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Endlich im Taschenbuch Gedanken lesen, in das Bewusstsein anderer Menschen eindringen, Nachwuchsagent an der Myers Holt Academy sein – all das sollte eigentlich bald aufhören für Chris Lane. Denn sein dreizehnter Geburtstag steht vor der Tür und damit das Ende seiner außergewöhnlichen Gabe. Doch dann kommt die Nacht vor seinem Geburtstag und etwas Seltsames geschieht.
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Seitenzahl: 357
Veröffentlichungsjahr: 2015
Monica M. Vaughan
Die Spione von Myers Holt
Das dreizehnte Jahr
Aus dem Englischen von Karlheinz Dürr
Frühling in London. Zum ersten Mal seit Monaten kämpfte sich die Sonne durch die graue Wolkendecke und tauchte die Stadt in ein warmes, goldenes Licht. Der Park erwachte zu neuem, buntem Leben. Wer jung war oder sich jung fühlte, zog die Schuhe aus und setzte sich allein oder mit Freunden ins Gras, ältere Leute saßen auf Bänken, Büroangestellte stocherten mit kleinen Holzgabeln in ihren Fish and Chips, Hunde beschnüffelten einander, Kinder jagten ihren Bällen nach und Touristen in viel zu dicker Wintergarderobe starrten verblüfft in den blauen Himmel und wunderten sich, warum es nicht regnete.
Mitten in diesem bunten Treiben hastete ein Mann durch den Park. Mit gesenktem Kopf suchte er seinen Weg zwischen den auf dem Rasen ausgestreckten Sonnenhungrigen hindurch. Er ging schnell, wirkte aber nicht gehetzt. Allem Anschein nach – und er gab sich große Mühe, diesen Anschein zu erwecken – war er nur einer von vielen Büroangestellten, die nach der Mittagspause wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehrten. Hätte jemand ein bisschen genauer hingeschaut, wären ihm allerdings ein paar Anzeichen aufgefallen, dass der Mann nicht das war, was er zu sein vorgab: Der graue Nadelstreifenanzug hing ein wenig zu steif an ihm, als würde er zum ersten Mal getragen, sein lederner Aktenkoffer glänzte neu und unbenutzt und dann standen ihm auch noch Schweißperlen auf der Stirn und er hatte einen gestressten Gesichtsausdruck. Aber auf solche Kleinigkeiten achtete an diesem schönen Frühlingstag niemand – und wahrscheinlich hätte auch niemand erraten können, was der Mann plante.
Sofern man nicht Gedanken lesen konnte.
Auf dem Bolzplatz im hinteren Bereich des Parks, in der Nähe des Osteingangs, stürmte Sebastian mit dem Ball dicht am Fuß auf das gegnerische Tor zu. Christopher Lane konnte nur hoffen, dass Sebastian endlich einen Treffer erzielte, denn ihr Team lag 0 : 3 zurück – ein Rückstand, den sie in den letzten zehn Minuten des Spiels wahrscheinlich nicht mehr aufholen konnten. Trotzdem hatten sie die Hoffnung noch nicht völlig aufgegeben, denn das war immerhin das Finale des Fußballturniers. Als Chris sah, dass Sebastian von zwei gegnerischen Spielern angegriffen wurde, gab er seine Verteidigerposition auf und stürmte ebenfalls nach vorn.
Auf dem rechten Flügel hüpfte Rex aufgeregt herum. Knallrot im Gesicht, winkte er mit beiden Armen und schrie wie ein Irrer, um Sebastian auf sich aufmerksam zu machen.
»GIB AB, PEDRO!«
Es war kein sehr origineller Spitzname für Sebastian, der in Spanien aufgewachsen war. Rex hatte ihm den Namen verpasst, als er, Sebastian und Chris noch in Myers Holt gemeinsam zur Schule gingen. Myers Holt war eine vom Geheimdienst MI18 eingerichtete Geheimschule.
Sebastian blickte schnell herüber, sah Rex – und zögerte.
Rex stöhnte frustriert, als er sah, dass sich Sebastian wieder abwandte. »WAS MACHST DU DENN! GIB AB, MANN!«, brüllte er.
Chris blickte sich in vollem Lauf um – alle anderen seines Teams wurden eng gedeckt. Alle – außer Rex. Und dessen Unfähigkeit, auch nur einen einzigen halbwegs guten Ball in die richtige Richtung zu schicken, war auch dem gegnerischen Team längst aufgefallen. Aber zwei gegnerische Spieler hatten Sebastian fast erreicht, deshalb blieb diesem keine andere Wahl. Er stoppte den Ball unvermittelt und flankte dann – man konnte ihn dabei förmlich seufzen hören – zu Rex hinüber.
Trotz seines Gebrülls hatte Rex nicht so recht damit gerechnet, dass Sebastian ihn anspielen würde. Er zuckte zusammen, rannte ein paar Schritte, geriet ins Stolpern, schaffte es aber, den Ball mit dem linken Fuß zu stoppen.
»HER ZU MIR!«, brüllte Chris. Er hoffte, vielleicht ein wenig zu optimistisch, dass Rex den Ball einfach abgeben würde. Aber das hatte Rex natürlich nicht vor, denn er wollte das Tor selbst schießen.
»NEIN! ZU WEIT!«, schrie Sebastian.
Aber Rex achtete nicht darauf. Er setzte zum Schuss an, und im selben Augenblick, in dem die Gegner zum Tor rannten, um ihn abzuwehren, trat er mit aller Kraft gegen den Ball.
Chris und Sebastian erstarrten. Entsetzt verfolgten sie die Flugbahn. Der Ball stieg hoch in die Luft und seine Flugbahn verlagerte sich – weg vom Tor.
»Bitte nicht«, stöhnte Chris.
»REX!«, brüllte Sebastian und ballte frustriert die Fäuste.
Für Sekundenbruchteile starrte Rex dem Ball hilflos nach, dann wirbelte er zu Chris herum. »Tu es!«, formte er lautlos nur mit den Lippen.
Chris wusste genau, was er meinte.
»Vergiss es!«, sagte er. Aber zu seiner Verblüffung sah er, dass Sebastian zustimmend nickte.
»Tu es!«, schrie Rex. »TU ES DOCH!«
»Wäre unfair«, sagte Chris zögernd.
»CHRIS! TU ES SOFORT!«, brüllte Rex ihn verzweifelt an. »Aaaahhrrrgh!«
Zu spät. Der Ball war weit am Tor vorbeigeflogen und hinter der Torlinie gelandet. Er hüpfte noch dreimal durch das Gras und rollte unter eine Parkbank.
Rex warf Chris einen finsteren Blick zu und lief wütend los, um den Ball zu holen.
»Tut mir leid«, sagte Chris zu Sebastian.
Der zuckte mit den Schultern. »Ich kann’s verstehen.« Aber er sagte es ohne rechte Überzeugung.
Der gegnerische Torwart hatte sich inzwischen den Ball für den Abschlag bereitgelegt, und bevor Chris noch etwas sagen konnte, lief Sebastian los, um den Ball zurückzuerobern.
Chris bewegte sich nicht von der Stelle, wie festgenagelt von Schuldgefühlen und Unsicherheit. Hatte er seine Freunde im Stich gelassen? Wäre mogeln nicht besser gewesen? Aber es war alles so schnell gegangen. Vielleicht, dachte Chris, vielleicht hätte ich doch …
»CHRIS!«
Erschrocken blickte er sich um – der Ball flog direkt auf ihn zu. Er rannte los, aber es war schon zu spät. Der Ball rollte ins Aus.
»Du WILLST wohl, dass wir verlieren?!«, brüllte Rex wütend.
Chris blieb der Mund offen stehen. »Was? Natürlich nicht!«
»Dann wach endlich auf ! Und beim nächsten Mal tust du es! Wir können immer noch gewinnen, aber nur, wenn du mithilfst!«
Chris seufzte und wandte den Blick ab. Rex täuschte sich. Auch wenn er sämtliche Bedenken verdrängte und seine GABE einsetzte, würde er das Spiel nicht mehr herumreißen können. Sogar für ein Unentschieden hätte er den Ball mit seiner mentalen Kraft dreimal ins gegnerische Netz umlenken müssen, doch dazu hätten sie ebenso oft wenigstens in die Nähe des Tors kommen und ein paar glaubhafte Schüsse abgeben müssen, damit die Sache halbwegs plausibel aussah. Und das alles in den wenigen Minuten, die ihnen noch blieben. Die einzige andere Möglichkeit war, dass Chris den Ball mit seiner GABE anhob und ihn frech direkt ins gegnerische Tor fliegen ließ, ohne dass ihn jemand auch nur ungefähr in diese Richtung gekickt hätte. Und das drei- oder viermal! Kein Mensch hätte dann noch geglaubt, dass das alles mit rechten Dingen zuging. Deshalb hätte er danach die Erinnerung aller anderen Spieler und der wenigen Zuschauer löschen müssen, die die Sache beobachtet hatten – wenn er nicht riskieren wollte, dass dieses sensationelle Ereignis am nächsten Morgen die Schlagzeilen sämtlicher Zeitungen beherrschte.
Bis zum Abpfiff brachte das Team von Chris keinen einzigen direkten Schuss auf das gegnerische Tor zustande, worüber der insgeheim sehr froh war. Sie verloren 0 : 3. Als Chris sich mit seinem Team sammelte, tröstete er sich mit dem Gedanken, dass er ohnehin keine weitere Möglichkeit mehr gehabt hatte, etwas am Ergebnis zu ändern, selbst wenn er bei Rex’ katastrophal schlechtem Schuss auf das Tor seine GABE eingesetzt hätte. Leider war Rex ganz anderer Meinung, wie Chris dessen wütender Miene entnehmen konnte.
»Vielen Dank auch!«, knurrte Rex ironisch, als Chris sich mit einem Getränk ins Gras fallen ließ.
»Gib Chris nicht die Schuld«, sagte jemand.
Rex überhörte den Einwand. »Warum hast du nichts unternommen?«
Sebastian packte Rex am Oberarm. »Hör auf damit!«
Rex schüttelte seine Hand ab. »Mir doch egal! Wir sind nicht mehr in Myers Holt!«
»Halt. Die. Klappe!«, zischte Chris.
»Du hast mir gar nichts zu befehlen! Es wäre so leicht für dich gewesen! Wir hätten gewonnen! Du hättest nur für eine Sekunde die Augen zumachen …«
Instinktiv sprangen Sebastian und Chris gleichzeitig auf, packten Rex an den Armen und schleppten ihn ein paar Meter von der Mannschaft weg.
»Was soll das, Rex!«, knurrte Chris halblaut, aber voller Wut, während sie Rex ins Gras fallen ließen.
»Ich kapier nicht, warum!«, rief Rex, der nun ebenfalls rot vor Wut war. »Du hättest das Match für uns entscheiden …!«
Sebastian hielt Rex den Mund zu.
»Wie denn?«, fauchte Chris. »Selbst wenn ich deinen blöden Schuss ins Tor gelenkt hätte – wir hätten trotzdem verloren!«
Rex stieß Sebastians Hand weg. »Aber vielleicht auch nicht! Du hättest es wenigstens versuchen können. Wenn du …«
»Und überhaupt«, unterbrach ihn Chris heftig. »Das wäre Beschiss gewesen! Ich schummle nicht! Du vielleicht, aber ICH NICHT!«
»Okay, dann BIN ICH EBEN EIN SCHUMMLER!«, brüllte Rex, dem vor Wut fast die Augen aus dem Kopf traten. »ABER WENIGSTENS BIN ICH KEIN KILLER!« Die Worte waren kaum ausgesprochen, als er sich auch schon erschrocken selbst den Mund zuhielt.
Chris erstarrte.
»REX!«, brüllte Sebastian.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen, während Rex und Sebastian auf Chris’ Reaktion warteten. Aber Chris sagte nichts.
»Es … es tut mir leid«, stieß Rex schließlich hervor, nun plötzlich zögernd und unsicher. »Ich … hab keine Ahnung, warum ich … das gesagt hab. Ich weiß doch, dass es ein Unfall war. Ich drehe einfach immer durch, wenn ich verliere …«
Aber Chris hörte gar nicht mehr hin. Und sah auch nicht mehr wütend aus. Etwas anderes hatte ihn zu sehr abgelenkt: Er war voll und ganz auf einen Mann konzentriert, der gerade in der Nähe vorbeigegangen war.
Auf einen Mann in grauem Anzug, der einen schwarzen Aktenkoffer trug.
Auf einen Mann, der etwas so intensiv dachte, dass Chris den Gedanken hörte, obwohl er gar nicht versucht hatte, in seine Gedanken einzudringen.
Rex folgte Chris’ Blick und schaute sich um. Dann wandte er sich wieder an seinen Freund. »Chris? Alles okay? Es tut mir echt leid.«
Chris reagierte immer noch nicht.
»Chris? Echt, Kumpel, ich hab’s nicht so gemeint, Mann! Sag doch was!«
»Was sollte das, Rex?«, fragte Sebastian vorwurfsvoll. »Du bist wohl total verrückt!«
»Oh nein«, murmelte Rex. »Ich glaube, er dreht wieder durch. Chris …?«
Chris spürte, dass ihn jemand an der Schulter rüttelte.
»Chris«, sagte Rex, nun sehr langsam. »Ich … bin … es …, Rex … Kannst … du … mich … hören?«
Chris schüttelte plötzlich so heftig den Kopf, dass Rex erschrocken zurückfuhr.
»Was ist los?«, fragte Sebastian.
Chris schaute Rex und Sebastian mit weit aufgerissenen Augen an.
»Der Mann dort«, sagte er und nickte zu der grau gekleideten Gestalt hinüber. »Ich glaube, der will jemanden umbringen.«
»Nicht zittern. Pistole festhalten … Nicht zittern … Pistole …«
Das war es, was Chris mitten im Streit mit Rex gehört hatte.
Kurz vor seinem dreizehnten Geburtstag hatte Chris eher zufällig entdeckt, wie er seine übersinnlichen Fähigkeiten behalten konnte. Bis zu diesem Tag hatte er angenommen, dass seine GABE, die am zwölften Geburtstag zu wirken begonnen hatte, am dreizehnten ebenso plötzlich wieder verschwinden würde. Und bis dahin hatte er wie jeder andere Zwölfjährige, der über diese besonderen mentalen Fähigkeiten verfügte und darüber Bescheid wusste (das waren allerdings nicht sehr viele), in das Bewusstsein eines anderen Menschen eindringen müssen, wenn er erfahren wollte, was dieser Mensch gerade dachte. Manchen fiel das ziemlich schwer, doch Chris hatte damit nie Probleme gehabt. Aber auch er hatte immer ganz bewusst in den Verstand eines anderen Menschen eindringen müssen, sonst wäre es ihm nicht gelungen. Doch seit dem Tag, an dem seine GABE zu einer ständigen Fähigkeit geworden war, schien sie immer stärker geworden zu sein. Das ging so weit, dass er sehr intensiv gedachte Gedanken anderer Menschen mit anhören musste, ohne es selbst zu wollen. Es reichte schon, wenn dieser Gedanke stark oder heftig genug gedacht wurde und wenn der betreffende Mensch in Chris’ Nähe war.
»Nicht zittern. Pistole festhalten.«
Der Gedanke dieses Mannes hatte Chris völlig überrumpelt und einen Augenblick lang glaubte er, sich verhört zu haben.
»WAS?!«, rief Rex entsetzt, als Chris ihnen erzählte, was er gehört hatte.
»Bist du absolut sicher?«, fragte Sebastian.
Chris zuckte mit den Schultern. »Ich glaub schon. Aber wartet mal, ich gehe in seine Rezeption.«
Dafür blieb ihm allerdings nicht mehr viel Zeit. Der Mann entfernte sich schnell und würde schon in wenigen Sekunden so weit entfernt sein, dass Chris nicht mehr in sein Bewusstsein eindringen konnte.
Chris ließ seine Augen glasig werden. Ein paar Momente später blitzte es grell auf, und als das grelle Aufleuchten abklang, fand er sich in der Rezeption des Unbekannten wieder – einem großen weißen Raum, in dem alle Gedanken schwebten, die der Mann in diesem Augenblick dachte. Obwohl Chris die Rezeption dieses Mannes noch nie betreten hatte, kam ihm der Raum bekannt vor, denn er glich allen anderen Rezeptionen, in denen er schon gewesen war. Aber er wusste, dass die Karte des Bewusstseins dieses Mannes so einzigartig war wie der Stadtplan jeder Stadt dieser Welt: Sobald er die Tür an der hinteren Wand der Rezeption öffnete, würde Chris in eine Art Gedankenstadt gelangen – eine Ansammlung von Gebäuden, in denen alle Erinnerungen und sämtliche Gedanken dieses Menschen gespeichert waren, wie auch das gesamte Wissen, über das der Unbekannte verfügte oder jemals verfügt hatte. Diese Bewusstseinsstadt spiegelte die Persönlichkeit des Mannes wider, sowohl im Muster ihrer Straßen als auch in der Bauweise der Gebäude.
»Was siehst du?«, hörte Chris Rex fragen.
Der Raum war leer, vollkommen leer, von ein paar vertraut wirkenden großen Farbblasen abgesehen, die im Raum herumschwebten, völlig gewichtslose Gebilde in allen möglichen Farben und Größen.
Chris ging zum größten Gedanken, einem kugelförmigen Gebilde aus ineinander verflochtenen, sich ständig um sich selbst windenden farbigen Fäden. Die Blase war fast doppelt so groß wie Chris, und als er sich ihr näherte, wirbelten die Farben immer schneller durcheinander, bis sie schließlich ineinanderflossen und sich die Blase zu einer großen, schwarzen Fläche ausbreitete – dem perfekten Abbild einer schwarzen Tür. Chris fand kaum Zeit, zu erkennen, was es war, als die Tür auch schon wieder verschwand und ein weiteres Abbild an ihre Stelle trat: eine Überwachungskamera, die hoch oben an einer Wand installiert war. Dann erschien ein weiteres Bild: eine glitzernde Halskette … eine weitere … noch eine … Je angespannter ein Mensch war, desto weniger zusammenhängend erschienen seine Gedanken. Und nach dem schnellen Wechsel der Bilder zu urteilen, war dieser Mann extrem nervös. Wenn die Gedanken nicht hörbar gewesen wären – die Stimme des Mannes, die den Gedanken praktisch aussprach –, hätte Chris keine Ahnung gehabt, woran der Mann gerade dachte.
»Denk an die Kameras 1 und 2 … Muss den Koffer so halten, dass ihn der Wärter nicht sieht … Öffnen und Knarre herausnehmen in einer einzigen Bewegung, aber erst, wenn sie die Schatulle auf den Tresen legt …«
Eine Checkliste, dachte Chris. Plante der Mann einen Raubüberfall? Mit geschlossenen Augen schilderte er Rex und Sebastian, was er gerade sah.
»Vielleicht denkt er auch nur an einen Film, den er gesehen hat«, vermutete Sebastian. Chris hörte seine Stimme zwar klar, aber gedämpft.
Auch das war möglich, Chris war sich nicht sicher. Aber vielleicht war wirklich ein Verbrechen geplant. Chris brauchte mehr Informationen, aber es würde zu lange dauern, aus der Rezeption in das Straßengewirr hinauszulaufen und nach genaueren Angaben zu suchen. Inzwischen war der Mann ohnehin schon fast außer Reichweite.
Dann kam ihm eine andere Idee. Er zog sich aus der Rezeption des Mannes zurück. Sofort war er wieder im Park und er öffnete die Augen. Lärm, Stimmen, Licht, Bewegungen waren wieder da, aber im Gegensatz zur Rezeption, wo er alles nur gedämpft wahrgenommen hatte, war nun alles wieder laut, hell und scharf. Chris sprang auf und blickte zum Parktor, aber der abrupte Übergang hatte ihn so verwirrt, dass es ein paar Sekunden dauerte, bis er den Mann wieder entdeckte. Der hatte das Parktor inzwischen fast erreicht. Chris beobachtete ihn. Sein Blick glitt unwillkürlich zu dem Aktenkoffer, den der Fremde in der Hand hielt. Er holte tief Luft, sein Blick wurde erneut glasig und er benutzte seine GABE, um in den Koffer hineinzuschauen.
Der Aktenkoffer enthielt nur einen einzigen Gegenstand.
Eine Pistole.
Es war weder geplant noch beabsichtigt gewesen, dass Chris seine GABE für immer behalten sollte. Das war mehr oder weniger zufällig geschehen, als er in seinem Gedächtnis nach Erinnerungen an seinen vor langer Zeit verstorbenen Vater gesucht hatte. Am nächsten Morgen, seinem dreizehnten Geburtstag, hatte er entdeckt, dass er bei seiner Suche irgendetwas getan haben musste, das dafür gesorgt hatte, dass seine GABE immer noch funktionierte.
Noch am selben Tag hatte er sich geschworen, niemandem zu erzählen, was geschehen war. Doch zwei Tage später hatte er seinen Schwur bereits gebrochen und seinen Freunden aus Myers Holt davon erzählt. Denn eins war ihm schon vor langer Zeit klar geworden: Es würde nicht gut enden, wenn er etwas vor seinen Freunden geheim halten wollte. Außerdem vertraute er ihnen. Schließlich hatten sie genau wie er selbst mit eigenen Augen gesehen, welchen Schaden die GABE anrichten konnte.
Natürlich waren sie sehr erstaunt gewesen, vielleicht auch ein wenig neidisch oder verärgert, weil sie nicht selbst auf die Idee gekommen waren, aber glücklicherweise hatten sie Chris zugestimmt: Es würde nichts bringen, anderen Leuten zu erzählen, wie man es einrichten konnte, dass die GABE ein Dauerzustand wurde.
Und deshalb wussten jetzt nur sechs Menschen auf der ganzen Welt, dass Chris die GABE immer noch besaß. Er hatte vor, die Zahl der Mitwisser auf sieben zu erhöhen – allerdings hatte er noch nicht den richtigen Moment erwischt, die Sache seiner Mutter zu erklären. Aber danach würde er niemandem mehr davon erzählen. Tief im Inneren hatte er zwar geahnt, dass sich etwas ereignen könnte, das ihn zwingen würde, auch noch jemand anderen in das Geheimnis einzuweihen. Aber niemals hatte er damit gerechnet, dass es schon so bald geschehen würde – und erst recht nicht, dass er gezwungen sein würde, sein Geheimnis so vielen Menschen zu enthüllen.
»Bist du sicher?«, fragte Sebastian, als Chris hastig erzählte, was geschehen war.
»Natürlich bin ich sicher! Er hat definitiv eine Knarre!« Chris war so verstört, dass er Sebastian regelrecht anschrie.
»Okay, schon gut, reg dich ab.«
»Was soll ich machen? Wir müssen ihn aufhalten!«
»Kannst du herausfinden, wohin er geht?«, fragte Sebastian.
»Kann es ja mal versuchen.«
Chris konzentrierte sich wieder auf den Mann, der inzwischen das Parktor hinter sich gelassen hatte. Obwohl er schon sehr weit entfernt war, versuchte Chris noch einmal, in die Rezeption des Fremden einzudringen. Es blitzte schwach auf und dann … nichts. Chris versuchte es erneut. Jetzt war der Blitz sogar noch schwächer.
Enttäuscht schüttelte er den Kopf. »Keine Chance. Er ist schon zu weit weg.«
Einen Augenblick lang überlegte Chris, ob er dem Mann folgen sollte, aber die anderen Spieler seines Teams hockten mit ihren Sandwiches in der Nähe im Gras. Sie achteten zwar nicht auf die drei Freunde, aber Chris konnte trotzdem nicht einfach abhauen, ohne dass es ihnen auffallen würde.
Rex schnippte plötzlich mit den Fingern. »Ist doch klar, was du tun musst!«, rief er. »Verfolge ihn – aus der Ferne!«
Bevor Chris antworten konnte, sprang Rex auf und rannte davon.
Verfolgen, dachte Chris, natürlich!
Er nahm sich keine Zeit zu überlegen, wohin Rex lief – der Mann war bereits außer Sichtweite. Chris fokussierte seine Gedanken auf das Parktor, und genau wie Rex vorgeschlagen hatte, ließ er von dort sein »geistiges Auge« weiterschweifen, bis er die Straßenszene außerhalb des Parks deutlich vor sich sah.
In die Rezeption eines Menschen konnte Chris nur eindringen, wenn er sich direkt in dessen Nähe befand. Aber das Verfolgen und Beobachten aus der Ferne war etwas anderes – dafür hatte Chris für sich vor Kurzem eine neue Bezeichnung erfunden: »Adlerblick« nannte er es jetzt, weil er sich dabei vorkam, als würde er wie ein Adler über dem Geschehen schweben. Der »Adlerblick« brachte zwar nicht so viele Informationen wie das Eindringen in die Gedankenstadt eines Menschen, war aber auch weit weniger anstrengend – praktisch eine Art Fern-Sehen im wörtlichen Sinn: So konnte er die Ereignisse beobachten, ohne selbst dort (oder auch nur in der Nähe) zu sein, gerade so, als würde er eine Direktübertragung im Fernsehen anschauen. Das mochte zwar nicht die beste Lösung sein, aber wenigstens konnte Chris so herausfinden, wohin der Mann unterwegs war.
Rex schaffte es nicht oft, seine Freunde zu beeindrucken. Meistens nervte er sie nur oder war faul, laut und taktlos (und manchmal alles gleichzeitig), aber oft war er auch ziemlich witzig. Deshalb hatten Chris und Sebastian ganz bestimmt nicht damit gerechnet, dass Rex in diesem Moment derart klar und logisch denken würde. Und doch war es so: Rex kam wieder zurück und er hatte nicht nur sein Handy aus seiner Sporttasche geholt, sondern sich auch einen Plan ausgedacht.
»Ruf die Polizei an«, sagte Rex und hielt Chris das Handy hin.
Chris zog sich kurz aus der Straßenszene zurück, die er mit dem Adlerblick beobachtet hatte, und schaute verblüfft auf das Telefon. Aber er griff nicht danach.
»Und was soll ich sagen?«, fragte Chris. »›Entschuldigen Sie die Störung, Officer, es ist zwar noch nichts passiert, aber ich möchte trotzdem schon mal einen bewaffneten Raubüberfall melden, weil er sich nämlich bald ereignen wird.‹«
»Idiot! Du brauchst ja nicht zu erzählen, warum du das weißt. Du musst nicht einmal deinen Namen verraten. Sag einfach, dass du etwas erfahren hast, das so wichtig ist, dass sie es wissen müssen … Was macht er gerade?«
Chris zuckte zusammen. Rex hatte ihn mit seiner Zwischenbemerkung völlig von der Beobachtung des Mannes abgelenkt. Schnell schloss er die Augen und wartete, bis die Straßenszene, in der er den Mann zuletzt gesehen hatte, wieder Gestalt annahm.
Auf dem breiten Gehweg herrschte großes Gedränge – hauptsächlich Einheimische, die ihren Geschäften nachgingen und es deshalb eilig hatten, sich aber zwischen den zahlreichen Touristen hindurchdrängeln mussten, die gemächlich durch die Straßen schlenderten. Chris schwebte sozusagen wie ein tief fliegender Adler über die Köpfe hinweg. Jedes Mal, wenn er einen Mann in grauem Anzug erspähte – und davon gab es ziemlich viele –, betrachtete er ihn genauer, nur um dann herausfinden zu müssen, dass er nicht der Gesuchte war. Er war fast schon überzeugt, den Mann verloren zu haben, als er ihn plötzlich entdeckte, wie er gerade in die Regent Street einbog. Er schien es jetzt viel eiliger zu haben.
»Chris? Rufst du an?«, drängte Rex.
Der Mann überquerte die Straße. Wohin ging er bloß?
Wieder hörte er Rex fragen, dann enttäuscht seufzen. »Vergiss es«, murrte Rex genervt. »Muss ich denn alles selber machen?«
Chris nahm vage wahr, dass Rex eine Nummer eintippte.
»Polizei«, sagte Rex einen Augenblick später.
»Er geht die Regent Street entlang«, sagte Chris.
»Ich möchte einen Raubüberfall melden«, sagte Rex. »Äh, nein, das kann ich Ihnen nicht sagen … Warum nicht? Na ja, weil … weil er eigentlich noch nicht passiert ist …«
Chris folgte dem Telefonat, so gut er konnte, ohne den Mann aus den Augen zu verlieren. »Sag ihnen, dass er jetzt in der Montague Street ist«, sagte er und beschrieb dann den Mann, so genau es ging, bis Rex ihn unterbrach und bat, ein bisschen langsamer zu sprechen.
»Ja, stimmt – eine Pistole. Nein, keine Wasserpistole … natürlich ist es eine echte Pistole, sonst würde ich nicht anrufen! Vielleicht schicken Sie schon mal einen Hubschrauber los oder was auch immer … Nein, wir wissen noch nicht, wohin … Nein, wissen wir auch nicht … Moment, ich frage mal nach: … Weißt du, wie er heißt?«
Chris schüttelte den Kopf. In seiner anfänglichen Panik hatte er gar nicht daran gedacht.
»Er kennt den Namen nicht. Nein, das ist kein Witz! Nein, er … Er weiß es einfach, okay? Er ist … so eine Art Hellseher, glaube ich. Schicken Sie jetzt jemanden los, oder was? Ich hab nicht den Eindruck, dass Sie es ernst genug nehmen … Der Mann hat eine Knarre, haben Sie das verstanden …? Gut … Ja, okay, ich bleibe am Telefon.«
Der Mann bog in eine Nebenstraße ein. Chris blickte zum Straßenschild hinauf.
»Sag ihnen, dass er jetzt in der Brookstone Avenue ist«, informierte er Rex.
Der Mann ging an ein paar Läden vorbei, bis er plötzlich stehen blieb. Chris sah, dass er in die Jacketttasche griff, ein Handy herausholte und auf das Display blickte. Offenbar wurde er angerufen. Auf dem Display stand nur ein einziger Buchstabe: G.
Bevor die GABE von Chris dauerhaft geworden war, hatte er Ereignisse, die außer Hörweite stattfanden, nur beobachten, aber nicht belauschen können. Erst vor Kurzem hatte er entdeckt, dass er ein Ereignis nicht nur beobachten, sondern aus großer Distanz auch hören konnte. Jetzt setzte er diese Fähigkeit zum ersten Mal richtig ein. Er kniff die Augen zu und konzentrierte sich darauf. Als hätte sein Gehirn nur auf eine Art Befehl gewartet, den Ton sozusagen einzuschalten, brach plötzlich ein höllischer Lärm los: Chris hörte den gesamten Trubel und das Stimmengewirr der Straße, in der sich der Mann befand. Er fokussierte sein Gehör auf das Handy, das der Mann nun ans Ohr drückte. Aus dem Umgebungslärm hob sich eine schroffe, raue Stimme heraus – die des Mannes, den Chris beobachtete.
»Was ist?«
»Wo sind Sie?«, antwortete eine Stimme am anderen Ende der Verbindung. Im Gegensatz zu dem Fremden, den Chris beobachtete, klang diese Stimme selbstsicher und gelassen. »Und melden Sie sich gefälligst nicht mit ›Was ist?‹, wenn ich anrufe! Hat Ihre Mutter Ihnen denn keine Manieren beigebracht?«
»Tut mir leid, Mr Grainger. Ich bin in der Blethren Street.«
»Nennen Sie mich nicht beim Namen!«, blaffte die Stimme, die diesem Mr Grainger gehörte. »Man kann nie wissen, wer da noch zuhört!«
»Tut mir leid, Mr Grain…, äh, Sir.«
»Schon besser. ›Sir‹ reicht vollkommen. Und nun hören Sie mir genau zu. Ihr Fluchtfahrzeug parkt gegenüber vom Geschäft. Silbernes Fahrzeug. Der Fahrer trägt eine schwarze Wollmütze …«
»Und wenn noch jemand anderer so eine Mütze aufhat?«
Eine lange Pause trat ein.
»Wollen Sie damit sagen«, antwortete Mr Grainger schließlich, »dass Sie glauben, zwei Männer würden an einem warmen Tag wie heute mit schwarzen Wollmützen auf dem Kopf gleichzeitig in silbernen Autos vor demselben Geschäft sitzen? Denn wenn Sie das wirklich glauben sollten, habe ich wohl den falschen Mann für den Job ausgesucht.«
»Äh, nein, Sir.« Der Mann wirkte jetzt noch nervöser als zuvor.
»Prima. Sie machen Ihren Job, steigen ins Auto. Unterwegs wird das Fluchtfahrzeug gewechselt, dann kommen Sie hierher und übergeben mir das Halsband. Alles klar so weit?«
»Können Sie mir sagen, wohin wir fahren? Damit ich zu Ihnen kommen kann, auch wenn ich den Fahrer irgendwie verliere?«
Wieder trat eine lange Pause ein.
»Na gut, das ist keine schlechte Frage. Die Adresse ist 4 Plantation Lane. Ich lege jetzt auf. Werfen Sie dieses Handy in den nächsten Abfalleimer. Kapiert?«
»Jawohl, Sir.«
»Und noch etwas.«
»Ja, Sir?«
»Vermasseln Sie die Sache nicht … sonst wird es Ihnen bitter leidtun.«
»Äh … wird nicht passieren, Sir.«
Aber Mr Grainger hatte bereits aufgelegt.
Jetzt hatte Chris zumindest einen Namen und eine Adresse erfahren. Er gab die Information an Rex weiter. Rex meldete sie dem Beamten in der Notrufzentrale. Rex redete immer aufgeregter in das Handy. Offenbar hatte der Beamte keine Ahnung, was er mit einem Verbrechen anfangen sollte, das noch gar nicht geschehen war.
Chris beobachtete inzwischen einfach weiter, obwohl er mittlerweile heftige Kopfschmerzen bekommen hatte. Er schilderte, wie der Mann das Handy in einen Abfallbehälter warf, genau wie ihm Mr Grainger befohlen hatte. Als die Kopfschmerzen schier unerträglich wurden, blendete Chris den Ton aus, sodass er alles in völliger Stille beobachten konnte. Der Mann wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und ging weiter.
Kein Beobachter hätte den Augenblick bemerkt, in dem der Überfall tatsächlich begann: Ein Mann in grauem Anzug öffnete die Glastür eines unauffälligen Juweliergeschäfts, inmitten einer dunklen Hausfront. Chris allerdings wusste, dass gleich etwas passieren würde, und verfolgte die Szene ungefähr mit der Vorahnung, die man empfindet, wenn man eine amerikanische Krimiserie anschaut: Man weiß schon im Voraus, was als Nächstes passieren wird. In einem Film mit Tonspur wäre das nun der Moment gewesen, in dem die Musik an Tempo zulegt oder dramatische Basstöne zu hören sind. Als der Mann die Hand auf den Türgriff legte, warf Chris noch schnell einen Blick auf den Namen des Geschäfts, der über der Schaufensterfront stand.
»Brinks & Son«, informierte er Rex. »Sag ihnen, das Geschäft von Brinks & Son wird gerade überfallen.«
Er schaute schnell nach rechts und links die Straße entlang, aber es war kein Polizist in der Nähe. Dann zuckte er zusammen, als er das silberne Fluchtfahrzeug entdeckte, das auf der anderen Straßenseite parkte.
Erst in diesem Augenblick, als er den Mann mit der schwarzen Wollmütze sah, der offenbar in höchster Anspannung hinter dem Lenkrad saß, begriff Chris, was hier geschehen würde. Bisher war ihm alles wie eine Art Detektivspiel erschienen. Jetzt erst begann er zu ahnen, dass es eine sehr gefährliche Angelegenheit war. Sein Herz begann wie rasend zu pochen.
»WO BLEIBEN SIE?«, schrie er.
Rex brauchte die Frage nicht weiterzugeben. Chris hatte so laut geschrien, dass ihn der Beamte gehört hatte.
»Sie sind unterwegs«, meldete Rex.
Chris konzentrierte sich wieder auf den Mann, der nun in den Laden getreten war. Eine junge Dame war herbeigeeilt und hielt dem neuen Kunden die Tür auf. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse, ihr rotblondes Haar war streng zurückgebunden. Sie lächelte. Chris, der mehr wusste als sie, konnte kaum begreifen, dass die Frau beim Anblick des Mannes nicht nervös wurde. Aber das Gegenteil war der Fall: Sie begrüßte ihn freundlich und mit einer einladenden Geste.
Das Juweliergeschäft war geräumiger, als es von der Straße aus wirkte – ein großer, rechteckiger Raum mit hochglänzenden Marmorfliesen und funkelnden Vitrinen aus Chrom und Glas, in denen glitzernde Juwelen ausgestellt waren. Der Laden war völlig menschenleer, von einem mit ausdrucksloser Miene neben der Tür stehenden Sicherheitsmann und der Verkäuferin abgesehen.
»Was passiert jetzt?«, fragte Sebastian.
Chris zuckte die Schultern. »Nicht viel.«
Die Lippen der Verkäuferin bewegten sich. Chris war erschöpft. Es war anstrengend, die Konzentration so lange Zeit aufrecht zu halten. Trotzdem schloss er die Augen, ignorierte die pochenden Kopfschmerzen und konzentrierte sich auf den Ton. Jetzt hörte er die Verkäuferin sprechen.
»… Arcadia-Halsband ist einzigartig«, erklärte sie gerade. Durch die Kopfschmerzen hindurch klang ihre Stimme schwach und knisternd, wie bei einer schlechten Telefonverbindung. »Es haben sich schon viele Kunden dafür interessiert.«
Der Mann nickte und folgte ihr schweigend zu einer Glasvitrine in der hinteren Ecke des Verkaufsraums. Es lag nur ein einziges Schmuckstück darin – ein glitzerndes Halsband aus weißen, gelben und orangefarbenen Juwelen –, Diamanten wahrscheinlich. Kein Preisschild. Chris fiel plötzlich eine Bemerkung ein, die er einmal gehört hatte: »Wenn du erst nach dem Preis fragen musst, kannst du es dir ganz bestimmt nicht leisten.« Vermutlich waren damit Waren gemeint, die in Läden wie diesem hier verkauft wurden.
»Ihr Auftraggeber hat einen exzellenten Geschmack«, sagte die Frau und holte einen Schlüsselbund aus ihrer Jacketttasche. »Darf ich fragen, warum er sich gerade für dieses Halsband interessiert? Ein besonderes Geburtstagsgeschenk vielleicht, oder ein Hochzeitstag?«
»Mein Auftraggeber legt größten Wert auf seine Privatsphäre«, antwortete der Mann ausweichend.
Die Verkäuferin nickte lächelnd. »Das ist bei fast all unseren guten Kunden der Fall.«
Chris sah den Mann tief einatmen, als sich die Frau der Vitrine zuwandte, den passenden Schlüssel aus dem Bund auswählte und ins Schloss steckte. Das schien das Zeichen für den Wachmann zu sein, denn er kam herüber und steckte einen zweiten Schlüssel in das zweite Schlüsselloch. Sie drehten die Schlüssel gleichzeitig um. Die Glastür der Vitrine öffnete sich.
»Sie nimmt das Halsband heraus«, meldete Chris seinen Freunden.
»Haben Sie das gehört?«, fragte Rex aufgeregt ins Handy. »Und Sie lassen ihn einfach davonkommen …! Was? Das haben Sie schon vor zehn Minuten gesagt!«
»Sie trägt das Halsband zu einem Tresen … Sie setzen sich … Sie sagt, bei einer Sofortüberweisung könne er das Halsband direkt mitnehmen …« Chris war inzwischen so erschöpft, dass er Mühe hatte, konzentriert bei der Sache zu bleiben. Die Stimmen wurden schwächer, sodass er sie kaum noch verstehen konnte. »… Zwei Millionen und dreihunderttausend Pfund … zwei Millionen dreihunderttausend! Sie erklärt ihm, wie …«
Mehr hörte Chris nicht mehr. Seine Konzentration brach zusammen wie ein Kartenhaus. Der Ton verstummte völlig.
Die Verkäuferin zog eine Schublade auf und beugte sich darüber. Eine kleine Bewegung lenkte Chris’ Aufmerksamkeit auf den Mann zurück.
Er hatte den Aktenkoffer auf den Knien liegen. Ließ die Verschlüsse aufschnappen. Öffnete ihn einen Spaltbreit. Schob die Hand hinein …
»Er holt die Pistole heraus!«, rief Chris in Panik.
Der Mann erstarrte in der Bewegung, als sich die Frau plötzlich wieder aufrichtete und ein Formular und einen Kugelschreiber auf den Tresen legte. Lächelnd blickte sie den Kunden an, doch ihr Lächeln gefror, als sie sah, dass er seine Hand in den Aktenkoffer geschoben hatte.
»LAUF WEG!«, brüllte Chris sie an, aber natürlich war ihm klar, dass sie ihn nicht hören konnte.
Ihr Blick wanderte von seiner Hand zu seinem Gesicht, und seine grimmige Miene musste ihr wohl klargemacht haben, dass hier etwas nicht stimmte. Der Mann wiederum sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck plötzlich veränderte, sich voller Angst verzerrte. Als ihm klar wurde, dass sein Spiel aufgeflogen war, zögerte er keine Sekunde länger. Bevor sie ihren Schock überwinden und reagieren konnte, zog er blitzschnell die Hand aus dem Koffer. Die Waffe kam zum Vorschein. Er sprang auf, zielte auf die wie gelähmt dasitzende Verkäuferin und brüllte etwas. Etwas, das Chris nicht hören konnte.
Offenbar schrie die Frau auf. Der Wachmann kam von der Tür herüber – aber es war zu spät. Der Mann fuchtelte wild mit der Pistole herum, griff mit der freien Hand nach dem Halsband, stopfte es sich in die Jackentasche und lief rasch rückwärts zur Ladentür. Dort blieb er kurz stehen, die Waffe immer noch auf den Wachmann gerichtet, der sich schützend vor die geschockte Verkäuferin gestellt hatte, und tastete hinter sich nach dem Türgriff. Er schien jetzt etwas ruhiger zu werden, da der Raub erfolgreich verlaufen war und er den Laden fast schon verlassen hatte. Jedenfalls nickte er den beiden kurz zu, als wollte er sagen ›War nett, bei Ihnen einzukaufen‹. Dann drehte er sich um, riss die Tür auf und setzte den ersten Fuß auf den Gehweg, als …
Das Letzte, was Chris sah, bevor das Bild schwarz wurde, war der Mann, der zurückprallte und rücklings durch die Tür wieder in den Laden taumelte, als mehrere bewaffnete Polizisten mit schusssicheren Westen und schwarzen Helmen heranstürmten.
Chris öffnete die Augen und versuchte, den Blick auf Rex und Sebastian zu fokussieren, sah sie aber nur verschwommen. Sein Kopf dröhnte vor Schmerzen und alles drehte sich vor seinen Augen.
»Sie … haben ihn …«, flüsterte er, zu erschöpft, um noch mehr sagen zu können.
Rex nickte und hob das Handy wieder ans Ohr. »Okay, dann vielen Dank für Ihre … äh, Mitwirkung. Alles klar. Vielleicht beeilen Sie sich nächstes Mal ein bisschen, ja? Schließlich hätte heute jemand ums Leben kommen können … Wie mein Freund heißt? … Na ja, er möchte seine guten Taten gern anonym … Ja, okay, okay. Er reißt mir den Kopf ab, wenn ich seinen Namen … Also gut – er heißt …«
»Nein!«, flüsterte Chris aufgebracht.
»PSYCHO-BOY!«
Lachend beendete Rex das Gespräch. »JA!«, rief er und boxte in die Luft. »Das war absolut spitze … Chris?«
Chris versuchte, sich auf etwas zu konzentrieren, auf irgendetwas, aber alles driftete plötzlich außer Reichweite, alles wirbelte und bewegte sich von ihm weg. Er taumelte und schwankte, Dunkelheit senkte sich über ihn und er sank tiefer und tiefer. Er konnte nichts dagegen tun.
Ohnmächtig sank Chris ins Gras.
»Noch ein Stück Zitronenkuchen?«, fragte Rex’ Mutter.
»Nein danke, Mrs King. Es geht mir schon wieder viel besser«, antwortete Chris.
Im Park hatte Sebastian ziemlich schnell eine Ausrede aus dem Ärmel schütteln müssen, um dem Rest der Mannschaft zu erklären, warum Chris ohnmächtig geworden war: Die Niederlage beim Match habe Chris zu sehr mitgenommen. Chris selbst hielt das für die schlechteste Ausrede, die er jemals gehört hatte, aber etwas Besseres war auch ihm nicht eingefallen, deshalb hatte er einfach mitgespielt.
»Unfug!«, sagte Mrs King resolut und legte ein weiteres großes Stück klebrigen gelben Zitronenkuchen auf Chris’ immer noch halb vollen Teller. »Weißt du nicht, dass ein Stück Kuchen die beste Medizin ist, um wieder auf die Beine zu kommen?«
Davon hatte Chris zwar noch nie gehört, nickte aber aus Höflichkeit. Er wusste längst, wenn es ums Essen ging, ließ Mrs King keine Ausrede gelten. Deshalb lächelte er dankbar, rührte den Kuchen aber nicht an, was Mrs King natürlich noch misstrauischer machte.
»Bist du sicher, dass es dir wieder besser geht, mein Lieber? Bestimmt würde es deiner Mutter nichts ausmachen, dich früher als vereinbart abzuholen, damit du dich zu Hause ein wenig hinlegen kannst.«
»Nein, wirklich, Mrs King, es geht mir gut. Danke.«
Tatsächlich waren die Kopfschmerzen noch nicht völlig verschwunden und er fühlte sich immer noch schwach und müde. Aber weil seine Mutter erst vor Kurzem ihren neuen Job als Sprechstundenhilfe in einer Tierarztpraxis angetreten hatte, wollte Chris auf keinen Fall, dass sie nur seinetwegen früher nach Hause ging. Er konnte es ohnehin kaum glauben, dass sie wieder arbeitete. Außerdem würden später auch noch Ernest und Philip auftauchen. Philip war ebenfalls ein früherer Schüler von Myers Holt. Ernest war erst ein wenig später zu ihnen gestoßen. Beide waren nun Mitschüler in Chris’ neuer Schule und sie alle zusammen waren von Rex zu einer Schlafsackparty eingeladen worden. Die wollte Chris auf keinen Fall verpassen.
»Na gut, sag einfach Bescheid, wenn du es dir anders überlegst.« Mrs King legte Rex und Sebastian ebenfalls große Kuchenstücke auf die Teller. Den Rest des Kuchens stellte sie mitten auf den Tisch. Dann entdeckte sie, dass der Käsesandwich-Teller schon leer war.
»Oh – ihr habt keine Käsesandwiches mehr. Ich mache noch ein paar, bevor die anderen eintreffen. Und wie wäre es mit ein wenig …«
»Mum, bitte! Gehst du jetzt endlich?«, stöhnte Rex.
»Ja, ja, schon gut, ich gehe ja schon!« Sie nahm den Teller mit den Schinkensandwiches und schob sie ordentlich zu einem Kreis zusammen. »Und ich könnte euch noch …«
»MUM!«
»Okay, bin schon fertig! Dann lass ich euch jetzt in Ruhe, damit ihr euch unterhalten könnt … Worüber ihr Jungs in dem Alter eben so redet … Mädchen, nehme ich an …«
Mrs King beugte sich zu Rex – der inzwischen knallrot geworden war – und gab ihm einen Kuss aufs Haar. »Mein kleiner Strolch, jetzt schon halb erwachsen!«
Noch vor gar nicht langer Zeit hätte Chris bei dieser Szene einen Stich der Eifersucht verspürt, aber seit seine Mutter wieder in ihr eigenes und in sein Leben zurückgefunden hatte, kam ihm die Sache genauso komisch vor wie Sebastian. Beide senkten die Köpfe, um ihr Grinsen zu verbergen, bis Mrs King endlich verschwunden war.
»Ich will keinen Kommentar hören!«, knurrte Rex.
»Du willst also mit uns über Girls reden, Rex?«, sagte Sebastian mit hinterlistigem Grinsen. »Ich stehe dir gern mit Ratschlägen zur Verfügung.«
»Sei bloß vorsichtig, Romeo«, erwiderte Rex gereizt. »Was weißt denn du schon über Mädchen?«
»Mehr als du, das steht fest«, erklärte Sebastian.
»Ach ja? Was, zum Beispiel?«
Sebastian zögerte kurz, dann zuckte er die Schultern. »Ich weiß nur: Liebe ist nicht Liebe, die flüchtig sich zerstreut, wenn sie Zerstreuung findet.«
Chris lachte, Rex stöhnte genervt.
»Ja, ja, schon okay, Romeo«, sagte Rex. »Wir mussten schließlich alle Shakespeare-Stücke auswendig lernen, schon vergessen?«
»Das stammt nicht aus einem Schauspiel, sondern aus einem Sonett. Außerdem ist Auswendiglernen nicht dasselbe wie Verstehen, kapiert? Das sollte sogar einem Knallkopf wie dir …«
Chris’ Gedanken wanderten plötzlich zurück zu den Ereignissen am Nachmittag. Bisher hatten sie noch keine Gelegenheit gehabt, unter sich über die Sache zu reden.
»Was meint ihr – wird die Polizei nicht versuchen, den Anruf zu orten?«, unterbrach er Sebastians literarische Ausführungen.
Die beiden Freunde wandten sich ihm zu, verblüfft über den plötzlichen Themenwechsel.
»Nein«, meinte Rex. »Sie haben den Verbrecher. Reg dich ab, Psycho-Boy, du machst dir zu viele Gedanken.«
»Aber waren sie nicht sauer, weil du ihnen meinen Namen nicht verraten hast?«
Rex schüttelte den Kopf. »Ich hab ihnen doch deinen Namen genannt, schon vergessen?«
»Meinen echten Namen, Rex.«
Rex zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Ich hab aufgelegt. Warum sollten sie sich darüber aufregen? Sie haben den Typen doch gefasst!«
»Na ja, ich weiß nicht so recht …«
Die Tür ging auf und Philip und Ernest kamen herein, beide in weißen T-Shirts mit dem Aufdruck »Science Camp« in knallroten, fetten Buchstaben quer über der Brust.
»Würg!« Rex sprang in gespieltem Entsetzen einen Schritt zurück und hielt sich schützend die Hände vor die Augen. »Das ist schlimmer als mein schlimmster Albtraum!«
»Naturwissenschaften machen dir Albträume?«, fragte Ernest erstaunt. Er wusste manchmal nicht so recht, ob Rex nur wieder einen seiner Witze riss oder es tatsächlich ernst meinte.
»Rex – immer noch ganz der Alte!«, sagte Philip breit grinsend. Im Gegensatz zu Ernest kannte er Rex genau.
Mrs King rauschte herein, eine riesige Platte Sandwiches und einen großen Kuchenteller in den Händen, die sie auf den bereits ziemlich beladenen Tisch stellte.
»Jetzt esst erst mal«, sagte sie.
»Danke, Mrs King«, sagten Philip und Ernest im Chor.
»Jinx!«, riefen beide, wieder im Chor, woraufhin sie losprusteten. Das war ein Ausruf, den vor allem Kinder benutzten, wenn zwei etwas wie aus einem Mund gesagt hatten. Offenbar fanden sie es zum Brüllen komisch, dass sie sich synchron bedankt hatten.
Rex sperrte den Mund auf und steckte zwei Finger hinein. »Würg! Haben sie euch im Science Camp in zwei neunjährige Mädchen verwandelt, oder wie?«
»Das wäre immer noch besser als deine Witze, bei denen schon die Neandertaler gähnen mussten, Rex«, gab Philip zurück.
Rex verdrehte die Augen, musste aber grinsen. Chris dagegen fand die ganze Hänselei nicht so lustig. Er war nicht ganz sicher, was es war, aber irgendetwas störte ihn daran, wie Philip und Ernest miteinander umgingen – dass sie genau gleichzeitig »Jinx!« gerufen hatten … Das hatte er von ihnen noch nie gehört. Es störte ihn gewaltig, und zwar nicht deshalb, weil es ein ziemlich lahmer Witz gewesen war, sondern weil … Aber bevor er noch darüber nachdenken konnte, zog Philip ein Blatt Papier aus der Tasche und schob es zu Rex über den Tisch.
»Hier – das gefällt dir bestimmt.«
Rex sah eine Liste, die aus Wörtern und Zahlen bestand. Er blickte auf und hob die Schultern. »Was soll das sein? Sieht aus wie meine Mathe-Hausaufgaben.«
»Nö.« Philip grinste. »Naturwissenschaftliche Beleidigungen. Eine ganze Menge davon.«
Rex riss die Augen auf und betrachtete das Blatt erneut. »Oooh!« Er fuhr mit dem Finger von einem Eintrag zum nächsten und nickte begeistert.
»Ha ha!«, lachte er plötzlich los. »Nummer fünf ist echt gut!«
Ernest und Philip schauten sich an und grinsten.
»Du bringst mich zur Antiperistaltik!«, sagten beide genau gleichzeitig. Natürlich nicht, ohne dann sofort im Chor »Jinx!« zu rufen.
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