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Schon immer stand Apothekenhelferin Helene im Schatten ihrer schönen und gnadenlos gemeinen Schwester, der Staatsanwältin Lisa. Bei jeder Gelegenheit wird sie von ihr in die Pfanne gehauen. Doch als Lisa sie nun wegen Mordverdacht in Untersuchungshaft bringt, geht sie echt zu weit. Helene ist doch nur zufällig beim Medikamente ausliefern über diese Leiche gestolpert und dann hat sie halt dummerweise das Messer rausgezogen und dann war da überall Blut … Da kann sie doch nix dafür! Frisch aus dem Gefängnis entlassen schwört sie Rache. Die Einladung zu einem Schwesternwochenende im Spreewald passt da perfekt. Jetzt wird abgerechnet! Doch irgendwas ist faul im Spreewald und das Chaos stets nur ein Gurkenglas entfernt …
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Seitenzahl: 388
Zum Buch:
Das Universum hat sich gegen Apothekenhelferin Helene verschworen: Ihre Chefin ist ein rachsüchtiger Drachen. Ihr Vater und ihr Bruder sind kleinkriminell. Bis jetzt ist jede Diät bei ihr fehlgeschlagen … Kurzum: Alles was schiefgehen kann, läuft schief. So auch, als sie beim Medikamenteausliefern eine Leiche findet – und prompt des Mordes verdächtigt wird. Aber Helene wäre nicht Helene, wenn sie deshalb aufgeben würde. Sie macht sich auf die abenteuerliche Suche nach dem wahren Mörder, und dabei bleibt ihr nichts erspart: Waffenverrückte Botaniker, trottelige Spreewaldpolizisten, gefährliche Killermücken und geldgierige Ganoven pflastern ihren Weg …
Ihr Debütroman landete gleich auf der Spiegel-Bestsellerliste. Nun ist Cathrin Moeller endlich zurück, böser und witziger denn je!
Zur Autorin:
In der Grundschule ließ Cathrin Moeller noch andere für sich schreiben: Ihre Mutter verfasste die verhassten Deutsch-Aufsätze. Erst später, in ihrem Beruf als Theaterpädagogin, entdeckte sie den Spaß am Schreiben. Seitdem schleicht sie sich täglich morgens um fünf Uhr ins Wohnzimmer und kuschelt sich mit dem Hund Giovanni aufs Sofa, wo sie ihre Geschichten erfindet. Ihr Debütroman „Wolfgang muss weg!“ landete auf Anhieb auf der Spiegel-Bestsellerliste.
Lieferbare Titel:
„Wolfgang muss weg!“
Cathrin Moeller
Die Spreewaldgurkenverschwörung
Roman
MIRA® TASCHENBUCH
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg Geschäftsführer: Thomas Beckmann
Copyright © 2016 by MIRA Taschenbuch in der HarperCollins Germany GmbH
Deutsche Originalausgabe Dieses Werk wurde vermittelt durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München). Copyright © 2016 by Cathrin Moeller
Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln Redaktion: Maya Gause Titelabbildung: Thinkstock / Getty Images, München; akinshin
ISBN eBook 978-3-95649-901-2
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eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.
„Jemand anderes sein zu wollen ist eine Verschwendung deiner Person.“
(Kurt Cobain)
Eigentlich glaube ich nicht an Schicksal. Schicksal ist doch dieses Ding, wo du angeblich etwas findest, obwohl du es nie gesucht hast, und dann feststellst, dass du nie etwas anderes wolltest? Viel zu kompliziert, oder?!
(Helene Fromm, Apothekenhelferin)
Plötzlich ein Stoß. Ich falle. Das Wasser schlägt über mir zusammen. Es ist kalt, so kalt.
Verzweifelt nach Luft schnappend, tauche ich auf und schlage wild um mich. Lisa steht auf dem Steg. Sie steht einfach so da und macht keine Anstalten, mir zu helfen. Lächelt sie etwa?
Die Kräfte verlassen mich, ich gehe unter. Meine Lungen brennen. Mein letzter Gedanke ist: Warum hasst du mich so, Lisa? Ich bin doch deine Schwester.
Dann versinkt die Welt um mich in Dunkelheit.
Das Wundermittel hat geholfen, Kindchen. Ich brauch Nachschub“, rief Frau Nolte schon von Weitem und zerrte an ihrem Rollator, der vor dem Portal der Apotheke im Kopfsteinpflaster hängen geblieben war. Der neunte Gong der Kirchenglocke verhallte. Ich kam mit puderrotem Gesicht angehetzt, verhedderte mich so in meinen Taschen, dass ich beinahe stürzte.
Keuchend rief ich zurück: „Dem Rücken ihres Mannes geht es demnach besser?“
„Langsam, langsam, Kindchen! Atme erst einmal tief durch!“ Der graue Dauerwellenkopf der hochbetagten Rentnerin wippte vor Aufregung unkontrolliert auf und ab. Strahlend und mit Tränen in den Augen sagte sie: „Vorgestern hat mein Albert nach Monaten zum ersten Mal wieder gelächelt. Die nässenden Stellen sind dank der Behandlung mit deiner selbst gemischten Salbe verheilt.“
Ich tätschelte ihr begeistert den Arm. „Das hatte ich gehofft! Die Salbe mit Papaya wirkt nämlich auf ganz natürliche Weise antiseptisch und schmerzstillend. Schon die Aborigines haben mit dem Wirkstoff schwere Verletzungen behandelt. Es freut mich, dass ich Ihrem Mann helfen konnte.“
„Ohne Sie, Helene, hätte er sich längst umgebracht.“
„An so etwas Schlimmes dürfen Sie nicht einmal denken.“
Die alte Dame überschüttete mich mit Dankbarkeit in Form einer Schachtel Pralinen, die sie mir aus dem Korb ihres Rollators reichte.
„Das ist doch nicht nötig“, bedankte ich mich mit einem Knicks. „Ich mache nur meine Arbeit.“
„Die machst du gut, weil du mit dem Herzen dabei bist. Das ist nicht selbstverständlich.“
In der Apotheke brannte kein Licht. Der feuerspuckende Drachen alias meine Chefin, Beate Fürst, war also noch nicht eingeflogen „Puh!“, schnaufte ich und wühlte in meiner riesigen Umhängetasche nach dem Schlüssel.
Irgendwo hatte ich ihn hingesteckt, fragte sich nur, wohin … Ich durchforstete den Beutel mit den Frischhaltedosen, in denen sich lauter gesunde Sachen für Frühstück und Mittagessen befanden. Lecker! Seit Tagen nahm ich die Dosen abends halbvoll wieder mit nach Hause: Erstens, weil ich in der Hektik des Tages kaum zum Essen kam, und zweitens, weil der Inhalt mich eher zum Verzicht animierte. Meistens rannte ich dann doch zum Bäcker gegenüber und genehmigte mir ein oder zwei Streuselschnecken.
Fehlanzeige! In diesem Beutel war der Schlüssel auch nicht verschollen. Dann blieb nur noch Tüte Nummer drei mit der Regenjacke, die ich trotz Sonnenschein vorsorglich eingepackt hatte. Ich wollte vermeiden, dass mich meine Chefin, die Fürstin, wieder mit einem frisch gebadeten Meerschweinchen verglich, falls es doch regnete und ich keinen Parkplatz in der Nähe fand. Dagegen war ich nämlich allergisch!
Bingo! Ich klaubte den Schlüssel heraus und scannte die Umgebung nach einer Rothaarigen im Designerfummel mit Kalbsledertasche ab. Von meiner neuen Arbeitgeberin war weit und breit nichts zu sehen. Bloß gut, denn sie hasste es, wenn ihre Apotheke nicht Punkt neun Uhr öffnete.
„Du siehst erschöpft aus, und der Tag hat erst begonnen“, unterbrach Frau Nolte meinen Gedankengang.
„Ich bin ja auch schon durch halb Wilmersdorf gedüst und habe Medikamente ausgeliefert.“
„Und dann stehst du bis abends noch im Laden?“, fragte die alte Frau nachdenklich. „Kein Wunder, dass heutzutage so viele junge Leute ausgebrannt sind. Die Fürstin ist auch so eine Schinderin. Bezahlt sie dich wenigstens ordentlich?“
Schulterzuckend dachte ich an mein mickriges Gehalt und die endlos erscheinenden Arbeitstage, weit über die Öffnungszeiten der Apotheke hinaus.
Frau Nolte schnaubte erbost: „Du musst also eher noch Geld mitbringen. Diese Ausbeuterin!“
„Warum haben Sie gestern nicht einfach angerufen? Ich hätte Ihnen die Salbe doch gebracht“, sagte ich, ohne weiter auf meine miserable Jobsituation einzugehen.
„Hab ich doch, aber deine Chefin hat mich abgewimmelt und gemeint, dass ich die drei Schritte über die Straße ja noch laufen könnte. Der Hans würde sich im Grabe umdrehen, wenn er sehen könnte, wie die Beate mit seinen Kunden umspringt. Ja, ja! Die Frau Doktor der Pharmazie!“, giftete Frau Nolte und reckte dabei ihre faltige Nase in die Höhe. „Trotzdem hat sie keine Ahnung. Wenn sie einen berät, ist das, als würde ein Blinder über Farben sprechen.“
Ich schmunzelte. „Seien Sie nachsichtig mit ihr! Frau Fürst arbeitet sich noch ein. Dass sie die Apotheke übernimmt, kam für sie sehr überraschend.“
„Ein halbes Jahr ist lang genug. Sie hat doch gar kein Interesse an ihrem Erbe. Es wär für alle besser gewesen, wenn sie Modedesignerin geworden wäre“, winkte die alte Dame ab.
Meine eingebaute Kühlung streikte. Eine Haarsträhne aus meinem nachlässig gebundenen Zopf klebte an meiner Wange. Ich strich sie mir hinters Ohr. Die Sonne brannte, und das Thermometer im Schaufenster des Optikers nebenan zeigte bereits dreiundzwanzig Grad. Natürlich war ich mit der dicken körperformenden Strumpfhose unterm Jeansrock wieder einmal völlig falsch angezogen. Das angeblich atmungsaktive Teil presste meine Problemzonen so unnachgiebig zusammen, dass es mir das Blut abschnürte. Sie auszuziehen ging aber nicht, weil meine Beine ein Dreitagebart zierte. Ich hatte im Moment einfach keine Zeit, mich um solche belanglosen Dinge wie mein Äußeres zu kümmern.
Während ich die schwere Glastür aufschloss, nahm ich den daran geklemmten Zettel der Stadtwerke ab, der für morgen, den 19. Juni 2015, ab zehn Uhr einen einstündigen Stromausfall in Großbuchstaben ankündigte.
„Das ist wegen der Baustelle und betrifft die ganze Straße. Keine Ahnung, was die da hinter der Holzwand seit Monaten an der Kanalisation herumbuddeln.“ Frau Nolte zeigte auf den Mittelstreifen des Kaiserdamms, wo reger Betrieb herrschte und Presslufthammergeräusche sowie quietschende Baggerschaufeln den Motorenlärm der fahrenden Autos untermalten.
Lächelnd half ich der alten Dame in Filzlatschen mit der Gehhilfe über die Schwelle der Apotheke und stellte ihr einen Stuhl bereit. „Ruhen Sie sich einen Moment aus. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“ Schnell huschte ich nach hinten, warf die Taschen von mir und den Kittel von gestern über.
Mist! Der sah aus, als hätte ihn ein Baby mit Spinat bespuckt. Gestern Abend beim Zusammenmischen der Tinkturen hatte ich gar nicht bemerkt, dass ich mich so bekleckert hatte. Ich rubbelte an den Flecken herum. Zwecklos, die ließen sich höchstens mit der Schere entfernen. Bei dem Gedanken schmunzelte ich. Die Fürst würde garantiert in Ohnmacht fallen, wenn mein Kittel einem Fischernetz glich. „Fromm! Herrgott, wie sehen Sie bloß wieder aus?“, äffte ich sie nach. Vielleicht findet sie es aber auch kreativ, schließlich wollte sie doch lieber Modedesignerin werden.
Ich kramte in meinem Spind. „Prima!“ Der einzige frisch gewaschene hing zu Hause auf der Leine. Flugs legte ich den Zettel der Stadtwerke auf den Schreibtisch. Nicht, dass die Fürst sich morgen wunderte, wenn alle elektrischen Geräte streikten.
Morgen zehn Uhr! Ich schluckte den Würgereiz herunter, weil mir bewusst wurde, dass ich morgen um die Zeit in der Aula der Volkshochschule über den Aufgaben der schriftlichen Mathematikprüfung sitzen würde. Natürlich wusste Beate Fürst nicht, was ich vorhatte. Nur unter dem Vorwand eines wichtigen Arzttermins hatte ich ihr den Urlaubstag vor meinem einzigen freien Samstag im Monat abgerungen. Niemand, außer meinem Freund Torsten, war eingeweiht, dass ich seit drei Jahren das Abitur nachmachte. Wegen der Doppelbelastung war ich im Moment auch so erschöpft, weil ich derzeit wegen den Prüfungen meine Nase jede Nacht bis zum Morgengrauen in die Bücher steckte.
Stichprobenartig kramte ich in meinem Gehirn nach der Formel zum Herleiten der Sinusfunktion. Uh!
In meinem Kopf herrschte gähnende Leere.
„Scheiß Prüfungsangst! Aber ich schaffe das!“ Sinus alpha gleich Gegenkathete mal Ankathete? Oder muss ich die Ankathete durch die Hypotenuse teilen?
„Au, Mann!“ Vielleicht ist diese Hürde doch zu hoch: Abitur … Studium …
„Lisa hat es auch geschafft!“, sagte ich laut und verschränkte die Arme vor der Brust.
Wenn meine große Schwester es bis zur Staatsanwältin gebracht hat, werde ich mindestens Richterin. Dann wird sie zu mir aufblicken, wenn ich mit meinem Hammer über Recht und Unrecht entscheide!
Sinus alpha … und was kam dann?
„Verdammt!“ Trotzig trat ich gegen einen herumstehenden Karton und kickte ihn stellvertretend für meine große Schwester in den Müll, bevor ich in den Laden zurückeilte.
Ich tippte den Preis der Salbe in die Kasse: „Siebzehn fünfunddreißig.“
Frau Nolte griff mit zitternden Händen in ihre Jackentasche. „Jetzt habe ich doch glatt das Portemonnaie zu Hause vergessen.“
Zeitgleich ertönte die Ladenglocke. Ralph Berger, ein klapperdürrer Drogenabhängiger mit eingefallenen Wangen, stolperte zur Tür herein. Kalter Schweiß stand ihm auf der geröteten Haut, die von Ekzemen übersät war. Unruhig trat er von einen Fuß auf den anderen.
„Moment, Frau Nolte“, sagte ich und unterbrach den Kassiervorgang. Schnell dosierte ich Ralph Bergers tägliches Methadon, reichte ihm den Becher herüber und half ihm dann besser doch dabei, die Lösung zum Mund zu führen, weil seine Hände schlimmer zitterten als die der alten Frau.
„Du setzt dich so lange her, bis es wirkt, Ralph, sonst rennst du mir in dem Zustand draußen in ein Auto. Dann muss ich dich beatmen, du verwandelst dich in einen Prinzen und willst mich vielleicht noch heiraten.“ Mit meinen Worten rang ich ihm ein winziges Lächeln ab. Brav setzte er sich auf den Stuhl und ließ sich von mir zwei Qigong-Kugeln in die Hand drücken. „Konzentrier dich auf deine Finger. Es wird gleich besser.“
Hinten klingelte das Telefon. „Frau Nolte und Ralph, ihr passt auf, dass niemand die Apotheke klaut.“ Ich rannte ins Büro, holte mein Portemonnaie und klärte den schwerhörigen Anrufer brüllend über die Öffnungszeiten auf. Währenddessen schrillte mehrmals die Ladenglocke. Also eilte ich im Affentempo wieder nach vorn. Hinter Frau Nolte hatte sich eine Kundenschlange gebildet, und unser Postbote stapelte Kartons zum Turm neben die Eingangstür. „Helene, Autogrammstunde!“
Grinsend stolzierte ich zur Tür und wackelte dabei mit den Hüften. „Wie hätten Sie es denn gern, Herr Marshall: Helene F. oder nur Helene?“, schnurrte ich, quittierte den Empfang, zählte die Pakete und blieb mit meinem Blick an dem Firmennamen auf dem Lieferschein hängen: Pharmakuss. Von denen hatte ich ja noch nie etwas gehört.
Was war denn das? „Haxenhexi macht ihre Haxen sexy!“ Aha, Schrunden-Salbe.
Schlemmenthin, ein chemisch zusammengemixter Kräuterschnaps, der angeblich sofort jegliches Magen- und Darmproblem ausräumt und obendrein den Haarausfall stoppt. Haarausfall? Wer hatte denn den Mist bestellt?
Und natürlich eine Million Pflaster. Wir hatten kein Insulin, aber wir hatten das ganze Lager voller Pflaster. Mit dieser Fuhre war Apotheke Fürst nun endlich gerüstet, um in den nächsten zehn Jahren alle Berliner Schnitt-, Platz- und Schürfwunden abzukleben. Bestimmt hatte meine Chefin von einem bevorstehenden Pflasternotstand erfahren, der sich noch nicht bis zu mir herumgesprochen hatte.
Ich wandte mich wieder meiner Kundschaft zu. „So, die Salbe für ihren Mann ist bezahlt. Sagen Sie ihm gute Besserung von mir!“ Großzügig packte ich einen Zwanzigeuroschein von mir in die Kasse und reichte Frau Nolte die Tüte mit dem Medikament über den Tresen. Jetzt war ich zwar fast pleite, aber egal.
„Kindchen, das geht doch nicht“, protestierte die alte Dame.
„Sie können es mir ja später irgendwann wiedergeben.“
Dann wandte ich mich an Ralph, der nun ganz ruhig vor sich hin starrend die Kugeln in seinen Händen drehte. „Kannst du Frau Nolte bitte mit dem Rollator helfen?“
Ralph bewegte sich langsam wie ein Zombie, stand auf und führte die Seniorin aus der Apotheke. Dann setzte er sich wieder hin und starrte kugeldrehend Löcher in die Luft.
Ich löste ein Rezept nach dem anderen ein und hörte mir geduldig Krankengeschichten an. „… danke, dass Sie mir das Buscopan verweigert und mich in die Notaufnahme geschickt haben. Eine Stunde später lag ich nämlich auf dem OP-Tisch. Der Blinddarm war schon kurz vorm Platzen. Sie waren mein Schutzengel“, sagte ein bärtiger Mittfünfziger, hob das T-Shirt hoch und zeigte mir seinen schwammigen Bauch.
„Ganz schön große Narbe! Zwickt es noch?“, fragte ich und wusste gleich, welche Salbe er benötigte, um den Heilungsprozess zu beschleunigen.
Der Vormittag verging wie im Flug. Der Kundenstrom riss einfach nicht ab. Ich trocknete Kindertränen mit Gummibärchen, beriet und beruhigte meinen Stammkunden Olaf geduldig: „Ihr Fuß stirbt nicht ab. Er ist schwarz, weil Ihre Socke abgefärbt hat“, sagte ich zu dem hypochondrischen jungen Mann, der jeden Tag mit einem anderen Wehwehchen in die Apotheke kam, sein ganzes Geld in Medikamente investierte und deshalb schon hoch verschuldet war.
„Ich verkaufe Ihnen weder Schmerztabletten noch Tebonin zur Förderung der Durchblutung. Sie gehen jetzt nach Hause, waschen sich die Füße und ziehen andere Socken an.“
„Ich spüre aber die arteriosklerotischen Ablagerungen in meinen Beinen und habe entweder krampfartige Schmerzen oder alles fühlt sich taub an“, murrte Olaf.
„Das liegt an den Thrombosestrümpfen, die Sie tragen. Die pressen Ihnen alles zusammen. Glauben Sie mir, ich spreche da aus Erfahrung. Legen Sie die Strümpfe ab und Sie fühlen sich wieder frei. Sie sind zweiunddreißig. Ihr Herz schafft es allein, das venöse Blut aus Ihren Beinen nach oben zu pumpen.“
Jetzt wurde er neugierig. „Sie tragen auch Thrombosestrümpfe?“
„Körperformende Damenwäsche kann genauso einengend sein“, sagte ich und zwinkerte ihm zu.
„Helene, bitte! Es muss doch irgendetwas geben, das mein Leiden lindert.“
Die Ladenglocke ertönte, und die Fürstin stolzierte grußlos zur Tür herein. Sie schaute sich um, schnüffelte und hielt sich ziemlich angewidert die Nase zu.
„Fromm!“
Meine Chefin war ein sehr sparsamer Mensch und beherrschte die Kunst des Weglassens überflüssiger Worte bei mir perfekt. Eine Anrede war zweifellos überflüssig, wenn man jemanden ansprach, den man nicht auf seiner Augenhöhe einordnete.
„Wieso stehen hier tausend Kartons herum? Ist das jetzt eine Deponie, oder haben Sie in meiner Abwesenheit aus der Apotheke ein Obdachlosenheim gemacht?“, zischte sie, rollte mit den Augen und zeigte mit ihrer Tasche auf Ralph Berger, der sich in Embryonalhaltung neben dem Stuhl zusammengerollt hatte und die Qigong-Kugeln umklammerte.
Das war mir in der Hektik irgendwie entgangen. „Oh!“ Ich sprang hinter dem Tresen hervor und bückte mich über den Gestrandeten. „Herr Berger!“
„Es ging ihm vorhin nicht so gut“, entschuldigte ich mich und rüttelte ihn an der Schulter. „Herr Berger!“
„Sehen Sie zu, dass er auf die Beine kommt und dann …“ Sie wies den Weg zur Tür und erstarrte mitten in der Bewegung. „Sind das etwa unsere Qigong-Kugeln?“
„Ja, eine Maßnahme zur Beruhigung“, rief ich und wollte sie in die offene Schachtel im Regal zurücklegen.
„Das ist nicht Ihr Ernst, oder?“ Angeekelt verzog sie das Gesicht, zitierte mich heran und zischte mir ins Ohr: „Die Kugeln sind kon-ta-mi-niert. Die können Sie doch niemandem mehr verkaufen? Ich hoffe für Sie, dass wir jetzt keine Haustiere haben. Sowie Sie dieses Insektenhotel nach draußen befördert haben, lüften Sie durch und desinfizieren alles.“
„Aber …“, begann ich zu protestieren.
„Was, aber?“, unterbrach mich die Fürstin wütend. „Entweder bezahlt der Kunde die angefasste Ware, oder ich ziehe es Ihnen vom Gehalt ab. Und die Kartons müssen sofort ins Lager. Haben Sie die Inventur erledigt?“
„Ich bin fast durch“, murmelte ich.
„Fast? Und die Vorbestellungen der hauseigenen Rezepturen?“
„Fünf Flaschen B3 und acht Flaschen H56 stehen im Kühlschrank. Drei Salben und die Tees muss ich nachher noch herstellen.“
Die Fürstin verdrehte die Augen. „Ich frage mich ernsthaft, was Sie den ganzen Tag machen?“
Mein Mund öffnete und schloss sich wie bei einem verendenden Fisch.
„Hat Sie jemand festgetackert? Ich bezahle Sie fürs Arbeiten und nicht zum Wurzelnschlagen. Na los, räumen Sie die Kartons ins Lager!“, forderte mich meine Sklaventreiberin energisch auf.
Wo sollte ich denn nun zuerst anfangen? Berger raus befördern, Olaf bedienen, Kartons wegräumen, den Fußboden desinfizieren …
Die Fürst riss die Augen auf und fragte: „Was haben Sie an Kartons ins Lager räumen nicht verstanden?“
„Aber … der Kunde …“, ich deutete auf Olaf, der uns neugierig belauschte.
Prompt nutzte der kleine Hypochonder die Gelegenheit für sich. „Ihre Mitarbeiterin verweigert mir den Verkauf von Schmerzmitteln und Tebonin, das ich dringend zur Behandlung meiner Durchblutungsstörungen brauche“, klagte er.
Na toll! Dass der mich in die Pfanne haut, hat mir grade noch gefehlt.
„Sie haben Durchblutungsstörungen? Wo? Im Kopf?“, erkundigte sich die Fürstin von oben herab.
„In den Beinen. Schauen Sie, meine Füße faulen ab, die sind schon ganz schwarz.“ Er schob das Hosenbein hoch, schlüpfte aus den Pantoletten und zog einen Strumpf aus.
Meine Chefin schloss genervt die Augen und hielt sich die Hand vor die Nase. „Herrgott! Fromm, geben Sie dem Mann, was er verlangt.“
„Aber seine Füße …“
Die Fürstin unterbrach mich: „Aber scheint Ihr Lieblingswort zu sein.“ Dabei musterte sie mich abschätzig. „Und wie Sie wieder aussehen! Ziehen Sie sich einen frischen Kittel an und machen Sie ihn bitte zu. Ihr Anputz lässt einen ja vor Fremdscham erblinden.“ Ihr Handy klingelte. Sie schaute auf das Display, lächelte versonnen und ging ran.
„Hey Achim, gut nach Hause gekommen?“ Glucksend stolzierte sie Richtung Straße, drehte sich um und bedeutete mir mit Handzeichen, dass sie einen Kaffee wollte.
Olaf grinste mich schräg von der Seite an.
Blödmann! Nein, so durfte ich nicht denken. Er war krank und handelte aus einem Zwang heraus.
Ich verkaufte ihm das Tebonin und eine Packung Paracetamol. Dann schleppte ich Kartons, telefonierte mit dem Pflegedienst des Altersheims, schmiss zwischendurch die Kaffeemaschine an, rannte in den Laden, weil die Fürstin von draußen „Kundschaft!“ blaffte – sie telefonierte natürlich immer noch –, verkaufte Antifaltencreme und schleppte wieder Kartons.
Die Fürstin kam schließlich hereingeschlendert, verschwand in ihrem Büro und kreischte, als hätte sie eine Leiche unterm Schreibtisch gefunden. „Fromm!“
Was war denn nun schon wieder los? Ich kassierte die Halspastillen ab und hetzte nach hinten.
Am Aktenschrank lief braune Brühe herunter. Den Fußboden zierte eine hässliche Pfütze. Die Kaffeemaschine gluckste unschuldig vor sich hin. Schiet! Ich hatte vergessen, die Kanne darunterzustellen.
Schnell holte ich Eimer sowie Scheuerlappen und wischte auf allen vieren die Bescherung unter Aufsicht der Fürstin weg.
„Sie haben ja immer noch diesen Kittel an, der aussieht, als hätten Sie ihn aus dem Altkleidersack gezogen“, sagte sie genervt und schüttelte den Kopf. „Jetzt sind auch noch Kaffeeflecken drauf.“
Ich guckte an mir herunter. „Entschuldigung, aber …“
„Schon wieder ‚aber‘ …“ Sie verdrehte die Augen.
„Der einzige saubere hängt zu Hause auf der Leine.“
„Da hängt er gut. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, als selbst den Verkauf zu übernehmen“, jammerte sie. „So kann man Sie ja nicht auf die Menschheit loslassen. Sie kümmern sich ab jetzt um die Inventur!“
Mittlerweile war es zwölf Uhr und alle Kartons im Lager verstaut. Ich atmete erst einmal tief durch. Dabei spürte ich, wie mein Magen knurrte. Ich verschwendete erst gar keinen Gedanken an das leckere Pausenbrot, sondern stopfte mir den Inhalt der Pralinenschachtel, die mir Frau Nolte geschenkt hatte, in den Mund. Schokolade war jetzt das Einzige, was half, meinen Blutzuckerspiegel wieder auf Kurs zu bringen.
„Kundschaft, Fromm!“, plärrte es aus Richtung Büro. Hä? Ich denke, sie übernimmt den Verkauf? Ich guckte um die Ecke. Die Fürstin thronte hinterm Schreibtisch und telefonierte angeregt mit Achim. Pantomimisch machte sie mir klar, dass ich mich beeilen sollte, hielt das Handy kurz weg und rief mir noch hinterher: „Sie haben da was am Mund!“
Mit dem Handrücken über die Wange wischend, eilte ich im Stechschritt in den Laden, wo ich in ein verdammt blasses, aber sehr attraktives Männergesicht mit braungrünen Augen guckte, die fiebrig glänzten. Bei dem würde ich auch gerne die Krankenschwester spielen. Ich stierte den Kerl sekundenlang an, und mir versagte die Stimme.
Er fuhr sich durch die widerspenstigen Locken. Seine Oberarmmuskeln drohten den Stoff seines edlen Jacketts, das er trotz frühsommerlicher Temperaturen über einem hochgeschlossenen Troyer zur ausgewaschenen Jeans trug, zu sprengen.
„Was, äh … was kann ich für Sie tun?“, stotterte ich, weil sich die Buchstaben in meinem Kopf tanzend verflüchtigten.
Der Mann – vielleicht Pilot, Rechtsanwalt, Immobilienmakler, Manager oder Architekt, Anfang, aber höchstens Mitte dreißig – reichte mir, ohne eine Miene zu verziehen, ein Rezept über den Ladentisch. Er schniefte.
Nervös überflog ich den rosa Zettel, zog die Stirn in Falten und plapperte dann munter drauflos: „Penizillin macht bei Sommergrippe, die oft von Viren ausgelöst wird, wenig Sinn. Wurden im Labor Bakterien in Ihrem Hals nachgewiesen?“
„Keine Ahnung. Das Medikament ist für meinen Onkel.“
Jetzt erst las ich den Namen, auf den das Rezept ausgestellt war: „Professor Hans Albrecht? Ja, das sind wohl nicht Sie. Entschuldigung, ich dachte, es wäre für Sie … wegen Ihrer Nase … Naja, Sie sehen irgendwie angeschlagen, ähm, erkältet aus.“
Adonis verzog immer noch keine Miene.
Ist er jetzt beleidigt, weil ich ihm den Professor nicht zugetraut habe – oder weil ich ihn für den Patienten gehalten habe? Verunsichert vollführte ich eine schwungvolle Drehung und riss quasi im Vorbeifliegen etwas zu ruckartig die hölzerne Schublade des Apothekerschrankes hinter mir auf. Polternd krachte sie herunter. Wie peinlich! Mein Mund verzog sich ungefragt zu einem Strich, der sicher meine Ohren wie ein Feldweg miteinander verband. „Sorry, das Medikament ist leider nicht vorrätig.“
Die Fürstin steckte ihren Kopf um die Ecke. „Fromm, kann man Sie nicht eine Minute unbeaufsichtigt lassen, ohne dass Sie gleich die Apotheke abfackeln oder ein mittleres Erdbeben auslösen?“ Ihre Pupillen vergrößerten sich. Sie lächelte übertrieben und drängelte sich in den Vordergrund. „Tja, sie ist und bleibt eben ein kleines Trampeltier.“
Na, herzlichen Dank! Ich hob die leere Schublade auf und schob sie wieder in das Fach hinein.
„Gehen Sie mal lieber nach hinten, Fromm, kümmern Sie sich um die Inventur!“ Meine Chefin scheuchte mich beiseite wie ein lästiges Insekt. „Ich mach das lieber selbst fertig.“
„Das Antibiotikum muss bestellt werden“, sagte ich und schenkte dem Fremden ein letztes Lächeln, das an ihm abprallte wie ein verschossener Elfmeter am Torpfosten. Okay, der Mann ist erkältet und hat mit sich zu tun. Das kennt man ja: Die Herren der Schöpfung halten Schnupfen für lebensgefährlich und ziehen sich in ihre Höhlen zum Sterben zurück. Ich nahm es ihm nicht übel.
„Dann wissen Sie ja, was Sie zu tun haben.“ Mit ihrem schnippischen Tonfall holte mich die Fürstin abrupt in die Wirklichkeit zurück. Sie warf mit einer lässigen Handbewegung ihre rote Lockenmähne aus dem Gesicht. Das wirkte bei ihm wie ein Defibrillator. So machte man das also, wenn man einen Traumtypen bezirzen wollte.
Ich warf meinen halblangen Zopf in den Nacken, watschelte mit meinem schönsten Hüftschwung nach hinten und hörte noch, wie meine Chefin sagte: „Wenn meine Mitarbeiterin das Medikament jetzt bestellt, trifft es in der Regel gegen achtzehn Uhr ein. Sie liefert es Ihrem Onkel selbstverständlich direkt nach Hause.“
Prustend bog ich zur Toilette ab. Das bedeutete wieder Überstunden und die vierte geschäftliche Fahrt mit meinem Privatauto in dieser Woche. Dabei hatte sie mir noch nicht einmal das Benzingeld für den letzten Monat erstattet. „Und wann lerne ich dann, bitte schön?“, sagte ich zu meinem Spiegelbild über dem Waschbecken und erstarrte, als ich den dicken Schokoladenstrich über meinem Mund sah. Hatte ich den Traumtypen gerade so bedient? Ich seufzte. Kein Wunder, dass Amor mich mobbte.
Wegen der unzähligen Baustellen und daraus folgender Umleitungen brauchte ich zwanzig Minuten, um die Adresse von Professor Albrecht am Halensee in Grunewald zu erreichen. Ich klingelte an dem kleinen Einfamilienhaus, das wie ein Relikt aus alter Zeit zwischen den modernen Stadtbungalows im Bauhausstil in einer ruhigen Seitenstraße hervorstach.
Niemand öffnete. Das Medikament einfach in den Briefkasten zu stecken war mir verboten. Fluchend stampfte ich auf. „Mann! Wieso ist niemand zu Hause? Wo treibt sich dieser Professor Albrecht herum? Ich denke, er ist krank? Selbst sein überaus schöner Neffe gehört eigentlich ins Bett.“ Bei der Vorstellung, wie ich ihm Brust und Rücken mit Pulmotin einrieb, musste ich kurz schmunzeln.
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