Die Taunus-Ermittler Band 7 - Tod in der Therme - Jürgen Jost - E-Book

Die Taunus-Ermittler Band 7 - Tod in der Therme E-Book

Jürgen Jost

4,8

Beschreibung

Die erste große Flaute im Detektivgeschäft lässt Peter und Stefan fast verzweifeln. Da kommt ein Auftrag, der ihnen sonst fast eine Nummer zu mickrig gewesen wäre, gerade recht: Sie sollen eine Diebesbande ausheben, die den Filialleiter eines Supermarktes fast in den Wahnsinn treibt. Etwa zur gleichen Zeit kommt im Hofheimer Thermalbad ein junges Mädchen zu Tode. Dass die beiden Fälle zusammenhängen, wird ihnen erst später klar – und es wird nicht bei einem Mord bleiben …

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Von Gabriele und Jürgen Jost bereits erschienen :

Kriminalromanreihe Die Taunus-Ermittler:

Band 1 – Steinige Wege Band 2 – Spuren? Band 3 – Endstation Linie 3 Band 4 – Wo ist Verena? Band 5 – Blanke Gewalt Band 6 – Tödliche Neugier

Andere Romane:

Meeresrauschen für Lara – Ein Arbeitswelt, Mallorca und Frauenroman

Weitere Infos unter :www.Gabriele-und-Jürgen-Jost.de

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Das Laub fiel fast schon bündelweise von den Bäumen, und der Wind wehte es Sven, der gerade mit seinem Fahrrad in die Zufahrt zur Rhein-Main-Therme einbog, direkt ins Gesicht.

»Huch!«, schrie er vor Schreck gegen die heftige Bö an und schüttelte den Kopf, um wieder klare Sicht zu bekommen. Für einen kurzen Moment war er abgelenkt und hätte sein Rad beinahe gegen die Bordsteinkante gesetzt, konnte den Lenker aber im letzten Moment noch herumreißen.

Jetzt wird es wirklich langsam Herbst, dachte der Junge, mal sehen, wie lange ich noch mit dem Fahrrad hierherfahren kann. Wenigstens haben Mutti und Peter versprochen, mich im Winter herzubringen, damit ich keinen Nachmittag in der Schwimmgruppe versäume. Wenn ich daran zurückdenke, wie sehr die beiden mich erst beknien mussten, es einfach mal auszuprobieren, und wie lange ich mich geweigert habe, in diesen Verein einzutreten! Jetzt bin ich doppelt froh darüber, dass sie so einen langen Atem hatten.

Unterdessen war Sven am Eingang angekommen, hatte sein Rad in den Fahrradständer gestellt und sorgfältig abgeschlossen. Nicht dass es ihm so erging wie einer Schwimmkameradin vor vier Wochen, der ihr Rad geklaut worden war.

»Hallo, Sven!«, erklang in diesem Augenblick eine helle Stimme neben ihm.

Er erkannte sie sofort.

»Hallo, Viola«, sagte er und drehte sich schnell um.

»Du hast mich an der Stimme erkannt?«

»Klar doch, mein äh, Stief…vater ist Detektiv, da lernt man so was«, sagte Sven und grinste, als die zwei Monate ältere Viola Klinger verwundert zu ihm hinübersah, während sie ihren Drahtesel abschloss.

Sven wurde erst in zwei Tagen zwölf, und gegen die großgewachsene, spindeldürre Viola fühlte er sich immer etwas zu kurz und dick geraten, obwohl er keineswegs klein war. Allerdings hatte er durch die ewige Computerspielerei beachtlich an Gewicht zugelegt. Dennoch verstanden beide sich gut, denn sie kannten sich schon seit der Zeit, als sie an der Grundschule in den Sindlinger Wiesen in eine Klasse gingen. Jetzt, da beide in der Realschule waren, war Viola in einer der Parallelklassen.

Während Sven und Viola die wenigen Stufen zum Eingang hinaufstiegen, kam ein alter Opel Omega angebraust und hielt am Fuß der Treppe. Ein weiteres Mädchen, das zum Schwimmclub wollte, stieg aus und winkte dem Fahrer zum Abschied zu.

»Viel Spaß, Carola«, rief Claus Mergentheimer, »bis später.«

»Klaro, ich steh dann draußen.«

»Bleib bei dem Wetter lieber in der Vorhalle, damit du dich nicht erkältest. Außerdem wird es jetzt schon so früh dunkel, da ist es hier draußen direkt unheimlich.«

»Ja, und gefährlich für kleine Mädchen«, rief Carola ihrem Vater lachend zu, dann eilte sie den anderen Kindern hinterher.

Während sich die Jungen und Mädchen zum Einschwimmen im abgetrennten Schulschwimmbecken fertig machten, saßen Peter Stettner und Stefan Weimershaus missmutig in ihrem kleinen Detektivbüro in der Frankfurter Straße in Kelkheim. Sich mit Buchführung und Büroarbeit zu beschäftigen war beiden ein Gräuel, aber da schon seit Tagen die Aufträge ausblieben, hatten sie mehr als genug Zeit, den sich immer höher türmenden Aktenbergen zu Leibe zu rücken. Außerdem ließ die Enge ihres Büros, das mitsamt Teeküche, Toilette, Technikkammer und Vorzimmer kaum fünfzig Quadratmeter hatte, nichts anderes mehr zu.

Verena, Stefans Frau, die vor der Geburt ihrer Zwillinge nicht nur mitermittelt, sondern auch das Büro in Schuss gehalten hatte, fiel nun leider für längere Zeit aus. Danach hatte Annika, Peters Lebensgefährtin, angeboten auszuhelfen, es aber bereits nach wenigen Tagen bereut.

Da die beiden Frauen wussten, dass es so nicht weitergehen konnte, gaben sie kurzerhand eine Stellenanzeige auf und wählten die drei belastbarsten Bewerberinnen aus, bevor sie ihren Männern reinen Wein einschenkten.

Dennoch waren auch ihre Bemühungen nicht von Erfolg gekrönt. Die Erste hielt es nicht einen Tag lang aus, die Zweite weigerte sich, sobald es um Ehebruch-Beschattungen ging, die Telefonate der Auftraggeber anzunehmen, und die Dritte war zwar am Telefon ein Naturtalent, übertrieb es aber in Sachen Ordnung. So wanderten Belege schon mal in den Müll und wichtige Akten, die der Rechtsanwalt Dr. Pfannmöller ihnen für eine Ermittlung überlassen hatte, in den Reißwolf.

Nach dieser leidvollen Erfahrung, die beinahe noch zu einem Problem für Dr. Pfannmöllers Mandanten geworden wäre, beschlossen Peter und Stefan, diese Arbeit nicht mehr aus der Hand zu geben.

Seufzend nahm Peter einen Ordner in die Hand, blätterte ihn durch und heftete zwei Spesenquittungen bei einem Fall ein, den sie vor drei Monaten abgeschlossen hatten. Diese Belege hatte er lange gesucht, bis sie ihm beim Leeren seiner Schreibtischschublade zufällig in die Hände gefallen waren. Er stellte den Ordner in die Regalwand, die sich über die gesamte Länge des Büros erstreckte. Auch Stefan hatte bereits einige Ordner im Regal untergebracht, und so sah es eine gute Stunde später nicht mehr gar so wüst auf ihren Schreibtischen aus.

»Irgendwie kann ich Annika und Verena verstehen, wenn sie mit uns schimpfen«, brummte Peter, und Stefan stimmte ihm zu: »Ja, und es geschieht uns recht, wenn wir da ganz allein Ordnung schaffen müssen. Aber für heute reicht es. Was meinst du, was tut man, wenn man eine Pause braucht?«

Sie wechselten einen Blick und grinsten. Und nur eine Viertelstunde später warteten sie in dem kleinen vietnamesischen Lokal bei der Post auf ihre Bestellung.

Abends saßen Stefan und Verena mit Stefans Eltern zusammen in ihrer Wohnung in der Krakauer Straße und unterhielten sich angeregt. Es war das erste Mal seit seiner Hochzeit mit Verena, dass die beiden zu Besuch kamen. Oft hatte Stefan das Gefühl gehabt, seine Eltern hätten es ihm übel genommen, dass er vor gut sechs Jahren recht überstürzt vom westfälischen Münster ins Rhein-Main-Gebiet gezogen war, aber seit sie hier waren, war ihm klar geworden, wie falsch er damit gelegen hatte. Bislang hatte sein Vater, ein totaler Workaholic, sich einfach nicht von seiner Arbeit losreißen können. Bis vor einem halben Jahr hatte er an mindestens sechs Tagen in der Woche gearbeitet, oft mehr als siebzig Stunden. Dann hatte ihn ein mittelschwerer Herzinfarkt auf die Bretter geschickt. Dennoch hätte Dieter Weimershaus nach Krankenhaus und Reha-Klinik am liebsten so weitergemacht wie vorher, aber seine Frau Elfriede hatte sich durchgesetzt und ihm, immerhin, diese kleine Reise nach Kelkheim verordnet. Der erste Urlaub nach acht Jahren, wie sie nicht müde wurde zu betonen.

Nun war Dieter heilfroh, dem Drängen seiner Frau nachgegeben zu haben. Seit er in der Backstube seiner kleinen Bäckereikette mit sieben Filialen zusammengebrochen war, war Stefans jüngerer Bruder Dirk immer mehr in die Führungsaufgaben des Unternehmens hineingewachsen und machte seine Sache zum Erstaunen des Vaters wirklich gut.

Stefan wiederum freute sich, dass seine Eltern sich hatten durchringen können, ihren Besuch noch um einige Tage zu verlängern, denn bis zum nächsten Wiedersehen würde eine ganze Weile vergehen.

An diesem Tag eröffnete Dieter seinem Ältesten, dass er vorhatte, sich in ein oder zwei Jahren zur Ruhe zu setzen.

»Geht es dir so schlecht, Papa?«, fragte Stefan erschrocken.

»Aber nein«, beschwichtigte ihn der rundliche Bäckermeister, »es geht mir wieder erstaunlich gut. Doch ich merke selbst, dass ich dem Stress in der Firma nicht mehr gewachsen bin.«

»Endlich siehst du es ein!«, rief Elfi, wie Elfriede meist genannt wurde. »Das sage ich seit Langem – aber, Stefan, dein Vater will einfach nicht auf mich hören.«

Verena kam ihrem Mann zuvor: »Wenn ihr auf eure Frauen hören würdet, wäre vieles leichter für euch!«

»Bravo, Verena!«, sagte Elfi.

»Na dann prost«, sagte Stefan mit schiefem Grinsen. Während sie bis zum späten Abend gemütlich beisammen saßen, begann es draußen wie aus Kübeln zu schütten.

Als Stefan am nächsten Morgen gegen neun das Detektivbüro betrat, saß Peter schon gutgelaunt am Schreibtisch und grinste ihn an. »Hallo, Stefan, hast du gut geschlafen?«

»Wie bitte, ist bei dir ’ne Schraube locker?«

»Ganz gewiss nicht.«

»Dann muss gestern doch noch ein neuer Fall reingekommen sein. Warum hast du mich nicht angerufen?«

»Weil ich zu lange mit Burkhard telefoniert habe. Ich wollte euren schönen Abend dann nicht mehr stören.«

»Das ist ja nett, aber nun erzähl schon. Was hat er gesagt?«

»Burkhard kennt den Filialleiter eines Supermarkts in Hattersheim, und der hat ihn um einen Gefallen gebeten.«

»Das klingt jetzt nicht sehr spektakulär.«

»Wart’s ab. In diesem Markt kommen in letzter Zeit auffallend viele Gegenstände und auch Geld aus den Kassen weg.«

»Und weiter? Darum kann sich doch der Hausdetektiv kümmern, oder? Wird wohl ein Kunde oder eine Kassiererin sein.«

»Genau das sagt auch die Konzernleitung. Der Filialleiter sieht das aber anders, denn es sind fast sämtliche Kassen betroffen, und die Gegenstände, die verschwinden, kannst du nicht einfach so in der Manteltasche verschwinden lassen. Wenn es nur der Wein, eine teure Flasche Cognac, ein paar Strumpfhosen oder meinetwegen auch zwanzig Flaschen eines besonders teuren Parfüms wären, das könnten alles noch gewöhnliche Ladendiebe sein. Aber wie sollen die zum Beispiel in einer Woche vier Kaffeemaschinen und einen Espressoautomaten rausschleppen, ohne dass es auffällt?«

»Da ist was dran.«

»Der Filialleiter wollte einen zweiten Detektiv einstellen oder wenigstens einen externen engagieren, aber die Konzernleitung hat abgelehnt – zu teuer.«

»Und? Heißt das etwa, wir sollen umsonst arbeiten?«

»Das schon mal gar nicht«, grinste Peter, »aber auch nicht kostenlos. Der Filialleiter bezahlt uns aus seiner Privatschatulle. Burkhard hat nur gemeint, wir sollen bei der Abrechnung ein bisschen gnädig sein.«

»Das hört sich schon besser an. Vom Herumsitzen verdienen wir schließlich gar nichts.«

»Ganz meine Meinung. Dann mal auf nach Hattersheim.«

Während die Detektive sich freuten, endlich wieder etwas zu tun zu haben, betraten Dieter und Elfriede Weimershaus gerade den Schwimmbadbereich der Rhein-Main-Therme. Nachdem ihnen der Stiefsohn von Stefans Kollegen Peter neulich so von dem Bad vorgeschwärmt hatte, wollten sie es sich vor ihrer Abreise auch noch einmal ansehen.

»Ist das schön hier«, staunte Elfi.

»Ja, das hat nichts mehr mit den sterilen Schwimmhallen von früher zu tun«, stimmte ihr Mann zu. »Wir waren schon viel zu lange nicht mehr schwimmen.«

Sie waren noch nicht lange im Wasser, als ihre Freude über das schöne Bad nachhaltig getrübt wurde. Eine siebenköpfige Mädchengruppe marschierte in den Schwimmbereich. Sie stritten bereits lautstark, während sie sich dem Beckenrand näherten. Eines der Mädchen angelte sich blitzschnell einen MP3-Player, der auf einem verlassenen Liegestuhl lag, und ließ ihn unter dem Handtuch über ihrem Arm verschwinden.

»Hast du das gesehen?«, fragte Dieter seine Frau.

»Was denn?«

»Die hat gerade so ein äh … Musik-Dings da, geklaut.«

»Dieter, du siehst Gespenster«, antwortete seine Frau, und Dieter Weimershaus murmelte: »Vielleicht hast du recht.«

Während der Bäckermeister und seine Frau ihre Bahnen durch das mit Palmen und allerlei Grünpflanzen verschönerte Bad zogen, waren auch die Jugendlichen, deren Alter Dieter auf zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre schätzte, im Wasser angekommen, und ihre Streitereien gingen dort weiter. Dabei benutzten sie eine Sprache, die den älteren Herrschaften die Zornesröte ins Gesicht trieb.

»Nein, so was mache ich nicht, du … du … blöde Hexe!«, schrie die Kleinste von ihnen, ein etwas pummeliges, schwarzhaariges Mädchen. Die Angeschriene, die wesentlich größer und älter war und die Anführerin der Gruppe zu sein schien, giftete zurück: »Das ist aber der Preis dafür, wenn du bei uns mitmachen willst. Also stell dich beim nächsten Mal nicht so an, du Weichei.«

»Dann steig ich eben aus!«

»Meine Fresse, bist du scheiße. Du Spasti bist echt so doof, wie du fett bist. Aussteigen gibt’s nicht. Wer einmal bei uns ist, der bleibt. Und in Zukunft parierst du, sonst …«

»Was sonst, Lea?«

»Wenn nicht … ach, fick dich, ich rate dir nur, dich bei uns einzuordnen, Nadine, sonst wirst du es bereuen.«

»Du blöde Sau!«, schrie Nadine, die inzwischen den Tränen nahe war, und spritzte Lea einen Riesenschwall Wasser ins Gesicht. Allerdings bekam ihn auch Dieter Weimershaus ab, der mit seiner Frau nur wenige Meter entfernt auf das Lichtsignal wartete, das die Aktivierung des Wellenbads in einem Extra-Bereich verkündete.

Nun aber sagte er: »Komm, Elfriede, das tun wir uns nicht länger an, wir schwimmen nach draußen.«

Peter und Stefan schlenderten durch die Gänge des Supermarktes, um sich ein Bild von den Örtlichkeiten zu machen, und gingen dabei so unbekümmert zu Werke, als merkten sie nicht, dass sie nicht nur Beobachter waren, sondern auch Beobachtete.

Schon seit sie den Markt betreten hatten, folgte ihnen im Schutz der Regale eine Person, die keinen ihrer Schritte unbeobachtet ließ. Der ein Meter neunzig große, gertenschlanke und dunkelhaarige Mann folgte ihnen bis in die Nähe des Kassenbereichs und blieb in sicherer Entfernung hinter einer Warenpalette in einem der Gänge stehen. Erst als die Detektive mit ihren Einkäufen die Kasse passiert hatten, drehte er sich um und verschwand in den Tiefen des Geschäfts.

Peter und Stefan gingen unterdessen schnell zu ihrem Auto, das sie in der großen Parkgarage abgestellt hatten, stiegen ein und fuhren schweigend nach Kelkheim zurück.

Erst kurz bevor sie in der Frankfurter Straße ankamen, fragte Peter: »Hast du bemerkt, dass wir beobachtet worden sind?«

»Dann war das doch keine Einbildung von mir. Ich dachte schon fast, ich sehe Gespenster. Weißt du, wie er oder sie aussieht?«

»Leider nicht. Es war ein Mann, er war ziemlich groß. Mehr kann ich nicht dazu sagen, denn er war sehr bedacht, sich nicht offen zu zeigen. Aber wir scheinen da bereits jemanden aufgeschreckt zu haben. Es würde mich nicht wundern, wenn das Ganze in wenigen Tagen erledigt ist.«

Inzwischen waren auch Dieter und Elfriede wieder in Kelkheim und wollten zum Ausklang eines schönen Tages noch etwas spazieren gehen.

»Richtig schön sieht es hier aus«, meinte Elfriede, als sie durch die Stadtmitte-Süd zur Frankfurter Straße hin schlenderten.

»Ja, und hier muss doch irgendwo das Detektivbüro sein.« »Dieter, ich weiß gar nicht, was du andauernd dort willst.

Was gibt es da außer Unordnung denn Interessantes zu sehen?«

»Du meinst, die beiden …«

»Wenn ich daran denke, wie es in Stefans Zimmer immer aussah, wird’s mir jetzt noch ganz anders. Irgendwas müssen wir bei seiner Erziehung falsch gemacht haben. Zum Glück ist Verena das genaue Gegenteil. Allerdings scheint Peter, nach dem, was Annika mir anvertraut hat, auch nicht besser zu sein als unser Sohn.«

»Umso wichtiger, dass wir einmal nach dem Rechten sehen«, sagte Dieter und rannte seiner Frau fast davon.

Er wäre dann beinahe am Detektivbüro vorbeigelaufen, blieb aber abrupt stehen, als seine Frau rief: »Halt, hier ist es«, sodass Elfi mit ihm zusammenstieß.

»Au, du Trampel!«, sagte sie, musste dann aber grinsen, denn wenn ihr Mann erst einmal Fahrt aufgenommen hatte, war er durch nichts mehr zu bremsen.

So auch diesmal. Er drückte die Glastür schwungvoll auf, zog den schweren Vorhang dahinter beiseite – und beide erstarrten.

Stefan und Peter saßen inmitten ihrer Aktenberge und blickten ebenfalls erschrocken zu ihnen hin. Dabei ließ Stefan die Cola-Flasche, aus der er gerade getrunken hatte, fallen, sodass sich ein kleines, schäumendes Rinnsal über den lange nicht mehr geputzten Boden ergoss und schließlich Elfriedes neue, dunkelblaue Halbschuhe umspülte.

»Igitt! Du Ferkel. Würdest du die Flasche vielleicht irgendwann mal aufheben?«

»Na… natürlich«, stotterte Stefan und stand schnell auf.

Peter, der sein schadenfrohes Grinsen kaum unterdrücken konnte, bekam dafür von Stefans Vater einen derart ärgerlichen Blick zugeworfen, dass er sich beinahe an seinem Brötchen verschluckte, vom dem er gerade abgebissen hatte.

Als er wieder sprechen konnte, sagte er verlegen: »Das ist aber eine Überraschung, dass ihr uns besucht.«

»So war das auch gedacht«, sagte Dieter, und Elfriede fügte ernst hinzu: »Da wundert ihr euch noch, dass sich eure Klienten nicht in diese Räuberhöhle trauen? Gegen die Unordnung allein sag ich ja noch nicht mal was, aber habt ihr euch mal die Wände und den Fußboden angesehen? Wann ist hier denn zum letzten Mal etwas gemacht worden?«

»Ähm, ja, als wir das hier vor fünf Jahren übernommen haben, sah es noch so gut aus, dass wir dachten, das geht noch eine Weile«, erklärte Peter, und Stefan fügte hinzu: »Na ja, so langsam …«

»Junge, du hast ’ne Meise«, sagte Elfi in ihrer unnachahmlich direkten Art zu ihrem Sohn, »da muss schnellstens was geschehen. Heute Abend um sieben ist Krisensitzung, dann sehen wir weiter. So, jetzt haben wir noch einige Vorbereitungen zu treffen. Kommt pünktlich und kneift nicht, es herrscht Anwesenheitspflicht «

Als Stefan und Peter pünktlich um sieben Stefans Wohnzimmer betraten, staunten sie nicht schlecht, denn seine Eltern hatten die ganze Familie zusammengetrommelt. Selbst Verenas und Peters Eltern waren da.

Elfi hatte sich zur Wortführerin erklärt und sagte: »Gut, dass ihr da seid, dann sind wir vollzählig. Ihr könnt euch sicher denken, warum ich euch alle zusammengetrommelt habe, oder?«

Andreas Stettner – Peters Vater und zugleich Verenas Opa – sagte grinsend: »Ich habe schon gehört, dass ihr die beiden Meisterdetektive in ihrer Höhle besucht habt.«

»Höhle ist gut. Genauso muffig riecht es da drinnen. Da muss Licht und Luft rein. Wenn alle mit anpacken, sind wir in zwei Tagen fertig. Morgen früh um halb acht geht’s los. Hat jemand etwas einzuwenden?«

»Wir müssen doch morgen in einem Fall ermitteln«, wagte Stefan den Versuch eines Einwandes, aber seine Mutter erstickte ihn im Keim: »Ich denke, ihr habt keinen konkreten Auftrag. Und was ihr dort in Hattersheim macht, ist auch mehr halboffiziell.«

»Schon, aber …«

»Nichts aber. Du selbst hast gesagt, dass es da nicht viel für euch zu tun gibt. Wenn ihr euch ab Freitag wieder richtig reinkniet, ist das vielleicht am Samstag schon erledigt.«

Nachdem niemand weitere Einwände hatte, wurde noch festgelegt, wer welche Arbeiten machen würde, und anschließend nicht mehr übers Renovieren gesprochen. Nach einem gemütlichen Abendessen gingen sie früh schlafen.

Am nächsten Tag packten alle mit an – dafür sorgten Elfi Weimershaus und ihr Mann schon. Nicht nur der Bodenbelag wanderte in den eigens dafür bestellten Container, auch die vergilbten Tapeten und einige der Uralt-Möbel nahmen diesen Weg. Für den nächsten Tag war geplant, die Wände in hellen, frischen Farben zu streichen.

Während die Detektive nicht darum herumkamen, mit anzupacken, kam Sven sein neues Hobby zugute: Um halb drei fuhr ihn Andreas Stettner ins Schwimmbad. Peters Vater hatte ihn kaum vor der Therme aussteigen lassen, da rannte der Junge, ohne sich umzudrehen, schon ins Bad und war nur zehn Minuten später als Erster im Wasser. Für heute war ein großes Wettschwimmen angesagt, und nicht nur Sven freute sich schon darauf.

Zu ihrer aller Enttäuschung kam Dietmar Ziegler, der Gruppenleiter, erst sehr spät und dann auch noch in Straßenkleidung. Er rief alle zu sich und sagte: »Tut mir leid, aber das Wettschwimmen muss ausfallen, denn ich bin sehr stark erkältet und muss gleich wieder fort.«

»Schade!«, rief eines der Mädchen. »Müssen wir dann rausgehen?«

»Nein, ich habe mit euren Eltern gesprochen. Lisa, Lena, Marie, Nico und Ben«, sagte er zu den Kleinsten, »eure Eltern werden in wenigen Minuten hier sein, um euch zu beaufsichtigen. Die Großen haben ja von ihren Eltern schon früher die Erlaubnis bekommen, allein hinüber in den öffentlichen Teil des Bades zu gehen. Benehmt euch gut, und wenn eure Zeit um ist, geht ihr ganz normal raus.«

Sven, Viola und Carola schwammen eine Weile, bevor sie zur Grotte hinübergingen, in der sich zwei Whirlpools befanden. Hier war es angenehm warm und etwas düster, richtig gemütlich, wie Sven immer sagte. Nachdem sie einige Zeit ins Gespräch vertieft waren, verkündete Carola: »Ich gehe noch einmal in den Wildwasserkanal, kommt ihr mit?«

Aber Sven wollte die letzten Minuten lieber in der Grotte verbringen, und Viola meinte, sie müsse aufs Klo und wolle sich dann gleich umziehen.

So blieb Sven allein in der Grotte zurück. Wenig später kam eine Gruppe Jungen lärmend hereingerannt. Sie drängten sich derart rücksichtslos um die beiden kleinen Whirlpools, dass Sven sich ganz dünn machen musste. Deshalb stieg er aus dem Wasser, rannte zu dem Liegestuhl, auf den er sein Handtuch geworfen hatte, und wickelte sich hinein. Dann ließ er seinen Blick durch das Bad schweifen, aber Carola war nirgends zu entdecken.

Na ja, sie wird wohl auch schon in der Umkleide sein, dachte er, und blickte zu der zurzeit geschlossenen Bar hinüber, die Schwimm- und Saunabereich trennte. Ob’s da auch Cocktails gibt?, fragte sich der Junge und dachte, dass er gern einmal einen probieren würde.

Im nächsten Augenblick zuckte er zusammen, denn ihm fiel etwas Unheimliches auf. Im ersten Moment hätte er nicht sagen können, was es war, aber dann wurde es ihm klar: Dort drüben, hinter einer mächtigen Palme, ragte ein Arm hervor. Das wäre an sich noch nichts Besonderes gewesen, aber der Arm baumelte irgendwie unnatürlich verdreht von einer Stuhllehne herab.

Da wird wohl jemand schlafen, dachte er, gab aber dennoch seinem ersten Impuls nach und lief ein Stück zur Bar hin. Als er jedoch erkannte, dass auf dem Stuhl ein junges Mädchen saß, das höchstens zwei, drei Jahre älter als er selbst war, blieb er abrupt stehen.

»Ich mach mich doch nicht lächerlich«, murmelte er, »die sucht bestimmt nur einen Dummen, den sie verarschen kann.«

Dann sah er auf seine wasserdichte Armbanduhr und erschrak. So spät war es schon? Er musste schnellstens zur Umkleide, wenn er nicht nachzahlen wollte. Dann drehte er sich um und ging dem Ausgang entgegen.

»Moment mal, junger Mann, nicht so stürmisch!«, erklang eine Stimme hinter ihm, und er drehte sich erstaunt um.

»Opa Andreas, wo kommst du denn her?«

»Von draußen, da komm ich und hab mir gedacht, ich schaue mal nach, was ihr hier so macht«, reimte Andreas Stettner, und Sven antwortete: »Unser Boss, der ist krank, liegt zu Hause im Bett, doch wir durften bleiben, ist das nicht nett?«

»Das hast du prima gesagt, Junge, aber es ist schade, denn ich habe noch gut und gern zwei Stunden Badezeit.«

»Meine ist fast um. Ich muss mich beeilen, sonst muss ich nachbezahlen «

»Ach, lass uns noch ’ne Runde schwimmen, ich zahle nachher für dich mit.«

»Wo ist denn Oma?«

»Die wollte nicht mit, die legt gerade bei Peter und Stefan im Büro den Endspurt für heute hin.«

»Na, dann los!«, rief Sven, stürzte sich ins Wasser und schwamm mit kräftigen Stößen davon. Andreas Stettner, der für sein Alter noch sehr rüstig war, hatte ihn aber schnell eingeholt. Als sie in die Nähe der Schleusen zum Außenbecken kamen, hatte er bereits einen Meter Vorsprung.

Durch Zufall sah Sven erneut zur Bar hinüber und erschrak. Denn der Arm des Mädchens hing noch immer genauso leblos von der Stuhllehne herab wie vorhin.

»Opa!«, rief er laut, denn sein Stiefgroßvater war kurz davor, den Innenbereich zu verlassen.

Sven kraulte, so schnell er konnte, hinterher und wollte gerade ein zweites Mal rufen, da drehte sich Andreas um, und die beiden stießen so heftig mit den Köpfen zusammen, dass es krachte.

»Autsch, Opa, du hast vielleicht einen harten Schädel.«

»Das Kompliment kann ich dir zurückgeben, aber was ist denn los?«

»Schau mal nach da drüben, an der Bar.«

»Wenn du ein Bier trinken möchtest, muss ich dich leider enttäuschen. Deine Mutter würde mir den Kopf abreißen, und außerdem ist noch zu.«

»Ach Quatsch! Sieh doch, da liegt ein junges Mädchen auf einem Liegestuhl.«

»Gefällt sie dir? Du fängst aber früh an, Junge.«

»Nee, Opa, so mein ich das nicht. Ich wollte nur sagen, die lag vorhin, als ich mein Handtuch geholt habe, schon genauso da, und ich könnte schwören, sie hat sich seitdem nicht bewegt.«

»Wie bitte? Ich fürchte, da ist was faul. Komm, lass uns nachsehen.«

Gemeinsam schwammen die beiden zum flachen Ausstieg hin und gingen zu dem Mädchen.

Als sie nur noch wenige Meter entfernt waren, blieb Andreas Stettner abrupt stehen und hielt auch Sven zurück. In den weit aufgerissenen Augen der jungen Frau war kein Leben mehr. Andreas Stettner rief laut nach dem einen der beiden Bademeister, der am anderen Beckenrand stand, und zeigte auf das Mädchen. Dieser machte sofort ein alarmiertes Gesicht und eilte zu ihr herüber. Er begann unverzüglich mit Wiederbelebungsversuchen, doch offensichtlich kam jede Hilfe zu spät.

Zehn Minuten später war der Notarzt zur Stelle, und kurz darauf traf Claus Mergentheimer von der Hofheimer Kripo ein. Im Schlepptau hatte er einen hochmotivierten jungen Beamten namens Simon Tannenbaum, der von Claus’ neuem Chef, Manfred Schuchheim, mit zur Hofheimer Dienststelle gebracht worden war.

Die beiden Polizisten befragten neben Andreas Stettner und Sven noch einige weitere Badegäste und die beiden Bademeister. Da aber außer Sven kein Mensch etwas von dem toten Mädchen bemerkt hatte, waren die Vernehmungen innerhalb einer guten halben Stunde beendet.

Inzwischen hatte der Notarzt seine Arbeit beendet und der Spurensicherung Platz gemacht. Schnell stand fest, dass der Teenager, an dessen Armen man zahlreiche Hämatome fand, nicht einfach so auf dem Stuhl entschlafen war. Offensichtlich hatte sie, als sie bereits ertrunken war, jemand dort hingesetzt. Claus ließ das Bad gleich nach seinem Eintreffen komplett räumen und veranlasste, dass die Leiche in die Rechtsmedizin nach Wiesbaden gebracht wurde. Da es immer wahrscheinlicher wurde, dass hier ein Tötungsdelikt vorlag, war ab sofort die ständige Mordkommission im Polizeipräsidium Wiesbaden zuständig.

Zum Glück waren Andreas und Sven schnell zurück in den Umkleidekabinen gewesen, sonst hätten sie bei dem plötzlichen Gedränge lange warten müssen. Als sie auf dem Weg nach draußen das Foyer des Bades durchquerten, liefen sie den beiden aus dem Badebereich kommenden Polizeibeamten in die Arme.

»Herr Stettner!«, rief Claus Mergentheimer. »Könnten Sie mal einen Moment warten? Ich hab noch einige Fragen.«

Während sich Andreas und Sven auf der bequemen Couch in der Vorhalle niederließen, eilte Claus zu seinem Kollegen Simon Tannenbaum, übergab ihm den Schlüssel des Dienstwagens und fragte: »Ist die Identität des Mädchens denn inzwischen geklärt?«

»Ja, in ihrem Rucksack, den wir im Spind fanden, war ein Schülerausweis. Sie heißt Nadine Lorenz und war gerade mal fünfzehn Jahre alt.«

»Oh Gott, so jung noch«, entfuhr es dem erfahrenen Beamten, bevor er wieder sachlich wurde: »Bitte benachrichtige gleich ihre Eltern und fahr dann schon mal vor ins Revier, ich komm dann mit den Kollegen nach. Ich möchte nur noch einmal kurz mit Andreas Stettner sprechen.«

»Genau, das wollte ich dich vorhin schon fragen, den Namen habe ich von dir schon öfters gehört. Ist das dieser Detektiv?«

»Nein, das ist Peter Stettners Vater, und der Junge ist sein Stiefsohn oder, besser gesagt, der Sohn seiner Frau aus deren erster Ehe. Peter wirst du bestimmt in näherer Zukunft auch noch kennenlernen, aber hüte dich vor ihm. Er hört selbst da das Gras wachsen, wo es noch nicht einmal angesät ist.«

Simon Tannenbaum grinste schief, dann machte er sich auf den Weg zum Auto, während Claus zur Couch hinüberging.

»Es war tatsächlich Sven, der die Leiche gefunden hat?«

»Ja, er hat mich erst darauf aufmerksam gemacht.«

»Hast du denn sonst noch irgendwas beobachtet, was uns weiterhelfen könnte?«, wandte sich der Hauptkommissar direkt an den Jungen.

»Nein, äh … sie muss aber schon länger dort gelegen haben.«

»Wie meinst du das?«

Zuerst zögerte Sven, dann fasste er sich ein Herz und sagte: »Ich hab sie vielleicht ’ne halbe Stunde vorher schon dort liegen sehen.«

»Wie bitte?«

»Ja, äh … ich … ich bin aber nicht ganz bis zu ihr hingegangen, weil ich dachte, sie sucht nur einen Dummen, der sich Sorgen um sie macht, und lacht mich dann dafür aus. Hätte man sie noch …?«

»Nein, da brauchst du dir keine Kopfzerbrechen zu machen. Als du sie zum ersten Mal sahst, war sie schon tot. Sie ist ertrunken.«

Dann erzählte Sven, dass Carola und Viola Klinger, kurz bevor er das Mädchen entdeckt hatte, noch bei ihm waren, und Claus Mergentheimer fragte sofort: »Haben die beiden das Mädchen auch gesehen?«

»Ich glaube nicht, aber ich weiß es nicht hundertprozentig.« »Okay. Kannst du dich an den Zeitpunkt erinnern, an dem der Stuhl noch leer war?«

»Als wir um halb sechs in die Grotte gingen, lag sie noch nicht da, da bin ich mir fast sicher. So ungefähr um sechs sind die Mädchen gegangen und ich ein paar Minuten später, weil es in den Whirlpools dann sehr voll wurde. Da hab ich sie zum ersten Mal gesehen. Dann habe ich mein Handtuch geholt und wollte zum Ausgang, da bin ich Opa Andreas begegnet. Kurz darauf haben wir den Bademeister gerufen.«

»Das bedeutet«, dachte Claus Mergentheimer laut nach, »dass sie höchstwahrscheinlich zwischen halb sechs und sechs Uhr dort abgelegt wurde. Sonderbar, dass niemand etwas gesehen hat.«

»Heute war die Bar geschlossen, da waren keine Leute dort oben«, sagte Sven, und Claus sah ihn anerkennend an.

»Du hast eine gute Beobachtungsgabe, vielleicht solltest du auch Detektiv werden. Jedenfalls hast du mir gut weitergeholfen. Ich danke dir «

2.

In dem großen Supermarkt nahe der Hattersheimer Autobahnabfahrt ging es nun, gegen Ende der Geschäftszeit, ziemlich hektisch zu. Diana Thalmeier stöhnte gequält auf und rieb sich den schmerzenden Rücken. Schon seit mehreren Stunden saß sie an der Kasse, ohne einmal durchatmen, geschweige denn eine Pause machen zu können. Sie fertigte die Kunden buchstäblich wie am Fließband ab. Ihren Kolleginnen ging es nicht besser. Leider waren sie an diesem Abend nur zu sechst, und es herrschte Hochbetrieb. Immer wieder blickte die Einunddreißigjährige verstohlen auf ihre Armbanduhr und verdrehte die Augen, denn die Zeiger schienen nur im Schneckentempo weiterzukriechen. Es war erst zwanzig nach acht. Ein Segen, dass sie sich heute früher freigenommen hatte, denn so war für sie wenigstens um neun Uhr Schluss. Ihre Freundin Carolin musste dagegen bis zum bitteren Ende um zehn Uhr durchhalten und dann auch noch abrechnen.

Nun kamen drei junge Mädchen an die Reihe und legten ihre Artikel aufs Band. Da der Scanner wie so oft in letzter Zeit Zicken machte, gab Diana die Artikelnummern per Hand ein und konnte so das Nörgeln der hinter den Mädchen wartenden Kunden in Grenzen halten. Auf die Idee, dass die Preisschilder manipuliert waren, um ihren Blick von den Mädchen weg auf den Kassenautomaten zu richten, kam Diana Thalmeier nicht. So zahlten die Mädchen ihre billigen Artikel und kamen mit wertvollen Parfüms und teurem Rotwein unter den Jacken unbehelligt durch die Kasse.

Carolin Linke an der Kasse nebenan hatte die Mädchen ebenfalls gesehen, aber da auch bei ihr die Kunden schon ungeduldig wurden, blieb ihr keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen.

Endlich kam Dianas Ablösung. Sie stand auf, ließ sich von ihr die Übernahme der Kasse bestätigen, winkte ihrer Kollegin zum Abschied zu und ging hinüber zu den Sozialräumen, um ihren Kittel wegzuhängen.

Endlich wieder frische Luft, dachte Diana, als sie aus dem Personalausgang trat und zu ihrem Fiat Panda hinüberging. Schnell stieg sie ins Auto, verließ den großen Parkplatz und hatte das Glück, an der nächsten Ampel ausnahmsweise einmal nicht halten zu müssen. Sie bog nach rechts in die Hofheimer Straße ein, gab Gas und ließ den Wagen dann gleich wieder rollen, denn die nächste Ampel war nicht so wohlwollend und sprang vor ihr auf Rot. Trotz der späten Stunde war noch erstaunlich viel Verkehr, sodass Diana bereits auf der Höhe der kleinen Tankstelle auf der rechten Straßenseite zum Stehen kam. Unwillkürlich wandte sie ihren Blick zu der hellerleuchteten Anlage, die aber dennoch wie ausgestorben dalag, da die meisten Leute an der Tankstelle des Supermarktes tankten. Deshalb fielen ihr auch das Auto und die jungen Frauen, die etwas abseits am Rande des Tankstellengeländes standen, sofort auf. Sie glaubte unter den heftig diskutierenden Teenagern, die eine Rotweinflasche kreisen ließen, eine der jungen Frauen wiederzuerkennen, die vor einer halben Stunde bei ihr durch die Kasse gegangen waren.

Plötzlich zog ein anderes der Mädchen die Jacke aus und streifte einen Pullover über, was Diana schon etwas sonderbar vorkam.

Haben die kein Zuhause, dass die sich auf der Straße umziehen müssen?, dachte sie noch, dann fuhr sie weiter, denn es war längst Grün geworden und die Autos vor ihr hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Nach wenigen Metern überquerte Diana die Mainzer Landstraße und fuhr in die Lindenstraße hinein, in der ihr Mann und sie vor wenigen Monaten ein altes, renovierungsbedürftiges Häuschen gekauft hatten. Seit sie aus Frankfurt hierhergezogen waren, hätte Diana den kurzen Weg zur Arbeit auch laufen können, aber ihr Mann bestand darauf, dass sie wenigstens an den Tagen, an denen sie bis spätabends arbeiten musste, das Auto nahm.