen treffen könnte.