Die Tausend Leben des Ardor Benn - Die Abenteuer des Meisters von List und Tücke 1 - Tyler Whitesides - E-Book
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Die Tausend Leben des Ardor Benn - Die Abenteuer des Meisters von List und Tücke 1 E-Book

Tyler Whitesides

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Beschreibung

Gentleman. Gauner. Legende. Ardor Benn ist kein gewöhnlicher Dieb. Er ist gerissen, ehrgeizig und ein Meister des komplexen Coups. Sich selbst bezeichnet er gerne als "außergewöhnlichen Gentleman-Gauner". Als ein Priester ihn für den bislang riskantesten Job seiner Karriere anheuert, weiß Ardor nur zu gut, dass er dafür mehr als Schlagfertigkeit und Taschenspielertricks benötigt. Er stellt daher eine illustere Truppe aus Fälschern, Täuschern, Intriganten und Dieben zusammen und macht sich daran, den mächtigsten König zu bestehlen, den das Reich je gesehen hat. Doch schon bald wird klar, dass hier mehr auf dem Spiel steht als Ruhm und Ehre - Ardor und seine Leute könnten die letzte Hoffnung der gesamten Menschheit sein.

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Seitenzahl: 1211

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Ins Deutsche übertragen von Bastian Ludwig

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright ©2018, 2022 by Tyler Whitesides. All rights reserved.

Autorenfoto von Jamie Younker

Cover design von Lauren Panepinto

Cover Illustration von Ben Zweifel

Cover © 2019 Hachette Book Group, Inc.

Map by Serena Malyon

Titel der Englischen Originalausgabe: »The Thousand Deaths of Ardor Benn« by Tyler Whitesides, published in Great Britain in May 2018 by Orbit an imprint of Hachette Book Group/Little, Brown Book Group, London, UK.

Deutsche Erstausgabe 2022 Panini Verlags GmbH, Schlossstr. 76, 70176 Stuttgart.

Alle Rechte vorbehalten.

Geschäftsführer: Hermann Paul

Head of Editorial: Jo Löffler

Head of Marketing: Holger Wiest (E-Mail: [email protected])

Presse & PR: Steffen Volkmer

Übersetzung: Bastian Ludwig

Lektorat: Peter Thannisch

Umschlaggestaltung: tab indivisuell, Stuttgart

Satz und E-Book: Greiner & Reichel, Köln

YDARDOR001E

ISBN 978-3-7367-9828-1

Gedruckte Ausgabe:

1. Auflage, September2022, ISBN 978-3-8332-4279-3

Findet uns im Netz:

www.paninicomics.de

PaniniComicsDE

Für Constance

Sie haben eine Leiche an den Drachen verfüttert.

Sie meinten, der Mann sei ein Bettler von Talumon gewesen. Nun werden uns seine Knochen, so sie den Verdauungstrakt denn schadlos überstehen, mit Malm versorgen. Aber was wird aus seiner Seele? Wenn auch nur ein Teil von ihm während des Monddurchgangs hier verbleibt, wird er die Heimischen Gestade niemals erreichen – dann werden er und ich dasselbe Schicksal teilen.

Die Malmschürfer beschäftigen sich nicht mit solchen Gedanken. Seit sechs Tagen bin ich nun mit ihnen unterwegs. Ich habe die Drachenkuh nicht dabei beobachtet, wie sie ihr Gekrätz mit flammendem Atem zu Krätzenstein gebrannt hat, doch ich staune über die Rolle, die sie bei diesem Prozess spielt.

Zu Hause werden die Straßen von Beripent von Funzelsphären erhellt und der Adel wärmt sich die Villen mit Hitzemalm. Doch nach meinen Erfahrungen hier bin ich überzeugt, dass niemand auf dem Großen Archipel – und ich nehme mich da nicht aus – wirklich begreift, wie Malm entsteht.

Hier auf Pekal lauert die Wahrheit hinter jedem Felsen und jedem Baum. Mit eigenen Augen erblicke ich nun Dinge, von denen ich bisher nur in Büchern gelesen habe. Und wenn sich meine Reise dem Ende entgegen neigt, werde ich hoffentlich über etwas berichten können, das noch nie zuvor jemand zu Gesicht bekommen hat.

Die Schürfer haben, wofür sie hergekommen sind. Im Morgengrauen werden sie den Krätzenstein bergen und ihn hinunter an die Küste bringen. Ich aber werde mich in der Dunkelheit der Nacht aus dem Lager schleichen, denn mein Weg führt mich in die entgegengesetzte Richtung.

Hinauf, immer weiter hinauf in die Berge.

Dorthin, wo mich die Wahrheit erwartet.

Hier beginnt es also, auch wenn ich annehme, dass es für mich so etwas wie ein Ende sein wird.

I

Zu Beginn eines jeden Zyklus färbt er, der Karmesinmond, den Himmel blutrot und bringt über uns jene Plage, für die es keine Heilung gibt. Findet sich hier in diesen Landen, umgeben vom weiten Ozean, denn niemand, die Reisenden zu schützen, die doch ganz allein sind, fern des Segens der Heimischen Gestade? Eine Heilige Lohe wird in einer jeden unheiligen Nacht entzündet, um dem Karmesinmond seine roten Flammen zu entziehen.

Des Reisenden Weggefährte, Erstes Buch

Das vorbeiziehende Auge lässt Flammen auf jene niederregnen, die hier auf der Welt ihre zerbrechlichen Leben führen. Glühende Körper in den Höhen. Das Flackern des Himmelsfeuers.

Altes Lied der Agroditen

1

Ardor Benn war spät dran. Oder vielleicht doch nicht? Ard ging davon aus, dass jeder auf dem Großen Archipel stets überpünktlich war – und dass deswegen die unzumutbare Erwartung an ihn bestand, es genauso zu handhaben.

Wie dem auch sei, dieses Mal war es in Ordnung, seine Verabredung warten zu lassen. Das nannte man Bratentaktik, denn ein Braten schmeckte besser, je länger man ihn schmoren ließ.

Ard übersprang die letzten Stufen zum Dachgeschoss. Remaught Azel war ganz augenscheinlich nicht der große Fisch, der zu sein er vorgab. Ein wackeliger Holzbau, drei Stockwerke hoch, im Elendsviertel von Marow? Dieser Schuppen war wirklich mehr als geschmacklos – vor allem im Vergleich zu dem von Fürst Yunis. Also das war vielleicht was gewesen! Eine stattliche Villa aus Stein und in jedem Raum ein Kamin mit Hitzemalm. Diener. Köche. Lampen mit Funzelmalm, das man zünden konnte, indem man an einer Kette zog. Ob sich Yunis den Allerwertesten wohl mit Spitzendeckchen abwischte?

Andere Insel, anderes Spiel. Heute ging es um Remaught Azel, ganz egal, wie unzulänglich sein Unterschlupf auch wirken mochte. Ard klemmte sich das Fässchen mit dem Malm vom einen Arm unter den anderen, als er bei der geschlossenen Tür am Ende des Korridors ankam. Die knarrenden Dielen hatten Remaught sicherlich schon angekündigt, dass da jemand im Anmarsch war. Interessant, vielleicht hatte es doch Vorzüge, sich in einem solchen Loch zu verkriechen. Holzdielen als Wachposten.

Die Tür schwang auf, doch bevor Ard eintreten konnte, stieß ein behaarter, blauhäutiger Arm gegen seine Brust und schob ihn zurück.

»Ganz ruhig«, sagte Ard zu dem Trothianer. Der war offenbar Remaughts Leibwächter. Mit dunklen, vibrierenden Augen blickte er Ard an. Ein Klassiker. Der Kerl schien ein harter Hund zu sein, obwohl er ganz offensichtlich zu lange in keinem dieser Salzwasserbäder der Agroditen mehr eingeweicht worden war – die Haut an seinem Arm begann schon abzublättern.

»Ich bin ein redlicher Geschäftsmann«, fuhr Ard fort, »und hier wegen … redlichen Geschäftskrempels.« Er warf einen Blick vorbei an dem hochgewachsenen Leibwächter und sah Remaught, der an einem Tisch saß und sich im Sonnenlicht badete, das durch das westliche Fenster fiel.

Der Unterweltbaron trug eine kastanienbraune Samtweste, einen Dreispitz und einen Umhang, wie er bei reichen Leuten momentan in Mode war. Er wirkte angespannt und beobachtete genau, wie sein Leibwächter Ard an der Tür festhielt. »Durchsuch ihn!«, befahl er schließlich.

»Muss das sein?«, protestierte Ard, wobei er das Fässchen mit dem Malm über den Kopf hob, damit der Leibwächter seinen Oberkörper abtasten konnte. »Ich habe meinen Gürtel und die Waffen zu Hause gelassen. Und wäre es anders, könnte ich dich ohne Probleme von hier aus erschießen, also finde ich es recht überflüssig, mir so auf den Pelz zu rücken – und offen gesagt auch ziemlich unangenehm.«

Der Leibwächter hielt inne, die Hand auf Ards Gesäßtasche. »Was ist das?«, fragte er, wobei sein breiter trothianischer Akzent nicht zu überhören war.

»Steine«, entgegnete Ard.

»Steine?«, wiederholte der Leibwächter, als ob er dieses Wort noch nie gehört hätte. »Rausholen – aber ganz langsam.«

Wie beiläufig griff Ard in seine Tasche und förderte eine Handvoll kleiner Kiesel hervor, die er am Straßenrand vor dem Gebäude aufgelesen hatte. »Die brauche ich für den Abschluss des Geschäfts«, erklärte er, was der Leibwächter damit quittierte, Ards Hand so zu verdrehen, dass die staubigen Kieselsteine zu Boden fielen und sich überall verteilten.

»Das war jetzt aber ziemlich unangebracht«, beschwerte sich Ard beim Unterweltbaron. »Wenn du mich fragst, ist dein Bursche hier unnötig grob.«

»Suno?«, fragte Remaught. »Vor drei Zyklen hätte er dir diese Steine zu fressen gegeben – durch die Nase. Er ist weich geworden. Vaterschaft neigt dazu, das mit einem zu machen.«

Was für eine Art von Vater der Leibwächter eines Unterweltbarons wohl abgab? Einige Väter bestritten den Lebensunterhalt ihrer Familien auf dem Markt oder in den Fabriken. Dieser Kerl hier sorgte für sein Auskommen, indem er irgendwelche Leute an den Zehen aufknüpfte, gerade so, wie es seinem Boss in den Sinn kam.

Die Hände des Trothianers wanderten nach unten und umfassten Ards Oberschenkel.

»Zumindest für diesen Part solltest du eine hübsche Frau anheuern«, meinte Ard. »Das wäre den Geschäften nicht so abträglich.«

Der Leibwächter trat einen Schritt zurück und nickte Remaught zu, der Ard daraufhin zu sich ins Zimmer winkte.

»Ist dir jemand gefolgt?«, wollte der Unterweltbaron wissen.

Ard lachte, während er das Fässchen behutsam auf dem Tisch absetzte. »Ich werde niemals verfolgt.« Er rückte den protzigen Ring an seiner rechten Hand zurecht und nahm Remaught gegenüber Platz. »Nur gelegentlich von einer Schar zauberhafter Jungfern.«

Ard lächelte, doch Remaught verzog keine Miene. Stattdessen griff er nach dem Fässchen. Ard war jedoch schneller und schob es beiseite, ehe Remaught es auch nur berühren konnte.

Ard schnalzte mit der Zunge: »Vielleicht lässt du erst mal die Bezahlung rüberwandern, bevor ich dir das Malm übergebe, wo ich hier doch unbewaffnet und in der Unterzahl bin?«

Remaught schob seinen Stuhl zurück, die hölzernen Beine scharrten auf dem Boden. Er erhob sich, durchschritt den Raum und holte eine verschlossene Tresorschatulle von der Fensterbank. Sie war nicht länger als sein Unterarm und ließ sich mit zwei Metallgriffen an den Seiten bequem transportieren. Das Siegel der Regulation war auf der Vorderseite neben dem Schlüsselloch deutlich zu erkennen.

»Das sieht ja hochoffiziell aus«, sagte Ard, als Remaught die Schatulle vor ihm auf den Tisch stellte. »Gehört der Regulation, was?«

»Dieses Kästchen kam kürzlich in meinen Besitz«, erklärte Remaught. »Ich weiß meine Wertsachen gern in Sicherheit. In dieser Gegend hier streunt allerlei Gesindel herum.«

»Davon habe ich gehört. Und woher weiß ich, dass in dieser Schatulle nicht bloß Sand ist?«

»Woher weiß ich, dass dieses Fässchen nicht leer ist?«

Ard zuckte mit den Schultern und schmunzelte. Sie waren nun bei dem Abschnitt ihres Handels angelangt, den er als abschließenden Argwohn bezeichnete. Die letzte Gelegenheit für alle Beteiligten, einen Rückzieher zu machen.

Remaught durchbrach die Anspannung, indem er in seine Samtweste griff und einen Schlüssel zutage förderte. Er steckte ihn ins Schlüsselloch, drehte ihn mit einem Ruck und öffnete den Deckel.

Ard begutachtete die Münzen. Soweit er das in diesem Licht beurteilen konnte, schienen sie echt zu sein. Jede einzelne war mit sieben kleinen Markierungen versehen, die sie als siebenfach gestrichene Aschlinge auswiesen – der höchste Nennwert, den diese Währung kannte.

»Darf ich?« Ard wartete nicht auf Remaughts Antwort, sondern schnappte sich eine der Münzen. Er führte den Aschling zum Mund und biss auf die Kante.

»Und, schmecken sie dir echt genug?«, fragte Remaught. Ards entspanntes Naturell schien den Unterweltbaron immer nervöser werden zu lassen. Ard inspizierte die Stelle, an der seine Zähne auf die Münze gedrückt hatten. Er drehte sie im Sonnenlicht hin und her auf der Suche nach jedem noch so kleinen Abdruck. Eigentlich bevorzugte er es, verdächtige Münzen mit einer Messerspitze anzukratzen, doch Remaught hatte sehr deutlich gemacht, dass Waffen bei diesem Treffen nicht erlaubt waren.

Der Aschling schien echt. Und falls Remaught nicht vorhatte, Ard zu beleidigen, warteten da noch neunundneunzig weitere in der Tresorschatulle.

»Warst du je in der Münzerei auf Talumon?« Ard schnippte die Münze zurück in die offene Schatulle. »Vor ein paar Jahren war ich mal dort. Wegen redlicher Geschäfte, versteht sich.«

Remaught klappte den Deckel der Schatulle zu und verschloss sie wieder.

»Vermünzung«, fuhr Ard fort. »Glimmer und Granit, das ist vielleicht ein aufwendiger Vorgang. Wie viel Mühe es allein kostet, die rohen Schuppen zu perfekten Kreisen zu schleifen. Und dann machen sie da verschiedene chemische Waschungen. Soll angeblich zur Heilung und Härtung beitragen, aber ich glaube kaum, dass Drachenschuppen gehärtet werden müssen …«

Auf der anderen Seite des Tischs wurde Remaught sichtlich ungeduldig.

Ard musste ein Grinsen unterdrücken. »Alles in Ordnung, Rem? Ich darf dich doch Rem nennen? Ich dachte, diese Informationen wären für einen Mann in deinem Metier von Interesse.«

»Vielleicht kannst du mir die Einzelheiten ein andermal erzählen«, grummelte Remaught. »Ich habe heute noch eine andere Verabredung.«

Ard lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und tat so, als hätten ihn die Worte des Unterweltbarons aufrichtig verstimmt.

»Es wäre mir sehr recht, wenn wir jetzt den Austausch abschließen.« Remaught deutete auf das Fässchen mit dem Malm. »Was hast du da für mich?«

»Schiebemalm«, entgegnete Ard. »Hat ein Gewicht von anderthalb Block und kommt laut meiner Quelle aus einer Charge von höchster Qualität. Als Trutzstoff wurde ein großer Brocken unverdaulichen Granits verwendet. Hat den Drachen in weniger als fünf Tagen durchlaufen. Ordentlich gebrannt und zu feinstem Pulver zermahlen.« Er öffnete den Deckel des Fässchens und neigte es in Remaughts Richtung. »Die Menge, auf die wir uns geeinigt hatten. Und das zu einem unschlagbaren Preis. Ich bin ein Mann, der zu seinem Wort steht.«

»So scheint es«, entgegnete der Unterweltbaron. »Und dennoch wirst du verstehen, dass ich eine Demonstration der Ware benötige.«

Ard nickte zögerlich. Nicht alles Malm konnte man vorführen, schon gar nicht in geschlossenen Räumen. Doch bei diesem Handel hatte er eine solche Forderung erwartet.

Ard wandte sich an den trothianischen Leibwächter, der in der Tür lehnte, als würde er den Rahmen abstützen. »Jetzt brauche ich meine Steine.«

Remaught knurrte. »Suno! Heb diese verschlackten Steine auf!«, blaffte er seinen Leibwächter an.

Ohne ein Wort machte sich der Kerl auf die Jagd nach den Kieseln, die er selbst überall auf dem Boden verstreut hatte. Während er beschäftigt war, schnappte sich Ard rasch die Tresorschatulle. Remaught zuckte zusammen.

»Ganz ruhig.« Ard ging zum Fenster und stellte die Schatulle zurück auf ihren Platz auf der hölzernen Fensterbank. »Ich brauche den Tisch für die Vorführung.«

Einen Augenblick später reichte ihm Suno die Steine, bevor er wieder zur Tür trampelte und sich dort postierte, die trockenen, rissigen Arme vor der Brust verschränkt. Es waren neun Steinchen, die Ard in einem Kreis auf dem Tisch anordnete. Er öffnete das Fässchen und wollte gerade hineingreifen, als Remaught ihn am Arm packte. »Ich hole das Malm raus«, verlangte er ernst. »Keine Tricks.«

Ard zuckte erneut mit den Schultern und hielt Remaught den Behälter hin. Der schob seine Hand hinein und nahm eine Prise des gräulichen Pulvers heraus. Ard deutete auf das Zentrum des Steinkreises, und der Unterweltbaron deponierte das Malm dort als kleines Häufchen.

»Ist das genug?«, fragte er, während Ard das Pulverhäufchen noch etwas ordentlicher zurechtschob.

»Mehr als genug«, erklärte Ard. »Oder willst du den ganzen Raum leer fegen?« Er setzte den Deckel wieder auf das Fässchen und stellte es auf den Boden hinter sich. »Ich nehme an, du hast ein Krätzensteinzündzeug?«

Remaught zog eines aus seiner Weste hervor. Es war ein schmales, stählernes Stäbchen, am einen Ende leicht abgeflacht und in der Mitte mit einer Feder versehen, an der ein kleines Stück Krätzenstein befestigt war.

Remaught reichte Ard das Zündzeug, wobei das Steinchen hin- und herwippte. »Bei der Menge an Schiebemalm, die du da auf dem Tisch deponiert hast, dürfte die Sphäre einen Durchmesser von etwa einem halben Meter erreichen.«

Ard meinte das als Warnung, und Remaught verstand es auch so. Er trat einen großzügigen Schritt zurück.

Ard selbst blieb nur so nah am Tisch, wie es gerade nötig war, um das Häufchen grauen Malms erreichen zu können. Er zielte und schlug das flache Ende des Stahlstäbchens auf die Tischplatte, sodass die Feder im Bogen nach unten schnellte und das Bröckchen Krätzenstein gegen den Metallstab hämmerte. Ein anständiger Funken schoss hervor, zuckte über den Holztisch und löste sich auf, ohne eine sichtbare Wirkung zu hinterlassen.

»Ha!«, rief Remaught, als ob er nur darauf gewartet hätte, endlich irgendwelche Vorwürfe loswerden zu können. »Wusste ich’s doch! Nie würde jemand so viel Schiebemalm zu diesem Preis verkaufen.«

Ard blickte auf. »Das Malm ist echt, das versichere ich dir. Dieses Zündzeug hingegen …« Er hielt das Gerät hoch und ließ die Feder sachte hin- und herwippen, als wäre es ein Kinderspielzeug. »Also wirklich, mir war gar nicht bewusst, dass so ein Schrott überhaupt verkauft wird. Mit dem Teil könnte ich nicht mal einen Berg Malm zünden, geschweige denn die Funken dazu bringen, auf ein Ziel von der Größe eines Stecknadelkopfs zu treffen. Also lass mich noch ein paar Funken losschicken, bevor du Suno anweist, mir die Ohren abzureißen.«

In Wahrheit hatte das Häufchen aus zwei Gründen nicht gezündet: Zum einen war Remaughts Krätzensteinzündzeug tatsächlich unfassbar unpräzise – und zum anderen war das Schiebemalm selbstverständlich eine Fälschung.

Ard beugte sich näher zum Tisch und tat so, als würde er das Zündzeug ausgiebig inspizieren. Seine rechte Hand schwebte nur knapp über dem Häufchen grauen Pulvers. Geschickt drehte er seinen klobigen Ring so um den Finger, dass der Ringkopf nach unten zeigte und Ard das geheime Fächlein, das sich darin verbarg, mit dem Daumennagel aufschieben konnte. Die Bewegung war dezent und Ard hatte Remaughts Aufmerksamkeit auf das Zündzeug gelenkt. Ganz sicher hatte der Unterweltbaron nicht bemerkt, wie aus dem Ring eine kleine Menge echten Schiebemalms auf den Tisch gerieselt war.

»Schauen wir doch mal, ob es jetzt funktioniert.« Ard ging wieder in Position, schlug das Zündzeug auf den Tisch, und der Krätzenstein schickte einen Funken los.

Augenblicklich zündete das echte Schiebemalm aus Ards Ring, und es bildete sich eine Malmsphäre mit einem Radius von gut dreißig Zentimetern. Das hatte nichts zu tun mit einer Explosion aus Feuer und Funkenflug, wie sie tödliches Donnermalm verursacht hätte. Das hier war Spezialmalm und seine Wirkung war weit weniger gefährlich.

Die Sphäre breitete sich vom Malmhäufchen in alle Richtungen aus, begleitet von einem heftigen Windstoß. Das geschah so schnell, dass Ard seinen Arm nicht mehr zurückziehen konnte. Der Druck, den der Rand der Sphäre ausübte, presste Ards Hand nach hinten, und das Zündzeug flog in hohem Bogen davon. Auch die Kiesel auf dem Tisch wurden weggedrückt, fielen über die Tischkante und kullerten quer durchs Zimmer. Das Schiebemalm war aufgebraucht, doch über den Tisch spannte sich nun eine Kuppel aus blässlicher Luft, als hätte jemand einen lichten Nebel mit einer Käseglocke eingefangen. Wäre das Malm mit ausreichend Abstand über dem Boden gezündet worden, hätte dort nun eine makellose Kugel geschwebt, aber die Tischplatte war robust genug gewesen, um die untere Hälfte der Sphäre einzudämmen.

Remaught stolperte einen Schritt näher. »Wie hast du das angestellt?«

Ard legte die Stirn in Falten. »Was meinst du? Das ist Schiebemalm. Verdauter Granit. So etwas macht es nun mal.« Er beugte sich nach unten und hob einen der auf den Boden gefallenen Kieselsteine auf. »Alles in seinem Wirkungsbereich wird weggefegt. Die Wirkung dürfte etwa zehn Minuten andauern, dann brennt die Schiebesphäre aus.«

Um seine Worte zu beweisen, warf Ard den Kieselstein auf die Kuppel aus dunstiger Luft. Das Steinchen war kaum in deren Rand eingetaucht, da wurde es auch schon von der Wirkung des Malms abgebremst und sogleich mit Kraft zurückgeschleudert.

Remaught nickte abwesend, während seine Hand zu seiner Westentasche wanderte. Für einen kurzen Moment dachte Ard, der Unterweltbaron würde einen Einzünder ziehen. Er entspannte sich aber wieder, als Remaught den Schlüssel zur Tresorschatulle hervorholte, nach vorn trat und ihn an den Rand des Tischs legte, gerade außerhalb der Schiebesphäre. »Jetzt bin ich bereit, unseren Handel zu besiegeln«, erklärte er, wobei er einige Dokumente hervorkramte und sie Ard zur Überprüfung reichte. Es handelte sich um eine Malmgenehmigung – oder zumindest eine Fälschung davon –, die es Remaught erlaubte, Malm zu erwerben.

Ard jedoch war nicht interessiert an den rechtlichen Formalitäten des Geschäfts. Er winkte ab, nahm stattdessen das Fässchen mit dem falschen Malm auf und hielt es Remaught hin.

»Selbstverständlich benötige ich eine Quittung«, erklärte der Unterweltbaron, während er die Dokumente zurück in seine Weste steckte.

»Eine Quittung?« Dieses Wort klang in Ardor Benns Ohren erschreckend gesetzestreu.

»Für meine Unterlagen«, erklärte Remaught, und schon mit dem nächsten Wimpernschlag hielt er einen kleinen Bogen Papier und einen Holzkohlegriffel in Händen. »Wenn du jetzt also die Einzelheiten des Handels notieren und dann unterschreiben würdest?«

Ard übergab Remaught das Fässchen und nahm das Blatt und den Griffel entgegen. Er benötigte nur Augenblicke, alles Wichtige aufzuschreiben und seine Unterschrift wie gewünscht darunterzusetzen. »Ich hoffe, wir werden irgendwann wieder ein Geschäft tätigen«, erklärte er, während er von seiner Kritzelei aufblickte, nur um zu erkennen, dass Remaught diese Auffassung ganz offensichtlich nicht teilte.

»Ich fürchte, das wird nicht geschehen.« Der Unterweltbaron stand bei der geöffneten Tür, seinen trothianischen Leibwächter direkt neben sich. Remaught hatte den Deckel des Fässchens entfernt und hielt sein billiges Krätzensteinzündzeug in der Hand.

»Immer mit der Ruhe!«, rief Ard. »Was hast du …«

Remaught ließ das Zündzeug knallen, und ein Regen aus Funken ergoss sich auf das graue Pulver, das da im Fässchen ruhte. Nichts geschah.

»Hast du wirklich gedacht, ich merke nicht, wenn mir jemand ein ganzes Fass gefälschtes Malm unterjubeln will?«, fragte Remaught.

Ard zerknüllte die Quittung, ließ sie zu Boden fallen und stürzte zum Schlüssel auf dem Tisch. Er klaubte ihn auf, doch bevor er die Tresorschatulle erreichen konnte, hatte ihn der trothianische Leibwächter gepackt. Im nächsten Moment fand sich Ard im Schwitzkasten wieder und wurde auf die Knie gezwungen.

Remaught baute sich vor ihm auf, im Gesicht ein selbstgefälliges Grinsen. »Ich habe doch erwähnt, dass ich heute noch eine weitere Verabredung habe. Allerdings habe ich dir nicht verraten, dass diese Verabredung genau jetzt stattfinden wird – und zwar mit einem Wachtmeister der Regulation.«

Wie aufs Stichwort erschien in der Tür hinter Remaught ein Mann, nein, nicht einfach nur ein Mann, vielmehr ein Berg von einem Mann. Er hatte dunkle Haut, eine flache Nase und eine feine Narbe auf der einen Seite des Gesichts. Der Regulator musste sich ducken, um sich beim Eintreten nicht die glänzende Glatze am Türrahmen zu stoßen. Er trug einen blauen Uniformrock aus Wolle, wie er für einen Regulator üblich war, hatte eine Armbrust geschultert und ein ledernes Bandelier über der breiten Brust, in der die zugehörigen Bolzen untergebracht waren. Ard meinte, am Uniformrock eine Wölbung erkennen zu können, die von einem Trommelzünder in einem Holster herrühren musste.

»Geliefert wie versprochen«, erklärte Remaught, der nun noch angespannter war als zuvor.

Der Regulator packte Ards Oberarm mit eisernem Griff und forderte den Leibwächter auf, den Schwitzkasten zu lösen.

»Was soll das, Remaught?«, fragte Ard, nach Luft schnappend. »Willst du mich etwa ans Messer liefern? Weißt du nicht, wer ich bin?«

»Ganz im Gegenteil«, entgegnete Remaught. »Ich weiß genau, wer du bist: Ardor Benn, ein Meister von List und Tücke.«

»Nun ja, das mit dem ›ein‹ würde ich nicht so stehen lassen«, entgegnete Ard.

»Wie bitte?«, fragte Remaught verdutzt.

»Und du hast ›unübertroffen‹ vergessen – und die ›Kunst‹.«

»Wovon redest du?«

»Es muss heißen: Ardor Benn, der unübertroffene Meister in der Kunst von List und Tücke«, korrigierte Ard.

Der riesige Regulator zog ihn auf die Füße. Ohne Mühe hebelte er Ards zur Faust geschlossene Finger auf und nahm ihm den Schlüssel zur Tresorschatulle ab. Dann klickten die Handschellen.

»Ein Momentchen bitte, mein Großer«, versuchte Ard, Zeit zu schinden. »Natürlich könnten Sie mich verhaften, mich, einen liebenswürdigen Meister von List und Tücke, der mehr schlecht als recht versucht, sich ein bescheidenes Auskommen zu sichern. Oder Sie könnten sich Remaught Azel schnappen. Denken Sie doch mal darüber nach. Remaught Azel, einen waschechten Unterweltbaron.«

Der glatzköpfige Regulator zögerte nicht einen Augenblick. Er trat nach vorn und überreichte Remaught den Schlüssel mit einem knappen Nicken.

»Der Regulator und ich haben eine Abmachung«, erklärte Remaught. »Vor drei Wochen kam er zu mir. Er berichtete von einem gewissen Meister von List und Tücke, der hier in der Stadt gefälschtes Malm verkauft. Er sagte, wenn mir jemand über den Weg läuft, der große Mengen Malm versetzen will, soll ich ein Treffen ausmachen und ihn benachrichtigen.«

»Stinkendes Gekrätz, Remaught!«, zischte Ard. »Stehst du jetzt etwa aufseiten von Recht und Ordnung? Ein Unterweltbaron mit deinem Leumund arbeitet mit einem Reggie wie dem da? Du widerst mich an!«

»Aufseiten von Recht und Ordnung? Ganz bestimmt nicht«, entgegnete Remaught. »Genauso wenig wie mein Freund, der Regulator.«

Ard reckte den Hals und starrte den Hünen, der ihn noch immer fest im Griff hatte, ungläubig an. »Nicht zu fassen! Ein korrupter Reggie und ein unbedeutender Gauner machen gemeinsame Sache – und ich bin das Opfer!«

Remaught wandte sich an den riesigen Wachtmeister. »Das wäre dann alles, oder?«

Der Hüne nickte. »Das wäre alles. Ich bin nie hier gewesen.«

Der Regulator schob Ard an Remaught vorbei und durch die Tür hinaus in den knarzenden Korridor. Dort hielt er inne, um noch letzte Worte an den Unterweltbaron zu richten. »Du hast ihn eine Quittung unterschreiben lassen, wie ich dir gesagt habe?«

Remaught suchte das Zimmer ab und deutete dann auf das zerknüllte Stück Papier auf dem Boden. »Brauchen Sie das als Beweis?«

»Nee«, erklärte der Regulator. »Dieser Abschaum hier wird auf jeder Insel des Großen Archipels gesucht. Die Quittung war zu deinem eigenen Schutz. Sie beweist, dass du die Absicht hattest, ein rechtmäßiges Geschäft abzuschließen. Malm zu kaufen ist kein Verbrechen, sofern man eine offizielle Zulassung hat.« Er verpasste Ard einen Stoß in den Rücken, sodass der über die klapprigen Dielen stolperte. Dann befahl er, an Remaught gerichtet: »Du und dein Handlanger bleiben hier, bis ich genug Zeit hatte, Abstand zwischen mich und dieses Gebäude zu bringen. Verstanden?«

Der Unterweltbaron nickte eifrig, bevor er die Tür schloss und Ard vollends dem Regulator überließ. Schweigend stiegen sie die Stufen hinab, wobei der Hüne seinen eisernen Griff nicht löste. Erst als sie nach draußen in den warmen Nachmittag traten, begann Ard zu sprechen.

»Abschaum?«, fragte er empört. »Ehrlich, Raek? War das nicht ein bisschen dick aufgetragen? Sah fast so aus, als würdest du es genießen.«

»Ein bisschen dick aufgetragen? Du musst gerade reden«, entgegnete der Regulator. »Was sollte denn dieses Gekrätz von wegen ›der unübertroffene Meister in der Kunst von List und Tücke‹?«

»Du weißt, dass ich das gerne sage. Die Gelegenheit war da, also habe ich sie ergriffen.«

Raek knurrte und fummelte am Kragen seines Uniformrocks herum. »Dieses Ding juckt. Kein Wunder, dass wir den verschlackten Reggies immer entkommen. Die erwürgen sich ja geradezu.«

»Du siehst fast überzeugend aus«, meinte Ard. »Aber wo ist dein Reggiehelm?«

»Ich habe keinen passenden gefunden. Außerdem gehe ich davon aus, dass mir bei meiner Größe eh niemand oben auf den Kopf gucken kann. Vielleicht trage ich ja einen ganz kleinen Reggiehelm. Wer sollte das schon überprüfen?«

»Klingt nachvollziehbar. Hast du den Schlüssel ausgetauscht?«

»Kinderspiel. Hast du die Nachricht dagelassen?«

»Ich habe sogar noch ein kleines Grinsegesicht hinter meinen Namen gezeichnet.«

Sie bogen um die Ecke an der Westseite von Remaughts Haus, wo Raek auf einen robusten Heuwagen zuhielt, vor den ein Pferd gespannt war.

»Diesmal also Stroh?«, fragte Ard, für den es nicht einfach war, mit seinen noch immer gefesselten Händen auf den Kutschbock zu steigen.

»Soll den Aufschlag abfedern«, entgegnete Raek.

»Da sieh mal einer an! Gute Idee.«

»Tu nicht so überrascht. Ist ja nicht so, dass du gute Ideen für dich gepachtet hättest.« Raek kletterte neben Ard auf das Sitzbrett und beugte sich vor, um nach den Zügeln zu greifen. »Dir wird langweilig, stimmt’s?«

»Hm?« Ard warf seinem Freund einen fragenden Blick zu.

»Diese Nummer hier.« Raek deutet auf das Fenster im Dachgeschoss direkt über ihnen. »Ziemlich großspurig, sogar für deine Verhältnisse.«

Ard überhörte die Bemerkung. Gab es einen einfacheren Weg, die Tresorschatulle zu klauen? Vielleicht. Aber ganz sicher keinen gewiefteren. Remaught war im Moment bestimmt sehr zufrieden mit sich. Seiner Meinung nach war das Geschäft reibungslos über die Bühne gegangen. Der Unterweltbaron hatte eine Tresorschatulle der Regulation in die Finger bekommen, sich mit einem korrupten Reggie zusammengetan und sich einen Konkurrenten vom Hals geschafft, indem er die Verhaftung eines Meisters von List und Tücke angeleiert hatte. Jetzt gerade las Remaught vielleicht Ards Nachricht auf der Quittung. Darin der Dank an den Unterweltbaron für die Aschlinge und der Hinweis, dass der Reggie ebenso falsch war wie das Malm. Ganz sicher würde Remaught zur Schatulle eilen, um ihren wertvollen Inhalt zu prüfen. Dann würde er den von Raek ausgetauschten Schlüssel ins Schloss stecken und … bumm!

Gleich musste es so weit sein.

Das Pferd stampfte mit den Hufen und wartete träge auf Raeks Anweisungen.

»Wenn er die Tresorschatulle woanders hinstellt, sind wir angekokelt«, murmelte Raek nach einem Augenblick des Schweigens.

»Das wird er nicht«, versicherte Ard. »Remaught ist ein Faulpelz.«

»Der Leibwächter könnte es für ihn erledigen.«

»Ich mache mir mehr Sorgen, dass die Fensterscheibe nicht zerbri…«

Zwei Stockwerke über ihnen zerbarst Glas, und die Schatulle raste in einer makellosen Flugbahn in Richtung Heuwagen, wo sie mit einem dumpfen Schlag im Stroh landete. Glimmer und Granit! Wie berechenbar Remaught Azel doch war. Ein typischer Ganove eben. Vielleicht wurde das alles Ard tatsächlich allmählich zu langweilig.

»Ehrlich gesagt bin ich überrascht, dass das funktioniert hat«, gestand Ard, als Raek die Zügel schnalzen ließ, woraufhin das Pferd die Straße hinuntergaloppierte.

»Das klingt jetzt nicht gerade besonders vertrauenerweckend. An der Tresorschatulle herumzuwerkeln, war deine Idee.«

»Nein, nein, dass das funktionieren würde, wusste ich.« Sie hatten an der Spitze des anderen Schlüssels einen Krümel Krätzenstein angebracht und das Innere des Schlosses mit Schiebemalm gefüllt. Die entstandene Sphäre hatte wahrscheinlich alles im näheren Umkreis leer gefegt und Remaught zweifellos rücklings umgestoßen. Die Schatulle mit den Aschlingen – noch immer fest verschlossen – war dann von der Kraft des Malms weggeschleudert worden, hatte die Glasscheibe durchbrochen und war drei Stockwerke in die Tiefe auf den wartenden Heuwagen gestürzt.

»Am Malm hatte ich keinen Zweifel.« Ard deutete nach hinten. »Ich bin nur überrascht, dass die Schatulle genau da gelandet ist, wo sie sollte!«

»Das ist Physik«, erklärte Raek. »Dem Malm vertraust du, der Physik aber nicht?«

»Wenn ich es mir recht überlege, nicht wirklich.«

»Ach, komm schon: zweieinhalb Korn Schiebemalm, gezündet in einer Tresorschatulle mit einem Gewicht von achtundzwanzig Block, die aus dem dritten Geschoss eines Gebäudes …«

Ard erhob seine noch immer gefesselten Hände. »Es tut mir körperlich weh, wenn du so redest. Echte Schmerzen in meinem echten Gehirn.«

Hinter ihnen dröhnten drei Schüsse aus dem zerbrochenen Fenster von Remaughts Unterschlupf.

»Remaught? Schießt der etwa auf uns?«, fragte Raek.

Ard blickte zurück zum Haus des Unterweltbarons. »Auf keinen Fall kann er erwarten, uns auf diese Entfernung zu treffen. Selbst mit einem Feldzünder ist das aussichtslos.«

Ein weiterer Schuss donnerte durch die Straße, und mit einem wuchtigen Knacken schlug die Bleikugel in die Seite des Heuwagens. Ard zuckte zusammen, Raek fluchte. Dieser Schuss war nicht von Remaughts Fenster gekommen, das schon in weiter Ferne lag. Der Schütze musste viel näher sein, doch aus welcher Richtung er feuerte, konnte Ard nicht sagen.

»Remaughts Schüsse waren ein Signal«, vermutete Ard. »Wahrscheinlich hat er seine Schergen in Stellung gebracht, falls etwas mit seinem neuen Reggie-Busenfreund schiefläuft.«

»Wir sind keine Busenfreunde«, brummelte Raek.

Ein Mann zu Pferde tauchte aus einer Gasse hinter ihnen auf, sein dunkler Umhang flatterte im Wind, die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er hob die Hand und Ard konnte das Schimmern einer Schusswaffe ausmachen. Es blieb kaum Zeit, Raek zu warnen und mit ihm zusammen abzutauchen, ehe der Reiter feuerte.

Die Kugel zischte knapp über sie hinweg. Der Kerl hatte einen Einzünder, das verriet die Klangfarbe des Schusses. Wie es die Bezeichnung andeutete, konnte man mit dieser kleinen Bleischleuder nur einmal feuern, dann musste man nachladen. Die sechsschüssigen Trommelzünder, die die Regulatoren nutzten, waren weit gefährlicher – und, nicht zu vergessen, aberwitzig teuer und für gewöhnliche Bürger obendrein verboten.

Der Reiter hatte seine einzige Kugel verschwendet. Zu begierig war er gewesen, einen Schuss auf den flüchtenden Meister von List und Tücke abzugeben. Nun hätte er selbstverständlich nachladen können, aber auf dem Rücken eines galoppierenden Pferds war das nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Und so steckte er seinen Einzünder wieder ins Holster und zog stattdessen ein Rapier mit feiner Klinge.

»Gib mir den Schlüssel«, sagte Ard, als ein zweiter Reiter hinter dem ersten auftauchte.

»Welchen Schlüssel?«, fragte Raek nach. »Den ich mir von Remaught geschnappt habe?«

»Nein, nicht den.« Ard hielt seine gefesselten Handgelenke hoch und ließ die Handschellen neben dem Ohr des Hünen rasseln. »Den für die hier.«

»Oh.« Raek warf einen flüchtigen Blick auf die eisernen Ketten. »Den habe ich nicht.«

»Du hast den Schlüssel verloren?«, rief Ard entsetzt.

»Ich habe ihn nicht verloren – ich hatte nie einen. Habe die Handschellen aus einem Wachhäuschen der Reggies geklaut. Da hatte ich nicht die Zeit, auch noch den Schlüssel zu suchen.«

Ard warf seine aneinandergeketteten Arme in die Höhe. »Du hast mich gefesselt ohne einen blassen Schimmer, wie du mich wieder befreien sollst?«

Raek zuckte mit den Schultern. »Dachte mir, um das Problem können wir uns auch später kümmern.«

Eine in einen Mantel gehüllte Gestalt tauchte plötzlich aus einer Baracke am Straßenrand auf, im Anschlag einen langläufigen Feldzünder.

Raek nahm die Zügel in die linke Hand, griff mit der rechten in seinen Reggie-Uniformrock und zückte einen Trommelzünder. Er zielte auf den Kerl neben der Baracke, spannte den Krätzensteinhahn mit dem Daumen und drückte den Abzug.

Der Hahn schnellte nach unten und schickte einen Funken in die erste Kammer, wo er die Prise Donnermalm entzündete, die dort in einer Papierpatrone steckte. Das Malm explodierte mit einem ohrenbetäubenden Knall, und die durch das metallene Patronenlager eingedämmte Explosion schleuderte eine Bleikugel aus dem Lauf.

Hinter dem Schergen splitterte sie durch die Wand der Baracke. Bevor der auch nur richtig zielen konnte, spannte Raek den Hahn erneut und gab einen zweiten Schuss ab.

Wieder kein Treffer, doch zumindest musste sich der Kerl wegducken, und ehe er sich wieder hervorwagte, lag er schon ein ordentliches Stück hinter ihnen.

Raek reichte Ard den rauchenden Trommelzünder. »Hier. Hab ich für dich geklaut.«

Ungelenk, da noch immer gefesselt, nahm Ard die Waffe mit beiden Händen entgegen. »Sieht genauso aus wie die, die ich in meinem Waffengürtel auf dem Schiff gelassen habe.«

»Ach was! Meinst du etwa den hier?« Raek schlug seinen Wollmantel beiseite und präsentierte einen zweiten Trommelzünder in einem Holster an einem ledernen Gürtel. »Du solltest deine Wertsachen nicht einfach so rumliegen lassen.«

»Der lag in einem abgeschlossenen Fach«, erklärte Ard verdrossen, während er seine Feuerwaffe musterte. »Und dir habe ich den Schlüssel anvertraut.«

»Und wie du jetzt siehst, war genau das der Fehler.«

Hinter ihnen gelang es dem Kerl neben der Baracke nun doch noch, einen Schuss mit seinem Feldzünder abzusetzen. Der tönende Knall der langläufigen Waffe war tief und kraftvoll. Stroh wirbelte auf der Ladefläche des Heuwagens in die Luft, die Kugel grub sich durch eines der Seitenbretter und sprengte es ab.

»Wieso versuchst du nicht mal was mit dieser Reggie-Armbrust?«, schlug Ard vor. »Und ich halte mich derweil an die ehrenwerten Feuerwaffen.«

»An einer Armbrust ist nichts Ehrenrühriges«, entgegnete Raek. »Das ist die Waffe des feinen Herrn.«

Ard warf einen Blick über die Schulter und musste feststellen, dass der rapierschwingende Reiter gefährlich nah herangeritten kam. Mit dem Daumen spannte er den Hahn seines Trommelzünders, die namensgebende Trommel rotierte und brachte eine neue Patrone samt Bleikugel in Position. Mit beiden Händen in Fesseln war das Zielen allerdings mehr als heikel, zumal über die Schulter.

»Stinkendes Gekrätz!«, grummelte Ard. Er musste sich anders positionieren, wenn er auch nur die kleinste Hoffnung haben wollte, einen einigermaßen sauberen Schuss abzugeben. Er stieß sich vom Fußbrett ab, schob sich rücklings über die Rückenlehne des Kutschbocks und landete kopfüber im Stroh.

»Ich hoffe, das war Absicht!«, rief Raek und ließ die Zügel abermals schnalzen.

Ard beachtete ihn nicht und rollte auf die Knie.

Im selben Moment ließ der berittene Scherge sein Rapier in einem weiten Bogen auf ihn niedersausen. Instinktiv riss Ard die Arme hoch, sodass die schmale Klinge von der Kette zwischen den Handschellen abgefangen wurde. Für einen elend langen Augenblick kniete er da, die tödliche Schneide nur eine Handbreit vor dem Gesicht, ehe es ihm gelang, die rechte Hand herumzudrehen, den Lauf des Trommelzünders auszurichten und abzudrücken. Rauch breitete sich aus, die Bleikugel durchbohrte den Reiter und riss ihn aus dem Sattel.

Ard schüttelte den Kopf, Stroh rieselte aus seinem kurzen, dunklen Haar. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Straße hinter dem Wagen, wo mehr als ein halbes Dutzend weiterer Reiter immer näher kam. Der vorderste gab einen Schuss mit einem Einzünder ab, dessen Kugel Ard wohl getroffen hätte, wäre Raek in diesem Moment nicht scharf um eine Kurve gebogen.

Die Wagenräder rutschten über den staubigen Boden und Ard hörte, wie einige der hölzernen Speichen unter der Belastung brachen. Sie hatten das Elendsviertel fast hinter sich, bis zum Hafen war es allerdings noch ein ganzes Stück, und Raeks gestohlener Heuwagen würde ihre Reise wohl kaum bis zum Schluss überstehen – es sei denn, die würde wegen akuter Bleivergiftung wesentlich früher als erwartet ein Ende finden.

Ard umfasste den Trommelzünder mit beiden Händen. Selbstverständlich gab es bessere Arten zu zielen, da aber seine Handgelenke zusammengekettet waren, war dies das Beste, was er kriegen konnte. Er kniff ein Auge zu, versuchte, die Waffe so ruhig wie möglich zu halten, und wartete darauf, dass der erste Scherge um die Ecke bog.

Dann war er da, flach auf sein Pferd geduckt. Ard schoss. Der Reiter stürzte vom Sattel, doch direkt hinter ihm tauchten sechs weitere auf – und in Ards Trommelzünder befanden sich nur noch zwei Kugeln.

»Um diese Kerle loszuwerden, brauchen wir mehr Schlagkraft!«, brüllte Ard. »Stecken da in deinem Bandelier auch Malmbolzen?«

Raek schielte zu dem ledernen Munitionsgurt über seiner Brust. »Scheint mir eine feine Auswahl zu sein. Suchst du irgendwas Bestimmtes?«

»Ich weiß nicht … Hast du vielleicht ein bisschen Paladinmalm im Angebot?«, scherzte Ard, während er die Armbrust von Raeks Schulter fischte.

Der kicherte. »Als ob du würdig wärst, einen Paladin von jenseits des Meeres herbeizurufen.«

»Hey, ich kann verflucht rechtschaffen sein, wenn es denn unbedingt nötig ist.« Ard war kein Freund von Armbrüsten. Er bevorzugte den krachenden Rückstoß eines Trommelzünders, die Hitze der Flammen, die aus dem Lauf züngelten, und den stechenden Geruch des Rauchs.

»Barrierenmalm.« Vorsichtig reichte Raek Ard einen der Bolzen aus seinem Bandelier. Das Geschoss sah aus wie ein dicker Pfeil, an dessen Schaft eine schwarze Befiederung angebracht war. An der Spitze des Malmbolzens saß eine Kugel aus Ton, deren Vorderseite hellblau gefärbt war.

So ein Bolzen war nicht gerade billig, obgleich Barrierenmalm eine der fünf landläufigen Arten von Malm war. Im Innern des tönernen Pfeilkopfes ruhte ein Bröckchen Krätzenstein inmitten glitzernden Pulvers: Metallstücke, die die Verdauung eines Drachen durchlaufen hatten, dann von seinem Feuer gebrannt und schließlich in einer Fabrik gemahlen worden waren.

Ard legte den Bolzen in die Rille auf der Armbrust und schob die Nocke an die Sehne, die er bereits in Position gebracht hatte – gar nicht so einfach mit gefesselten Händen. Die Reiter kamen immer näher und waren nun in Schussweite.

»Welchen Radius wird die Sphäre haben?« Ard hob die Armbrust an die Schulter und schielte den Schaft entlang.

»Die Bolzen haben schon im Bandelier gesteckt, als ich es gestohlen habe«, entgegnete Raek. »Wird wohl Standardausrüstung sein. Knapp fünf Meter oder so. So was wüsstest du, wenn du dich mal darum kümmern würdest, deine Malmgenehmigung verlängern zu lassen.«

Ard blickte noch immer die Armbrust entlang. »Ernsthaft? Wir flüchten hier gerade mit einem gestohlenen Wagen, du hast dich als Reggie ausgegeben, wir haben einen Haufen Aschlinge bei uns, die wir uns eben erst von einem Unterweltbaron erschwindelt haben – und du hältst mir einen Vortrag über Genehmigungsverfahren?«

»Ich finde die Malmgenehmigungen toll«, erklärte Raek. »Könnte jedermann wann und wo er will Malm kaufen, ginge es auf den Inseln drunter und drüber.«

»Ich bin nicht jedermann«, hielt Ard ihm entgegen. »Ich bin Ardor Be…«

»Ja, ja, schon klar. Unübertroffener Meister in der Kunst von List und Tücke. Und jetzt schieß endlich den verschlackten Bolzen ab.«

Die Reiter waren nun so nah, dass Ard kaum zielen musste. Er hielt die Armbrust einfach ganz waagerecht und drückte den Abzug.

Das Geschoss schwirrte los und schlug zu Füßen des vordersten Pferds auf die Straße. Die tönerne Bolzenspitze zerplatzte, und der Krätzenstein in ihrem Innern sprühte Funken, die das metallene Malm zündeten.

Schon einen Wimpernschlag später wurde die Straße von der einen Seite zur anderen von einer Kuppel aus blässlicher Luft überspannt, die zwei der Reiter vollständig einhüllte. Die beiden versuchten noch, ihre Pferde hastig abzubremsen, doch es war zu spät, und so donnerten sie von innen gegen den Rand der Halbkugel. Die Tiere gingen zu Boden, als wären sie direkt vor eine Wand aus Backsteinen gelaufen, und ihre Reiter rollten durch den Staub.

Hinten prallte ein dritter von Remaughts Schergen gegen die Außenseite der Kuppel. Auch er hatte sein Pferd nicht rechtzeitig zügeln können, um dem Hindernis, das da mit einem Mal die Straße versperrte, zu entgehen.

Die beiden innerhalb der Barrierensphäre würden nirgendwo hingehen, bevor das Malm seine Wirkung verloren hatte. Sie waren gefangen, als hätte jemand eine gigantische, unzerstörbare Schüssel über sie gestülpt. Obgleich man die Oberfläche einer Barrierensphäre durchaus berühren konnte, ließ sie sich nicht bewegen. Und der Boden der Straße bestand aus festem Dreck, darum gab es auch keine Möglichkeit, sich am Rande der Kuppel hindurchzugraben.

Ard freute sich sichtlich über den gelungenen Schuss. »Ha, ha! Das verschafft uns etwas Zeit, bis zum Hafen zu kommen. Das sollte diesen Kerlen eine Lehre sein, sich nie mit Ardor Benn und Fürst Mischmasch anzulegen.«

»Komm schon, Ard«, grummelte Raek. »Du weißt doch, wie sehr mir das auf den Keks geht.«

»Das ist ein angemessener Titel für einen kriminellen Chemisten wie dich.«

Ard wusste, dass Raek sich nie so recht mit diesem Spitznamen hatte anfreunden können. Vor ein paar Jahren hatte er seinen Freund während eines besonders heiklen Meisterwerks, wie er ihre listenreichen Unterfangen zu nennen pflegte, als Fürst Mischmasch bezeichnet. Eigentlich nur als kleiner Scherz gemeint, hatte die Regulation den Namen aus unerfindlichen Gründen aufgegriffen, sodass er hängen geblieben war.

»Und, hältst du das noch immer nicht für eine ehrenwerte Waffe?«, versuchte Raek das Thema zu wechseln. Er trieb das erschöpfte Pferd weiter an, während sie das Elendsviertel hinter sich ließen.

»Die Malmschüsse überlasse ich dir.« Er reichte die Armbrust zurück an seinen Freund. »Ich halte mich lieber an Blei und Rauch.«

Die Straße führte sie auf eine grasbewachsene Ebene oben auf der Steilküste, von der aus sich ein Pfad hinunter zum Hafen schlängelte. Dort wartete die Mummenschanz, fest vertäut und sicher. Ard konnte Flaggen sehen, die an den Masten von Schiffen wehten, doch die hoch gelegene Küstenlinie verdeckte den größten Teil der Hafenanlage.

»Die Straße zum Hafen ist heute erfreulich frei«, sagte Raek.

Nun, da sein Freund es erwähnte, fiel auch Ard auf, dass sich der Weg, auf dem für gewöhnlich zahllose Fußgänger nebst Wagen und Karren unterwegs waren, für einen Nachmittag im Sommer ungewöhnlich ruhig präsentierte. »Ich habe da ein ganz mieses Gefühl«, murmelte er.

»Tja, so ist das halt, wenn man Austern zum Frühstück isst.«

»Ich denke, wir sollten anhalten.«

Raek verzog das Gesicht. »Auf jeden Fall. Wo kämen wir hin, wenn wir diese Ganoven am Ende noch abhängen würd…«

Plötzlich ruckte der Wagen vor und zurück. Aus dem Augenwinkel sah Ard neben sich glühende Punkte fliegen. Ihm blieb nicht einmal die Zeit, sich an der Kante des Wagens festzuhalten, ehe die Mine zündete.

Federmalm.

Und zwar jede Menge davon.

Der Radius der dunstigen Kuppel musste mindestens zwanzig Meter betragen, und ihr Zentrum lag direkt unter ihnen. Ard rumorte der Magen, als eine bizarre Schwerelosigkeit von ihm Besitz ergriff. Der sanfte Stoß der sich formenden Malmsphäre ließ den Wagen gemächlich nach oben schweben, Stroh trieb in alle Richtungen. Die Hufe des Pferdes hoben vom Boden ab, das arme Tier buckelte und wieherte, die Beine noch immer galoppierend in der plötzlich schwerelosen Umgebung.

»Was ist das?«, brüllte Raek. In Händen hielt er noch immer die Zügel, doch sein Leib hatte sich von der Sitzbank erhoben, sein Wollmantel wogte um seine hünenhafte Gestalt.

»Wir haben eine Mine erwischt!«, entgegnete Ard. Offenbar hatte man die in einer flachen Kuhle vergraben, die sich quer über die Straße zog und die Ard erst jetzt bemerkte. Jemand hatte es so eingerichtet, dass die Räder mit einem Ruck über den Krätzensteinzünder schabten und dabei Funken entstanden.

Der Umstand, dass die Falle mit Federmalm versehen war, ließ seine Hoffnung schwinden. Einer Barrierensphäre hätten sie zwar nicht entkommen können, doch zumindest wären sie durch deren undurchdringbaren Rand in Sicherheit gewesen. In ihrer jetzigen Lage – schwebend, hilflos – waren sie ein leichtes Ziel für jeden Schützen. »Sie haben auf uns gewartet«, stellte Ard ernüchtert fest.

»Remaught?«, fragte Raek. »Donnernde Schlackenkruste, wir haben den Kerl unterschätzt!«

Sie waren jetzt vielleicht zehn Meter über dem Boden. Ard ruderte mit den Armen, als wollte er schwimmen, doch voran kam er so nicht. Stattdessen drehte er sich langsam um sich selbst, bis er kopfüber hing. Er hatte ganz vergessen, wie verwirrend und frustrierend es war, bar jeder Schwerkraft nicht mehr Herr seiner Bewegungen zu sein.

Inzwischen war er so hoch, dass er jenseits der Klippe den Hafen sehen konnte. Ein Dutzend berittener Gestalten war dort auszumachen, die schon bald bei ihnen sein würden. Die Uniformröcke aus Wolle und die Helme waren deutlich zu erkennen.

»Remaught hat die Mine nicht gelegt!«, rief er Raek zu, der mit dem Rücken zu den Herannahenden vor sich hin trieb. »Das war die Regulation. Sie wussten, dass wir kommen.«

»Donnernde Schlackenkruste!«, wiederholte Raek und versuchte, sich in der Luft zu drehen, um ebenfalls einen Blick auf die Reiter werfen zu können.

Ein Schuss donnerte, eine Kugel durchdrang die Sphäre. Sie verfehlte Ard und seinen Freund nur knapp.

»Wir sitzen hier auf dem Präsentierteller!«, rief Raek. Die Sonne brannte ihm auf die Glatze und ließ seine dunkle Haut glänzen. »Wir müssen wieder auf den Boden!«

Doch was dann? Selbst wenn ihnen die Flucht aus der Federsphäre gelänge, die bewaffneten Regulatoren würden bald eintreffen. Vielleicht zurück ins Elendsviertel von Marow? Eher nicht. Von seiner Position hoch über dem Boden sah Ard vier von Remaughts Schergen, die direkt auf sie zugeritten kamen.

»Hast du nicht gemeint, dieses Meisterstück wäre nicht weiter riskant?«, fragte Raek, der die beiden Gruppen, die im Begriff waren, sie einzukesseln, nun ebenfalls im Blick hatte.

»Habe ich das?«, entgegnete Ard in gespieltem Unwissen. »Du verdrehst mir das Wort im Mund. Wie lange noch, bis die Sphäre ausbrennt?« Ihm war klar, dass man das bestenfalls schätzen konnte. Eine gewöhnliche Sphäre hielt sich bis zu zehn Minuten, abhängig von der Güte des Trutzstoffes, aus dem das Malm gewonnen worden war. Wie lange diese hier noch bestehen würde, konnte aber niemand genau sagen.

Raek wagte dennoch einen Versuch und schnupperte. »Dem Federmalm wurde Verzögerungsmalm beigemengt, um die Wirkung zu verlängern«, erklärte er schließlich. »Wir dürften also noch eine Weile schwerelos bleiben.«

Ein weiterer Schuss wurde abgefeuert, diesmal zischte die Kugel knapp unter ihren Füßen vorbei. Ard konnte nicht sagen, welche der beiden Seiten ihn abgegeben hatte.

»Was hast du da noch in deinem Bandelier?«, fragte Ard.

»Noch mehr Barrierenmalm.« Raek begutachtete den Gurt um seinen Brustkorb. »Und ein paar Bolzen mit Federmalm.« Er kicherte, offenbar der Ironie wegen, dass er mit eben jener Art von Malm bewaffnet war, dessen Wirkung sie zu entkommen versuchten.

Weitere Trommelzünderschüsse. Eine der Bleikugeln streifte das noch immer buckelnde Pferd. Blut spritzte aus der Wunde und bildete kugelförmige Tröpfchen, die von dem Tier, das zunehmend in Panik geriet, davonschwebten.

Raek zückte einen Dolch. Mit den Zügeln zog er sich näher an das Pferd heran, dann durchtrennte er die Lederriemen, mit denen es vor den Wagen gespannt war. Er setzte seinen Stiefel auf die Flanke des Tieres und stieß sich ab, sodass das Pferd in die eine Richtung davondriftete und er in die entgegengesetzte. Das Tier buckelte hysterisch und erwischte dabei mit den Hufen den Wagen, der sofort auf Raek zuglitt.

Ard ergriff Raeks Fuß, als sein Freund an ihm vorbeiwirbelte, doch das konnte den Hünen kaum bremsen – stattdessen wurde Ard von ihm mitgezerrt.

Behielten sie diese Flugbahn bei, würden sie den Wirkungsbereich des Federmalms knapp zehn Meter über dem Boden verlassen. Sie würden auf die Straße stürzen und sich alle Knochen brechen, auch wenn es ihnen gelänge, nicht erschossen zu werden.

»Irgendwelche Ideen, wie wir hier rauskommen?«, rief Ard.

»Ich denke, wir haben so viel Schwung, dass sich das in wenigen Sekunden von selbst erledigt!«

Sie wirbelten wild herum. Straße. Himmel. Straße. Himmel. Ard wurde übel. Er blickte zu Raeks Munitionsgurt und ließ seinen Instinkt die Führung übernehmen. Er ergriff einen der Bolzen, der die hellblaue Markierung von Barrierenmalm trug, zog ihn aus dem Bandelier, und wie mit einem Dolch stach er mit dem tönernen Kopf des Projektils auf die Brust seines Freundes ein.

Der Ton zerbrach, und der Krätzenstein ließ an Raeks breitem Oberkörper Funken sprühen. Das Barrierenmalm zündete, und eine zweite Sphäre breitete sich um die beiden aus.

Der Bolzen hatte viel weniger Malm enthalten als die Mine auf der Straße, sodass der resultierende Nebelball auch deutlich kleiner war als die Federsphäre. Da das Malm hoch über dem Boden gezündet hatte, hatte sich die Sphäre als perfekte Kugel geformt. Sie umgab Ard, Raek und den Wagen gerade noch rechtzeitig, bevor sie aus der Federsphäre austraten. Der undurchdringliche Rand der Barriere stoppte ihren Flug abrupt. So hingen sie nun da, noch immer schwerelos in der Luft schwebend, gepresst gegen die innere Wand der unbeweglichen Malmsphäre.

»Du hast Malm auf meiner Brust gezündet?«, schrie Raek.

»Ich brauchte eine feste Oberfläche – und du warst gerade greifbar.«

»Und was ist mit dem Wagen? Der war auch greifbar!«

Eine Bleikugel prallte gegen die unsichtbare Barriere. Ohne den Schutz der Sphäre hätte sie Ard direkt in den Hals getroffen, doch nichts konnte den Rand einer Barrierensphäre durchdringen.

»Sieh dir das mal an!« Raek starrte in die Tiefe.

Für den Moment hatten die Regulatoren ihre Aufmerksamkeit ganz auf Remaughts Schergen gerichtet. Offenbar hatten sie entschieden, dass ein Feind ihres Feindes nicht automatisch ihr Freund war.

»Wir haben etwa zehn Minuten, bis die Barriere ausbrennt«, erklärte Raek.

Ard drückte sich vom Rand der Barrierensphäre ab und schwebte durch die geschützte Kugel. Da der Mine Verzögerungsmalm beigemengt worden war, würde die Barrierensphäre verschwinden, bevor es die Federsphäre tat.

»Wie kommen wir hier lebend raus?«, drängte Raek.

»Vielleicht erschießen sich die Reggies und die Ganoven ja gegenseitig, und wir können unbehelligt zum Hafen gehen.«

»Du weißt so gut wie ich, dass das nicht passieren wird. Also müssen wir bereit für unsere Flucht sein, wenn diese beiden Sphären ausbrennen.«

»Na schön, Hand aufs Herz: Ich denke ernsthaft darüber nach, dich auszuliefern, um meinen Hals aus der Schlinge zu ziehen«, behauptete Ard schmunzelnd. »Vielleicht schlage ich mich ja auf die Seite von Recht und Ordnung – oder werde sogar ein Heiliges Eiland.«

»Schon klar«, spöttelte Raek. »Dann dürfen die sich aber nicht mehr ›heilig‹ nennen.«

»Nur damit das klar ist: Das alles hier ist nicht meine Schuld. Wer konnte schon ahnen, dass Suno seinen Boss ans Messer liefert?«

»Suno? Wer zum Karmesinmond ist Suno?«

»Remaughts Leibwächter. Der Trothianer, der sich dringend mal wieder einweichen sollte.«

»Was hat der denn mit alldem zu tun?«

Ard hatte sich das alles zusammengereimt, während sie ziellos durch die Sphäre geschwebt waren. Darin war er unschlagbar. Raek konnte Gewichte, Flugbahnen und Malmzündungen einschätzen wie kein Zweiter – dasselbe galt für Ard, wenn es um Menschen ging.

»Remaught hätte uns nicht auf diese Weise verkokelt«, begann er zu erklären. »Seine Schergen in eine direkte Konfrontation mit einer bewaffneten Patrouille der Regulation zu schicken, hätte zu viele seiner Schergen in Gefahr gebracht. Unser Plan für dieses Meisterwerk hatte Hand und Fuß. Remaught ging davon aus, aus dem Geschäft genau das mitzunehmen, was er wollte: einen korrupten Reggie, den er in der Tasche hat. Suno hingegen bekam nicht das, was er wollte. Er ist kürzlich Vater geworden. Wahrscheinlich hat er beschlossen auszusteigen und nach einem Weg gesucht, Dronodan zu verlassen und sein Neugeborenes auf die Trothianischen Holme zu bringen. Er hat Remaught im Gegenzug für eine sichere Überfahrt verkauft und den echten Reggies verraten, dass sich einer aus ihren Reihen mit seinem Unterweltbaron trifft. Allerdings überprüften die Regulatoren ihre Besatzung, erkannten, dass alle da waren, und kamen zu dem Schluss …«

»… dass ich ein Betrüger war«, beendete Raek den Satz.

Ard nickte. »Und wenn du kein echter Reggie warst, dann würdest du natürlich auch nicht zur Wache zurückkehren. Du würdest die Insel so schnell wie möglich verlassen. Infolgedessen …« Ard deutete auf die Reiter der Patrouille der Regulation, die direkt vor der Federsphäre standen.

»Donnernde Schlackenkruste!«, murrte Raek. »Am liebsten würde ich dem, der uns diese Falle gestellt hat, den Hals umdrehen. Und jetzt erzählst du mir, der Kerl sei frischgebackener Papa. Du weißt doch, dass ich bei kleinen Kindern weich werde. Ich kann so einen Krümel doch nicht ohne Vater zurücklassen. Dann muss ich stattdessen wohl dir den Hals umdrehen.«

»Du hast mich schon einmal umgebracht«, erklärte Ard schmunzelnd. »Und du siehst ja, wie das ausgegangen ist.« Er deutet auf sich selbst.

Er wusste, dass Raek ihn nicht wirklich für ihre derzeitige Zwangslage verantwortlich machte. Nicht mehr, als Ard seinem Freund die Schuld gab, wenn eine von dessen Malmzündungen danebenging.

Bei jedem Meisterwerk gab es eine Reihe von Variablen. Ards Aufgabe bestand darin, so viele davon wie nur irgend möglich unter Kontrolle zu halten, aber manchmal fanden Umstände Einzug in die Gemengelage, die er unmöglich vorhersehen konnte. So hatte er auf keinen Fall wissen können, dass ausgerechnet Suno bei der Übergabe als Leibwächter anwesend sein würde. Und selbst wenn, hätte er nicht voraussehen können, dass sich der Trothianer gegen seinen Boss stellen würde.

Sollten sie den heutigen Tag überleben, war es vielleicht an der Zeit, sich aufs Altenteil zurückzuziehen. Womöglich waren sieben Jahre voller erfolgreicher Meisterwerke mehr, als man vom Leben erwarten konnte.

»Dieses Mal werden wir nicht so einfach aus der Sache herausspazieren, Ard«, unterbrach Raek seine Gedanken.

»Ach, komm schon«, entgegnete Ard. »Wir waren schon in übleren Lagen. Erinnerst du dich an die Garin-Sache vor zwei Jahren? Niemand hätte gedacht, dass wir so lang die Luft anhalten können.«

»Wenn ich mich recht erinnere, war das nicht unbedingt freiwillig. Jemand hat uns unter Wasser gedrückt. Aber egal, ich habe gesagt, wir werden nicht herausspazieren.« Das letzte Wort betonte Raek ganz besonders, während er nach unten zum Boden deutete. Die Federsphäre war eingekesselt – Remaughts Schergen auf der einen Seite, die Reggies auf der anderen. Doch in Raeks Blick funkelte Durchtriebenheit. »Zieh deinen Gürtel aus.«

Ard zog skeptisch die Augenbrauen hoch. »Das ist vielleicht keine so gute Idee, solange wir in einer Federsphäre schweben. Es sei denn, du willst den Jungs da unten was zu gucken geben. Der Gürtel hält meine Hose auf Vollmast. Wenn ich ihn ausziehe, wird sie mir einfach so von der Hüfte segeln. Ich habe in letzter Zeit ziemlich an Gewicht verloren.«

»Ach, tatsächlich?«, spöttelte Raek. »Was meinst du denn, wie viel du wiegst?«

Ard kratzte sich hinter dem Ohr. »Auf keinen Fall mehr als hundertfünfundsechzig Block.«

»Ha! Vielleicht damals auf Pekal, als du mit Tanalin zusammen warst.«

»Musst du gerade jetzt über sie sprechen? Das hier könnten meine letzten Momente auf dieser Welt sein, Raek.«

»Und an was willst du in diesen letzten Momenten lieber denken? An mich?«

»Ah, bei den Heimischen Gestaden, bloß nicht!«, rief Ard. »An Gebäck mit Cremefüllung vielleicht.«

»Ach so, wie das, was du immer gefuttert hast, wenn wir von Pekal zurückgekommen sind … mit Tanalin.«

»Raek!«

Der Hüne kicherte. »Nun, Ard, du bist nicht unbedingt der Typ, der von Dingen ablassen kann.« Er hustete gekünstelt, wobei er zeitgleich Tanalins Namen sagte. »Ich muss dir aber leider sagen, dass du dich hast gehen lassen. Du hast hundertachtundsiebzig Block auf den Rippen – und mit jeder Himbeerschnecke näherst du dich den hundertachtzig.«

Es war eine Gabe. Raek musste eine Person nur taxieren oder ein Objekt hochheben, schon konnte er ganz genau sagen, wie viel sie oder es wog. Eine nützliche Fähigkeit für einen Chemisten.

»Noch immer weniger als du«, grummelte Ard.

»Wenn man unsere gegenwärtig schwerelose Umgebung bedenkt, wiegen wir tatsächlich exakt dasselbe: nichts.«

Ard verdrehte die Augen. »Und du wunderst dich, dass du keine Freunde hast?«

»Mach dich lieber nicht über die Wissenschaft lustig. Die wird uns gleich den Arsch retten! Und jetzt rück schon deinen verschlackten Gürtel raus!«

Ard hatte keine Ahnung, was sein Partner plante, aber in beinahe zwei Jahrzehnten der Freundschaft hatte er gelernt, die Momente zu erkennen, in denen er einfach die Klappe halten und tun sollte, was auch immer Raekon Dorrel sagte.

Ein paar Augenblicke später hatte er seinen Gürtel abgezogen, was sich wenig überraschend als ziemlich kniffelig herausstellte, schließlich schwebte Ard in der Luft herum und hatte noch immer beide Hände gefesselt. Ein sanfter Stoß schickte den Gürtel in Raeks Richtung. Der fing ihn auf und hielt den dünnen Lederstreifen mit den Zähnen fest, während er unter seiner Reggieuniform nach dem Waffengürtel tastete.

»Wie gut bist du bestückt?«, fragte er.

Ard verzog das Gesicht. »Falls mir doch noch die Hose wegfliegt, kannst du dir selbst ein Bild davon machen.«

Raek seufzte schwer – offenbar erstickte sein sich entwickelnder Plan seinen Sinn für Humor. »Ich meine, wie viele Kugeln du noch in deinem Trommelzünder hast.«

»Zwei.«

»Lade nach.« Raek ließ vier Patronen zu Ard schweben, der sie eine nach der anderen aus der Luft pflückte. Sie bestanden aus einem dünnen, papierartigen Material und waren mit einer präzise dosierten Menge an explosivem Donnermalm gefüllt. An der Spitze der Hülse war mit Klebstoff eine Bleikugel befestigt.

Ard schob die erste Patrone mit der Kugel nach unten in eine der leeren Kammern, drehte den Trommelzünder und nutzte einen klappbaren Ladestock an der Unterseite des Laufs, um sie in Position zu stopfen. Es kostete ihn nur einige Augenblicke, die Waffe nachzuladen – eine geübte Fähigkeit, die nicht einmal von den Handschellen behindert werden konnte. Über sich sah er, wie Raek seitlich neben dem Wagen schwebte – in der Hand Ards zweiten Trommelzünder – und mit dem geborgten Gürtel herumhantierte.

»Was bastelst du denn da?«, fragte Ard mit Blick auf die Tüftelei seines Freundes.

Der hatte sämtliche Reservepatronen – insgesamt über sechzig – aus Ards Waffengurt genommen und sie mit dem Gürtel zu einem festen Bündel verschnürt. Auch den Trommelzünder hatte er mit dem Lauf daran festgebunden, sodass der Krätzensteinhahn Kontakt zum Patronenbündel hatte. Das Machwerk sah wahnwitzig aus und darüber hinaus auch noch außerordentlich gefährlich.

»Unsere Barrierensphäre wird jetzt jeden Moment verschwinden«, erklärte Raek. »Ich bereite alles vor.« Er schloss die Augen, wie er es oft tat, wenn er unter stressigen Umständen komplizierte Berechnungen durchführte. »Du solltest dich um die Tresorschatulle kümmern.«

Panik durchzuckte Ard. Fast hatte er vergessen, worum es bei diesem Meisterwerk eigentlich ging. Er sah sich um und stellte erleichtert fest, dass die Beute wohlbehalten in den Grenzen der Barrierensphäre schwebte. Damit hatte sie es weit besser als das arme ungeschützte Pferd, das da jenseits des Sphärenrandes herumtrieb.

Ard schätzte die Entfernung bis zu seinem Ziel ab, dann ertastete er die Oberfläche der Barriere – sie war fest und undurchdringlich. Er stieß sich ab, allerdings etwas kräftiger als geplant, sodass sich sein Körper drehte, er im falschen Winkel in Richtung Tresorschatulle flog und mit der Stirn dagegenknallte. Eine schmerzhafte Wiedervereinigung, aber auch die Gelegenheit, sich das Kästchen zu schnappen. Für einen Augenblick dachte er daran, nun das beträchtliche Gewicht der Schatulle stemmen zu müssen, doch so etwas wie Gewicht gab es in einer Federsphäre ja nicht.

Ard wappnete sich gerade für den Aufprall auf dem Boden der Barriere, als die Sphäre ausbrannte. Er schwebte über den Punkt hinaus, an dem ihr undurchdringlicher Rand ihn hätte aufhalten sollen, und sein Schwung ließ ihn weiter nach unten durch die Schwerelosigkeit der noch immer bestehenden Federsphäre taumeln.

Schließlich prallte er mit dem Rücken auf die Straße. Staub und Dreck wurden aufgewirbelt und schwebten in alle Richtungen davon. Ein Schuss war zu hören, und eine Bleikugel surrte knapp an ihm vorbei. Für gewöhnlich mochte es Ard, festen Boden unter den Füßen zu haben, aber mit den Reggies auf der einen und Remaughts Schergen auf der anderen Seite befand er sich nun mitten im Kreuzfeuer.

»Ardor!«, brüllte Raek über ihm. »Beweg deinen Allerwertesten wieder hier hoch!«

Wie er da so am Grund der Federsphäre auf dem Boden lag, sah Ard, dass sein Freund auf der Ladefläche des Heuwagens hockte, der fast unmerklich auf ihn zudriftete. Die Sphäre hatte ihre volle Stärke verloren. Noch verhinderte das Verzögerungsmalm, dass sie vollends ausbrannte, doch die Schwerelosigkeit ließ immer weiter nach, bis sie schlussendlich verpuffen würde.

Ard richtete sich senkrecht auf, umklammerte die Tresorschatulle, stieß sich vom Boden ab und schwebte dank der Wirkung der Federsphäre geradezu mühelos nach oben.

»Hab dich!« Raek packte ihn am Ärmel und zog ihn auf die leere Ladefläche.

Erst da bemerkte Ard die dünne Schnur, die sein Freund in der Hand hielt. Sie führte zur Kante des Wagens und verschwand dort. Ihr Ende musste sich irgendwo darunter befinden, wo genau, konnte Ard aber nicht sagen.

»Was wir jetzt tun werden«, erklärte Raek, »gehört zu den eher experimentellen Arten der Flucht.«

»Du meinst also, du hast keinen Schimmer, ob es funktioniert.«

»Ich habe es im Kopf durchgerechnet. Zweimal. Es sollte …« Er atmete tief durch. »Nein, nicht den geringsten.«

»Will ich wissen, was am anderen Ende dieser Schnur festgebunden ist?«, fragte Ard.

»Ich habe doch deinen zweiten Trommelzünder an das Päckchen aus den Donnermalmpatronen gebunden.«

Ard riss die Augen weit auf. »Stinkendes Gekrätz, Raek! Du wirst uns beide in die Luf…«