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Das Smartphone hat das Leben von mittlerweile fünf Milliarden Menschen auf dieser Erde in den letzten Jahren massiv verändert. Viele sehen nur die positiven Seiten, wenige machen sich Gedanken um die negativen Auswirkungen für unser Denken, Fühlen und Handeln. Smartphones schaden der Gesundheit, der Bildung und der Gesellschaft insgesamt! Es wird höchste Zeit, dem Hype durch Fakten zu begegnen. Wann wachen wir endlich auf? In den letzten zehn Jahren hat das Smartphone die Welt mit enormer Geschwindigkeit erobert und den Alltag für seine vier Milliarden Nutzer verändert wie keine technische Neuerung zuvor. Von morgens bis abends, bei der Arbeit und im Privatleben: ohne Smartphone scheint einfach nichts mehr zu gehen. Über die gesundheitlichen Folgen machen sich mittlerweile sogar Investoren und Unternehmer Gedanken. Der Chef von Apple empfiehlt, Smartphones nicht in Schulen zu verwenden, der französische Präsident verbietet sie dort ganz und Süd-Korea hat seit Jahren Gesetze zum Schutz der Jugend vor den schlimmsten Folgen der Handynutzung. Smartphones schaden der Gesundheit, der Bildung und der Gesellschaft insgesamt! Wann wachen wir endlich auf? »Spitzer ist ein ›Psychiater zum Anfassen‹. Er verspürt einen Auftrag. Er versteht sich nicht nur als Wissenschaftler, sondern in erster Linie als Arzt, der helfen will.« Deutsches Ärzteblatt »Spitzer hat ein Anliegen. Er will die Menschheit vor der Verblödung bewahren, die ihr unweigerlich durch Computer, Handy, Fernsehen sowie das Navi im Auto droht und von digitalen Dealern überall auf der Welt befeuert wird.« Süddeutsche Zeitung »Der Ulmer Psychiater und Hirnforscher Manfred Spitzer will vor allem aufrütteln und klarmachen, wie schädlich und ungesund das digitalisierte Leben ist.« Psychologie heute »Spitzer ist ein Wissenschaftsentertainer, der aus eigener Quelle schöpft. Er schlägt nur deshalb die Pauke, weil er will, dass seine Erkenntnisse in den Kinder-, Lehrer- und Ministerzimmern gehört werden.« Stuttgarter Nachrichten
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Seitenzahl: 385
Manfred Spitzer
Die Smartphone-Epidemie
Gefahren für Gesundheit, Bildung und Gesellschaft
Klett-Cotta
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Klett-Cotta
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unter Verwendung eines Fotos von © shutterstock / Chones
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Printausgabe: ISBN 978-3-608-98560-3
E-Book: ISBN 978-3-608-11505-5
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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Vorwort
1.
Smartphones, Gesundheit, Bildung und Gesellschaft
Bildschirmmedien, Informationstechnik, Digitalisierung
Smartphones: Weltweit, ohne Technologiefolgenabschätzung
Gesundheit
Übergewicht, Adipositas und Schlafstörungen
Diabetes, Bluthochdruck und koronare Herzkrankheit (
KHK
)
Seelische Störungen
Bildung
Digitale Demenz
Gesellschaft und Sozialverhalten
Vertrauen
Radikalisierung
Wahrheitsverlust
Manipulation und Unterminierung der Demokratie
2.
Kurzsichtig wegen Mangel an Weitsicht
Wie entsteht Kurzsichtigkeit?
Smartphones verursachen Kurzsichtigkeit
Alterssichtigkeit, Naturwissenschaft und Medizin
Beeinträchtigung der normalen Entwicklung
Von der Epidemie zur Pandemie
3.
Smartphone-Denkstörung
Selektive Aufmerksamkeit
Jetzt nicht an einen weißen Bären denken
Smartphones lenken ab
4.
Eltern und Smartphones
Eltern als Modell und Vorbild
Mutter – Smartphone – Kind
Smartphone stört Mahlzeit
Essen im Labor
Smartphones beeinträchtigen die Eltern-Kind-Beziehung langfristig
Die Folgen für das Kind
Was Kinder zur Entwicklung brauchen
5.
Sag mir, wo die Blumen sind
Weniger Wörter für Natur
Naturmangel in der Literatur
Natur fehlt auch in der Musik und im Kino
Urbanisierung und Medialisierung
6.
Bildung 0.0
Was Kindern guttut und was nicht
Digitale Informationstechnik schadet der Bildung
Bring Your own Device (BYoD)
Smartphones an Schulen – verschenken oder verbieten
Sucht
Empathie und Willensbildung
7.
Smartphone-Depression
Was ist Wahrheit?
Ursache oder Therapie
Facebook und Selbstmord
Westentaschenpsychiatrie oder Wilder Westen?
Eine Epidemie wird als Gesundheit verkauft
Krankheits-Apps
8.
Einsame Singles
Singles in Deutschland
Städte und Smartphones
Online macht junge Menschen einsam
»Ich« anstatt »Wir«
Verlust von sozialem Kapital
9.
Phantom-Vibration
Akustische und taktile Halluzinationen
Phantome im Gehirn
Studien zu Phantom-Vibration
10.
Pokémon Go Away: Verarmte »erweiterte« Realität
Digitales Jagen und Sammeln
Die Motivation zum Spiel
144 Milliarden Schritte – wirklich?
Wer spielt Pokémon Go?
Risiken und Nebenwirkungen
Mehr Natur mit Monsterchen – oder weniger?
Unfälle und Verletzungen
Kritik der Kritik
11.
Postfaktisch – Die Intellektuelle Verwahrlosung
Was bedeutet »postfaktisch«?
Aufklärung und Wissenschaft
Noch einmal: Was ist Wahrheit?
Fake News
Aufklärung bedeutet: Die Wahrheit selbst finden
Suchmaschinen und Filterblasen
12.
Digital disruptiv: Dysfunktional und destruktiv!
Revolution statt Evolution
Zerreißen oder zerrissen werden
Neue Technik und gesellschaftliche Folgen
13.
Digitalisierung mit Angst
Das »digitale Zeitalter« und die Angst ums Überleben
Die totale Überwachung
Sorgen um die Zukunft
Technikfolgenabschätzung
14.
Geschäftsmodell Werbung und die Folgen – Radikalisierung, Spionage, Vertrauens- und Wahrheitsverlust
Eine Milliarde Stunden pro Tag und Menschheit
Radikalisierung durch YouTube
Facebook, Persönlichkeit und Personalisierung
Facebook, Spionage und Wahlbeeinflussung
Twitter und die Verbreitung von Unwahrheit
Die Folgen des Geschäftsmodells
15.
Werden wir dümmer? – Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang
Was ist Intelligenz?
Der Intelligenzquotient (
IQ
)
Wir werden immer schlauer
Der Flynn-Effekt
Der Flynn-Effekt im Rückwärtsgang
Schlechte Schulen und digitale Medien machen uns dümmer
Literatur
1. Smartphones, Gesundheit, Bildung und Gesellschaft
2. Kurzsichtig wegen Mangel an Weitsicht
3. Smartphone-Denkstörung
4. Eltern und Smartphones
5. Sag mir, wo die Blumen sind
6. Bildung 0.0
7. Smartphone-Depression
8. Einsame Singles
9. Phantom-Vibration
10. Pokémon Go Away
11. Postfaktisch
12. Digital disruptiv
13. Digitalisierung mit Angst
14. Geschäftsmodell Werbung und die Folgen
15. Werden wir dümmer?
Allen Menschen,die Kinder habenoder für Kinder und JugendlicheVerantwortung tragen.
Dies ist mein viertes Buch zu den Auswirkungen der neuen elektronischen Medien auf Menschen und vor allem auf Kinder und Jugendliche. Das erste, Vorsicht Bildschirm!, erschien im Jahr 2005, ebenfalls in der Klett-Gruppe. Es ging im wesentlichem um die Gefahren des Fernsehkonsums, die bereits damals recht gut erforscht waren, weil es das Fernsehen schon mehr als 50 Jahre gab.
Das zweite, bei Droemer im Jahr 2012 erschienene Buch Digitale Demenz wurde sehr kontrovers diskutiert, was jedoch insgesamt dazu führte, dass man über digitale Informationstechnik seither – zunächst nur gelegentlich und dann immer öfter – auch kritisch nachdenkt. Denn ungeachtet der gebetsmühlenhaften Wiederholung der immer gleichen Unwahrheiten durch die Medien selbst – »digital genial«, »digital macht schlau«, »das Ende der Kreidezeit« etc. – lässt sich beobachten, dass in den Jahren seit dem Erscheinen von Digitale Demenz eine zunehmende Zahl von Menschen den einlullenden Digital-Hype nicht mehr glaubt und beim Stichwort »Digitalisierung« nachdenklich reagiert. Ohnehin wird dieses Wort für unglaublich viele sehr unterschiedliche Sachverhalte verwendet: Von der Automatisierung von Produktionsabläufen, der papierlosen Verwaltung und dem schnellen Internetanschluss für Privathaushalte bis hin zu WLAN und digitalen Endgeräten in Schulen. Zudem hat sich herumgesprochen, dass immer dann, wenn es Wirkungen gibt, auch Risiken und Nebenwirkungen vorhanden sind. (Falls Ihnen Ihr Arzt irgendwann einmal ein Medikament mit den Worten empfehlen sollte: »Können Sie bedenkenlos nehmen, hat keinerlei Nebenwirkungen«, dann kann ich Ihnen versichern, dass Sie das Medikament auch bedenkenlos nicht nehmen können, denn es hat dann eben auch keine Wirkung!).
Mittlerweile erschienen Dutzende kritische Bücher zur Digitalisierung, zunächst in den USA und mit etwas Verspätung auch hierzulande. Versuche meiner Kritiker, mich in eine radikale Ecke zu stellen, um sich nicht mit den Problemen auseinandersetzen zu müssen (»der hat eine Einzelmeinung, die von niemandem geteilt wird«; »das nimmt niemand ernst«) scheitern daher schon länger.
Wenige Wochen nach dem Erscheinen meines dritten Buchs Cyberkrank! im Herbst 2015 (erschienen bei Droemer) wurde zu meiner großen Überraschung und Freude das Jugendwort des Jahres 2015, Smombie (Smartphone Zombie), gekürt: Junge Menschen hatten also den Zusammenhang zwischen übermäßiger Smartphonenutzung einerseits und Willen- bzw. Seelenlosigkeit andererseits begriffen – und sogar ein Wort dafür gefunden! Als dann im Januar 2018 auch noch zwei große Investoren der Firma Apple einen Brief an die Firma schrieben, um auf die Gefahren des Smartphones hinzuweisen (die zum Bankrott von Apple und damit für die Investoren zu Verlusten führen könnten), dachte ich bei mir: Jetzt kannst du dich entspannt zurücklehnen …
Warum also nun noch dieses vierte Buch, nur zum Smartphone und dessen ungünstigen Auswirkungen auf die Gesundheit und Bildung junger Menschen und die Gesellschaft insgesamt?
Der erste und wichtigste Grund dafür lautet ganz einfach: Weil in den vergangenen etwa drei Jahren sehr viele neue Erkenntnisse gewonnen wurden und weil nicht zuletzt weitere Enthüllungen uns das Ausmaß der Schäden, die das Smartphone bringt, erst so richtig vor Augen geführt haben: Der Anstieg der Kurzsichtigkeit in Südkorea (von normalerweise 1–5%) auf über 90% bei den unter 20-Jährigen, die Verdopplung der Selbstmordrate US-amerikanischer Mädchen innerhalb von sieben Jahren und die weltweite Beeinflussung von 200 Wahlen (einschließlich »Trump« und »Brexit«) sind ernst zu nehmende Sachverhalte, auf die man wirklich nicht mehr bagatellisierend reagieren kann und darf. Digitale Informationstechnik hat jede Menge »Nebenwirkungen«, von gesundheitlichen Schäden über die Beeinträchtigung von Bildungsprozessen bis zum Verlust von Arbeitsplätzen samt den Grundlagen unseres Zusammenlebens. Den Kopf in den Sand zu stecken, ist schlicht nicht mehr möglich und zudem verantwortungslos.
Es geht also in diesem Buch nicht um Angstmacherei, sondern darum, die in Fachblättern wie Science und Nature publizierten Erkenntnisse vieler unabhängiger Wissenschaftler zusammenfassend darzustellen und die Wahrheit über die Auswirkungen von Smartphones für jedermann verständlich auf den Punkt zu bringen.
Wie bereits erwähnt, informieren uns auch die Qualitätsmedien – Print und öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten – nicht wirklich über Risiken und Gefahren. Als beispielsweise die Neue Züricher Zeitung am 20. Januar 2018 über einen Cyberangriff auf das Norwegische Gesundheitssystem, von dem Daten von der Hälfte der norwegischen Bevölkerung betroffen waren,1 in einem großen Artikel ausführlich berichtete, suchte man entsprechende Berichte in großen deutschen Zeitungen vergebens. Man wollte offenbar den politisch gewollten Bemühungen um die Digitalisierung des Gesundheitswesens (wieder steckt viel Geld dahinter, aber eben auch hohe Risiken für die Privatheit des Einzelnen) durch die Meldung unschöner Fakten nicht schaden.
Völlig unangemessen sind die Berichte in den großen Zeitungen und Zeitschriften über den Bereich der Bildung. Unsere Bildungseinrichtungen – vom Kindergarten über die Schulen bis zu den Hochschulen – müssten unbedingt »digitalisiert« werden. Vor allem Smartphones sollen dort »stärker berücksichtigt« werden. Fakt ist hingegen, dass sie Bildungsprozesse stark beeinträchtigen. Das französische Parlament verbietet sie genau deswegen an Schulen ab August 2018 vollständig.
Die »Digitalisierung« von Klassenzimmern beeinträchtigt nachweislich das Lernen von Schülern – aber über die vielen Studien hierzu wird einfach nicht berichtet. Stattdessen wird – z. B. in der NZZ2 und der FAZ3 im Januar 2018 – über eine vermeintlich positive Studie der TU München berichtet, die es noch gar nicht gibt, weil sie noch nicht publiziert ist (Stand: Juli 2018). Sie wurde jedoch bereits im Dezember 2017 öffentlich vorgestellt und medial verbreitet. Dies entspricht definitiv nicht der üblichen wissenschaftlichen Praxis.
Die Arme der digitalen Lobby reichten weit und tief, und die Hände an diesen Armen verteilten sehr viel Geld an willige Marktschreier. Und so wurden und werden noch immer permanent Falschmeldungen verbreitet und die Probleme nicht beim Namen genannt, sondern unter den Teppich gekehrt. Selbst Studien, die negative Effekte zeigen, werden so interpretiert, dass diese Effekte ja nur »ganz klein« seien.4 Mit diesem Buch möchte ich daher ein weiteres Mal aufklären und aufzeigen, dass wir uns und unsere Kinder noch immer großen Risiken aussetzen, obwohl wir uns aufgrund der vorhandenen Erkenntnisse längst den Gefahren stellen und sie in unser Handeln einbeziehen müssten.
Als letztes sei ein äußerlicher, formaler Grund genannt, warum das vorliegende Buch existiert: Es hatte sich in den letzten etwa 18 Monaten selbst geschrieben! Das kam so: Seit knapp 20 Jahren bin ich Herausgeber der Zeitschrift für Nervenheilkunde, einem Fachblatt für Neurologen und Psychiater, das monatlich erscheint. Seither schreibe ich für jede Ausgabe zwei Beiträge, die jährlich in Form eines kleinen Büchleins publiziert wurden. Weil nun der Schattauer-Verlag, bei dem diese Zeitschrift erschien, seit dem 1. Januar 2018 in seiner alten Form nicht mehr existiert und ein Teil seiner Buch-Sparte an Klett-Cotta überging, wurden die Nervenheilkunde-Beiträge zum Thema Auswirkungen von Smartphones aus dem vergangenen und diesem Jahr im vorliegenden Buch zusammengefasst. Sie wurden hierfür überarbeitet, und zudem wurden einige Kapitel ganz neu geschrieben. Man kann aus diesem Grund die folgenden 15 Kapitel in beliebiger Reihenfolge lesen, denn jedes beinhaltet einen bestimmten Gesichtspunkt und steht für sich. Daher habe ich manche Dopplungen im Text belassen, nicht zuletzt, weil ich als (Hochschul-)Lehrer weiß, dass Wiederholung die Mutter allen Lernens ist.
Schon lange habe ich mit meinen Büchern und Artikeln einen noch größeren Leserkreis erreichen wollen. Denn seit meiner Zeit in den USA habe ich mir angewöhnt, verständlich zu schreiben. »Manfred, if you mean it, say it!« So hatte eine gute Freundin – die Frau meines damaligen Mentors – meine Texte gelegentlich kommentiert und mir jegliche im Deutschen so »gebildet« klingende sprachliche Schnörkel (»würde vielleicht vermeinen wollen« etc.) abgewöhnt. Hierzulande gilt leider noch immer Unverständlichkeit als untrügliches Zeichen von Tiefsinn!
Für meine verständlich formulierten Gedanken haben sich schon sehr viele Leser bei mir bedankt: Täglich erreichen mich Ermunterungen per Email, etwa mit Aussagen wie »machen Sie weiter«, »lassen Sie sich nicht unterkriegen« oder »was Sie tun ist sehr wichtig«. Und so wird es Zeit, dass ich mich bei all denen, die sich die Zeit genommen haben mir zu schreiben, meinerseits bedanke. Gerade wenn man immer wieder öffentliche Zielscheibe von vielerlei unschönen, erniedrigenden oder gar beleidigenden Aussagen ist, ist es aufbauend zu wissen, dass es nicht wenige Menschen gibt, die meine Gedanken schätzen, weil sie zu ihren Erlebnissen und Gedanken passen.
An diesem Buch waren hilfreiche und gute Geister gleich dreier Verlage beteiligt, denen ich danken möchte: Beim Schattauer-Verlag Frau Dr. Anja Borchers, Frau Dr. Andrea Schürg und Herrn Dr. Wulf Bertram; beim Thieme-Verlag Herrn Martin Spencker, Herrn Oliver Fock und Frau Dr. Borchers (hier muss ich sie einfach nochmals nennen, denn sie kümmert sich unter dem neuen Dach weiter um die Zeitschrift so wunderbar und erträgt vor allem den Chef-Herausgeber schon so lange) und beim Klett-Cotta Verlag Herrn Tom Kraushaar, Herrn Dr. Heinz Beyer und Frau Sandra Aichele. Sie alle haben sich dieses Buchprojekts so wunderbar und mit großer Kraft und positiver Energie angenommen.
Anfang Juni 2018 feierte die Ulmer Psychiatrie – noch immer eine der kleinsten Uni-Psychiatrien Deutschlands – ihren 20. Geburtstag. Und wenn ich schon beim Danken bin, so möchte ich mich aufs Herzlichste bei meinen Mitarbeitern bedanken, die dazu beitragen, dass uns allen die Arbeit Freude macht und unser Leben mit Sinn erfüllt: Dies sind alle hier arbeitenden Ärzte und Psychologen, die Pflege-Teams auf den Stationen, die Sozialarbeiter und Co-Therapeuten sowie allen anderen, die helfen, die Klinik am Laufen zu halten. Nicht selten diskutieren wir in unterschiedlichsten größeren oder kleineren Kreisen neue Erkenntnisse und Überlegungen, oft ganz nebenbei und immer ohne jegliche Angst, etwas Falsches zu sagen. Nur so sprudelt der Geist, und dass man hinterher kritisch bewertet und 99 Prozent des Gesprudelten wegwirft, ist völlig normal. Aber wenn genug sprudelt, bleibt auch genug kreatives Neues übrig! Und wenn die gesamte Crew das Boot so gut steuert, dann kann sich der Kapitän auch gelegentlich für ein paar Wochen zurückziehen und über den Sinn und Zweck der Seefahrt oder über die Wahrheit und Falschheit an sich nachdenken. Oder wieder mal eben die Welt retten.
Ulm, am Schwörmontag 2018
Manfred Spitzer
1.
Smartphones beeinträchtigen die Gesundheit und die Bildung junger Menschen und stellen zudem eine Gefahr für unsere demokratische Gesellschaft dar. Betrachten wir einige Beispiele.
Eine Mutter beklagt mir gegenüber: Ihr Sohn habe sie beim Versuch, ihm das Handy abzunehmen, in die Hand gebissen. Ein klares Zeichen von Sucht! In Südkorea liegt der Anteil der Smartphone-süchtigen jungen Menschen bei über 30 Prozent. Eine im Oktober 2015 publizierte deutsche Studie zur Smartphone-Nutzung bei fünfhundert 8- bis 14-Jährigen berichtet von 8 Prozent Suchtgefährdung.
Krankenkassen warnen vor Social-Media-Sucht: 12- bis 17-Jährige in Deutschland verbringen täglich im Schnitt fast drei Stunden in sozialen Netzwerken. Laut einer DAK-Umfrage sind 2,6 Prozent der Jugendlichen süchtig nach WhatsApp, Instagram, Snapchat, Facebook und Twitter. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat mit dem Erscheinen der neuen internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-11) am 18. Juni 2018 die Computer- und Online-Spielsucht als Krankheit anerkannt.
Ein 17-jähriger Schüler spielt während des Unterrichts ein Musikvideo auf seinem Smartphone ab und wird von seiner 54-jährigen Mathematik- und Deutschlehrerin mehrfach aufgefordert, dies sein zu lassen. Der Schüler kommt dieser Aufforderung nicht nach. »Sie können mich nicht zwingen«, habe er stattdessen gesagt und die Lehrerin mit unflätigen Wörtern (»f***«) beschimpft. Daraufhin wirft die Lehrerin das Smartphone des Schülers aus dem Fenster. Sie wird in erster Instanz wegen Fehlverhaltens verurteilt, in zweiter Instanz jedoch wieder freigesprochen.
Die Anzahl der Selbstmorde von Mädchen und jungen Frauen hat sich in den USA innerhalb weniger Jahre verdoppelt. Man ging den Ursachen nach und fand, dass die Suizidalität, also die mittels psychologisch-psychiatrischer Untersuchungsverfahren bestimmte Neigung, einen Selbstmord zu begehen, mit jeder zusätzlichen Stunde der Verwendung digitaler Medien zunahm. Eine britische Studie an über tausend Mädchen fand: Wer im Alter von 13 Jahren mehr als drei Stunden täglich in Facebook ist, leidet mit 18 Jahren doppelt so häufig an einer Depression.
Schon das Fernsehen führte zu Übergewicht; Videos, DVDs und Computerspiele verschärften das Problem; Smartphones machen es nicht besser. Der Aktionsradius von Kindern und Jugendlichen hat sich innerhalb von 30 Jahren um 90 Prozent verringert. Bewegungsmangel und Übergewicht gehören weltweit zu den am besten nachgewiesenen Nebenwirkungen von Bildschirmmedien.
Computer und Smartphones schaden der Bildung: Weder deutsche noch internationale Studien konnten bislang einen positiven Einfluss von Computern oder Internetanschluss auf das Lernen an Schulen nachweisen.
Negative Auswirkungen sind hingegen klar nachgewiesen: Eine Analyse der PISA-Daten von mehr als 50 Ländern über zehn Jahre hinweg beispielsweise ergab: je mehr Geld in einem Land in digitale Infrastruktur (Computer, WLAN im Klassenzimmer) investiert wurde, desto eher haben sich die Leistungen der Schüler in diesem Land verschlechtert.
Das Smartphone auf dem Schreibtisch reduziert das Denkvermögen und den Intelligenzquotienten – einfach nur dadurch, dass es da liegt, also selbst dann, wenn es nicht verwendet wird. Es lenkt offenbar allein durch seine Präsenz ab, denn man könnte es ja verwenden.
Smartphones unterminieren das gegenseitige Vertrauen der Menschen in einer Gesellschaft und die Grundfesten unserer Demokratie.
»Die Falschheit ist schon um die halbe Welt, wenn sich die Wahrheit noch die Schuhe anzieht«. So lautete ein Kommentar zu einer im Fachblatt Science im März 2018 publizierten Untersuchung von 126 000 Twitter-Nachrichten, die insgesamt 4,5 Millionen Mal weitergeleitet wurden.
YouTube radikalisiert die Weltbevölkerung in einem nie dagewesenem Ausmaß; und Facebook spioniert uns aus, obwohl es dies nach der europäischen Datenschutz-Grundverordnung definitiv nicht darf.
Digitale Informationstechnik (IT), d. h. weltweit vernetzte Computer mit immer größerer Leistungsfähigkeit, hat seit Anfang der 80er Jahre zunächst langsam und dann mit immer schnellerer Geschwindigkeit Einzug in unser berufliches und privates Leben gehalten – von morgens früh bis spät in die Nacht hinein und von der Wiege bis zur Bahre. Nicht nur in den entwickelten Ländern, sondern mittlerweile oft auch in Ländern der »zweiten Welt« oder gar den Entwicklungsländern (»Dritte Welt«), werden schon Säuglinge vor den Fernsehapparat oder den Tablet-Computer gesetzt noch bevor sie laufen oder sprechen können. Ihre Eltern sind stolz, wenn sie als 2- bis 4-Jährige über Bildschirme wischen, das TV-Programm auswählen, oder YouTube-Videos und Spiele selbständig aufrufen – oft mehrere Stunden am Tag. Das Durchschnittsalter, in dem kleine Kinder mit der Nutzung digitaler Medien beginnen, hat sich in den vergangenen Jahren dramatisch verringert, während sich die tägliche Zeit der Nutzung ebenso dramatisch erhöht hat.
Nach einer im Februar/März 2015 durchgeführten repräsentativen Untersuchung aus den USA an 2658 Personen zwischen 8 und 18 Jahren lag die Nutzung von Bildschirmmedien der 8- bis 12-jährigen Kinder bei sechs Stunden und bei 13- bis 18-Jährigen waren es neun Stunden – pro Tag!1 Bei Erwachsenen ist die Lage nicht besser: Nach einer ebenfalls repräsentativen Studie aus den USA an 1786 Eltern von Kindern im Alter von acht bis 18 Jahren verbringen diese täglich im Mittel neun Stunden und 22 Minuten mit Medien, davon eine Stunde und 39 Minuten bei der Arbeit und sieben Stunden 43 Minuten in der Freizeit. 51% geben an, mehr als acht Stunden täglich mit Medien zu verbringen, nur 19% der Eltern geben dagegen weniger als vier Stunden tägliche Medienzeit an.2
Noch vor etwa 25 Jahren war das anders: Die Menschen sahen zwei bis drei Stunden täglich fern – und das war’s. Dennoch hatte dies – wie wir heute aus sehr sorgfältig durchgeführten Langzeitstudien wissen – bereits deutliche negative Auswirkungen: Je mehr Stunden pro Tag Kinder und Jugendliche vor dem Fernseher verbringen, desto eher leiden sie als Erwachsene später an Übergewicht,3 desto geringer ist ihre Bildung4 und desto aggressiver wird ihr Verhalten.5, 6 Dass das Fernsehen dick, dumm und aggressiv macht, wird zwar bis heute oft bestritten, ist jedoch nach dem Stand der wissenschaftlichen Forschung etwa ebenso klar und eindeutig nachgewiesen wie der Zusammenhang zwischen Rauchen und Lungenkrebs.7
Mit der weiten Verbreitung von Videorekordern und später dem Aufkommen von Videospielen stieg der Konsum von Bildschirm-Medien stetig an. Hinzu kam ab etwa 1982 der Personal Computer (PC), der aber erst nach fallenden Preisen in den 90er Jahren eine weitere Verbreitung fand. PCs kosteten während der ersten zehn Jahre am Markt etwa so viel wie ein Auto. Sie zogen erst dann in nahezu jeden Haushalt ein, als ihr Preis eher dem von Stereoanlagen vergleichbar wurde. Vor etwa zehn Jahren lag die tägliche Bildschirm-Medien-Nutzung junger Leute im Alter von acht bis 18 Jahren bei etwa fünf bis sechs Stunden.8 Bereits damals machte man sich in der medizinischen Fachliteratur öfters Gedanken zu den längerfristigen Auswirkungen dieser Tatsache auf das Verhalten und die Gesundheit junger Menschen.9
Die Dosis macht das Gift. Diese auf den Schweizer Mediziner Paracelsus (1493–1541) zurückgehende Weisheit wurde immer deutlicher, ebenso die langfristigen ungünstigen Auswirkungen digitaler Informationstechnik auf den Menschen: Haltungsschäden und Übergewicht, Depressionen und Ängste, vermehrte Ablenkung und vermindertes Lernen. Durch den Umgang mit Bildschirmen und digitaler Informationstechnik lernt man weder Handschrift noch Rechtschreibung, Kopfrechnen oder Kartenlesen, etwas wollen und in die Tat umsetzen oder sich in andere einzufühlen und die Dinge aus deren Sicht zu betrachten. Besonders wichtig ist die schon lange vorhandene Erkenntnis, dass das in Kindheit und Jugend erreichte Bildungsniveau eines Menschen den größten Schutzfaktor vor Demenz im Alter darstellt. Und wenn das so ist, dann braucht man die Ergebnisse von Langzeitstudien nicht abzuwarten, die es frühestens in etwa 50 Jahren geben kann, um sich entsprechende Sorgen zu machen.10
Die gesamte Entwicklung der digitalen Informationstechnik hat sich seit dem Jahr 2007 nochmals radikal verändert und beschleunigt: Die Firma Apple hatte als erste ein völlig neues Gerät entwickelt, bei dem es sich nur vordergründig um ein Telefon handelte. Es war ein kleiner transportabler, mit einer wiederaufladbaren Batterie betriebener Computer mit mehreren drahtlosen Schnittstellen (»Funk«), die den Zugang zum Internet ermöglichen. Zudem verfügte dieser Computer über einen berührungsempfindlichen Bildschirm, eine Kamera, ein Mikrophon und eine Reihe von Sensoren (Beschleunigung, Luftdruck, Kompass) sowie über einen Lautsprecher und einen Generator von Vibrationen. So richtig interessant wurde das Ding jedoch im Laufe der Zeit erst dadurch, dass Hunderttausende von Programmen (genannt »Apps«) von sehr vielen Menschen entwickelt wurden, die auf ihm laufen und dabei die Schnittstellen zum Funknetz, Internet, dem globalen Satelliten-Navigationssystem (GPS), zu anderen Geräten in der nahen Umgebung (mittels Bluetooth) und zu anderen Smartphones verwenden. Hierdurch kann man viele kleine Probleme des Alltags lösen, die mit der Besorgung, der Speicherung oder dem Austausch von Informationen in Form von Text, Bild und Ton zu tun haben. Man kann mit dem Gerät fotografieren, filmen, diktieren, verwalten, terminieren, Mails oder Kurznachrichten versenden und empfangen oder beispielsweise auf Reisen sich nach dem Wetter erkundigen, Hotels buchen, ein Taxi rufen oder feststellen, ob Flugzeug oder Zug Verspätung haben. Mittels geeigneter Software kann man sich orientieren, sein Bankkonto führen, die Produktion in der Firma, sein Ferienhaus oder auch nur seinen Kühlschrank überwachen, einkaufen, und – ach ja – telefonieren.
Kurz: Dieses Schweizermesser des digitalen Zeitalters11 ist unglaublich praktisch! Es ist so klein, dass man es immer und überall dabei haben kann, braucht die Steckdose nur gelegentlich, und es verbindet uns, wann wir wollen mit dem Rest der Welt. Weil es über das GPS über die ganz genaue Uhrzeit verfügt, spart es einem die Armbanduhr und den Wecker, die eingebaute Kamera reicht vielen Nutzern für den Hausgebrauch und spart ihnen Fotoapparat und Camcorder. Für viele Geräte ist das Smartphone mittlerweile als Fernbedienung zu gebrauchen, in Autos könnte es das Armaturenbrett ersetzen und zwei Smartphones – von Papa und Mama – ergeben zusammen ein Babyphone (was man sich also auch sparen kann). Sehr rasch entdeckten Mama und Papa dann, dass man das Ding auch als Babysitter verwenden kann, denn es zeigt bewegte bunte Bilder und kann dabei auch noch quietschen! Schon kleine Kinder starren wie gebannt auf das Ding, dessen dargestellte Inhalte sich sogar ändern, wenn man über den Bildschirm wischt.
Vor allem aber stellte sich heraus, dass man mit dem Ding immer mit anderen Menschen in Kontakt sein kann. Hierzu gab es zwar schon wenige Jahre vor dem Smartphone die sogenannten sozialen Online-Medien (Facebook im Jahr 2004, Twitter im Jahr 2006), aber erst deren Nutzung mit dem Smartphone verhalf ihnen – und dem Smartphone – zu einem beispiellosen Siegeszug über den gesamten Globus: Kein technisches Gerät hat sich jemals so rasch weltweit ausgebreitet wie das Smartphone. Mittlerweile wurden mehr Smartphones produziert als es Menschen auf der Welt gibt, und die Zahl der Nutzer liegt bei über vier Milliarden Menschen.12 Etwa die Hälfte aller Smartphone-Nutzer verbringt mehr als fünf Stunden pro Tag mit ihnen.13 Die große Mehrheit der Nutzer verwendet ein oder mehrere soziale Online-Medien, deren größtes – Facebook – bereits allein zwei Milliarden Nutzer hat (zwei Drittel davon nutzen Facebook täglich). Drei der nächsten fünf meistgenutzten sozialen Online-Medien sind WhatsApp (seit 2009; derzeit 1,2 Milliarden Nutzer), Messenger (seit 2008; derzeit 1,2 Milliarden Nutzer) und Instagram (seit 2011; derzeit 0,7 Milliarden Nutzer) und gehören ebenfalls Facebook. Diese Firma hält damit Daten zu mehr als fünf Milliarden Nutzern.14
Vielen jungen Menschen dient das Smartphone mittlerweile als Spielekonsole und Fernsehapparat, weswegen YouTube ja auch das herkömmliche Fernsehen als Leitmedium des passiven Konsums von bewegten Bildern mit Ton abgelöst hat: Weltweit schauen alle Nutzer zusammen täglich eine Milliarde Stunden YouTube-Videos.
Ein ziemlich großer Teil der Menschheit verbringt also insgesamt einen wesentlichen Anteil – etwa ein Drittel – seiner im Wachzustand verbrachten Zeit mit einem kleinen Gerät, das es erst seit zehn Jahren gibt! Wir stellen alles Mögliche damit an, machen während dieser Zeit viele virtuelle Erfahrungen und wickeln einen wesentlichen Teil unserer täglichen Kontakte mit realen Menschen über dieses Gerät ab. Diese Veränderungen der Art, wie wir unsere Lebenszeit verbringen, wirken sich vor allem in dem Zeitraum auf uns aus, in dem sich unsere Gehirne (noch) entwickeln und ganz besonders lernfähig sind: von der Geburt bis ins dritte Lebensjahrzehnt hinein. Wenn sich das Erleben und Verhalten eines Großteils der Menschen durch ein einziges kleines neues Produkt in diesem noch nie dagewesenem Ausmaß ändert, dann kann dies eines nicht haben: keine Konsequenzen!
Es ist daher schwer verständlich, warum es bislang keinerlei offizielle Technologiefolgenabschätzung für diese neue Technik mit solch gravierendem Einfluss auf unsere Lebensgestaltung und unsere Lebenserfahrung gibt. Niemand anderes als zwei große Investoren der Firma Apple haben dies zu Anfang des Jahres 2018 angemahnt: In einem Brief an Apple schrieben sie, dass das iPhone ja durchaus Risiken und Nebenwirkungen habe, und dass die Firma gut daran täte, diese in Betracht zu ziehen. Denn sonst könnte es geschehen, dass Milliarden von Nutzern wegen des Auftretens solcher unerwünschter Konsequenzen die Firma auf Schadensersatz verklagen, was angesichts der riesigen Zahl der potentiellen Kläger selbst für Apple – die reichste Firma der Welt – die Pleite bedeuten könnte.15
Aufgrund ihrer großen Bedeutung sei die Quelle hier ausführlich zitiert: »Ein führender Investor und ein Pensionsfond sagen, dass der Smartphone-Hersteller auf das Problem der Smartphone-Sucht reagieren müsse, da es sich nach Meinung mancher Menschen hierbei um eine zunehmende Krise der Volksgesundheit handele. [Die Investoren] Jana Partners LLC und California State Teachers’ Retirement System, auch Calstrs genannt, die zusammen etwa zwei Milliarden US-Dollar Apple-Aktien halten, schrieben am Samstag [dem 6.1.2018] einen Brief an Apple, in dem sie den Konzern dringend aufforderten, neue Programme zu entwickeln, um es den Eltern einfacher zu machen, die Smartphone-Nutzung [ihrer Kinder] zu kontrollieren und zu begrenzen und den Einfluss von deren übermäßiger Nutzung auf die seelische Gesundheit zu erforschen« (Wall Street Journal, 7.1.2018, Übersetzung durch den Autor). Der Konzern hat auf seiner letzten Entwicklerkonferenz reagiert: Dort war weniger von neuen Geräten die Rede als vielmehr von Software zur eigenen Einschränkung bzw. zur Begrenzung der Nutzung des iPhones durch Kinder.16
Es geht bei den negativen Auswirkungen von Smartphones allerdings um weit mehr als »nur« um Suchtverhalten. Smartphones verursachen nachweislich eine ganze Reihe gesundheitlicher Schäden, deren Schwere und Ausmaß den wenigsten Menschen bewusst sind: Kurzsichtigkeit (Kapitel 2), Angst, Depression (Kapitel 7), Aufmerksamkeitsstörungen, Schlafstörungen, Bewegungsmangel, Übergewicht, Haltungsschäden, Diabetes, Bluthochdruck und ein erhöhtes Risikoverhalten beim Geschlechts- und Straßenverkehr. Wie man mittlerweile herausgefunden hat, fördert die Nutzung von sogenannten Geo-social Networking Apps täglich millionenfachen Gelegenheitssex und damit eben auch die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten. Was den Straßenverkehr anbelangt, so wissen die Wenigsten, dass Smartphones mittlerweile bei jüngeren Verkehrsteilnehmern den Alkohol als Unfallursache Nummer eins abgelöst haben. Darüber hinaus wird durch die Beeinträchtigung von Bildungsprozessen das Auftreten dementieller Erkrankungen begünstigt, wie im Abschnitt Bildung weiter unten dargelegt wird. Zuvor seien noch beispielhaft einige der gerade genannten Nebenwirkungen näher dargestellt.
Die Nutzung von Bildschirmmedien führt zu Übergewicht und Adipositas,5 wie eine ganze Reihe von Studien nachweisen konnte.17, 18, 19 Die beteiligten Mechanismen reichen vom Ausbleiben kleinster, aber dennoch Energie verbrauchender Bewegungen über Werbung für stark kalorienhaltige Nahrungsmittel bis hin zur Verdrängung von anderen Freizeitbeschäftigungen.20, 21, 22, 23, 24, 25, 26 Smartphones vermindern die Zeit für sportliche Aktivitäten,27 verlangsamen das Gehen um 33 Prozent,28 führen zu körperlicher Inaktivität (»time on couch«), vermindern das Interesse an der Natur und die in und mit ihr verbrachte Zeit (Radfahren, Wandern).29 Übergewicht in Kindheit und Jugend führt oft zu lebenslangem Übergewicht und ist mit dem Auftreten chronischer Krankheiten, einem ungesunden Lebensstil und geringerer Bildung sowie Verhaltensproblemen verbunden.30, 31, 32, 33 Für das Jahr 2014 wurde die weltweit durch Übergewicht entstandene wirtschaftliche Belastung auf 2000 Milliarden US-Dollar geschätzt.34
Eine große norwegische Studie an knapp zehntausend Jugendlichen zeigte ein hohes Maß der Nutzung digitaler Medien in der Stunde vor dem Schlafengehen, wobei das Smartphone am häufigsten Verwendung fand.35 Studien konnten nachweisen, dass Smartphones auf dreifache Weise Schlafstörungen verursachen:36, 37, 38 Sie verdrängen die Schlafenszeit, führen zu Erregung und Unruhe durch die dargebotenen Inhalte und das blaue Licht der Bildschirme führt zu einer beeinträchtigten Freisetzung des Schlafhormons Melatonin.39 Der Konsum digitaler Medien am Tag führt dosisabhängig zu einer Beeinträchtigung des Nachtschlafs, wie Untersuchungen im Schlaflabor zeigen konnten.40, 41
Schlafstörungen gehen mit Stoffwechselstörungen (Übergewicht, Zuckerkrankheit vom Typ-II) sowie Bluthochdruck einher.42, 43, 44, 45 Zudem wurde der Zusammenhang von Smartphone-Verwendung und erhöhtem Blutdruck direkt untersucht. Eine Untersuchung an 331 Schülern im Alter von 14 bis 17 Jahren zeigte einen erhöhten Blutdruck bei mehr Zeit der wöchentlichen Internet-Nutzung.46 Dies ist im hier diskutierten Zusammenhang von Bedeutung, da der Internet-Zugang von jungen Menschen – ebenso wie Social Media und viele andere früher am Computer erledigte Tätigkeiten – heute vor allem über ihr Smartphone erfolgt.
Dass ein klingelndes Smartphone zu einem Anstieg von Blutdruck und Puls führt, konnte ebenfalls experimentell bei am Computer arbeitenden Probanden nachgewiesen werden.47 Kritische Stimmen weisen manchmal darauf hin, dass keine einzige Studie bislang mit absoluter Sicherheit hätte zeigen können, dass dieser Zusammenhang gilt. Dies ist einerseits trivial, denn experimentelle Studien lassen sich immer dahingehend kritisieren, dass die Bedingungen im Labor von denen in der realen Welt abweichen und daher Laborergebnisse nicht auf die Lebensverhältnisse übertragbar sind. Im Hinblick auf Untersuchungen in der realen Welt (beispielsweise in der Schule) wird dagegen argumentiert, dass man durch Beobachtungen lediglich statistische Zusammenhänge aber keine Kausalität nachweisen könne. Beides stimmt und ist, wie schon gesagt, trivial, denn eine Beobachtung ist eine Beobachtung und ein Experiment ist ein Experiment. Wenn jedoch sowohl Experimente im Labor (mit ihnen kann man Ursache und Wirkung nachweisen) als auch Studien in der realen Welt zum gleichen Ergebnis kommen, kann der Einwand nicht aufrechterhalten werden, denn die Studien stützen sich gegenseitig. Ein großer Teil des medizinischen Fortschritts der letzten 150 Jahre beruht gerade auf dieser Zusammenarbeit von Labor (Experiment) und Klinik (Beobachtung)! Und wer würde leugnen, dass wir alle von diesem Fortschritt in hohem Maße profitieren, wenn wir krank sind?
Als Psychiater muss ich darauf hinweisen, dass viele Risiken und Nebenwirkungen von Smartphones mein Fachgebiet betreffen, vor allem im Hinblick auf Aufmerksamkeitsstörungen, Angst, Sucht, Demenz und Depressionen.48, 49
Eine britische Studie zeigte eine Verdopplung der Häufigkeit von Depressionen bei 18-jährigen Mädchen, wenn sie im Alter von 13 Jahren mehr als drei Stunden täglich mit Facebook zubrachten.50 Eine große Studie aus den USA hat gezeigt, dass die Suizidalität von Mädchen und jungen Frauen mit jeder Stunde Mediennutzung deutlich steigt51 und sich die Anzahl der Suizide in den Jahren von 2007 bis 2015 verdoppelt hat.52
Smartphones führen zu verschiedenen Typen von Ängsten: Die Angst davor, irgendetwas zu verpassen (englisch: Fear of missing out, abgekürzt: Fomo) besteht bei über 60 Prozent aller Smartphone-Nutzer. Die Nomophobie (englisch: no more phone phobia) ist ein ebenfalls sehr verbreitetes Phänomen. Beides ist vielfach untersucht und bekannt. Mobbing und die damit verbundenen Ängste stellen heute ein an Schulen weit verbreitetes Problem dar, dessen Aufarbeitung im konkreten Fall alle Beteiligten sehr viel Zeit und Kraft kostet.
Die Existenz von nicht-stoffgebundenen Suchterkrankungen wie Spielsucht (d. h. Glücksspiel-Sucht) und mittlerweile auch Computer- und Online-Spielsucht wird nach wie vor von manchen »Experten« bestritten. Dabei sind die Zweifel längst ausgeräumt und die Konsequenzen daraus auch weltweit gezogen, nämlich – wie oben bereits erwähnt – durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit der Anerkennung der Computer- und Online-Spielsucht als Krankheit. Man kennt den Mechanismus der Entstehung und Aufrechterhaltung dieser Sucht sowie deren Folgen. Auch die Diagnostik ist beispielsweise ganz ähnlich wie bei der Alkoholsucht, geht es doch nicht darum, wie viele Bier eine bestimmte Person an einem bestimmten Abend getrunken hat, sondern darum, ob der Person die Kontrolle über ihren Alkoholkonsum entgleitet, ob für sie Alkohol immer wichtiger wird und ob sie trotz negativer Konsequenzen weiter trinkt. Zudem wird bei den nicht-stoffgebundenen Suchterkrankungen auch therapeutisch letztlich nicht anders vorgegangen als bei den stoffgebundenen Süchten: Die wichtigsten Maßnahmen sind:
Der Sucht nicht mehr nachgehen (Abstinenz),
Lernen, in den verschiedensten Situationen ohne das Suchtverhalten auszukommen,
bestimmte, den Suchtdruck dämpfende Medikamente können helfen.
Schließlich geht es darum, andere Verhaltensweisen zu entwickeln (Alternativen) und
zu lernen, sich vor allem besser zu kontrollieren.
Suchtverhalten liegt immer in ganz bestimmten konkreten Formen vor: Der Drogensüchtige verwendet Heroin, Kokain oder Amphetamin, und entsprechend spricht man in der Psychiatrie auch vom Heroin-Süchtigen oder Kokain-Süchtigen. Nicht anders ist es bei den nicht-stoffgebundenen Süchten. Smartphones sind immer und überall verfügbarer Internet-Zugang und Computer zugleich und sie können als Spielekonsole verwendet werden. Wenn es also Computer- und Online-Spielsucht gibt, dann gibt es auch die Smartphone-Sucht, zumindest dann, wenn – nach heutigem Stand – Hunderte von Millionen Menschen ihrer Computer- und Online-Spielsucht mittels ihres Smartphones nachgehen. Nach empirischen Studien sind ebenfalls mehrere Hundert Millionen Menschen nach Facebook (oder anderen Online Social Media) süchtig. Hinzu kommt: Wer an Computer- und Online-Spielsucht leidet, hat auch ein erhöhtes Risiko für höheren Alkohol- und Tabak-Konsum.
In Asien (China, Südkorea) gibt es seit Jahren paramilitärisch organisierte Camps für Jugendliche zur Behandlung von Computer-, Internet- und Smartphone-Sucht. Durch strenge Disziplin, hartes Training und vollständige Abstinenz von jeglichen Bildschirmmedien wird dort verzweifelt versucht, Schäden zu reparieren, für die die jungen Menschen letztlich gar nichts können: Nicht sie sind dafür verantwortlich zu machen, dass sie mit einer bekanntermaßen Sucht-erzeugenden Technik in einem so jungen Alter in Kontakt gekommen sind, dass sie die negativen Auswirkungen und vor allem auch die Suchtentwicklung gar nicht bemerken konnten, von Selbstkontrolle einmal gar nicht zu reden. Ihre Eltern und/oder der Staat hätte sie davor schützen müssen. Sie sollten wissen, dass die Ausbildung der für das gesamte weitere Leben wichtigsten Fähigkeit – der Selbstkontrolle – durch digitale Medien und vor allem durch Smartphones verhindert wird.
Der Zusammenhang von Bildschirmmedien und Aufmerksamkeitsstörungen ist mittlerweile gut belegt und nicht mehr bezweifelbar. Besonders im Bereich der Bildung wirken sich Smartphones unter anderem aus diesem Grund verheerend aus, wie im Folgenden kurz diskutiert wird (siehe auch Kapitel 6).
Zu den Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit junger Menschen kommen negative Auswirkungen des Smartphones auf deren Bildung: Smartphones beeinträchtigen durch ihre pure Präsenz unmittelbar das Denkvermögen und senken die Intelligenz eines Menschen (siehe Kapitel 3 und 15).
Sie führen in Schulen zu massiven Problemen beim Lernen. Verschenkt man iPhones53 oder lässt man Schüler ihr Smartphone in den Unterricht mitbringen,54 nimmt das Lernen ab; verbietet man Smartphones, nimmt das Lernen zu, wie eine große Studie an über 130 000 Schülern an 90 Schulen im Großraum London nachweisen konnte (▶Abb. 1).55
Abb. 1: Auswirkung des Handy-Verbots an 90 Schulen auf die Leistungen in der Abschlussprüfung von 16-Jährigen in Abhängigkeit vom zeitlichen Abstand zum Verbot zum Zeitpunkt »0« (Befunde der Londoner Ökonomen Louis-Philippe Beland & Richard Murphy aus dem Jahr 2015). Die Daten aller Schulen wurden auf den Zeitpunkt des Verbots und den Testwert zuvor bezogen, der auf »0« gesetzt wurde. Die Leistungen vor dem Handy-Verbot schwankten nicht signifikant um Null und nehmen nach dem Verbot signifikant zu (die Fehlerbalken werden ganz rechts größer, weil weniger Messwerte in die Auswertung eingingen, denn es gab nicht sehr viele Schulen, die zum Erhebungszeitpunkt schon für acht oder neun Jahre ein Handy-Verbot implementiert hatten).
In einigen skandinavischen Ländern – Schweden, Finnland und auch Dänemark – wurde die Digitalisierung der Schulen im vergangenen Jahrzehnt stark vorangetrieben. Das Ergebnis war eine deutliche Verminderung der Schulleistungen der Kinder in diesen Ländern, wie eine vergleichende Auswertung der Daten von über 60 Ländern aus den PISA-Studien zeigte (▶Abb. 2): Der Zusammenhang zwischen den Ausgaben für Computer an Schulen und den Leistungen der Kinder in Mathematik ist negativ, d. h. je mehr in einem Land in Computer an Schulen (pro Schüler) investiert wurde, desto eher hat sich die Leistung der Schüler in diesem Land verringert.56 Besser lassen sich die verheerenden Auswirkungen der Digitalisierung von Schulen kaum demonstrieren. Betrachten wir Beispiele dieser weltweiten Misere: War Finnland zu Beginn der PISA-Erhebungen vor knapp 20 Jahren noch als (von vielen Ländern beneideter) Sieger hervorgegangen, so liegt das Land mittlerweile im Mittelfeld. Es wurde dort viel Geld in die Digitalisierung von Schulen gesteckt. Ebenso erging es Australien. Dort investierte man im Jahr 2008 2,4 Milliarden australische Dollar in Computer an Schulen, um sie im Jahr 2016 (u. a. nach einem Besuch des Leiters der PISA-Studien, Herrn Andreas Schleicher, der die Daten aus ▶Abb. 2 und viele mehr vorstellte) wieder abzuschaffen.
Abb. 2: Veränderung der Leistungen von 15-Jährigen in Mathematik zwischen 2003 und 2012 in Abhängigkeit von Investitionen in Computer und digitalisierten Unterricht in unterschiedlichen Ländern der OECD (schwarze Punkte) und weiteren Ländern, die nicht der OECD angehören (graue Punkte; nach Schleicher 2015, S. 151). Die Korrelation ist mit −0,52 negativ, d. h. je mehr ein Land in die Digitalisierung der Schulen (berechnet pro Schüler) im Beobachtungszeitraum investiert hatte, desto deutlicher nahmen die Leistungen der Schüler in Mathematik ab.
In den vergangenen Jahren war in allen Medien und von vielen Politikern immer wieder gebetsmühlenhaft zu lesen und zu hören, dass Deutschland bei der Digitalisierung von Schulen noch abgeschlagen weit hinten läge. »Gott sei Dank!« – schoss es mir dann jedes Mal durch den Kopf.
Digitale Medien lenken die Aufmerksamkeit ab, schaden nachweislich dem Lernen und bewirken eine geringere Bildung. Dies zeigen nicht nur große in Deutschland hierzu schon vor Jahren durchgeführte Studien, sondern auch neuere und neueste Studien aus verschiedenen Ländern der Welt, vor allem aus den USA. So wird beim Mitschreiben im Unterricht oder während der Vorlesung mehr gelernt als beim Tippen am Computer, wie eine große Studie aus den USA nachweisen konnte, die den schönen Titel »Der Füllfederhalter ist mächtiger als die Tastatur« trägt.57 Multitasking ist im Hinblick auf komplexe Bedeutungsgehalte schlichtweg von keinem Menschen machbar58 – nicht einmal von Frauen! Wer es dennoch versucht, lernt weniger und trainiert sich eine Aufmerksamkeitsstörung an.59
Weiterhin zeigt sich immer wieder: Je weniger gebildet ein Mensch ist, desto mehr schadet ihm digitale Informationstechnik. Daher schaden Computer an Schulen vor allem den schwächeren Schülern. Es wird zwar immer wieder behauptet, dass vor allem sozial benachteiligte und schwächere junge Menschen von der Digitalisierung profitieren würden. Dies ist jedoch ideologisch motiviertes Wunschdenken. Betrachtet man nämlich die hierzu vorliegenden Fakten, so zeigt sich das Gegenteil (▶Abb. 3).
Abb. 3: Auswertung der Daten aus Abb. 2, d. h. Verbesserung der Schülerleistungen nach dem Verbot von Mobiltelefonen an der Schule, aufgeteilt nach fünf Untergruppen. Weil sehr viele Schüler (über 130 000!) untersucht worden waren, war es möglich, alle Schüler nach ihrem Zeugnis-Noten-Durchschnitt vor dem Mobiltelefonverbot in fünf Gruppen einzuteilen: Die 20% schwächsten Schüler (Gruppe 1), die nächsten 20% schwachen Schüler (Gruppe 2), die mittleren, durchschnittlichen 20% der Schüler (Gruppe 3), die guten 20% (Gruppe 4) und besten 20% (Gruppe 5). Wie die Abbildung zeigt, profitierten die schwächsten Schüler am meisten vom Verbot, die besten gar nicht. Das zeigt umgekehrt, dass man den schwächsten Schülern mit dem Erlauben von Smartphones an Schulen oder gar im Unterricht am meisten schadet.
Gesundheits- und Bildungswesen lassen sich nicht völlig unabhängig voneinander betrachten, denn einerseits lebt ein gesunder Geist in einem gesunden Körper (mens sana in corpore sano), und andererseits bewirkt eine höhere Bildung ein längeres Leben. Ein noch kaum bekanntes Beispiel hierfür sind dementielle Erkrankungen. Ihre Ursachen sind vielfältig und reichen von neuronalem Zelltod durch Ablagerungen (wie beispielsweise bei der Alzheimer-Krankheit) über Durchblutungsstörungen (bei der Multi-Infarkt-Demenz), den beiden häufigsten Ursachen, bis hin zu Dutzenden selteneren Erkrankungen innerhalb und außerhalb des Gehirns, bei denen das Gehirn Schaden nimmt.
Was jedoch kaum Beachtung findet: Für den geistigen Abstieg (lateinisch: de mens – »herab« mit dem »Geist«) gilt, was für jeden Abstieg gilt: je größer die Höhe, von der man beginnt abzusteigen, desto länger dauert es, bis man unten ist (▶Abb. 4). Seit Jahren ist bekannt: Der bedeutendste protektive Faktor im Hinblick auf die Entwicklung einer Demenz ist die in Kindheit und Jugend erreichte Bildung eines Menschen.60 Ein zweiter, wenn auch schwächerer Schutzfaktor ist körperliche Aktivität: Das beste »Gehirnjogging« ist – Jogging! Denn bei körperlicher Aktivität wachsen im Gehirn neue Nervenzellen nach, wie man zunächst bei Mäusen und später auch beim Menschen nachweisen konnte. Das Nachwachsen erfolgt zudem genau dort, wo Nervenzellen auch stressbedingt absterben können. Körperliches Training wirkt also ebenso ursächlich gegen geistigen Abstieg wie die bis zum jungen Erwachsenenalter erreichte Bildung!
Da sich Smartphones auf beide Faktoren – Bewegung und Bildung – negativ auswirken und sowohl die körperliche als auch die geistige Aktivität eines Menschen deutlich beeinträchtigen – und damit dessen Bildung und körperliche Gesundheit –, ist die Rede von der digitalen Demenz keine Leerformel und auch nicht in irgendeinem »übertragenen Sinn« gemeint. Sie verleiht vielmehr der Befürchtung klaren Ausdruck, dass uns diese bekannten Zusammenhänge künftig vor große medizinische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen stellen werden, wenn wir den Kopf weiter in den Sand stecken.
Abb. 4: Nachgewiesene Determinanten von geistigem Aufstieg (Bildung) und Abstieg (Demenz), nach Spitzer 2012.
Digitale Informationstechnik schadet nicht nur der körperlichen und geistigen Gesundheit sowie der Bildung des Einzelnen, sondern hat auch äußerst ungünstige Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Schon die körperlichen und seelischen gesundheitlichen Folgen von Smartphones als auch deren ungünstiger Einfluss auf die Bildung haben eine gesellschaftliche Dimension. Depressive Menschen beispielsweise sind oft durch sozialen Rückzug und die damit verbundene nicht mehr mögliche aktive Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben charakterisiert. Mangelnde Bildung hat direkte Auswirkungen auf die Urteilsfähigkeit und damit auf die Manipulierbarkeit eines Menschen. Die insgesamt abnehmende Grundbildung der Bevölkerung durch digitale Informationstechnik wird daher zu einer Bedrohung unserer demokratischen Gesellschaft.
Wenn Menschen Zeit miteinander verbringen, sich austauschen, ihre Erlebnisse, Gedanken und Gefühle teilen, dann geschieht dies unvermittelt, d. h. im direkten Austausch. Wir spüren die Emotionen des anderen an der Sprachmelodie, dem Gesichtsausdruck, der Gestik und manchmal am Schweißgeruch. All dies erlebt man nicht mit Bildschirm, Lautsprecher und Tastatur, denn Medien sind – wörtlich! – »das Vermittelnde«, also das genaue Gegenteil von Unmittelbarkeit. Aus diesem Grund können soziale Online-Medien Unzufriedenheit und Depressivität hervorrufen, wie US-amerikanische Studien61 und eine randomisierte kontrollierte dänische Studie62 an mehr als tausend Teilnehmern nachweisen konnten.
Weiterhin gilt: Empathie lernt man ganz ähnlich wie das Laufen und Sprechen. Man braucht hierzu Zehntausende direkter Kontakte mit anderen Menschen. Werden diese unmittelbaren Kontakte durch Bildschirmmedien verdrängt, dann finden sie nicht mehr statt. Entsprechend wurde gefunden, dass die Empathie von Jugendlichen für ihre Eltern und ihre Freunde um so geringer ist, je mehr Stunden sie täglich vor Bildschirmen verbringen.63 Empathie hat immer eine emotionale Komponente – das Mitgefühl – und eine kognitive Komponente, nämlich die Fähigkeit zum Einnehmen der Perspektive eines Anderen.
Gerade dadurch, dass Smartphones immer und überall verfügbar sind, sind auch soziale Online-Medien, die heute zum größten Teil über Smartphones aufgerufen werden, immer und überall verfügbar. Und genau das macht sie zum Problem: Wenn Kinder und Jugendliche einen Großteil ihrer Sozialkontakte über das Smartphone abwickeln, dann können sie eines nicht lernen: Empathie (Kapitel 9). Die Folgen betreffen uns alle: Bei Unfällen wird nicht mehr geholfen, sondern die Opfer werden fotografiert oder gefilmt und gleich ins Netz gestellt. – Weniger Empathie geht nicht! Dass im Deutschen Bundestag im Frühjahr 2018 ein Gesetz diskutiert wurde, das dieses Verhalten unter Strafe stellt, zeigt im Grunde ja nur, wie wenig Empathie hierzulande nur noch vorhanden ist. Fotoapparate gibt es seit über hundert Jahren. Ein solches Gesetz brauchen wir erst, nachdem es Smartphones für zehn Jahre gegeben hat.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Wer schon Freunde hat und ein fertig entwickeltes Gehirn, der kann in Kontakt bleiben, sich verabreden und gemeinsame Aktivitäten planen und dafür soziale Online-Medien nutzen, wie man sich früher Rauchzeichen gegeben, Briefe geschrieben, oder schlicht verabredet hat. Aber der Ersatz von realen sozialen Begegnungen durch Bildschirme und Lautsprecher in großem Ausmaß – täglich mehrere Stunden – führt bei Kindern und Jugendlichen (d. h. während der Zeit, in der sich soziale Fähigkeiten noch entwickeln) zu nachweisbaren Störungen einer normalen und gesunden Entwicklung ihrer sozialen Fähigkeiten. Viele Jugendliche haben das übrigens begriffen, sonst hätte, wie bereits erwähnt, das Jugendwort des Jahres 2015 nicht »Smombie« gelautet (siehe Kapitel 6).
Kinder sollten zudem viel Zeit mit und in der Natur verbringen, weil dies ihrer Gesundheit und ihrer Entwicklung nachweislich guttut.64, 65 Wir müssen dem Trend entgegenwirken, dass sich Kinder vor allem in Technik-dominierten Umgebungen in Gebäuden aufhalten und sich mit künstlichen Dingen anstatt mit der Natur beschäftigen (Kapitel 5).66 Wird die Zeit in der Natur durch Zeit vor Bildschirmen ersetzt, entsteht das, was man mittlerweile Natur-Defizit-Syndrom nennt, worauf bereits vor mehr als einem Jahrzehnt in den USA hingewiesen wurde.67
Vertrauen gehört zum »gesellschaftlichen Kapital«, senkt es doch in ökonomischer Hinsicht die Kosten jeglicher Transaktionen von Geld und Gütern und macht damit eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung überhaupt erst möglich. Es ist schwer gewonnen, nämlich nur durch vertrauenswürdiges Verhalten, bei dem es um – aufgrund von entsprechenden Vorerfahrungen – vorhersagbares Verhalten geht, d. h. um Verlässlichkeit. Daher ist Vertrauen auch sehr leicht verspielt und dann nur langsam und mühevoll wieder aufzubauen. Das Ausmaß an Grundvertrauen in fremde Menschen ist in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich, wie Ökonomen nachgewiesen haben. Dieses Grundvertrauen basiert letztlich auf sehr vielen Einzelerlebnissen im sozialen Bereich.
Hier stört das Smartphone: Werden die täglichen kleinen Begegnungen mit Fremden – nach dem Weg fragen, den Kaffee an der Ecke bezahlen, sich nach etwas oder jemandem erkundigen – durch das Smartphone ersetzt, so führt dies nachweislich zu einem Verlust des Grundvertrauens gegenüber anderen Menschen und damit zu einem Verlust am »Schmierstoff«, der unser Zusammenleben überhaupt erst ermöglicht.68, 69, 70