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»Eines der außergewöhnlichsten Leben des 20. Jahrhunderts.« The Washington Times. Während eines Besuchs im Vernichtungslager Auschwitz entdeckt Paul Glaser einen Koffer – beschriftet mit seinem Familiennamen. Es beginnt die zaghafte Entdeckung der verdrängten jüdischen Wurzeln seiner Familie und der unglaublichen Überlebensgeschichte seiner Tante Rosie, einer temperamentvollen und emanzipierten Tanzlehrerin aus Amsterdam, die ihren Lebensmut gegen den nationalsozialistischen Terror verteidigt. Aus Rosies Tagebüchern und Briefen setzt Glaser ihre Biographie zusammen – ein authentischer und emotionaler Überlebensbericht, der zugleich vom Kampf zwischen Erinnern und Vergessen in einer Familie erzählt.
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Seitenzahl: 372
»Eines der außergewöhnlichsten Leben des 20. Jahrhunderts.« The Washington Times
Während eines Besuchs im Vernichtungslager Auschwitz entdeckt Paul Glaser einen Koffer – beschriftet mit seinem Familiennamen. Es beginnt die zaghafte Entdeckung der verdrängten jüdischen Wurzeln seiner Familie und der unglaublichen Überlebensgeschichte seiner Tante Rosie, einer temperamentvollen und emanzipierten Tanzlehrerin aus Amsterdam, die ihren Lebensmut gegen den nationalsozialistischen Terror verteidigt. Aus Rosies Tagebüchern und Briefen setzt Glaser ihre Biographie zusammen – ein authentischer und emotionaler Überlebensbericht, der zugleich vom Kampf zwischen Erinnern und Vergessen in einer Familie erzählt.
Paul Glaser
Die Tänzerin von Auschwitz
Die Geschichte einer unbeugsamen Frau
Aus dem Niederländischen von Barbara Heller und Eva Schweikart
Ist der Name enthüllt, nimmt das Unheil seinen Lauf.
Lohengrin-Sage
Wolfram von Eschenbachs im 13. Jahrhundert entstandenes Epos Parzival basiert auf einem antiken Mythos und preist die Heldentaten des Schwanenritters Lohengrin. In einem Nachen, der von einem Schwan gezogen wird, gelangt Lohengrin auf dem Rhein nach Kleve, einer deutschen Kleinstadt nahe dem niederländischen Nijmegen. Er verteidigt die Ehre einer Herzogin namens Elsa, die beiden heiraten und sind glücklich miteinander, doch Lohengrin verbietet Elsa, ihn nach seiner Herkunft und seinem wahren Namen zu fragen. Jahre später vermag sie ihre Neugier nicht mehr zu bezähmen, sie stellt die verbotene Frage und stürzt sich damit ins Unglück.
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Paul: Vorwort
Paul: Der Koffer
Roosje: Die gebrochenen Flügel der Liebe
Roosje: Tanzen mit Leo und Kees
Paul: Ein verborgenes Zeichen
Roosje: Die Neuordnung
Paul: Die Entdeckung
Roosje: Gefangen!
Paul: Ein neuer Cousin
Roosje: Verraten und verkauft
Roosje: Das neue Lager
Paul: Briefe
Roosje: Tanzen in Auschwitz
Paul: Neue Eindrücke
Roosje: Der Weg in die Freiheit
Paul: Ein Familienfest
Roosje: Befreiungstanz
Paul: Begegnung
Roosje: Eine Zukunft mit Erinnerungen
Paul: Rosen
Nach dem Krieg
Nachwort
Anmerkung des Autors und Dank
Weitere Gedichte und Lieder aus den Lagern
Bildteil
Über Paul Glaser
Impressum
Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …
Dies ist die wahre Geschichte meiner Tante Roosje.
Ich habe aufgeschrieben, was sie erlebt hat, und mich dabei auf ihre Tagebuchaufzeichnungen gestützt, auf Fotos, Briefe und Notizen aus der Zeit des Krieges, auf persönliche Gespräche und Archivmaterial.
Roosje hat die Menschen, die sie an die Polizei verraten hatten, unmittelbar nach Kriegsende angezeigt. Die Ermittlungsprotokolle sowie zahlreiche Zeugenaussagen fanden ebenfalls Eingang in ihr Archiv.
Als ältester Vertreter der Nachkriegsgeneration meiner Familie habe ich die Geschichte meiner Tante zu einem Buch verarbeitet. Es zeigt, was Charakterstärke und Optimismus bewirken können, wenn es hart auf hart kommt. Erzählen Sie es weiter.
Paul Glaser
Im Jahr 2002 nahm ich an einer Tagung von Klinikchefs in Krakau teil. Der Termin lag so, dass meine Frau Ria mitkommen konnte, weil ihre Studenten Ferien hatten. Wir waren noch nie in Krakau gewesen und wollten im Anschluss an die Tagung zusammen mit einigen Kollegen noch drei Tage dortbleiben. Ich freute mich darauf. Für den ersten Tag stand eine Führung durch die Krakauer Altstadt auf dem Programm, für den zweiten eine Besichtigung der nahe gelegenen Salzbergwerke. Am dritten Tag sollte es nach Auschwitz gehen, einem der größten deutschen Konzentrationslager des Zweiten Weltkrieges, und ins benachbarte Lager Birkenau.
Als der letzte Tag näher rückte, fragte ich mich, was ich eigentlich in den Lagern sollte, und sagte am Abend zuvor zu meiner Frau, ich hätte keine Lust auf den Ausflug. Ich hatte noch nie ein Konzentrationslager besucht und war auch nicht neugierig darauf. Die Dokumentarfilme, die ich als Schüler gesehen hatte, genügten mir. Folgte ich einer Intuition, die ich zu rationalisieren suchte? Ich sagte den anderen, sie sollten ohne mich fahren.
Beim Frühstück am nächsten Morgen versuchten einige Kollegen, mich doch noch zum Mitkommen zu überreden. Wie man sich denn nicht für Auschwitz interessieren könne, argumentierten sie, und es sei doch nur einen Steinwurf entfernt. Aus Solidarität ließ ich mich schließlich breitschlagen. Mit gemischten Gefühlen stieg ich in den Bus.
Nach einstündiger Fahrt erreichten wir ein riesiges ebenes Gelände mit Holzbaracken, so weit das Auge reichte. Unser Führer, ein junger Mann mit kurzen blonden Haaren, begrüßte uns mit einem breiten Lächeln. Nachdem er sich vorgestellt hatte, folgten wir ihm durch das Tor, über dem die Worte »Arbeit macht frei« prangten. Unzählige Menschen seien hier ermordet worden, sagte er, die meisten von ihnen Juden – Männer, Frauen, Kinder, sogar Babys. Ich kam mir vor wie ein Katastrophentourist. Was machte ich hier? Warum hatte ich mich umstimmen lassen, warum war ich nicht in Krakau geblieben?
Mit unvermindertem Enthusiasmus führte uns der junge Mann an einer Reihe von Ziegelbauten vorbei zu einer Mauer, an der täglich Menschen exekutiert worden waren. Dann betraten wir das angrenzende Gebäude, in dem Dr. Clauberg seine Menschenversuche durchgeführt hatte. Hier waren auch Häftlinge untergebracht gewesen, und in ihren schwach beleuchteten Unterkünften sah man, hinter Glasscheiben aufgehäuft, Gegenstände aus ihrem Besitz.
Hinter einer Scheibe lagen Unmengen von Brillen, hinter einer anderen Berge von menschlichem Haar, teilweise noch geflochten. Während meine Kollegen dort verweilten, gingen meine Frau und ich in den nächsten Raum, in dem sich zahllose Koffer stapelten. Man hatte den Häftlingen gesagt, sie müssten ihr Gepäck kennzeichnen, damit es nicht verloren ging. Jedes Stück war mit Namen und Herkunftsland des Besitzers versehen.
Ein großer brauner Koffer ganz vorn zog meinen Blick auf sich. Wie angewurzelt blieb ich stehen. Der Koffer stammte aus den Niederlanden und trug in Großbuchstaben die Aufschrift »Glaser«, in meinem Land ein relativ seltener Name. Meine Frau hatte ihn ebenfalls gesehen und griff nach meiner Hand. Unser Spiegelbild in der Scheibe überlagerte den Koffer, einen Koffer, der nirgendwohin reiste. Stille hüllte uns ein.
Kurz darauf hörten wir die anderen kommen. »Dafür bin ich jetzt nicht in der Stimmung«, sagte ich zu meiner Frau. »Komm, lass uns rausgehen.« Wir eilten zum Ausgang. Die frische Luft tat mir gut. Nach einer Weile stießen die anderen zu uns. »Hast du das gesehen? Den braunen Koffer mit deinem Namen drauf?«, fragte einer meiner Kollegen. Ich hatte die Frage befürchtet und insgeheim gehofft, dass niemand den Koffer gesehen oder zumindest keiner den Namen gelesen hatte. Ich fühlte mich hilflos und durcheinander, und noch ehe ich antworten konnte, fragte ein anderer: »Waren Verwandte von dir im Krieg hier?« »Ich hab den Namen auch gesehen«, sagte ich widerstrebend. »Keine Ahnung, wem der Koffer gehört haben könnte.« Weitere Fragen folgten, auf die ich ausweichend antwortete. Zu meiner Erleichterung kam der Führer, und wir setzten den Rundgang fort. Doch meine Gedanken kreisten weiter um den Koffer.
Beim Abendessen ergaben sich angeregte Gespräche. Unter normalen Umständen hätte ich mich mit Freuden daran beteiligt, aber nun war ich stiller als sonst und ging früh auf mein Zimmer.
Doch auch im Bett ließ mich das Bild des Koffers nicht los. Warum war ich den Fragen ausgewichen? Warum hatte ich um den heißen Brei herumgeredet, obwohl ich die Antwort genau kannte? Schließlich fasste ich einen Entschluss. Und auch am nächsten Morgen war ich mir noch sicher: Ich würde unser Familiengeheimnis öffentlich machen.
Im Sommer 1934 gingen Boy und ich an einem schönen Sonntagnachmittag im Zentrum Nijmegens spazieren. Ab und zu warf ich aus dem Augenwinkel einen Blick auf unser Spiegelbild in einem Schaufenster. Es hätte mich nicht gewundert, wenn man uns für ein Paar gehalten hätte. Boy war einundzwanzig, ich war fast zwanzig. Einen Moment lang regte sich eine Sehnsucht nach Liebe in mir. Doch Boy war ein Kumpel für mich: Wir tanzten miteinander, wir spielten Tennis, wir gingen schwimmen. Von einem gelegentlichen kleinen Flirt abgesehen, waren wir nur gute Freunde.
Das Hupen eines vorbeifahrenden Autos holte mich in die Wirklichkeit zurück.
Boy blieb stehen. »Der hupt deinetwegen, Roosje.«
»Ach ja? Verliebte Autos interessieren mich aber nicht die Bohne.«
»Der Fahrer hat dich angeschaut, als würde er dich kennen. Wer war das?«
»Keine Ahnung«, sagte ich gleichgültig. »Komm weiter.«
Wir vertrieben uns die Zeit bis zum Abend, dann wollten wir uns in der Vereeniging mit Freunden zum Tanzen treffen. Ich ging mindestens zweimal pro Woche in die Vereeniging. Sie war berühmt in Nijmegen, ein Prachtbau mit den verschiedensten Sälen, Wandelgängen und Bars. Der große Saal fasste eintausendsechshundert Personen und wurde im Winter für Konzerte, Revuen, Opern-, Operetten- und Theateraufführungen genutzt. Das Foyer war grandios: ein Tanzparkett aus Mahagoni, behagliches burgunderfarbenes Mobiliar und an der Decke rotierende Spiegel. Es gab ein Winter-Café mit Unterhaltungsmusik, und im Sommer spielte eine hervorragende Tanzkapelle. Alle zwei Wochen fanden internationale Kabarettabende statt.
Als Kind hatte ich meine Eltern oft von der Vereeniging reden hören, und immer wenn ich den Keizer Karelplein überquerte, hatte ich sehnsüchtig zu dem Gebäude hinübergeschaut. Es erschien mir geradezu märchenhaft, ein Ort nur für Erwachsene. Um es betreten zu dürfen, musste man mindestens sechzehn und außerdem Mitglied sein.
Durch eine Laune des Zufalls gelangte ich in den Besitz der Mitgliedskarte meines Vaters. Nach dem Tod seiner Mutter hielt er das Trauerjahr ein, und für meine kleinbürgerlich aufgewachsene Mutter war es undenkbar, allein auszugehen. Aus Rücksicht auf meinen Vater versuchte ich, mir meine Freude nicht anmerken zu lassen, aber die Karte war ein Geschenk des Himmels für mich.
Jeden Donnerstag begleitete ich nun meine Mutter zu einem wunderbaren Konzert im großen Saal der Vereeniging. Ganz besonders genoss ich die Klavierkonzerte. So lernte ich zahlreiche Werke der klassischen Musik kennen, und auch das Publikum wurde mir vertraut. Für eine Fünfzehnjährige wie mich war das ein aufregender Vorgeschmack auf das Erwachsensein, und es machte Appetit auf mehr.
Es gab dort viel zu sehen: Damen, die während des ganzen Konzertes Süßigkeiten naschten und mit dem ständigen Geraschel alle verrückt machten, ältere Herren, die ihr Opernglas ungeniert auf das Publikum richteten statt auf die Bühne, Besucher in feiner Abendgarderobe, aber ohne jedes Interesse für klassische Musik, die binnen Minuten friedlich einschlummerten, aber auch fanatische Musikliebhaber, die Note für Note die Partitur mitlasen, um den Dirigenten bei einem Fehler zu ertappen.
Und dann die Pausen, in denen die Leute durch die langen Wandelgänge mit den hohen Spiegeln flanierten, Gedanken austauschten und auf eine Tasse Kaffee dem Foyer zustrebten.
Ich genoss jede Minute und sah mich so begierig um, dass meine Mutter mich oft fragte: »Sag mal, Roosje, suchst du jemanden?«
»Nein, Mutter«, antwortete ich dann, »ich sehe mir nur so gern die Leute an. Ich komme mir vor wie im Zoo. Schau dich um – ich sehe da Affen, Esel, Füchse, Eulen, Schweine, Elefanten, Papageien und Raubvögel.«
Doch nicht nur dieser Vorgeschmack auf das Erwachsensein machte die Vereeniging zu etwas ganz Besonderem für mich. Sie rief auch meine erste Liebe wieder wach, das Tanzen, für das ich in der Zeit, als unsere Familie in Deutschland lebte, eine Leidenschaft entwickelt hatte.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg trat mein Vater eine Stelle bei der Margarine AG in Kleve an, der ersten Auslandsniederlassung der Familie van den Bergh. Dreitausend Menschen waren dort in der Produktion von Blauband-Margarine beschäftigt. Mein Vater machte rasch Karriere und wurde zum Betriebsleiter befördert.
Während sich nach einem Krieg, der für Deutschland in der Katastrophe geendet hatte, das Leben in Kleve langsam wieder normalisierte, wohnten wir längere Zeit in einem vornehmen Hotel namens Bollinger, in dem auch Offiziere der belgischen Besatzungstruppen einquartiert waren.
Als fünfjähriges Mädchen durfte ich im ganzen Hotel umherstreifen, und alle waren nett zu mir. Eines Abends hörte ich Musik und Stimmen aus dem großen Saal: »Und eins, und zwei, und drei, und vier, Füße zusammen, und drei, und vier …« Im Halbdunkel hinter der Glastür glitten Füße über den Boden. Lackschuhe, weiße Glacéhandschuhe, junge Schüler mit geröteten Gesichtern und mittendrin Liselotte Benfer, eine rothaarige, zierliche, kleine Frau in einem schwarzen Abendkleid aus Tüll. Sie brachte der Jugend Kleves das Tanzen bei. Nach den entbehrungsreichen Kriegsjahren war das Interesse an ihren Kursen groß. »Die Herren bringen die Damen jetzt an ihre Plätze zurück«, sagte sie, und die Paare strebten untergehakt in langer Prozession der Damenseite zu, wo die Herren eine leichte Verbeugung und die Damen einen Knicks machten. »Fünf Minuten Pause«, verkündete Liselotte Benfer.
Sehnsüchtig und mit offenem Mund schaute ich durch die Glasscheibe. »Ist das schön!«, dachte ich. »Ich will auch tanzen lernen.«
Eines Morgens saß ich mit meiner Mutter an einem üppig gedeckten Tisch im Frühstücksraum des Hotels. Uns gegenüber trank Liselotte Benfer eine Tasse schwarzen Kaffee und aß eine Scheibe Graubrot dazu. Ihr Blick wanderte immer wieder zu uns herüber, doch nicht aus Neid, sondern aus Hunger. Meine Mutter begriff. Sie hatte die deutsche Tanzlehrerin schon mehrmals im Hotel gesehen und zweideutige Bemerkungen über sie aufgeschnappt. Doch so etwas kümmerte sie nicht. Sie tat frischen Fisch und knusprigen holländischen Zwieback mit Frischkäse auf einen Teller, und ich bot ihn Liselotte Benfer mit einem deutschen Knicks an.
»Für mich?«, fragte sie. »Wie reizend. Aber erst will ich mich bei deiner Mami bedanken.«
Eine angeregte Unterhaltung entspann sich, und währenddessen konnte ich mein Idol eingehend mustern: die hübschen kleinen Füße, die feinen Seidenstrümpfe, das gut geschnittene Leinenkleid, die zarten, schlanken Hände, den Ring mit der Kamee, das mit einer einzigen Spange zusammengehaltene rote Haar. Liselotte Benfer brauchte keine schicken Kleider – sie war wunderschön.
Und das Beste: Sie lud mich zu ihrer nächsten Tanzstunde ein. Als sie am Abend mit mir an der Hand den Saal betrat, sahen uns die Schüler verwundert an. »Das ist Roosje, unsere neue Tänzerin«, stellte sie mich vor. Trotz meines zarten Alters lernte ich schnell die ersten Schritte und tanzte, als hinge mein Leben davon ab. Ich ging völlig darin auf. Wenn mich nach einiger Zeit die Offiziere im Hotel fragten, was ich einmal werden wolle, antwortete ich: »Fräulein Benfer.«
Nachdem Boy und ich ein Stück weitergeschlendert waren, winkte uns ein junger Mann, der an einem hohen offenen Fenster saß, zu sich herein.
»Wollen wir?«, fragte Boy. »Das ist ein Freund von mir. Ein netter Kerl, du wirst sehen.«
In dem großen Zimmer stellte Boy mich Wim Vermeulen vor. »Was darf ich euch anbieten?«, fragte Wim, und dann tranken wir auf unser Kennenlernen und unsere Gesundheit.
Wim war charmant, ein unterhaltsamer Erzähler, aber auch ein aufmerksamer Zuhörer. Auf seinem Schreibtisch standen mehrere Fotos von einem Mädchen, vermutlich seiner Freundin. Während ich sie betrachtete, merkte ich, wie mir die Hitze in die Wangen stieg, nicht der Bilder wegen, sondern weil ich spürte, dass Wim mich unverwandt ansah. Ich fühlte mich ertappt. Unterdessen ging die Unterhaltung weiter. »Was habt ihr heute Abend vor?«, fragte Wim.
»Wir wollen in die Vereeniging«, antwortete Boy.
»Komm doch mit«, platzte ich heraus.
»Ja?« Wim lächelte. »Ich will aber nicht stören.«
»Du störst doch nicht«, sagte ich. »Wir freuen uns, wenn du mitkommst.«
Wim hatte etwas Anziehendes – nicht nur weil er gut aussah, sondern auch was seine Manieren anging, seine ganze Haltung, sein glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar. Er war größer und etwas älter als ich, schlank und geschmeidig. Er machte mich neugierig.
Am Abend saßen Boy und ich in der Vereeniging an einem Tisch und warteten auf Wim. Ich sah ihn sofort, als er hereinkam. Er hatte ein Mädchen bei sich, wahrscheinlich das von den Fotos auf seinem Schreibtisch. Doch als die beiden näher kamen, erkannte ich meine Tennispartnerin Lydia.
»Ich hab sie an der Garderobe getroffen«, erklärte Wim. »Sie war allein, und da hab ich sie gefragt, ob sie sich nicht zu uns setzen will.«
»Du brauchst uns nicht vorzustellen«, sagte ich erleichtert. »Wir kennen uns schon ewig.« Ich zwinkerte Lydia zu. Boy kannte Lydia ebenfalls, und wir mussten schallend lachen. Wim rückte noch einen Stuhl an den Tisch, und wir bestellten die Getränke.
Wim erzählte mit viel Enthusiasmus von seinem Beruf als Zivilpilot, und als ich ihn nach seiner Familie fragte, sagte er: »Wir waren zu viert. Mein Vater ist schon lange tot, und ich wohne jetzt zur Untermiete in zwei Zimmern hier in Nijmegen. Da haben wir uns heute Nachmittag getroffen. Mir gefällt’s hier, besonders in netter Gesellschaft, so wie jetzt.« Er lächelte. »Ich muss regelmäßig nach Eindhoven zum Flughafen. Das ist natürlich nicht gerade in der Nähe, aber ich habe ein Auto, damit brauche ich von Haus zu Haus zwei Stunden. Ich muss auch nicht jeden Tag hin. Manchmal habe ich eine ganze Woche frei, dann bleibe ich hier in Nijmegen. Bei Langstreckenflügen bin ich länger weg. Ein paarmal bin ich als Kopilot nach Niederländisch-Indien geflogen. Das dauert hin und zurück mehrere Wochen, mit vielen Zwischenlandungen zum Auftanken und Ausruhen, und natürlich muss das Flugzeug auch gewartet werden.« Er sah mich lächelnd an.
Wim und ich verbrachten an diesem Abend viel Zeit auf der Tanzfläche. Wir redeten nicht viel, sahen einander nur in die Augen. Ich hatte auf Anhieb ein gutes Gefühl. Beim Abschied verabredeten wir uns zu einer Radtour.
Schon bald trafen wir uns, wann immer es ging. Wenn ich mit Wim zusammen war, fühlte ich mich ruhig und geborgen. Ich brauchte mich nicht zu verbiegen, und auch er war immer er selbst und spielte sich nicht auf. Nach einiger Zeit merkte ich, dass er verrückt nach mir war. Und auch meine Gefühle gingen weit über die Verliebtheit hinaus, die ich mit früheren Freunden erlebt hatte.
Im Umgang mit ihnen war ich immer befangen gewesen. Meine Eltern hatten mich nie über das andere Geschlecht oder über die Liebe aufgeklärt, und ältere Geschwister, die ich um Rat fragen oder denen ich mich hätte anvertrauen können, hatte ich nicht. Ich musste alles selbst herausfinden. Was ich wusste, stammte größtenteils aus Büchern, doch meine Neugier ging Hand in Hand mit einer großen Angst. Wie gern hätte ich jemanden gehabt, mit dem ich über all das hätte reden können!
Lydia hatte ich mit vierzehn im Tennisclub kennengelernt. Sie war ein kräftiges Mädchen, Tochter eines Hoteliers, stets teuer gekleidet, mit lackierten Fingernägeln und einem Hauch Puder, Rouge und Lippenstift. Sie war sechs Jahre älter als ich und ungleich erfahrener.
»Ein richtiger Mann, das ist was Himmlisches«, sagte sie eines Tages. »Am Anfang fand ich’s ein bisschen gruselig, aber jetzt mach ich’s ab und zu mit unserem Kellner, zu Hause hinter der Kegelbahn. Wenn meine Mutter dahinterkommt, kriege ich eine Tracht Prügel, und er wird gefeuert. Aber wir passen auf, wir steigen immer schon vor der Endstation aus. Damit’s kein Baby gibt, verstehst du?«
»Ja, klar«. Ich wurde rot. »Aber du liebst ihn doch, oder? Ihr wollt doch sicher heiraten?«
»Heiraten?«, kreischte Lydia. »Nie im Leben! Außerdem ist er schon verheiratet, aber seine Frau ist krank. Ich liebe ihn auch gar nicht. Er ist doch bloß Kellner. Ich hab was Besseres verdient, findest du nicht?«
»Aber … aber …«, stammelte ich, »warum machst du dann so was?«
Lydia zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, ehrlich gesagt. Er küsst einfach fantastisch, da vergesse ich alles um mich herum.«
Solchen Umgang pflegte ich, während meine Mutter sich noch in dem Glauben wiegte, die anatomischen Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen seien mir unbekannt. Aber einen Freund, der mich küsste und mir zärtliche Worte ins Ohr flüsterte, hatte ich mit meinen vierzehn Jahren noch nicht. Wim war der erste.
Vollauf mit meinen Gefühlen beschäftigt, hörte ich nicht mehr auf meine Eltern. Wir steuerten ohnehin auf ein Zerwürfnis zu. Ihre dauernde Kritik an meinen Freundinnen war kaum zu ertragen: Die einen waren nicht standesgemäß oder pflegten einen allzu freien Umgang mit Jungen, die anderen hatten den falschen Vater und dergleichen mehr. Auch die Arbeit in der Firma meines Vaters interessierte mich immer weniger. Nach unserer Rückkehr aus Deutschland war ich mit Pauken und Trompeten durch die Aufnahmeprüfung für die höhere Schule gefallen; mein Niederländisch hatte nicht ausgereicht. Ich hatte mich daher zunächst auf die Sprache konzentriert, dann hatte mein Vater mich auf eine Handelsschule geschickt, damit ich das nötige Rüstzeug für eine Tätigkeit in seiner Firma erwarb. Seit Jahren machte ich nun dieselbe Arbeit, aber in letzter Zeit hatte ich sie schleifen lassen, sodass er allen Grund hatte, böse auf mich zu sein.
Und dann waren da noch meine Tanten, die mir genauso auf die Nerven gingen. Meine Eltern interessierten sich nicht groß für ihr jüdisches Erbe. Sie waren in der niederländischen Gesellschaft assimiliert und praktizierten ihren Glauben nicht. Von mir ganz zu schweigen. Meine Tanten aber lagen mir ständig in den Ohren, ich solle mich mit jüdischen Jungen verabreden, und wenn ich nichts davon wissen wollte, setzten sie mir noch mehr zu.
Ein besonders heftiger Streit mit meinem Vater brachte das Fass schließlich zum Überlaufen. Ich rannte auf mein Zimmer, stopfte ein paar Sachen in einen Koffer und schrie: »Ich kündige, und ich verschwinde von hier!« Ich warf die Haustür hinter mir ins Schloss und marschierte los. Je weiter ich mich von zu Hause entfernte, desto ruhiger wurde ich. Mein Vater hatte ja recht. Ich hatte keinen Kopf mehr für die Buchhaltung, und sie lag schon seit Längerem im Argen. Auf dem Weg ins Stadtzentrum wurde mir allmählich klar, dass es noch einen ganz anderen Grund für meine Flucht gab, vielleicht den wahren Grund: Wim. In dieser Nacht schlief ich bei ihm.
Am nächsten Tag fuhr ich nach Eindhoven, mietete ein Zimmer und begab mich auf Arbeitssuche. Nach einer Woche fand ich eine Stelle in einer Textilfirma, wo ich für die Korrespondenz und die Kontakte mit den Vertretern zuständig war.
Einige Zeit später beschlossen Wim und ich zusammenzuziehen, in Eindhoven, damit er es näher zum Flughafen hatte. Wir fanden eine Wohnung am Stratumseind im Zentrum, nicht weit vom Hauptplatz der Stadt entfernt. Unsere Familien missbilligten unsere »wilde Ehe« natürlich und ließen es uns auch deutlich spüren, aber das kümmerte uns nicht. Wir sahen sie einfach seltener. Es war schließlich unser Leben und nicht ihres.
Die Zeit verging. Ab und zu hörte ich Neues von zu Hause, unter anderem, dass mein Vater im Zuge der Wirtschaftskrise in Konkurs gegangen war. Meine Eltern mussten von Nijmegen nach ’s-Hertogenbosch übersiedeln, wo mein Vater eine Stelle als Agent eines Textilfabrikanten fand. Damit war Nijmegen als mein Zuhause für immer dahin.
Doch das Leben meinte es gut mit Wim und mir. Unsere Wohnung war hübsch eingerichtet, und an warmen Sommerabenden saßen wir auf unserem riesigen Balkon mit Blick auf einen schönen Park, durch den die Dommel floss. Zu Wims großer Freude hatte ich wieder angefangen, Klavier zu spielen, und auch meine Liebe zum Tanzen blühte wieder auf. Wir meldeten uns in der Tanzakademie an und ließen uns keinen Ball in der Stadt entgehen. Moderne Tänze, viele davon aus Amerika, verliehen unserem Lebensrhythmus einen besonderen Akzent. Wir gewannen neue Freunde und fuhren regelmäßig nach Deutschland, das wir kaum als Ausland empfanden, da Wims Familie teilweise von dort stammte und ich als Kind einige Jahre in Kleve gelebt hatte.
Bei diesen Besuchen fiel mir auf, dass sich die Atmosphäre verändert hatte. Früher hatte in Deutschland eine katastrophale Arbeitslosigkeit geherrscht, und die Stimmung war entsprechend düster gewesen. Jetzt aber waren seit zwei Jahren die Nationalsozialisten unter Adolf Hitler an der Macht, und die Menschen schienen begeistert. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, der Wohlstand nahm zu, und ein neuer Stolz erfüllte die Menschen. An allen öffentlichen Gebäuden prangten Hakenkreuzfahnen und Hitlers Konterfei.
Weniger begeistert waren die deutschen Juden, die unter den neuen Machthabern zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden waren. Doch da ich nicht davon betroffen war, machte ich mir weiter keine Gedanken darüber.
Neben unseren Fahrten nach Deutschland sahen wir uns auch die Weltausstellung in Brüssel an, wir verbrachten Wochenenden im eleganten Paris und schlenderten über Belgiens schicke Strände in Knokke und Blankenberge. Wir spielten im Kasino von Scheveningen an der niederländischen Küste, und wir besuchten Pubs und Musicals in London.
Als Kopilot war Wim manchmal volle vier Wochen unterwegs. Der Abschied fiel uns immer schwer, aber umso schöner war jedes Mal das Wiedersehen. Wim hatte dann zwei Wochen frei. Ich kam mir ein bisschen wie eine Seemannsbraut vor, nur dass er nicht so lange fortblieb wie ein Seemann.
Am Morgen nach seiner Rückkehr frühstückten wir im Bett, und er erzählte mir Geschichten aus Ägypten, Pakistan oder Niederländisch-Indien, zum Beispiel wie das Fahrwerk auf der Rollbahn in Allahabad im Matsch stecken blieb. Einmal berichtete er etwas zu enthusiastisch von einer Passagierin, und ich sah ihn fragend an.
»Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«, fragte er lächelnd.
»Kein bisschen«, antwortete ich. »Ich wollte nur sehen, wie du reagierst. Ich bin nicht eifersüchtig.«
»Bist du wohl.«
»Bin ich nicht.« Und schon brach eine Kissenschlacht aus, gefolgt von Judogriffen und Gelächter. Unser Frühstück landete auf dem Boden. Am Ende lagen wir uns jedes Mal wieder in den Armen. Die Tage, die Abende und Nächte vergingen wie im Flug, und obwohl wir nun seit fast zwei Jahren zusammenlebten, fühlte sich alles noch immer neu an. Wir schworen einander ewige Liebe und machten Zukunftspläne. Das war 1936.
Der Tag, an dem das Schicksal zuschlug, begann wie jeder andere. Die Leute radelten zur Arbeit, die Zeitung steckte im Briefkasten, Brotkrümel landeten auf dem Boden. Doch Wim kam nicht von seinem Asienflug zurück. Solche Flüge dauerten Wochen, und manchmal verzögerten sie sich wegen schlechten Wetters oder fälliger Reparaturarbeiten, und so machte ich mir zunächst keine Sorgen, als die Maschine nicht planmäßig landete. Das kam oft vor. Als ich aber zwei Tage später am Flughafen nachfragte, erfuhr ich, dass Wims Flugzeug bei Allahabad abgestürzt war. Siebenunddreißig Insassen waren ums Leben gekommen. Einer von ihnen war Wim.
Anfangs glaubte ich es nicht. Es konnte einfach nicht sein. Er kommt schon noch, beruhigte ich mich, gleich kommt er zur Tür herein. Nach und nach aber wurde mir klar, dass ich ihn nie wiedersehen würde, nicht einmal seinen Leichnam. Der Gedanke, dass er für immer weg war, peinigte mich, und ich fühlte mich völlig leer.
Morgens wachte ich mit klarem Kopf auf, aber gleich darauf wurde mir bewusst, dass er nie wiederkommen würde. Dieses Gefühl klebte an mir wie ein Schatten, und ich vermochte es nicht abzuschütteln. Es wollte einfach nicht weichen.
Nachts im Bett versuchte ich mir seine letzten Augenblicke vorzustellen. Sie geraten in ein Unwetter – das hatte man mir gesagt –, der Motor fängt an zu stottern. Das Flugzeug schmiert ab, sie bekommen es wieder unter Kontrolle, dann fängt der Motor Feuer. Sie müssen notlanden, aber die Sicht ist gleich null, und sie merken nicht, dass der Sturm sie auf eine Bergflanke zutreibt. Im letzten Moment sehen sie eine Felswand vor sich aufragen – Schreie, ein ohrenbetäubendes Krachen, dann ist es vorbei. Oder ich stellte mir vor, Wim hätte überlebt, schwer verletzt, bewegungsunfähig: Ich will ihn retten, komme aber nicht an ihn heran. Die Bilder kehrten immer wieder, so lange, bis ich erschöpft einschlief.
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