Die Stimme der Kraken - Ray Nayler - E-Book

Die Stimme der Kraken E-Book

Ray Nayler

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Beschreibung

Es gibt außergewöhnliche Lebewesen in den tiefen Wassern vor der Insel Con Dao. Für die Einheimischen sind sie Monster.  Für den Großkonzern, dem die Insel gehört, ein lukratives Geschäft.  Für das Team der Wissenschaftler, unterstützt vom weltweit ersten Androiden: eine Offenbarung Ihr Bewusstsein ist anders als unseres. Ihre Körper sind formbar, beweglich, immer in Veränderung. Sie beherrschen intelligente Kommunikation. Und sie wollen, dass wir verschwinden. »Ein Öko-Thriller, der es in sich hat!« Washington Post »Spannend, absolut gegenwärtig und äußerst klug.« The New York Times »So unterhaltsam wie durchdacht, diese Erkundung - menschlichen und nichtmenschlichen - Bewusstseins ist schlicht umwerfend.« Publishers Weekly

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Seitenzahl: 501

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Dies ist der Umschlag des Buches »Die Stimme der Kraken« von Ray Nayler, Benjamin Mildner

Ray Nayler

Die Stimme der Kraken

Aus dem kanadischen Englisch von Benjamin Mildner

Tropen

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Tropen

www.tropen.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Mountain in the Sea« im Verlag FSG New York

© 2020 by Ray Nayler

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Zero-Media.net, München

unter Verwendung der Daten des Originalverlags; Illustration: © Maria Contreras

Gesetzt von C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-50013-4

E-Book ISBN 978-3-608-12249-7

Für Anya und Lydia

I

Qualia

In einem lebenden Nervensystem herrscht niemals Stille. In jedem Augenblick unserer Existenz strömt eine elektrische Symphonie der Kommunikation durch unsere Neuronen. Wir sind für die Kommunikation gemacht.

Nur der Tod bringt Stille.

Dr. Ha Nguyen, Wie Meere denken

1

Es war Nacht im Bezirk 3 der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh.

An der Plastikmarkise des Cafés strömte der Regen herab. Darunter, vor dem Regen geschützt und eingehüllt in Küchendünste und Stimmengewirr, wuselten Kellner mit dampfenden Suppenschüsseln, Coldbrewgläsern und Bierflaschen zwischen den Tischen umher.

Hinter der Regenwand rauschten Elektro-Mopeds wie leuchtende Fische vorbei.

Lieber nicht an Fische denken.

Lawrence richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die Frau ihm gegenüber, die ihre Essstäbchen gerade mit einem Limettenschnitz abrieb. Ein Abglanz-Identitätsschild, dessen flackernde Farbschleier sich ständig wandelten, bedeckte ihr Gesicht. Wie etwas, das unter Wasser lebt …

Lawrence drückte die Fingernägel in seine Handfläche. »Verzeihung – könnten Sie dieses Ding vielleicht anders einstellen?«

Die Frau justierte etwas. Der Abglanz nahm die Erscheinung eines ausdruckslosen Frauengesichts an. Unter der Oberfläche konnte Lawrence die zarten Umrisse ihres eigentlichen Gesichts umhertreiben sehen. Umhertreiben …

»Diese Einstellung benutze ich normalerweise nicht.« Die Vibrationen des Abglanzes gaben dem Tonfall der Frau etwas Mattes. »Die Gesichter wirken befremdlich. Die meisten Menschen bevorzugen den Farbschleier.«

Sie führte ihre Essstäbchen zum Mund. Die Nudeln verschwanden in der von Störimpulsen durchzuckten Lippen-Oberfläche der Maske. Dahinter sah man den Schatten von einem weiteren Paar Lippen und Zahnreihen.

Schau nicht hin. Fang einfach an. »Okay. Meine Geschichte. Deswegen sind wir hier. Ich bin vor zehn … nein, vor mittlerweile elf Jahren auf den Archipel gekommen. Davor habe ich in einem Tauchladen in Nha Trang gearbeitet. Als ich ankam, gab es auf Con Dao nur zwei Tauchläden – einen in einem schicken Hotel für Westler und einen anderen kleinen Laden, der sich kaum halten konnte. Den hab ich gekauft. Hab fast nichts dafür bezahlt. Con Dao war ein verschlafenes Inselchen – kaum bevölkert, kaum besucht. Die Einheimischen haben geglaubt, dass es auf der Insel spukt.«

»Spukt?«

»Die ganze Insel ist früher ein Gefängnis gewesen. Auf den Friedhöfen liegen Generationen von Regimekritikern begraben, die von einer Regierung nach der anderen zu Tode gefoltert wurden. Ziemlich schlechter Ort, um ein Geschäft aufzumachen, denken Sie? Mag sein. Aber ein guter Ort, um einfach nur über die Runden zu kommen und sein Leben zu leben. Klar, der Ort hatte seine Schwierigkeiten – viele sogar. Rein rechtlich gehörte der gesamte Archipel – die Inseln und die Gewässer – dem Global Conservation Park. Man durfte also nicht fischen, nicht jagen. Es gab sogar eine eigene Aufsicht der UN, die einmal im Jahr aufkreuzte und einen Bericht erstellte. Aber tatsächlich waren dort ständig Fischerboote unterwegs, ihre Schleppnetze verhedderten sich in den Riffen und sie fischten mit Zyanid und Dynamit. Und die Ranger waren alle korrupt. Was hätten sie auch sonst machen sollen, bei den Monatslöhnen? Sie haben Schildkröteneier verkauft, Rifffische, was immer sie in die Finger bekamen. Und die Einheimischen haben da auch mitgemischt – haben mit Speeren gefischt und sind ohne Ausrüstung nach Schalentieren getaucht. Son, mein Assistent, war so ein Taucher.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Das hab ich doch schon gesagt – ich weiß es nicht. Nach der Evakuierung haben wir uns aus den Augen verloren.«

»Er ist der, der mit Ihnen auf dem Boot war? Am Tag des Zwischenfalls?«

»Ja. Das wollte ich gerade erzählen.« Beziehungsweise vermeiden. »Das Wrack ist ein thailändisches Stahl-Frachtschiff, sechzig Meter lang. Im späten 20. Jahrhundert untergegangen. Das einzige für Taucher erreichbare Schiffswrack in ganz Vietnam. Es liegt nur zwanzig Meter tief im Wasser, aber die Tauchbedingungen dort sind meistens schlecht. Starke Strömungen, trübe Sicht. Nur was für Taucher, die wissen, was sie tun. Auf Con Dao kommen nicht viele solcher Leute vorbei, also waren wir schon seit Jahren nicht mehr da draußen gewesen. Wir tauchten morgens. In der Nebensaison. Mickrige Sicht, vielleicht zwei Meter. Aber dieser Typ wollte eben unbedingt zu einem Wrack tauchen. Also gingen wir ins Wasser und arbeiteten uns nach unten vor. Nur er und ich.«

Lawrence machte eine Pause. »Das klingt jetzt alles dramatischer, als es war. Es war nicht dramatisch. Es war reine Routine. Cobias und Tintenfische haben uns angestupst. Die Sicht war erbärmlich. Wir waren fast am Wrack, als ich entschieden hab, das Ganze abzubrechen. Als ich mich zu ihm umgedreht hab, war er weg. Das ist aber normal. Bei so schlechter Sicht verliert man dauernd Leute. Man bleibt einfach, wo man ist. Wenn man anfängt, sie zu suchen, kann man sich leicht verirren. Aber nach fünf Minuten hab ich mir langsam Sorgen gemacht. Ich bin an der Schiffsreling entlang zurückgeschwommen. Dabei hab ich mir immer wieder gesagt, dass er gewusst hat, was er macht. Er wäre nicht ohne mich ins Wrack hineingetaucht. Gab es ein Problem mit seiner Ausrüstung? Hatte er sich entschieden, wieder aufzutauchen?« Er hielt inne.

»Ich bin nach oben geschwommen, weil ich dachte, dass er dort vielleicht irgendwo herumdümpelt. Ich rief Son auf dem Boot und fragte ihn, ob er ihn gesehen hatte. Nichts. Also bin ich wieder runtergetaucht. Ich hab gemerkt, wie sich Panik in mir breitmacht. Die Bedingungen dort unten haben alles noch schlimmer gemacht: schmuddeliges Wasser, überall Schatten. Fische huschten durchs Sichtfeld. Schließlich bin ich dann doch ins Wrack rein. Er konnte nirgendwo sonst sein. Als ich drin war, hat es nicht lange gedauert, bis ich ihn gefunden hab. Er ist nicht weit drinnen gewesen: Sein Körper war eingeklemmt unter einer Gangway im Hauptfrachtraum. An seiner Schläfe klaffte eine Wunde. Ein paar Fische sind schon mit Fleischstückchen davongeschwommen. Ich hab ihn an die Oberfläche gebracht. Son wollte unbedingt versuchen, ihn zu reanimieren. Aber ich wusste, dass er tot war. Er war schon tot, als ich ihn gefunden hab.«

»Und wie ist er gestorben, Ihrer Meinung nach?«

»Es war nicht die Wunde – die war nur oberflächlich. Er ist ertrunken, weil irgendjemand ihm den Atemregler geklaut hat, seine Tauchmaske, seine Sauerstoffflasche, alles. Als seine Ausrüstung weg war, hat er wahrscheinlich Panik bekommen, sich den Kopf gestoßen und das Bewusstsein verloren. Ohne die Maske und den Regler kann es nicht lange gedauert haben, bis er tot war.«

»Und sein Atemregler? Die Sauerstoffflasche? Die Maske? Haben Sie diese Sachen noch gefunden?«

Die Regungslosigkeit dieses verschwommenen Gesichts, die Ausdruckslosigkeit der modifizierten Stimme, sie versetzten Lawrence abermals auf die Insel. Wie er diese Geschichte immer und immer wieder hatte erzählen müssen. Den Rangern, der Polizei, den Reportern. Anschuldigungen, Zweifel – und irgendwann Gleichgültigkeit.

»Wir haben sie nie gefunden.«

»Aber Sie haben das Schiff abgesucht.«

»Nein. Hab ich nicht. Ich hab gelogen.«

»Gelogen?«

»Ich konnte da nicht noch mal runter. Ich hab der Polizei erzählt, wir hätten seine Ausrüstung gesucht und dass wir das gesamte Schiff durchforstet haben, aber … ich hab nie gesucht. Ich hatte Angst. Es hat in Wahrheit nie eine richtige Suche gegeben.«

Sie hielt inne. »Verstehe. Und was haben Sie dann gemacht?«

»Die Konkurrenz vom anderen Tauchladen hat diesen Todesfall benutzt, um uns die Kundschaft zu vertreiben. Mein Geschäft lief immer schlechter. Aber letzten Endes war das egal. Drei Monate später ging die Evakuierung los. Nur damit das klar ist – ich bin froh, dass Sie und Ihre Leute die Insel gekauft haben. Jetzt weiß ich wenigstens, dass sie geschützt wird. Ich kannte jeden Zentimeter von Con Dao – jedes Riff, das zerstört wurde, jeden Fisch, der illegal gefangen wurde. Es ist besser so: Alle wegbringen, den ganzen Archipel absperren. Ihn verteidigen. Nur so kann man ihn schützen. Ich war einer der Ersten, die Ihr Angebot angenommen haben und abgehauen sind. Eine großzügige Entschädigung, ein neuer Anfang. Das war wahrscheinlich ein riesiger Glücksfall für mich.«

Wahrscheinlich. Aber während er im Regen davonschritt, war Lawrence sich da gar nicht mehr so sicher. Die Tamarindenbäume rauschten im Wind. Sein Poncho hatte an der Seite einen Riss, und langsam breitete sich ein kalter, nasser Fleck auf seiner Kleidung aus.

»Was haben Sie gesehen?« Das hatten sie ihn immer wieder gefragt – die Ranger, die Polizei, die Reporter. Was haben Sie gesehen?

Nichts. Er hatte nichts gesehen. Aber er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas ihn gesehen hatte.

Und dieses Gefühl hatte ihn verfolgt. Er war froh gewesen, vom Archipel wegzugehen. Und trotzdem hatte das nicht gereicht – das Gefühl kehrte jedes Mal zurück, wenn er ans Meer dachte.

Con Dao war sein Zuhause gewesen – sein erstes Zuhause. Was immer bei dem Schiffswrack passiert war, hatte ihm das genommen. Das war die Geschichte, die er hatte erzählen wollen. Aber die Frau von DIANIMA hätte das sowieso nicht verstanden.

War sie überhaupt von DIANIMA? Sie hatte das nie gesagt, oder?

Egal. Vielleicht war sie von DIANIMA, vielleicht von einer Konkurrenzfirma. In der AHZ Ho Chi Minh wimmelte es nur so von Wirtschaftsspionen und internationalen Kartellen.

Vor einer Woche war er nach Vung Tau gefahren, ans Meer. Er hatte das Meer seit Monaten nicht mehr gesehen, hatte gedacht, es sei Zeit, mal wieder schwimmen zu gehen. Aber noch bevor er bis zur Hüfte in den Wellen stand, war er wieder rausgekommen, hatte sich eine Weile an die Strandbar gesetzt, war dann zurück in sein Hotel gegangen und hatte früh ausgecheckt.

Er wollte nie wieder tauchen.

Jetzt würde er zurück in seine kleine Wohnung im Bezirk 3 gehen und dabei zuschauen, wie DIANIMAs »großzügige Entschädigung« allmählich zur Neige ging. Und er hatte noch immer keine Ahnung, wie es mit ihm weitergehen sollte.

Als er zwei Blocks gelaufen war, wurde er von Krämpfen geschüttelt und auf den Boden geworfen. Ein Motorrad hielt an. Eine fremde Hand berührte ihn. Eine Frauenstimme. »Ist alles in Ordnung? Hallo?«

Vor seinen Augen ein verschwommener Tunnel voll Regen. »Holen Sie Hilfe. Bitte.« Dann sah er die Injektionsspritze in der Hand der Frau.

Motorräder rauschten vorbei, die Umrisse verformt von Regenponchos, die Fahrzeuge und Fahrer verhüllten. Der Regen fiel in Lawrences offene, starre Augen.

Er war wieder dort. Das Schiff. Trübes Wasser, überall Schatten … unscharfe Formen, die sein Kopf ständig neu zusammensetzte.

Wir sind aus dem Meer gekommen und wir überleben nur, weil wir unser ganzes Leben lang Salzwasser in uns tragen – in unserem Blut, unseren Zellen. Das Meer ist unser wahres Zuhause. Deshalb empfinden wir die Küste als so beruhigend: Wir stehen dort, wo die Wellen brechen, wie Vertriebene, die heimkehren.

Dr. Ha Nguyen, Wie Meere denken

2

Im Licht der Hexacopter-Landescheinwerfer tobte der verwehte Regen, während sie über die Wellen schwenkten. Sie durchschnitten ein Mangrovenwäldchen und erhellten dann den asphaltierten Landeplatz des Flugfeldes.

Am Boden gab es keine Beleuchtung. Eine verfallene Landebahn erstreckte sich über eine schmale Landzunge der Insel. Vom Helikopterlandeplatz zeugte nur noch eine blasse Markierung auf dem Boden. Vor einer schwarzen Baumgrenze verrotteten altertümliche Flugzeuge. Die Plastikverkleidung des Hauptgebäudes war zerschlissen wie die Schuppen eines toten Fisches.

Schaukelnd setzte der Hexacopter zu seinem Sinkflug an. Er drehte sich um die eigene Achse und setzte mit einem Stoß auf dem Boden auf, ohne Rücksicht auf den Komfort der Passagierin, aber effizient. Die Rotoren kamen zum Stehen. Die Flügeltüren öffneten sich.

Ha hörte die Insekten-Kakophonie des Dschungels, die Frage-Antwort-Schreie der Makaken. Der Regen wehte von der Seite in die Passagierkapsel hinein. Sie zerrte ihre Ausrüstung aus dem Stauraum. Die Motoren der Hexacopter-Drohne klickten unregelmäßig, während sie abkühlten.

Zwischen den Bäumen erblickte sie einen wässrigen Lichtschein: ihr Empfangskomitee. Die Scheinwerfer des Hexacopters schalteten sich ab. Jetzt konnte Ha den Vollmond sehen, halbverdeckt von Zirruswolken. Die Kumuluswolken weiter unten gossen inzwischen den tropischen Wald der Insel.

Ha atmete ein, schloss ihre Augen, öffnete sie wieder, wartete, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Die Lautsprecher des Hexacopters quäkten. »Bodenabholung. Entfernen Sie sich vom Hexacopter.«

Ha nahm ihre Taschen und rannte zum schützenden Unterstand am Rande des Flugfeldes. Die Lichter des Hexacopters sprangen gleißend wieder an. Er stieg vom Asphalt in die Höhe und schwenkte dann so schnell und in einem so scharfen Winkel ab, dass ein Passagier dabei bewusstlos geworden wäre. Binnen Sekunden war er verschwunden, in Wolken gehüllt.

Der Landtransporter war ein ehemaliges Militärfahrzeug, ein selbstfahrender Truppentransporter mit Bullaugen aus Panzerglas und übergroßen Honeycomb-Reifen.

Im Innenraum hatte man ihn für etwas Komfort ausgebaut. Die Fahrgastzelle war gepolstert, um den Lärm und die Erschütterungen von Einschlägen abzumildern. Der Brennstoffzellenantrieb lief zwar eher leise, aber das Getriebe jaulte und ließ die Kabine seltsam vibrieren. Ha dimmte das Licht.

Die dicken Schichten aus Glas und Polykarbonat im Bullauge verzerrten die Szenerie außerhalb des Fahrzeugs. Ha schaute durch das Fenster auf die wogende Dschungelwand, die die schmale Straße einfasste. Die kleinen Lichtungen zwischendurch ließen verfallene Bruchsteinwände aufblitzen, Bauwerke, vielleicht ehemalige Festungen. Oder Mühlen, oder Fabriken. Alles Mögliche. Der Vollmond warf Wellenformen auf die Meeresoberfläche.

Der Transporter fuhr in den dunklen Ort, eingeklemmt zwischen Wald und Meer. Von den wuchtigen, rot gedeckten Dächern der französischen Kolonialgebäude troff der Regen, die stuckverzierten Wände hatten Schimmelflecken von der Feuchtigkeit. Die Fensterläden waren geschlossen, die Gärten überwuchert von Schlingpflanzen und Moos. Hier und da durchbrachen kommunistische Brutalismus-Gebäude die Häuserreihen: eine Oberschule, das Verwaltungsgebäude der Kommunistischen Partei. Betonmonster, feucht und voller Flechten, farblos in der Nacht.

Bei Tageslicht wäre diese verlassene Kleinstadt ein Ort der Pastelltöne und blätternden Fassaden. Ficusbäume, die gekalkten Stämme längst verwaschen, säumten die Straßen, Pflanzenreste lagen verstreut – Blätter, heruntergefallene Äste, Schoten, Früchte.

Der Transporter bog auf eine Allee ab, die entlang eines Damms verlief. Seine Frontscheinwerfer glitten über zwei Affen, die wie Kinder in einen Streit um irgendeinen Schatz vertieft waren. Am Ortsrand dünnten die Häuser allmählich aus, wurden schließlich zu Hütten. Ihre Dächer hingen durch, und die Schlingpflanzen hatten sie schon halb abgerissen.

Die Straße führte an der Küste entlang. Zur Linken fiel die Landschaft ab, wurde zu Felsen und dann zu einem Gewimmel aus Wellen. Die schwarzen Buckel der kleineren Inseln im Archipel krümmten sich im Wasser. Rechter Hand erhob sich der Gebirgsgrat der Hauptinsel, bedeckt von einem Pelz aus Bäumen.

Am Berghang tauchten die beleuchteten Dächer einer Pagode auf, die aussahen, als würden sie nur von dem starken Scheinwerferlicht dort an ihrem Platz gehalten. Ein vermeintliches Lebenszeichen auf dem ansonsten evakuierten Archipel, doch die Beleuchtung des Gebäudes war vermutlich automatisiert. Eine Installation für die Touristen, die doch nie zurückkehren würden.

Die Forschungsstation befand sich auf dem Gelände eines verlassenen Hotels – ein weißes sechsstöckiges Gebäude, das man ungeschickterweise am windigsten Punkt der Insel errichtet hatte. Das Hotel ragte aus dem umgebenden Gestrüpp empor, ebenfalls von starken Scheinwerfern beleuchtet. Die der Straße zugewandte Gebäudeseite lag im Schatten, die Fenster waren dunkel. Eine Zufahrtsstraße führte hinab zu einem doppelten, mit Stacheldraht verstärkten Sicherheitszaun.

Der Zaun war hell und neu, aber das Hotel war vermutlich schon lange vor der Evakuierung der Insel verlassen worden. Durch zerbrochene Fensterscheiben in den oberen Stockwerken wehten zerrissene Vorhänge. Feuchtigkeitsflecken und Schimmel überzogen die Fassade.

Der Transporter hielt vor einer mit zwei Toren gesicherten Einfahrt.

Eine Person in einem Regenponcho löste sich aus dem Gebäudeumriss und kam herüber zur Einfahrt. Sie schob das erste Tor beiseite. Der Transporter fuhr vor in den Haltebereich, das erste Tor wurde hinter ihm wieder geschlossen, das zweite öffnete sich. Der Transporter fuhr hindurch, auf eine Terrasse aus Terracotta-Fliesen hinter dem Hotel. Überall verstreut lagen Wedel der Palmen, die das Hotelgrundstück säumten, aber auf der Insel nicht heimisch waren.

Dominantestes Element der Terrasse war ein überdimensionierter Swimmingpool voller Algen und anderer Wasserpflanzen. Vermutlich war das früher einer dieser beliebten Salzwasserpools gewesen – wo Hotelgäste im Meer schwimmen konnten, ohne wirklich darin zu schwimmen. Irgendetwas im Pool schreckte beim Erscheinen des Transporters zusammen und zog sich ins Wasser zurück.

Zwei mobile Forschungseinheiten, so groß wie Schiffscontainer, standen in der Nähe des Pools. Sie sahen aus wie industrielle Umkleidekabinen.

Die Tür des Transporters schob sich auf, und helle Regenfunken stoben ins Innere. Die in den Poncho gehüllte Figur beugte sich herein. Ein Frauengesicht, im Schatten der Kapuze. Hohe, breite Wangenknochen, die Augen an den äußeren Winkeln hochgebogen und dunkel. Der Regen lief ihr die Wangen hinab. Sie spuckte einen Satz in einer Sprache aus, die Ha nicht kannte. Eine ausdruckslose weibliche Stimme, wie von einer Zugansagerin, übertönte die Stimme der Frau. Sie kam aus einem wetterfesten Übersetzungsgerät, das an ihrem Kragen hing: »Sie sind willkommen an Forschungsvorposten Con Dao. Mein Name ist Altantsetseg. Ich bin beauftragt, zu helfen und zu schützen. Jetzt nehme Ihre Taschen. Wetter ist scheißender Regen.«

Ha blinzelte. Einen Augenblick lang war sie versucht, in hysterisches Gelächter auszubrechen: Sie hatte eine lange Reise hinter sich.

Altantsetseg starrte sie an und sagte dann einen Satz in ihrer Sprache, der klang wie ein Geflecht aus Konsonanten. »Der kopulierende Übersetzer funktioniert nicht richtig?«

»Doch, doch. Er funktioniert schon. Ich verstehe alles.«

»Dann setzen wir uns in Bewegung.«

Die Frau ragte hoch über Ha empor. Sie war zwei Meter groß oder noch größer. Ha sah jetzt auch das Gewehr – den kurzen Lauf, der über Altantsetsegs Schulter gelegt war.

Es regnete stärker. Ohne das Jaulen des Transporters und seine dicke Panzerung, die die Umgebungsgeräusche schluckte, konnte Ha jetzt den Wind in den Palmen fauchen hören, das Krächzen und Schreien der Tiere im Dunkel der Insel, die Wellen an einem Strand außer Sichtweite, unter der Hotelterrasse – alles verwaschen im Rauschen des Regens.

Sie liefen schnell, vornübergebeugt, um so wenige Tropfen wie möglich ins Gesicht zu bekommen. Im Hotel brannten einige wenige Lichter, im Erdgeschoss und im ersten Stock. Eine der Glastüren der Lobby wurde von einem zerbrochenen Zementblumenkübel offen gehalten.

Sie gingen hinein, und Altantsetseg führte Ha durch den menschenleeren Raum. Halbverfallene Stühle standen auf Tischen gestapelt, und in längst verwaisten Sitzecken waren schwer gepolsterte Diwane aneinandergeschoben worden. In dem freigeräumten Bereich in der Mitte des Raumes standen ein paar Tische. Darauf lagen Transportkoffer verstreut, ein Feldkocher, eine Kaffeemaschine. Elektronik. Etwas Leben in dieser höhlenartigen Halle aus synthetischem Marmor.

Has Zimmer lag im Stockwerk darüber. Es war eine geräumige Suite, die zwar feucht und verlassen roch, aber sauber war. Altantsetseg stellte Has Taschen in der Tür ab und ging wieder.

Ha hatte sich seit Stunden auf eine Dusche gefreut. Jetzt fiel sie jedoch, ohne sich auszuziehen, aufs Bett. Wenigstens war es frisch bezogen worden.

Sie träumte wieder von den Tintenfischen.

Bisweilen kommt es vor, dass die Haut eines schlafenden Kopffüßers verschiedenste Farben und Strukturen annimmt, die unbewusst zu sein scheinen – als ob der elektrochemische Fluss seiner Gedanken auf seine Oberfläche projiziert wird. In diesem Zustand ist der Kopffüßer wirklich wie eine einzelne Seele, die, unverhüllt von Fleisch, im offenen Meer umhertreibt.

Dr. Ha Nguyen, Wie Meere denken

3

In Has Traum erschienen ihr die Tintenfische nie so, wie sie in der Blüte ihres Lebens aussahen – hell und leuchtend, durchzogen von kaleidoskopischen Farben, mit den Armen Bedrohung oder Neugier signalisierend. Nein. In dem Traum sank Ha hinab, eingesperrt in das weiße Rauschen des Atemgeräts. Hinab in das calcitgrau getrübte, tintenverschleierte Wasser, schmutzig vor umhertreibenden Netzen aus Dunkelheit. Hinab auf einen schlammigen, von Steinen übersäten Boden.

Tintenfischeier lagen verstreut in den Steinspalten. Die Jungtiere in den Eiern leuchteten wie kleine Büschel aus Licht, gefangen in den Membranen ihrer Schalen.

Die Eier sollten nicht so ausgeliefert im Schlick liegen: Sepien hängten ihre kostbaren Eier für gewöhnlich an die Unterseite von Felsen, an geschützte Orte. Irgendetwas hier war ganz schrecklich schiefgelaufen.

Ein riesiges Tintenfischweibchen trieb über den Eiern dahin und beschützte sie. In dem von Tinte und Schlamm verschleierten Wasser hatte Ha es zuerst nicht gesehen. Sie zuckte erschrocken zusammen, doch der Tintenfisch reagierte nicht. Er schwebte dort, Ha zugewandt, aber ohne sie zu sehen.

Das Weibchen lag im Sterben. Sein Körper war weiß, hier und da von leprösen Rostflecken bedeckt. Ohne die tanzenden Formen und Farben auf seiner Haut sah es nackt und verletzlich aus.

Mehrere seiner Arme waren abgerissen. Ein Fangtentakel trieb leblos in der schwachen Strömung.

Die Felsen bildeten hier einen losen Kreis, wie ein verfallener Burgfried. Überhänge erinnerten an zertrümmerte Türme. Die Felsspalten waren Schießscharten. Ha sah drei weitere Sepien unter einem Felsabsatz. Auch sie hatten den Großteil ihrer Haut verloren, und ihnen allen fehlten Arme. Sie schwebten umher wie Geister von Kopffüßern, kränklich-matt, lauernd. Ihre übrig gebliebene Haut war übersät von blassroten und braunen Flechten.

Dann schwamm das Tintenfischweibchen, das Ha zuerst gesehen hatte, hinunter zu den Eiern. Ihre eingerissenen Flossen waren schwach. Sie schwamm wie ein Geisterschiff, das mit zerrissenen Segeln in einen Hafen trieb. Ha sah zu, wie das Weibchen ein Ei mit einem seiner intakten Arme streichelte. Einzelne Flecken auf seiner Haut leuchteten in einem schwachen Gelb auf. Die Bewegung und die Farbe schienen es sehr viel Mühe zu kosten.

Im Inneren des Eis flackerte ein trübes Licht auf, wie zur Antwort.

Der Tintenfisch stieg jetzt nach oben. Ha schwamm mit. Als sie die anderen drei überholten, die unter ihrem Felsvorsprung schwebten, fühlte Ha etwas zwischen ihnen hindurchziehen: ein leichtes Zittern. War es Anerkennung? Dank? Abschied? Das Tintenfischweibchen schraubte sich wie durch eine Wassersäule in die Höhe und sonderte dabei in zerstäubenden Kondensstreifen Tinte ab wie Rauch aus einem abstürzenden Flugzeug – einem Flugzeug, das nach oben stieg, anstatt zu fallen.

Das Weibchen und Ha gelangten gleichzeitig an die Wasseroberfläche, hinein in die Welt aus explosivem Sonnenlicht, aus chaotischen Geräuschen und Bewegungen.

Obwohl das Weibchen sich nicht bewegte und Ha wusste, dass es tot war, schwamm sie zu ihm und hielt es, zog sich einen Handschuh aus und streichelte seinen zerschlagenen Kopf, seine abgerissenen Glieder.

Über ihnen kreisten und schrien Möwen, warteten darauf, dass Ha die Nahrung freigab, die sie ausfindig gemacht hatten. Während Ha zu ihrem Boot schwamm, hielt sie den Tintenfisch fest wie ein ertrunkenes Kind.

Ha wachte auf, das Gesicht von Tränen benetzt, wie immer.

Diese Vision, die sie im Schlaf hatte, war gleichzeitig Traum und Erinnerung. Sie konnte nie genau sagen, welcher Teil davon was war. Sie war dort gewesen, an diesem Ort, im wirklichen Leben. Aber die Tinte war dicker gewesen, oder? So dick wie ein Vorhang, der schwer auf ihren Rücken gedrückt hatte. Sie war an diesem Ort der Einsamkeit gewesen, hatte die drei alternden Tintenfische dort mönchhaft umhertreiben sehen, unter den zertrümmerten Traufen ihres Schlosses. Aber die Eier hatten nicht geleuchtet. Das konnten sie nicht. Und es hatte kein sterbendes Weibchen gegeben, das an die Oberfläche getrudelt war wie ein abgeschossenes Flugzeug.

Ihr Geist kehrte immer und immer wieder an diesen Ort zurück. Und jedes Mal veränderte sich die Szenerie. Wurde sie durch das Erinnern korrumpiert, entfernte sie sich mit jedem weiteren Durchlauf immer weiter von der Wahrheit? Oder näherte sie sich jedes Mal ein wenig mehr der Wahrheit an?

»Du weinst. Hattest du wieder den Traum?«

Ha setzte sich auf. Sie erinnerte sich nicht daran, aber sie musste in der Nacht das Terminal aufgeklappt und auf den Nachttisch gestellt haben. Oder hatte sie eingestellt, dass es sich selbst aufklappte, mit einem Timer?

Da stand es nun, ikosaedrisch auf seinem Origami-Ständer, das Licht strömte aus seinem Auge und projizierte Kamran in den Raum, der am Fußende des Bettes stand und etwas aus einer Tasse trank, das Kaffee sein musste.

Sie konnte die Umrisse der Tür durch den Kragen seines Hemdes erkennen. Sie konnte den Schemen des Teppichs durch seine Schuhe sehen.

»Ja. Denselben Traum.«

»Du musst loslassen, Ha. Lass die Vergangenheit ruhen. Du konntest nichts machen.«

Es gab Dinge, die sie hätte machen können, das wusste sie. Es gab auch Dinge, die sie nicht hätte machen können. Aber Kamran würde nie zulassen, dass sie sich die Schuld für irgendetwas gab – nicht mal, dass sie Verantwortung übernahm. Es hatte keinen Sinn, das alles noch einmal mit ihm durchzukauen – es würde wieder nur darin münden, dass sie »loslassen musste«.

Stattdessen wechselte sie das Thema.

»Wo bist du?«

»Im Labor.«

»Es ist doch schon nach zwei Uhr nachts bei dir! Was arbeitest du denn jetzt noch?«

Kamran zuckte mit den Schultern. »Lass uns bitte nicht schon wieder über meine Schlaflosigkeit streiten. Wie war deine Reise?«

»Lang. Und es gab einen Sturm, als wir die Autonome Handelszone Ho Chi Minh verlassen haben. Und der Drohnenpilot war ein unsensibles Arschloch. Beim Flug nach Con Dao musste ich mich übergeben.«

»Konntest du die Frau persönlich treffen?«

»Dr. Mínervudóttir-Chan? In Ho Chi Minh? Nein. Sie ist grad im Raum SF-SD unterwegs, um da küstennahe Forschungseinrichtungen aufzukaufen. Das hat mir zumindest ihr Sub-4 gesagt. Sonst nichts. Es ist alles sehr mysteriös. Oder die Leute wissen vielleicht selbst nicht, was los ist. Der Sub-4 hat auch gesagt, dass mich die Teamleitung auf Con Dao briefen würde, wenn ich herkomme.«

»Und hat sie das?«

»Ich hab sie noch nicht kennengelernt.« Ha war aufgestanden und wühlte in ihren Taschen nach sauberer Kleidung. Sie lief durch Kamrans Beine.

»’tschuldige.«

»Hab’s kaum gespürt«, sagte Kamran.

»Ich muss dir von der Sicherheitsbeauftragten hier erzählen. Ich hab sie gestern getroffen.«

»Ja. Kann’s kaum erwarten«, sagte Kamran. »Aber nicht jetzt. Du bist gestresst. Das sehe ich in deinem Gesicht. Du musst erst mal richtig ankommen, dich zurechtfinden. Und ich muss meinen Koffeinrausch ausnutzen.«

»Was du machen musst, ist nach Hause gehen und schlafen. Meidest du die Wohnung?«

Kamran schaute weg. »Kann sein.«

»Also, werd nicht so sentimental, dass du anfängst, unter den Labortischen zu schlafen.«

»Und du dusch mal. Du siehst schmutzig aus. Deine Haare sind total fettig.«

»Danke. Sehr charmant.«

»Immer gern.«

Kamran flackerte fort, wie sie es von ihm gewohnt war, ohne sich zu verabschieden.

Wir wissen, wie die Verschlüsselung von DNA-Sequenzen funktioniert, die Faltung von Proteinen, die damit die Zellen des Körpers konstruieren, und wir wissen sogar einiges darüber, wie epigenetische Schalter diese Prozesse kontrollieren. Und gleichzeitig wissen wir immer noch nicht, was passiert, wenn wir einen Satz lesen. Sinn ist keine neuronale Berechnung im Gehirn, keine sorgfältig aufgetragenen Tintenkleckse auf einem Blatt Papier und auch keine dunklen und hellen Bereiche auf einem Bildschirm. Sinn hat keine Masse und keine Ladung. Er nimmt keinen Raum ein – und trotzdem kann ein Sinngehalt zu globalen Veränderungen führen.

Dr. Ha Nguyen, Wie Meere denken

4

Altantsetseg saß in der provisorischen Küche und aß ein hartgekochtes Ei. Der Tisch war vollgepackt mit Einzelteilen eines Gewehrs, Öllappen, mehreren Terminals und elektronischen Bauteilen. Altantsetseg trug einen dunkelblauen Overall. Klettstreifen für Namensschilder oder andere Abzeichen waren auf den Armen und über den Brusttaschen angebracht, aber unbenutzt. Ihr kurzgeschorenes Haar war schwarz und hier und da von grauen Strähnen durchzogen. Sie hätte fünfunddreißig sein können, vierzig oder auch älter. Kräftige Hände, geschwollen vom Wetter und der Arbeit. Ein paar schwarze Sprenkel am Haaransatz auf der linken Gesichtshälfte. Man hätte sie für Leberflecken halten können, aber Ha hatte schon andere Kriegsveteranen gesehen. Sie wusste, dass diese Flecken Granatsplitter-Narben waren.

Der Duft von frischem Kaffee schaffte es, sich in der Lobby gegen den Gestank von Waffenöl, Ozon, Schimmel und Vernachlässigung durchzusetzen. Durch die Fenster drang, zusammen mit dem salzigen Geruch des Meeres, das Licht eines bedeckten Morgens. Altantsetseg deutete mit dem Kinn auf eine Schüssel Eier und einen Stapel Toast neben der Kaffeemaschine.

»Danke.« Ha goss sich Kaffee in eine der fünf oder sechs einigermaßen sauberen Tassen. Die Heizplatte unter der Kanne funktionierte nicht richtig: Der Kaffee war lauwarm. Ha trank ihn in einem Zug aus. Sie setzte sich nicht, nahm sich aber eines der Eier. Altantsetsegs Übersetzungsgerät lag auf dem Tisch inmitten des Stilllebens aus Ausrüstung, Eierschalen und Krümeln.

»Teamleitung?«, fragte Ha.

Altantsetseg schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an, nickte dann und deutete mit dem Daumen in Richtung Terrasse und Strand.

»Guten Morgen.«

Altantsetseg zuckte mit den Schultern, sagte einen Satz, der für Ha so klang wie »Sein Iglu«, und machte sich dann daran, ein weiteres Ei auf dem Tisch zu rollen, um die Schale aufzubrechen.

Ha griff in eine kleine Papiertüte, die sie in der Hand hielt, und holte eine Makrone hervor. Sie legte sie vor Altantsetseg.

Altantsetseg betrachtete sie, schaute Ha fragend an. Ha machte mit ihrem Gesicht übertriebene Kaubewegungen.

»Makrone.« Sie zeigte auf sich selbst. »Hab ich gemacht. Geschenk.«

Altantsetseg starrte sie an, ohne dass sich ihr Gesichtsausdruck veränderte.

»Kleiner Scherz. Ich würde niemals backen. Die hab ich in der AHZ Ho Chi Minh gekauft. Aber sie sind gut.«

Als sie ging, saß Altantsetseg noch immer da und betrachtete misstrauisch den goldbraunen Kokosbrei.

Ha lief über die zerbrochenen Fliesen der Hotelterrasse und aß dabei ihr Ei. Sie konnte den Teamleiter sehen: eine große, schlanke Person stand am Strand, den Rücken Ha zugewandt. Was auch immer im Swimmingpool lebte, es bewegte sich und platschte ins Wasser, als Ha vorbeilief.

Das Meer war ruhig. Die Oberfläche wogte und reflektierte dabei den perlgrauen und zitronengelben Schleier des Morgenlichts – einem Vorhang gleich, der sich im Windhauch bewegt.

Als Ha näher kam, drehte sich die Person um.

Ha hielt abrupt inne, stolperte beinah im Sand, ließ fast die Papiertüte fallen. Die Teamleitung hielt mehrere Muscheln verschiedener Größe in ihren langen Händen. Sie wartete, während Ha versuchte, die Fassung wiederzuerlangen.

Ha hatte mal an der Decke eines Hotelzimmers ein Interview geschaut. Der Interviewer war einer dieser populärwissenschaftlichen TV-Moderatoren gewesen, die alles machen, von Kinderfernsehen bis Dokumentarfilme, und der hatte mit dieser Person gesprochen … nein … diesem Wesen. Er hatte mit Evrim gesprochen.

Die Teamleitung, die vor ihr stand, war Evrim. Jemand, den sie im Leben nie zu treffen erwartet hätte. Jemanden wie Evrim sah man in einem Badezimmerspiegel-Bildschirm, an einer Zimmerdecke oder im verschmierten Fenster einer U-Bahn. Wesen, die wie Menschen aussahen und wie Menschen sprachen, aber die woanders lebten. Wesen wie Evrim gehörten einer flüchtigen Welt an, zu der man nie Zutritt erhalten würde. Einer Welt, in der Dinge passierten. Einem Ort, der völlig anders war als die banale Welt, von der aus man zusah. Und man glaubte, dass man sie niemals kennenlernen würde. Kennenlernen könnte. Doch hier war Evrim.

Evrim streckte eine Hand aus.

»Ich freue mich so, Sie kennenzulernen. Ich konnte Ihre Ankunft kaum erwarten.«

Ha schüttelte schwach die Hand.

»Sie können ruhig fester zupacken«, sagte Evrim. »Die Entwicklung meiner Hand hat allein mehr als hundertfünfzig Millionen Dollar gekostet. Vieles in der Konstruktion stammt vom Militär und wurde für Gliedmaßenprothesen gemacht. Ich glaube nicht, dass sie zerbrechen wird.« Evrim lächelte Ha an. Ha spürte, wie sie etwas in den Augen suchte, in der Körperhaltung. Einen Unterschied. Auf Anhieb konnte sie keinen erkennen. Die Hand war kühl – Sonnenaufgang-am-Meer-kühl, aber mit einer darunterliegenden Wärme, exakt analog zur inneren Wärme einer menschlichen Hand. An den Fingern und der Handfläche klebten Sandkörner von den Muscheln, die Evrim gesammelt hatte. Ha bemerkte, dass sie die Hand zu lange festhielt, und ließ los.

»Ha.«

»Ja. Dr. Ha Nguyen. Ich heiße Sie willkommen. Und wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin.«

Evrim drehte sich um und schaute wieder aufs Meer. Ha verstand, dass er ihr einen Moment gab, um sich vom Schock zu erholen. Sie verhielt sich unhöflich. Evrim war größer als sie, um etwa dreißig Zentimeter. Sein Gesicht war schmal, seine Gliedmaßen lang. Er war wohlproportioniert, wunderschön neutral, etwas idealisiert. Er hatte einen Körperbau, mit dem man selbst unfassbar hässliche Kleidung gut tragen konnte und den man deshalb auch für Schaufensterpuppen verwendete und auf Laufstegen. Und Ha bemerkte, dass sie Evrim in ihren Gedanken als einen Er bezeichnete. Als ihn – aber das war Evrim nicht. Er war … es war … was?

Wie ich sehe, wissen Sie, wer ich bin.

Wusste sie das? Was wusste sie überhaupt? Ha ging in ihrem Kopf eine Liste durch, was Evrim alles war: Evrim war das einzige (mutmaßlich) mit Bewusstsein ausgestattete Wesen, das die Menschheit je erschaffen hatte. Das teuerste Einzelprojekt außerhalb der Weltraumforschung, das je von einer Privatfirma entwickelt worden war. Es war der Moment, so hieß es immer wieder, auf den die Menschheit gewartet hatte: bewusstes Leben, das aus nichts als der Kraft unseres technologischen Willens erschaffen worden war.

Und Evrim war außerdem der Ausgangspunkt und der Gegenstand einer Reihe hastig eingeführter Gesetze, die seine Anwesenheit und die Erschaffung jedes weiteren Wesens wie ihm in den meisten regierten Gebieten der Welt untersagte, einschließlich aller Staaten unter Verwaltung der UN. Auch er selbst (sie selbst? es selbst?) – Ha war irritiert vom Geschlechter-Provinzialismus ihres Hirns – war in den meisten Teilen der Welt illegal. Evrims Existenz hatte zu Aufständen geführt, die den Erdball erschüttert hatten. Ha erinnerte sich an die bewaffneten Eindringlinge im DIANIMA-Hauptquartier in Moskau, an den Bombenanschlag auf die Pariser Büros. An den Vizepräsidenten von DIANIMAs Techniksparte, der auf seiner Jacht in der Karibik von einer DNA-gesteuerten Flugmine in die Luft gesprengt worden war. Ha erinnerte sich daran, wie sie auf dem Bildschirm an einer Hotelzimmerdecke das Bild eines Mannes gesehen hatte, der sich am Tor vor dem Vatikan bei lebendigem Leibe verbrannt hatte.

Ein Mann hat sich bei lebendigem Leibe selbst verbrannt, nur weil du existierst. Wie fühlt sich das an?

Das Verwirrendste, bemerkte Ha, war für sie die Tatsache, dass ihr Gehirn versuchte, Evrim in eine Kategorie zu stecken, in die Evrim nicht ohne Weiteres hineinpasste. Wenn sie nur loslassen, sich verabschieden könnte von dem Wunsch, Evrim wie einen Holzklotz bei einem Kinderspielzeug in das passende Loch zu stecken – Evrim unter einem Geschlecht zu subsummieren. Ha hatte auf internationaler Ebene mit anderen Forschenden zusammengearbeitet. Sie hatte sich angewöhnt, auf Englisch zu sprechen (und zu denken) – und dementsprechend auch die antiquierten männlichen und weiblichen Personalpronomen zu verwenden.

Sie zog sich gedanklich ins Türkische zurück – ihre zweite Muttersprache. Da besaß das Pronomen der dritten Person Singular »o« keine geschlechtliche Markierung. »O« bereitete keinerlei Probleme. Es konnte für »er«, »sie« oder »es« stehen. Ha fing an, Evrim in ihrem Kopf mit dem türkischen »o« zu benennen – ein Buchstabe, so glatt wie seine runde Form, holistisch, inklusiv. Das Geschlechterproblem verschwand, und das Gefühl von Dissonanz ließ nach. Stattdessen stellte sich eine reine Ehrfurcht ein, ein Staunen.

Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, hielt Ha Evrim eine Makrone hin. Sie hatte in diesem Interview gehört, dass Evrim nicht aß, aber schmecken und riechen konnte. Dass Evrim nicht schlief. Dass Evrim nie etwas vergaß.

Aber wie kann man menschlich sein und nie etwas vergessen? Nie schlafen? Nie essen?

Evrim betrachtete das Objekt in Has Hand. »Ist das eine Muschel? Ein Meerestier?«

»Es ist eine Makrone.«

»Was bedeutet das?«

»Es ist eine Süßspeise.«

»Ah!« Evrim nahm die Makrone, hielt sie in der Handfläche, bohrte mit einem langen Zeigefinger hinein, roch daran und lächelte dann. »Danke. So etwas hat mir noch nie jemand geschenkt.«

Ich denke an die Wissenschaftler vor mir, wie sie unter Mikroskopen die sich verzweigenden Nervenzellen toter Gehirne angestarrt haben. Sie sind dem Leben, das einst darin gesteckt hat, nicht näher gewesen, als ein Archäologe den Erinnerungen an eine Person ist, die einmal den Wasserkrug gehalten hat, dessen Scherben er ausgräbt. Diese Pioniere der Neurowissenschaften konnten nur die gröbsten Landkarten der Verbindungen zeichnen, die sie sahen, die undeutlich erkennbaren Grundmauern dessen, was ehemals eine Festung gewesen war.

Wir hingegen können jetzt das gesamte Schloss rekonstruieren, bis ins kleinste Detail: nicht nur jede Masche der Wandteppiche darin, sondern selbst jeden einzelnen Gedanken, der den Menschen, die dort gelebt haben und gestorben sind, jemals in den Sinn gekommen ist.

Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan, Die Mauern des Geistes

5

Das Café, in dem Rustem meistens arbeitete, lag in einem heruntergekommenen Teil von Astrachan, nahe den geweißten Mauern des alten Kremls. Vor Jahrhunderten war es mal das Haus eines iranischen Kaufmanns gewesen. Der frühere Besitzer hatte das Haus wie eine Moschee hergerichtet. Vergoldete Gipstrompen schlängelten sich von den Kuppeldecken herab. Aber wer auch immer um das Jahr 1900 herum als Architekt beauftragt worden war, hatte ein Jugendstil-Faible gehabt, weswegen alles angenehm blumig wirkte. Und trotz der moscheehaften Aufmachung des Hauses hatte der frühere Besitzer offenbar eine ketzerische Vorliebe für Darstellungen von Menschen gehabt – insbesondere von geschmeidigen, sittsam verhüllten Frauen, die Wasser aus Brunnen schöpften oder sich unter weinberankten Pergolen auf Diwanen räkelten.

Die Zeit hatte all das patiniert und einige der etwas interessanteren Momente der Fresko-Szenerie abbröckeln lassen. Unbeholfene Umbauten hatten sie ruiniert – eine Holzvertäfelung, die eine badende Schönheit kurzerhand entzweihackte, Türrahmen, die die Löwenjagd des Sultans frühzeitig beendeten. Doch die Architektur und ihre spätere Zerstückelung in Wohnungen und Lagerräume sorgten für Privatsphäre. Das Café war ein Labyrinth aus kleinen Räumen – jeweils abgeschirmt durch Holzgitter oder vor neugierigen Blicken geschützt durch vermodernde Samtvorhänge oder seltsam anzügliche Wandteppiche in einem Stil, der Tausendundeine Nacht mit dem späten Zarenreich vermischte.

Das Café wurde von einem Türken geführt, der durchblicken ließ, dass er wegen eines abscheulichen Verbrechens aus der Republik Istanbul ausgewiesen worden war. Er residierte im Erdgeschoss, im Dampf eines riesigen, glänzenden Multisamowars aus Kupfer, der pro Stunde Hunderte Tassen schwarzen Tees produzierte. Der Kaffee des Türken war so dickflüssig, dass selbst ein Büffel darin nicht ertrunken wäre. Und es gab hier einen Kasachen, der Stör grillte, von dem der Türke behauptete, er sei im Kaspischen Meer illegal gefangen worden. Die vermeintliche Gesetzeswidrigkeit gab dem Stör einen zusätzlichen Beigeschmack – die Würze des Verbotenen –, obwohl alle wussten, dass der Stör im Labor gezüchtet worden war. Der letzte kaspische Stör lebte entweder irgendwo da draußen und entging seinem Tod, indem er sich in den tiefsten Winkeln des Kaspischen Meeres versteckte, oder er war schon vor Langem verspeist worden.

Der Türke nahm Nachrichten entgegen und warnte einen durch Anpingen des Terminals, wenn jemand, den man nicht sehen wollte, nach einem suchte – Letzteres bot er für Stammgäste unentgeltlich an.

Rustem war seit fast einem Jahr Stammgast hier, seit dem Tag, als er in der Republik Astrachan angekommen war. An den meisten Tagen bezog er schon früh sein Lager in einem mit Vorhängen abgetrennten Alkoven im zweiten Stock und begann seinen Tag mit dem hier üblichen Kahvaltı aus Oliven, Feta, einem hartgekochten Ei, Fladenbrot und Feigenmarmelade. Oft verließ er seine Nische erst nach Sonnenuntergang.

Das Geschäft lief gut. Die Republik Astrachan, wo Bürger mit ungewöhnlichen Fähigkeiten immer gefragt waren, war kurz davor, ihm einen Pass und ihren zweifelhaften Schutz zu gewähren.

Als er heute hereinkam, nickte der Türke ihm zu. »In deiner Sitzecke wartet eine Frau auf dich. Trägt einen Abglanz. Hat namentlich nach dir gefragt. Nur dass du Bescheid weißt.«

Rustem überlegte, ob er wegrennen sollte.

Nein, so würde Moskau ihn nicht umbringen. Er war es nicht wert, dass man ihn persönlich aufsuchte. Das Maß an Ärger, das er ihnen beschert hatte, war höchstens eine wespengroße Kamikazedrohne wert, die in irgendeiner Seitengasse sein Gesicht wegsprengen würde. Entweder das oder einfach gar nichts. Nachdem sein Gesicht bereits ein Jahr lang nicht weggesprengt worden war, schien letztere Variante zuzutreffen.

»Danke.«

Sie saß in seinem Alkoven, einen Teller mit gegrilltem Stör auf dem Tisch. Ihr Abglanz wechselte etwa zweimal pro Sekunde das Gesicht, so schnell, dass jedes Merkmal schon wieder verschwunden war, bevor das Auge sich darauf fokussieren konnte. Männer, Frauen und faszinierende nonbinäre Kreationen. Manche schön, andere durchschnittlich, manche abstoßend. Waren das echte Menschen? Zufällig generierte Gebilde?

Ihre Hände waren klein. Ihre Fingernägel waren golden lackiert, die Finger bis über das zweite Fingergelenk platinweiß gefärbt. Sie glänzten vom Fett des Störfleischs. Der Teller mit dem Stör war bereits halb leer gegessen. Sie kaute gerade, als er hereinkam; ein halbes Dutzend Münder und doppelt so viele Zahnreihen, die jeden Bissen zu genießen schienen.

Die hier isst anscheinend gerne.

Er selbst interessierte sich nicht sehr für Essen, allerdings war der Stör in dem Café gut. Seine Wertschätzung für Kaffee beschränkte sich im Wesentlichen auf die enthaltene Koffeinmenge – weshalb er die Hochleistungsbrühe des Türken mochte.

Tatsächlich verbrachte Rustem einen Großteil seiner Zeit fernab seiner physischen Umgebung, klebte über Stunden an seinem Terminal, verlor sich in der Welt seiner Arbeit und kam erst irgendwann zu sich, wenn das Licht nicht mehr durch die Fenster drang, seine Kehle ausgetrocknet war und sein Magen leer.

Wenn er in neuronale Netzwerke einbrach, benutzte er keine VR- oder 3D-Modelle. Er war ohne die finanziellen Mittel für solche Dinge aufgewachsen. In seinem Heimatort Jelabuga, in der ehemaligen Republik Tatarstan, hatte er seine frühen Arbeiten zumeist auf ein paar schmutzigen Terminals erledigt, die er in einem antiquierten Internetcafé zusammengeschlossen hatte. Das Café hatte im modrigen Keller eines Hauses gelegen. Dort hatte sich früher das Hauptquartier der Kommunistischen Partei befunden, hundert oder mehr Jahre vor seiner Geburt.

Anstelle von VR besaß er gebündelte Konzentrationsfähigkeit. Rustem hatte sie sich durch das Leben in einer Einzimmerwohnung antrainiert, mit Eltern, die sich durchgehend gestritten hatten. Er hatte gelernt, aus der Welt zu verschwinden und in selbsterschaffene Welten abzutauchen.

In dem Internetcafé hatte er diese Fähigkeit genutzt, um in seinem Kopf Modelle zu bauen, die ihm genau zeigten, wo die Hintertür zu finden war. Damals hatte er gelernt, sich in Systeme einzuhacken, während alle anderen in dem Café einander über Hochgeschwindigkeitsverbindungen in tausend Stücke gesprengt und dabei Obszönitäten geschrien hatten. Ganz wie zu Hause.

Und ganz wie zu Hause war er abgetaucht. In seine neuralen Welten.

Wenigstens konnte er als Erwachsener an einem ruhigen Ort arbeiten, ohne Ablenkung, über Stunden am Stück tief eintauchen in die neuralen Muster, die Verzweigungen und Knotenpunkte, die Sackgassen und die Schleifen wiederkehrender Erinnerungen.

Rustem ließ seine abgewetzte lederne Umhängetasche auf den Boden fallen und setzte sich. Der Kellner erschien zehn Sekunden später mit seinem Kahvaltı und zwei Tassen Kaffee auf einem verbeulten Blechtablett, zusammen mit dem obligatorischen Glas Wasser.

Die Frau wischte ihre platinfarbenen Finger ab und stellte ein Terminal auf den Tisch. Sehr exklusiv. Sehr teuer. Sehr neu.

Sie wartete, bis der Kellner weg war.

»Vor zwei Jahren ist jemand über ein Terminal in das Netzwerk eines Autonofrachters eingedrungen und hat ihn in eine Jacht auf dem Marmarameer krachen lassen, wobei einer von Moskaus obskureren, aber gut vernetzten Ultraoligarchen ums Leben gekommen ist.«

Schade um die Crew der Jacht – und die aktuelle Ehefrau des Ultraoligarchen. Aber es hatte keine andere Möglichkeit gegeben – manchmal musste man eben auch ein paar Leben mehr opfern.

Die Stimme, durch den Abglanz jedes identifizierbaren Tonfalls und jeder Gemütsregung beraubt, fuhr fort: »Vor einem Jahr hat jemand einen Wartungsroboter in einem katarischen Hochhaus dazu gebracht, einen iranischen Geschäftsmann über ein Treppengeländer dreißig Meter in die Tiefe zu stoßen.«

Okay, das war wirklich perfekt gelaufen.

Rustem zuckte mit den Schultern. »Es ist möglich, dass jemand diese Vorfälle verursacht hat. Oder es ist möglich, dass niemand es getan hat. Jedenfalls gibt es meines Wissens keine Beweise dafür, dass jemand diese KIs manipuliert hat. Bei Autonofrachtern geht dauernd etwas schief, und Wartungsroboter sollten mir generell nie zu nahe kommen, nicht mal wenn es um meine Handtücher geht. Total störanfällig.«

Bei Autonofrachtern ging jedoch nur etwas schief, wenn jemand dafür sorgte, dass es schiefging. Und ein Wartungsroboter sollte ihm nicht zu nahe kommen, weil er wusste, wozu dieser Roboter fähig war, in den falschen Händen. Oder den richtigen Händen, je nachdem, welche Perspektive man da einnahm.

»Wie denken Sie darüber?« Die Frau schob das Terminal zu ihm herüber.

Rustem überflog die ersten zwanzig Screens – die Spitze eines neuralen Eisbergs. Er brauchte dreißig Minuten. Als er aufschaute, bemerkte er, dass die Frau genauso dasaß wie zuvor, die Hände auf der Tischplatte gefaltet.

»Ich glaube nicht, dass jemand das kann.«

»Nicht mal die besten? Nicht mal, zum Beispiel, der, den sie Bakunin nennen?«

»Man könnte fünfhundert KIs von Autonofrachtern im linken oberen Quadranten der ersten Folie mappen. Wen immer Sie auf diese Sache ansetzen wollen, will wahrscheinlich ein garantiertes Honorar von fünfzig Prozent dessen, was Sie ihm anbieten – was eine ganze Menge sein müsste. Und das wäre zum Fenster rausgeschmissenes Geld.«

Die Frau stand auf. »Nun, ich kann mir vorstellen, wenn diese Person eine große Menge Geld auf ihrem Konto vorfinden würde, würde sie wissen, dass sie mit der Arbeit beginnen sollte.« Sie schob den Vorhang beiseite. »Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen, Rustem.«

»Ganz meinerseits. Aber Sie haben Ihr Terminal vergessen.«

»Nein, das habe ich nicht. Das Terminal gehört Ihnen.«

Es herrscht nicht nur Uneinigkeit darüber, wie wir Bewusstsein bei anderen messen oder erkennen können, sondern wir sind noch nicht einmal in der Lage, zu »beweisen«, dass es in uns selbst existiert. Die Wissenschaft tut unsere individuellen Erlebnisse – wie es sich anfühlt, eine Orange zu riechen oder verliebt zu sein – als Qualia ab. Uns bleiben nur Theorien und Metaphern für das Bewusstsein: ein Erfahrungsstrom. Eine selbstreferenzielle Schleife. Etwas, das aus dem Nichts erschaffen worden ist. Nichts davon ist zufriedenstellend. Der Begriff entzieht sich unserer Erklärung.

Dr. Ha Nguyen, Wie Meere denken

6

Der mit Steinplatten gepflasterte Hof war von Gebetsmühlen gesäumt. Die Autonomönche schritten sie langsam ab und drehten im Vorübergehen mit ihren silbrig-blassen, dreifingrigen Händen an jeder Mühle. Ihre Mikrophon-Münder sangen Namu Myōhō Renge Kyō. Jede Stimme war anders, bemerkte Ha, so wie auch keiner der Autonomönche dem anderen genau glich. Die glatten, elfenbeinfarbenen Köpfe waren nach unten geneigt. Ihre Augen ähnelten den halbgeschlossenen Augen von Meditierenden, doch Ha konnte darin keine Pupillen erkennen, nur ein dunkles Feld aus sechseckigen Lichtrezeptoren.

Im Licht des späten Morgens, in diesem Moment, war der Hof dieses Tempels das Schönste, was Ha je gesehen hatte. Sie wünschte, sie könnte etwas Religiöses empfinden. Aber obwohl sie das nicht konnte, war die Kraft der Szenerie unbestreitbar: Der Hof war von Ficusbäumen wie schmelzenden Riesen beschattet, die ausgebleichten Gebetsflaggen kräuselten sich in der leichten Brise, der Geruch von Räucherstäbchen wehte von der gewölbten Van-Son-Pagode herüber. Und das alles vor dem kristallklaren Himmel über dem Con-Dao-Archipel.

Sie sollte öfter herkommen. Sie würde hier besser nachdenken können. Und sie würde viel Zeit zum Nachdenken brauchen während ihres Aufenthalts auf Con Dao. Würde Einsamkeit brauchen. Sie hatte schon immer ein großes Maß an Einsamkeit gebraucht – Stunden um Stunden unter Wasser oder an einem menschenleeren Strand. Wo auch immer, Hauptsache, es war abgeschieden und weit weg von allen anderen, so konnte sie besser zusammenhängende Gedanken formulieren. Dieser Ort hier würde ihr helfen, das Problem zu lösen.

Das Problem. Schon jetzt überlegte sie daran herum. Schon jetzt drückte es sich dauernd in ihr Bewusstsein, Gedanken ließen sich kurz blicken, glitten unter der Oberfläche vorbei: Du musst eine gemeinsame Welt erschaffen, hörte sie sich jetzt denken. Seine Interaktionen werden genau wie unsere durch die Form seines Körpers bestimmt sein. Durch die Formen, die seine Welt ausmachen. Seine Gedanken werden sich aus diesen Formen ergeben. Denk nach. Das ist dein Ausgangspunkt. Was sagt das darüber aus, wie er kommunizieren wird? Was sagt es darüber aus, wie du versuchen musst, dich an seine Kommunikation anzupassen?

Es sei denn, es ist alles falsch positiv. Es sei denn, es ist eine weitere Sackgasse und überhaupt nicht das, wonach ich gesucht habe.

»Haben die Autonomönche ein Bewusstsein?«, fragte Ha.

Evrim stand von Ha abgewandt und schaute über die niedrigen Steinmauern des Pagodenhofs hinunter zum Meer.

»Darüber lässt sich streiten«, sagte Evrim. »Wie über das Konzept von Bewusstsein im Allgemeinen. Sie sind von ihrem Verstand her außerordentlich komplex und vielschichtig, aber das meiste davon sind nur Routinen. Auf der Schtschegolew-Skala ordnet man sie etwa bei null Komma fünf ein. Mit dieser Einstufung hätten sie in etwa dieselben Rechte wie Haustiere: Schutz vor Misshandlung, humane Stilllegungsbedingungen. Andererseits ist jeder von ihnen ein neurales Abbild der Seele eines tibetischen Mönches, der tatsächlich gelebt hat. Die Buddhistische Republik Tibet scheut keine Kosten. Man kann den Autonomönchen Fragen zu Philosophie stellen, zu Religion, zu ihren Lebensansichten. Sie werden so antworten wie die toten Männer, denen sie nachempfunden sind. Sie sind wandelnde Gedächtnisarchive. Aber sie haben augenscheinlich keinen eigenen Willen – ihr Ist-Zustand ist automatisiert. Ich persönlich würde sagen, dass sie kein Bewusstsein haben. Sie entwickeln sich nicht weiter. Sie können sich nicht auf die Zukunft ausrichten – einen »Willen« haben, wie Sie es nennen würden. Sie sind wie Lexika der Seelen toter Religionsangehöriger. Oder Abbilder dieser Seelen. Aber ein Abbild ist nicht dasselbe wie das, was es abbildet.«

»Klingt morbid.«

»Angeblich haben einige von ihnen schon Reaktionen gezeigt, die auf einen Lernprozess hindeuten. Ich bezweifle das. Ich denke, sie sind schlicht Roboter. Als die Insel evakuiert wurde, weigerte sich Tibet, den Tempel aufzugeben. Deshalb haben wir sie immer noch hier – die hier und die sechs Autonomönche, die das Schildkrötenreservat auf Hon Bay Canh pflegen, ein heiliger Ort für die Buddhistische Republik Tibet.«

»Sollten der Tempel und das Reservat nicht Eigentum der Hanoier Regierung sein?«

»Nein, die Regierung in Hanoi hat die Leitung aller Tempel in der Autonomen Handelszone Ho Chi Minh dieser Sub-Regierung überlassen, und die AHZ hat, geschäftsmäßig wie immer, die Tempel an Tibet verkauft. Zum Leidwesen der Tempelgänger, deren Buddhismus natürlich ein anderer ist. Die vietnamesischen Neo-Nationalisten waren entrüstet. Aber es gab gutes Geld. Als wir hier übernommen haben, gab es eine lange Reihe von Verhandlungen: Die Buddhistische Republik Tibet lenkt nicht so schnell ein. Sie verlangten die Kontrolle über alle Tempel und Schreine auf der gesamten Insel. Sie wollten hier ein Kloster an der Küste bauen, und noch weitere Zugeständnisse. Die Tibeter sind harte Verhandlungspartner. Ich erinnere mich, wie Dr. Mínervudóttir-Chan sagte, sie könne nicht beurteilen, ob sie ein Nationalstaat seien, eine Religion oder ein Unternehmen – aber dass sie wie jedes Einzelne davon zu agieren wüssten und jeweils immer die notwendigen Regeln und Gesetze nutzten, um an ihr Ziel zu kommen.« Evrim schwieg für einen Moment.

»Letztendlich stellte sich heraus, dass man ihnen die Tempel des Archipels und das Schildkrötenreservat dauerhaft überlassen hatte – es war also unmöglich, sie vollständig von Con Dao zu vertreiben. Deshalb handelte DIANIMA hier auf dem Archipel einen Vertrag mit ihnen aus, der ihnen menschliche Mönche untersagte und nur die Autonomönche gestattete. Wir mussten ein paar weitere Zugeständnisse machen – Versorgungslieferungen durch Flugdrohnen, Instandhaltung der Robotik. Niemand ist glücklich darüber. Und Altantsetseg ist entsetzt über die möglichen Sicherheitslücken, die sich dadurch ergeben. Aber gleichzeitig denke ich nicht, dass die Gesänge der Autonomönche, ihre Meditation und die Tatsache, dass sie Schildkröteneier sammeln, um sie dann auszusetzen, irgendjemandem schaden.«

Die meisten Mönche hatten sich mittlerweile in die Pagode zurückgezogen, aus der ein Gong ertönt war. Nur einer von ihnen verweilte noch im Hof und goss einen eingetopften Feigenbaum. Ha sah, wie Evrim beim Beobachten der Autonomönche das Gesicht abschätzig verzog.

»Sie mögen sie nicht, oder?«, sagte Ha.

»Nein. Ich finde sie unheimlich. Abstoßend. Wahrscheinlich in etwa so, wie wenn Sie einen Affen sehen. Verstörend.«

»Ich finde Affen nicht verstörend. Und ich glaube, den meisten Menschen geht es da ähnlich.«

»Wirklich? Ich hätte gedacht, dass Sie sie als beunruhigend empfinden. Wo sie doch so sehr wie Sie sind, nur in niedrigerer Form. Ein Fehlversuch.«

»Ich schätze, wir sehen sie einfach nicht so.«

Evrim zuckte mit den Schultern und wandte sich zum Gehen. Ha hörte den Motor des Transporters anspringen.

»Ich nehme an, Sie haben das Video gesehen?«

»Nein.«

Evrim hielt auf der Steintreppe inne, die von der Pagode hinabführte.

»Haben Sie Dr. Mínervudóttir-Chan nicht getroffen? Ich dachte, Sie hätten einen Termin gehabt …«

»Nein. Sie hat mir ihren Sub-4 geschickt. Sie war nicht da.«

»Dann sind Sie also noch nicht gebrieft worden?«

»Ich meine, ich weiß, weshalb ich hier bin. In groben Zügen. Das wurde mir kommuniziert, bevor ich den Vertrag unterschrieben habe. Aber …«

»Aber man hat Ihnen nicht im Detail mitgeteilt, was ich hier im vergangenen halben Jahr gesehen habe.«

»Nicht im Detail. Nein.«

»Seltsam«, sagte Evrim. »Was immer Dr. Mínervudóttir-Chan von diesem Treffen abgehalten hat, muss extrem wichtig gewesen sein.«

»Oder sie hat darauf vertraut, dass Sie das Briefing für sie übernehmen können. Dass Sie mich ins Bild setzen können. Immerhin leiten Sie das Team.«

»Ja, das tue ich … und Sie müssen sich fragen, warum ich hier bin und diese Forschungsarbeit leite. Es gibt sowohl einfache als auch komplizierte Antworten auf diese Frage. Das ist immer so bei Dr. Mínervudóttir-Chan: Es gibt nie nur einen Grund. Aber es gibt ein paar offensichtliche Gründe für meine Anwesenheit hier: Ich habe einige Vorteile. Zum einen vergesse ich nicht, was ich gesehen habe. Außerdem funktioniere ich unter Wasser genauso gut wie an Land. Aber ich glaube, der eigentliche Grund, weshalb ich hier bin – und das wurde mir nie mitgeteilt, ich vermute das nur –, ist, um meine Fähigkeiten zu testen. Um meinen Verstand auf die Probe zu stellen außerhalb eines Interviews oder eines Kognitionstests im Labor. Um zu sehen, was ich mache, wenn ich realen Problemen von dieser Größenordnung gegenüberstehe. Das ist zumindest meine Theorie.«

»Und was denken Sie, wie der Test bisher läuft?«

»Bisher habe ich nur genug Intelligenz bewiesen, um zu wissen, dass ich genau die richtige Person für die Aufgabe – Sie – finden und ihr zu Diensten stehen muss.«

»Eigentlich«, sagte Ha, »ist dieser Gedanke schon ziemlich fortgeschritten. Nur wenige Leute sind zu solcher Bescheidenheit fähig.«

»Das ist nicht Bescheidenheit. Es ist einfach Ehrlichkeit. Die letzten sechs Monate haben mir gezeigt, dass dieses Problem zu groß für mich ist. Und ehrlich gesagt – auch wenn Ihr Buch wirklich beeindruckend ist – glaube ich, dass dieses Problem auch für Sie zu groß ist. Aber möglicherweise ist es nicht zu groß für uns.« Evrim lächelte.

Und dann sah Ha es. Ja. Das war es, weswegen man um nichts in der Welt eine weitere humanoide KI bauen würde. Das Lächeln war perfekt. Ehrlich, ungekünstelt. Vollkommen menschlich.

Und genau deshalb war dieses Lächeln wie der Schatten des eigenen Todes. Evrims Existenz hatte Auswirkungen auf die eigene Existenz. Sie implizierte, dass man selbst letztlich auch nichts weiter als eine Maschine war – ein Gewimmel aus programmierten Impulsen, die sich endlos wiederholten. Wenn Evrim ein Ding mit Bewusstsein war, etwas Gemachtes, dann war man das selbst vielleicht auch. Ein Konstrukt aus verschiedenen Materialien. Ein umherlaufendes Skelett, von Fleisch ummantelt, dazu verleitet zu glauben, es besäße einen freien Willen. Ein durch Zufall entstandenes Ding. Oder aus einer Laune heraus geschaffen, um herauszufinden, ob es möglich war.

»Was genau«, hatte ein Stream-Interviewer einmal Dr. Mínervudóttir-Chan gefragt, »ist der Sinn und Zweck eines Androiden? Warum gibt man sich solche Mühe, sie so menschlich zu machen, wenn Menschen beinah kostenlos gemacht werden können?«

Dr. Mínervudóttir-Chan hatte geantwortet: »Das Großartige und das Schreckliche an der Menschheit ist: Wir werden immer das tun, wozu wir in der Lage sind.«

Sie gingen die Treppe von der Pagode hinab.

Wir sind mehr als nur die physischen Verbindungen, die unseren Verstand bilden – doch dieser physische Nährboden ist nicht zu leugnen. Man kennt das, wenn man schon mal Hühnchen gegessen hat: Diese weißlichen Fäden, die man auf seinem Teller findet, sind Nervenfasern – Axonbündel, der Beweis für die körperliche Vernetzung, ohne die kein komplexer lebender Verstand auf der Erde funktionieren kann.

Man kann so viel über die Seele streiten, wie man will. Doch ohne das Konnektom, das aus den Milliarden von Synapsen besteht, die in einem Nervensystem umherfeuern, ist nicht einmal das einfachste Erinnerungsvermögen denkbar. Jede Erinnerung zum Beispiel an Limonade ist ein mikroskopisch kleiner elektrochemischer Blitz, der Fleisch durchzuckt. Deshalb spreche ich auch von den »Mauern« des Geistes: Der Geist ist ebenso physisch wie eine Backsteinmauer.

Dr. Arnkatla Mínervudóttir-Chan, Die Mauern des Geistes

7

Eiko sah durch die rostigen Metallstäbe der Quartiersfenster auf das Verarbeitungsdeck des Schiffs. Er war gegen die Kälte in zwei recycelte Plastikdaunen-Decken eingewickelt. Der Sturm hatte nachgelassen. Das Schiff bockte und schlingerte noch immer über die Wellen, und in den Unterkünften roch es nach Angstschweiß und Erbrochenem, aber das Schlimmste war vorüber.

Eiko presste sein Gesicht gegen die Stäbe, versuchte dem Gestank nach Erbrochenem zu entkommen. Ein salziger Sprühnebel peitschte gegen seine Wangen. Da war der scharfe Geruch des Hochsee-Schlachthauses auf dem darunterliegenden Deck, wo das rosafarbene, verdünnte Blut des Morgenfangs stand, immer noch angenehmer.

Emsig arbeiteten die Leute von der Verarbeitung an den Fließbändern. Sie schlitzten mit den Klingen ihrer Messer die Fischbäuche auf, holten die Eingeweide heraus und warfen sie in blaue Plastikeimer. Dann legten sie die Fische auf die Fließbänder, die sie hinunter in die Fabrikanlage brachten, wo sie in Blöcken schockgefrostet und dann weiter in die Gefrierlager gebracht wurden. Die Bewegungen der Arbeiter waren effizient, mechanisch. Es wurde keinerlei Energie verschwendet. Roboterhaft. Auf dem Deck konnte man tatsächlich die rostigen, zerkratzten Bodenplatten erkennen, auf denen die Roboter gestanden hatten, die früher für diese Arbeiten zuständig gewesen waren.

Wartungsintensive Dinger, diese Roboter. Anfällig für alle möglichen Wetterschäden auf See. Elektrizität und Salzwasser vertragen sich nicht. Rost, Verfall, Kurzschlüsse. Teuer. Wir sind die besseren Roboter. Billiger in der Wartung, entbehrlicher.

Eine Wache stand an die Hauptsäule der Brücke gelehnt und zog an einer Vape-Röhre, die von ihrer Schulter aus emporragte. Sie blies Wolken in die Luft, eine Hand lässig an dem Griff ihres Gewehrs, das an einem Riemen baumelte. In ihren Augen war nichts. Eiko kannte den wahren Namen dieser Wache nicht. Die anderen Wachen nannten sie »Mönch«. Sie sprach nie, aber Eiko hatte ein paar Dinge mitbekommen: Söldnerin in der Eingeschränkten Regierungszone Südafrika, Legionärin des Pariser Protektorats in der ERZ Elfenbeinküste. Sie war immer grau gekleidet. Das Gewehr, eine Pistole, ein Messer am Oberschenkel. Eine Menge Ausrüstung am Gürtel. Handschellen und ein Elektroschocker, aber auch Dinge, die Eiko nicht kannte.

Die Wachen liebten ihre Ausrüstungen. Sie besaßen alle ein großes Sammelsurium an Gewehren, Pistolen, Messern – sie liebten Messer. Liebten es, darüber zu reden, wo sie sie gekauft hatten. Wo sie sie benutzt hatten. Die Wachen trugen alle Kleidung aus industriellen Materialien, mit Reißverschlüssen und Geheimtaschen. Obwohl sie keine einheitlichen Uniformen trugen, sahen ihre individuellen Kluften letztendlich alle gleich aus.

Und obwohl sie alle unterschiedliche Vorgeschichten hatten, sahen auch sie selbst letztendlich alle gleich aus: die Männer groß, aufgepumpt von Proteinen, mit lauten Stimmen. Diejenigen, die noch Haare hatten, trugen sie lang. Die, die wenige hatten, rasierten sich die Schädel.

Die Männer waren alle, ohne Ausnahme, Schlägertypen. Sie fuchtelten mit ihren Gewehrkolben herum, lachten und schubsten sich gegenseitig herum.

Die Frauen waren anders. Die Frauen waren still, kurzhaarig. Ihre Augen waren immer halb geschlossen, als wären sie dadurch weniger angreifbar. Sie waren härter als die Männer.

Acht Wachen hatte Eiko gesehen. Sechs Männer, zwei Frauen. Vielleicht gab es noch mehr, er glaubte aber nicht. Das Schiff war groß, aber nicht so groß. Seit zweiundsiebzig Tagen war er nun an Bord. In dieser Zeit hatte er nur diese acht Wachen gesehen. Er kannte die Namen der meisten von ihnen. Er kannte ihre Gewohnheiten. Er wusste ein bisschen was über ihre Vergangenheit.

Weil er kein Terminal hatte, keinen Stift, kein Papier, bewahrte er diese Informationen in dem Gedächtnispalast auf, den er in seinem Kopf errichtet hatte. Sein Gedächtnispalast war ein japanisches Gasthaus. Aber nicht irgendein Gasthaus: Es war das Minaguchi-ya, am Tōkaidō, zwischen Tokio und Kyoto. Eiko war selbst zwar nie im Minaguchi-ya gewesen, aber er hatte ein altes Buch gelesen, geschrieben von einem Gaijin aus den alten Amerikanischen Staaten namens Oliver Statler. Im Buch war das Minaguchi-ya detailliert beschrieben worden: jedes Zimmer des Hauses, über all die Generationen hinweg, die es in Betrieb gewesen war.

In diesen erinnerten Zimmern und Zeiten bewahrte Eiko die Namen der Wachen auf. Und in diesen Zimmern bewahrte er auch alle Details über das Schiff auf, die er kannte: die ungefähre Höhe der Brücke, die Formen der thailändischen Buchstaben an der Seite, auch wenn er ihre Bedeutung nicht kannte, die Form der Schlösser an den Türen, die Zahl der Schritte dorthin von den vergitterten Mannschaftsunterkünften aus, wo er und die anderen gehalten wurden, wenn sie nicht gerade ihre überwachten Arbeiten verrichteten.

Er kannte das gesamte Schiff bis hin zum Verarbeitungsdeck, der Schockgefrieranlage, den Luken und Relings. Er hatte das dicke, blickdichte, gehärtete Glas des Steuerhauses genau studiert, seine verstärkte Stahltür, hinter der sich die KI des Schiffs befand – sein Verstand aus Karten von Ufern und Untiefen, aus Netzfischereimethoden und Preislisten.

In Schablonenschrift stand auf der gepanzerten Stahltür des Steuerhauses auf Englisch: WOLF LARSEN, CAPTAIN