Die Töchter der Sturminsel - Judith Nicolai - E-Book
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Die Töchter der Sturminsel E-Book

Judith Nicolai

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Beschreibung

Eine Liebe gegen alle Widerstände … Der bewegende Roman »Die Töchter der Sturminsel« von Bestseller-Autorin Judith Nicolai als eBook bei dotbooks. Die englische Kanalinsel Guernsey unter deutscher Besatzung, 1942. Inmitten dieser dunklen Zeit wagt die junge Friederike einen Neuanfang – an der Seite ihres Mannes, einem hochrangigen Wehrmachtsoffizier, den sie vor seiner Stationierung auf Guernsey kaum kennenlernen konnte. Doch Friederikes neues Leben in dem malerischen Cottage über den Klippen am Meer entpuppt sich schon bald als große Lüge … während sich zwischen Besatzern und Inselbewohnern ein gefährliches Spiel aus Geheimnissen, Rebellion und Unterdrückung entspinnt. Nur in Henry, dem schweigsamen Sohn eines Farmers, scheint Friederike einen Verbündeten zu finden. Die wenigen Minuten, die sie mit ihm verbringen kann, werden für sie zur kostbarsten Zeit jedes Tages. Aber darf sie Henry wirklich trauen – und ihrem Herzen? Der neue große Roman von Bestseller-Autorin Judith Nicolai: Über eine stürmische Insel, die von den Schatten des Krieges heimgesucht wird – und eine Frau, deren Mut ein strahlendes Licht in der Dunkelheit ist! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der fesselnde Roman »Die Töchter der Sturminsel« von Bestseller-Autorin Judith Nicolai, die ihre Leserinnen bereits mit der großen »Schneetänzerin«-Saga und ihrem Familiengeheimnis-Roman »Die Frauen vom Schlehenhof« begeisterte. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 617

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Über dieses Buch:

Ein Sturm zieht herauf … 1942: Mutig wagt die junge Friederike den Schritt zu einem Leben in der Fremde, als ihr Ehemann, ein hochrangiger Wehrmachtsoffizier, auf der Kanalinsel Guernsey stationiert wird. Ein malerisches Cottage über den Klippen am Meer soll von nun an ihr neues Zuhause sein – doch verbirgt sich dahinter ein dunkles Geheimnis? Schon bald beschleicht Friederike das Gefühl, ihren Mann überhaupt nicht zu kennen … und in dem gefährlichen Netz aus Lügen und Unterdrückung zwischen deutschen Besatzern und Einheimischen nur ein Spielball zu sein. Halt findet Friederike einzig in dem schweigsamen Sohn eines benachbarten Farmers: Die wenigen Minuten, die sie mit Henry verbringen kann, werden für sie zur kostbarsten Zeit jedes Tages. Aber darf sie ihm wirklich trauen – oder wird ihr Herz sie verraten?

Der neue große Roman von Bestseller-Autorin Judith Nicolai: Über eine stürmische Insel, die von den Schatten des Krieges heimgesucht wird – und eine Frau, deren Mut ein strahlendes Licht in der Dunkelheit ist!

Über die Autorin:

Judith Nicolai wurde 1976 in Karlsruhe geboren. Ihre Liebe zum Schreiben entdeckte sie bereits mit 14 Jahren. Dennoch machte sie erst eine Ausbildung zur Buchhändlerin und studierte anschließend Gartenbauwissenschaften. Heute lebt sie in der Nähe von Karlsruhe.

Bei dotbooks veröffentlichte Judith Nicolai ihre Bestseller-Romane»Schneetänzerin – Band 1«»Das Herz der Schneetänzerin – Band 2«»Der Traum der Schneetänzerin – Band 3«»Die Frauen vom Schlehenhof«

Die drei Romane der »Schneetänzerin«-Saga sind auch im Sammelband »In Zeiten des Sturms« erhältlich.

***

Originalausgabe August 2020

Copyright © der Originalausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Redaktion: Sabine Zürn

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock / Ev Medvedeva / Evannovostro / haraldmuc / Pakhnyushchy / johnbraid / Anton Watman / Le Do / Anna Kraynova / Mick Blakey sowie © pixabay

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (tw)

ISBN 978-3-96655-031-4

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Judith Nicolai

Die Töchter der Sturminsel

Roman

dotbooks.

Kapitel 1

St. Peter Port, Guernsey, Juni 1940

Der Geruch nach Tomaten gehörte genauso zum Hafen von St. Peter Port wie das Tuten der Signalhörner oder die Möwen, die sich hinter den Anlegestellen kreischend um Fischabfälle stritten.

An den Abenden, an denen die Frachtschiffe nach England beladen wurden, brachten die Farmer den herben, krautigen Geruch der Tomatenblätter mit aus ihren Gewächshäusern. Er hing an ihren vom Ausgeizen des Laubs verfärbten Händen und schien sogar ihren Latzhosen und den Sitzen der Lieferwagen zu entströmen. Wenn sie die Planen von den Ladeflächen zogen, flutete warme, mit dem Duft der reifen Tomaten getränkte Luft heraus und fügte der salzigen, nach Seetang und sonnenwarmen Steinen riechenden Hafenluft ein fruchtig-süßes Aroma hinzu.

Für Henry Durand würde der Geruch von Tomaten bis an sein Lebensende mit dem 28. Juni 1940 verbunden sein. Und bis an sein Lebensende würde er diesen Geruch gleichzeitig lieben und hassen.

Edward Durand ließ seinen Lieferwagen bis direkt vor die offene Verladerampe der Marita rollen und machte sich ans Ausladen. Die Schlange, an deren Spitze sich sein klappriger Peugeot nun endlich befand, wand sich wie eine grau-grün gefleckte Raupe aus Blech und Segeltuchplanen über die nördliche Hafenmole.

»Lass uns auf einen Schluck in den Pub gehen, wenn wir hier fertig sind«, rief er seinem Sohn zu.

»Geh nur.« Henry zog einen Stapel mit Tomatensteigen von der Ladefläche des Pritschenwagens. »Ich mache das hier rasch allein fertig.«

Edward klopfte ihm auf die Schulter, während er schon nach seinen Kumpeln Ausschau hielt. »Danke, Junge. Bin gleich wieder da.«

Als alle Tomaten im Bauch der Marita verschwunden waren, um ihre nächtliche Reise nach England anzutreten, steckte Henry die Quittung in die Brusttasche seines Arbeitshemds und fuhr den Lieferwagen ein Stück weiter, um dem Nächsten in der Reihe Platz zu machen. Dann hockte er sich auf die Hafenmauer und holte ein zerknautschtes Päckchen Zigaretten hervor.

Was gab es Schöneres, als hier zu sitzen und sich die Abendsonne auf den Rücken scheinen zu lassen, während einem der frische Seewind um die Ohren blies? Na ja, noch schöner wäre es, wenn gelegentlich ein hübsches Mädchen vorbeikäme, dem man auf die Beine schauen könnte, die unter ihrem leichten Sommerrock hervorblitzten. Aber auch ohne diese angenehmen Aussichten war es allemal besser, hier draußen seine Ruhe zu haben, als mit den alten Sturköpfen im Pub zu sitzen. Sie würden sich sowieso nur wieder über das ewig gleiche Thema die Schädel heißreden: Kamen die Nazis nun bald, oder kamen sie nicht? Und wenn sie kamen, was würde dann mit den Menschen hier auf den Kanalinseln geschehen? Würden die Jackboots, wie man sie wegen ihrer hohen Lederstiefel nannte, tatsächlich alle Frauen nach Deutschland verschleppen und dort als Sklavinnen halten?

Als endlich feststand, dass die britische Regierung Schiffe schicken würde, um alle von den Inseln zu holen, die wegwollten, hatten die Leute förmlich die Meldestellen eingerannt, um sich für einen Platz auf einem der Schiffe registrieren zu lassen. Insgesamt fast 23.000 Menschen hatten die Kanalinseln verlassen. Auch Henrys Mum und seine jüngste Schwester Miranda waren unter ihnen gewesen. Die Kleine hatte einen Herzfehler und war auf Medikamente angewiesen. Und da man nicht wusste, wie die medizinische Versorgung unter den Nazis sein würde, waren die beiden nach England gegangen.

Henry, sein Dad und seine Schwester Alice mit ihrer kleinen Tochter waren auf der Farm geblieben. Henry dachte nicht im Traum daran, von hier wegzugehen. Guernsey war seine Insel. Er war hier geboren und hatte sie erst mit 15 Jahren zum ersten Mal verlassen. Er würde einen Teufel tun und für die Deutschen das Feld räumen. Sollten sie doch kommen. Er würde weiterhin frühmorgens mit seinem Boot hinausfahren, Fische fangen und den Rest des Tages auf der Farm arbeiten.

Außerdem glaubte er ohnehin nicht ernsthaft daran, dass die Nazis tatsächlich die Kanalinseln besetzen würden. Was gab es denn schon auf diesen paar Krümeln Erde, die in irgendeiner Eiszeit von Frankreich abgebrochen waren? Einen Haufen Kühe und noch mehr Strand und Klippen. An Hitlers Stelle würde Henry seine Zeit jedenfalls nicht mit den Inseln vergeuden, sondern lieber gleich größere Brötchen backen und sich England unter den Nagel reißen.

Eine Weile hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich freiwillig zu melden, aber nachdem Churchill die Demilitarisierung der Kanalinseln angeordnet und sie damit einfach ihrem Schicksal überlassen hatte, fühlte Henry sich nicht mehr im Geringsten dazu verpflichtet, in einem Krieg zu kämpfen, der ihn eigentlich gar nichts anging. Außerdem reichte es, einen patriotischen Schwachkopf in der Familie zu haben. Sein Schwager Johnny war am Tag, nachdem England den Deutschen den Krieg erklärt hatte, zur Royal Air Force gegangen.

Henry kniff die Augen zusammen und starrte durch den Rauch seiner Zigarette in den Himmel, an dem schon die ersten pastellrosa Abendwölkchen schwebten. Dazwischen hingen wie ein paar Schmeißfliegen kleine, dunkle Punkte. Die Deutschen waren wohl wieder unterwegs. Nachdem die Aufklärungsflugzeuge die Leute anfangs noch in Angst und Schrecken versetzt hatten, waren sie mittlerweile an ihren Anblick und das ferne Brummen gewöhnt.

Henrys Dad kam zusammen mit William Leale aus dem Pub. Das war ja ausnahmsweise schnell gegangen. Gemeinsam liefen die beiden auf Mr Leales Lieferwagen zu, den er direkt am Pier geparkt hatte. Henry schnippte seine Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. Doch als er Anstalten machte, sich zu den beiden Männern zu gesellen, winkte Edward ab und rief etwas in seine Richtung, das wie »Zündkerzen nachschauen« klang. Achselzuckend setzte Henry sich wieder auf die Mauer und zündete sich noch eine Zigarette an.

Das Brummen am Himmel wurde lauter. Die Schmeißfliegen hatten Verstärkung mitgebracht und summten nun als ganzer Schwarm über sie hinweg.

Edward und Mr Leale hatten die Motorhaube des Pritschenwagens geöffnet und schauten nachdenklich hinein. Henry konnte nicht viel mehr als die von der Sonne ausgebleichten Rücken ihrer Hemden sehen. Sein Dad hatte einen ölverschmierten Lappen in der Hand und schraubte damit hoffnungsvoll, aber wenig fachmännisch an den Zündkerzen herum. In der Ferne donnerte es.

Kopfschüttelnd stand Henry auf, um zu den beiden hinüberzugehen. Er hatte zwar auch nicht viel Ahnung von Autos, aber vielleicht sahen drei Dumme ja mehr als zwei.

Der Donner wurde lauter. Henry schaute in den wolkenlosen Abendhimmel. Wo zum Teufel kam dieses Gewitter her? Als in der Ferne mehrmals etwas knallte, als hätten ein paar Autos eine gemeinsame Fehlzündung, krampfte sich sein Magen zusammen. Dann sah er sie.

Einen langen Moment blieb Henry gelähmt vor Entsetzen mitten auf der Mole stehen und starrte die Schmeißfliegen an, die wieder zurückgekommen waren. Sie wurden zu großen schwarzen Vögeln, als sie rasch an Höhe verloren.

»Dad?«, schrie Henry mit sich überschlagender Stimme. »Dad! Hier stimmt was nicht!« Er winkte seinem Vater hektisch zu und zeigte zum Himmel. Edward winkte gutgelaunt zurück und streckte Henry seinen nach oben gereckten Daumen entgegen.

»Scheiße. Verdammte Scheiße.«

Das Brummen wurde zu einem tiefen Dröhnen, das weit hinten in seiner Kehle und tief in seinem Gedärm vibrierte. Jetzt hatten auch andere bemerkt, dass irgendetwas ganz und gar nicht so war, wie es sein sollte. Henry sah ein paar Männer wie ein einstudiertes Ballett aus den Führerhäusern ihrer Lieferwagen steigen und die Hände zum Schutz vor der tief stehenden Sonne über die Augen gelegt, in den Himmel starren. Eine Frau zog ihre Tochter grob hinter sich her in den Schutz der engen Gassen. Über dem dumpfen Dröhnen lag eine atemlose Stille. Selbst die Möwen hatten aufgehört, sich zu streiten, und lauschten mit schief gelegten Köpfen.

Endlich löste Henry sich aus seiner Starre und war wieder in der Lage, seine Beine zu bewegen. Er fing an zu rennen, doch kaum hatte er ein paar Schritte gemacht, als einer der Lieferwagen seinen Motor aufheulen ließ, ruckelnd aus der Schlange ausscherte und mit quietschenden Reifen davonjagte, direkt auf Henry zu.

Der Aufprall auf dem Boden presste ihm die Luft aus den Lungen und ließ helle Sternchen hinter seinen Lidern tanzen. Wie ein hilfloser Käfer lag er auf dem Rücken, Arme und Beine von sich gestreckt, und starrte hinauf in den herzzerreißend schönen Abendhimmel. Die erste Heinkel schob sich in Henrys Gesichtsfeld. Sie flog so dicht über ihn hinweg, dass er das Hakenkreuz und die Zahlen auf ihrem graugrünen Leib erkennen konnte. Dann brach eine Hölle aus Feuer, Rauch und Maschinengewehrsalven los.

Als Henry die Arme, die er um seinen Kopf geschlungen hatte, hob und die Augen öffnete, lag eine Wolke aus hellem Staub über dem Hafen und nahm ihm gnädig die Sicht. Nichts als Stille dröhnte schmerzhaft in seinen Ohren, doch als er sich hustend aufsetzte, konnte er wieder hören:

Das leiser werdende Brummen der sich entfernenden Flugzeuge, das Prasseln der Flammen, immer wieder übertönt vom Knall explodierender Benzintanks. Dazwischen panische Rufe und die Schreie der Verletzten. Der beißende Geruch von brennendem Gummi und Zementstaub hing in der Luft und raubte ihm den Atem. Doch dahinter, kaum wahrnehmbar in all dem Gestank, schwebte wie ein Hauch, fast nicht mehr als eine Erinnerung an friedliche Zeiten, der herbe Duft nach Tomatenlaub.

»Dad?«, krächzte er mit vor Staub und Entsetzen heiserer Stimme. »Dad!« Doch niemand gab ihm Antwort.

Kapitel 2

Ärmelkanal, März 1942

Friederike stieß die Eisentür auf, die aus dem Bauch des Schiffs nach oben aufs Vorderdeck führte. Ein anerkennender Pfiff wehte zu ihr herüber, doch sie tat, als hätte sie nichts gehört. Vermutlich aus diesem Grund hatte der Kommandant der Monte Rosa ihr geraten, in der Kabine zu bleiben, die man ihr zur Verfügung gestellt hatte, doch sie hätte es keine fünf Minuten länger in dem engen, stickigen Metallkäfig ausgehalten, um sich herum nichts als die Wellen des Ärmelkanals, die an den Rumpf des Schiffes donnerten.

Friederike trat an die Reling und klammerte sich mit beiden Händen fest, bevor sie einen Blick nach unten wagte. Erleichtert atmete sie die frische, salzige Seeluft ein, die ihr entgegenblies und die Haare zerzauste. Die Sonne bemühte sich redlich, ein paar Strahlen durch die ausgefranste Wolkendecke zu schicken, und hinterließ veilchenrosa Streifen auf dem immer noch aufgewühlten Wasser. Ein frischer Wind wehte die Reste der Gewitterwolken zurück nach Frankreich, von wo sie dem Schiff gefolgt waren.

Friederike schloss die Augen und atmete noch ein paarmal tief ein und aus, dann öffnete sie ihre Handtasche und holte das Fläschchen Parfüm heraus, das Ulrich ihr zu Weihnachten geschickt hatte. Hoffentlich würde es den Geruch nach Erbrochenem überdecken, der ihr immer noch in der Nase hing. Nachdem sie sich ein paar Tröpfchen hinter die Ohren und auf den Kragen ihres Reisekostüms getupft hatte, steckte sie sich noch eine Pfefferminzpastille in den Mund. Das musste genügen.

Das Deck unter ihr glich einem Teppich aus feldgrauen Uniformen. Die Wehrmachtssoldaten, die genau wie Friederike an Bord der Monte Rosa auf die von Deutschland besetzten Kanalinseln verschifft wurden, beugten sich schützend über ihre Zigaretten oder spielten Karten. Einige lehnten an der Reling und sahen genauso elend aus, wie Friederike sich fühlte.

Als sie auf wackeligen Beinen ein paar Schritte über das Deck ging, scheuchte ein Offizier sie mit einer ungeduldigen Handbewegung aus dem Weg. Eine Entschuldigung murmelnd, die er bestimmt nicht mehr hörte, drückte Friederike sich wieder an die Reling. Der Geruch nach Metall und Maschinenöl, die in schroffem Ton ausgerufenen Befehle und die über ihr hängenden Schatten der Geschützstände machten sie beklommen und ließen ihr Herz schneller schlagen.

Um ihren flauen Magen zu beruhigen, drehte sie sich um und fixierte einen Punkt am fernen Horizont. Tief atmete sie die kühle, feuchte Seeluft ein und konzentrierte sich ganz auf den blassen, gelbbraunen Streifen Land, der rasch näherkam.

Friederike vergaß ihre Übelkeit, als das Schiff sich der Insel Guernsey so weit genähert hatte, dass sie Einzelheiten erkennen konnte. Obwohl es in Deutschland immer noch Winter war, trugen die Bäume hier bereits zartgrünes Frühlingslaub, die Fassaden der Häuser, noch klein wie Briefmarken, leuchteten in der Sonne. Friederike warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Nicht mehr lange, dann würde sie Ulrich wiedersehen.

Jochen schüttelte den Kopf und verzog angewidert das Gesicht. »Mensch, Florian, du stellst dich an wie ein Mädchen. Soll ich dir die Haare zurückhalten und dich Florentine nennen?«

Florian hob den Kopf und wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen. »Von mir aus«, stöhnte er, als er sich wieder dazu in der Lage fühlte, den Mund zu öffnen. »Wenn du willst, kannst du es auch auf meinen Grabstein meißeln. Ich glaube nicht, dass ich es noch lange mache.« Er unterdrückte ein nicht gerade mannhaftes Wimmern, als ihn wieder eine Welle der Übelkeit überrollte.

»Solange du nur nicht gegen den Wind kübelst.« Jochen zündete sich eine Zigarette an. »Mach dir nichts draus, Junge. Es kann nun mal nicht jeder seefest sein. Am besten, du atmest tief durch und konzentrierst dich auf den Horizont. Da vorne kann man schon eine von den Inseln sehen – ich glaube, das ist Guernsey!«

Florian kniff die Augen zusammen, um den Streifen Land, der sich langsam aus den graublauen Wellenhügeln schob, besser sehen zu können. Ein aufgeregtes Kribbeln überdeckte das flaue Gefühl in seinem Magen. Bald würden sie die Handvoll Inseln erreichen, die zwischen Frankreich und England im Ärmelkanal verstreut lagen wie ein paar Brotkrumen und jetzt ein weiterer Teil des Deutschen Reiches waren.

Jochen zog scharf die Luft ein und stieß sie in einem anerkennenden Pfiff wieder aus. »Meine Fresse, was macht die denn hier auf dem Kahn?« Florian folgte seinem Blick. »Seht ihr sie nicht, ganz vorne auf dem Oberdeck?«

Florian stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

»Ach, die«, grinste einer der Soldaten neben ihnen. »Ganz niedlich, die Kleine. Aber mach dir da mal keine falschen Hoffnungen. Das ist die Frau von Oberstleutnant Jacoby aus dem Stab von Oberst von Schmettow.«

Jochen verzog das Gesicht. »Ist ja typisch. Die hohen Tiere dürfen ihre Frauen Gemahlinnen mit einschiffen! Und was ist mit uns? Sollen wir auf dieser beschissenen Insel leben wie die Mönche?«

»Na ja, das würde ja auch ein bisschen voll werden, wenn wir alle unsere Freundinnen mitbrächten.«

Florian schloss die Augen. Er sah Marions Gesicht vor sich. Marion mit den veilchenblauen Augen und den weichen Lippen, die versprochen hatte, ihn vom Zug abzuholen, wenn er Heimaturlaub hatte. Er öffnete die Augen wieder. »Und woher weißt du solche Sachen?«, brummte er, plötzlich schlecht gelaunt, und deutete mit dem Kinn auf die Frau, die über ihnen an der Reling lehnte. Ein wenig verloren sah sie aus, wie sie so in die Ferne starrte. Der Wind blies ihr die Haare ums Gesicht, die Schöße ihres Mantels flatterten hinter ihrem Rücken wie hellblaue Schmetterlingsflügel.

Der Soldat zuckte mit den Schultern. »Wenn man mit den richtigen Leuten plaudert, kriegt man eben das eine oder andere mit.«

Florian wandte sich wieder dem Uferstreifen zu, der nun rasch näherkam.

Man konnte schon die Umrisse von St. Peter Port erkennen, dem Hafen, an dem sie anlegen würden. Das Städtchen schmiegte sich an den Fuß eines Klippenhangs, im Licht der Vormittagssonne leuchteten die weißen Stadthäuser wie Sahnekleckse vor dem grauen Stein. Der Eingang zum Hafen wurde von einer trutzigen Festungsanlage bewacht. Als die Monte Rosa langsam und majestätisch wie ein grauer Schwan aus Metall und Nieten auf die Insel zuglitt, spürte Florian wieder das aufgeregte Kribbeln in seinem Bauch, das auch den letzten Rest der Seekrankheit vertrieb.

Er schulterte seinen Seesack und wandte sich an seine Kameraden. »Leute, wir sind gleich da!«

Beinahe lautlos lief das Tenderboot in den Hafen von St. Peter Port ein. Die großen Schiffe der deutschen Marine ankerten weiter draußen im offenen Meer. Nur kleinere Schlepper, Fährschiffe und die Fischerboote der Einheimischen konnten in die Hafenbucht einfahren.

Der Wind hatte nun auch die letzten Wolken vom Himmel gefegt und ihn strahlend blau poliert. Die Mittagssonne schien Friederike warm auf die Wangen und spiegelte sich im türkisfarbenen Wasser, so dass sie blinzeln musste. In geschützten Winkeln zwischen den weiß getünchten Stadthäusern wuchsen sogar Palmen. Ulrich hatte in seinen Briefen davon geschrieben, doch so richtig geglaubt hatte sie ihm nicht. Sie lachte entzückt, als sie die üppigen Wedel sah, die sich bis auf die Straße wölbten.

Friederike stellte sich auf die Zehenspitzen und beschirmte ihre Augen mit der Hand, um Ausschau nach Ulrich zu halten. Dort drüben war er. Auch unter Hunderten von uniformierten Männern hätte sie ihn erkannt: seine aufrechte Haltung, seinen schlanken Körper und die Haare, die an den Schläfen schon ein bisschen grau wurden. Er stand neben einem schwarzen, auf Hochglanz polierten Automobil und beobachtete aufmerksam die Ankunft der Monte Rosa. Friederike winkte ihm zu, auch wenn sie nicht wusste, ob er sie sah.

Als das Boot angelegt hatte und vertäut war, ging Friederike am Arm eines Soldaten von Bord. Sie schwankte wie ein Matrose auf Landgang und musste sich mit der einen Hand am Geländer, mit der anderen an dem ihr dargebotenen Arm festklammern, um nicht ins Straucheln zu kommen und Ulrich würdelos entgegenzuplumpsen wie ein Mehlsack.

Er wartete am Fuß der Rampe auf sie. Friederike hatte gerade noch Zeit, dem Soldaten ein Dankeschön zuzumurmeln, bevor Ulrich sie an sich zog. Er musste sie wirklich vermisst haben, denn sonst hätte er sich in der Öffentlichkeit nicht zu einer solchen Liebesbekundung hinreißen lassen.

»Friederike! Endlich bist du da, Liebes.« Für einen kurzen Moment drückte er sie an sich, und Friederike konnte seinen vertrauten Duft nach Wäschestärke und Frisiercreme riechen. Dann schob er sie sanft wieder von sich und sah sie besorgt an. »Du bist ja ganz blass um die Nase. War die Überfahrt sehr schlimm? Auf der Insel hatten wir heute Nacht ein richtiges Unwetter.«

Friederike bemühte sich um ein Lächeln. »Ach, es ging schon. Ein bisschen windig. Aber ich bin froh, dass ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.«

Ulrich legte ihre Hand in seine Armbeuge und führte sie zu dem Automobil, neben dem er vorhin noch gestanden hatte. Ein junger Soldat lehnte lässig an der Fahrertür, nahm jedoch hastig Haltung an, als Ulrich und Friederike sich ihm näherten.

»Pfaff, seien Sie so gut und kümmern sich um das Gepäck meiner Frau, ja? Zwei Schrankkoffer und ein kleines Köfferchen. Sie sollen schnellstmöglich an Land gebracht werden.«

Friederike nickte dem Fahrer einen Gruß zu, bevor sie in den Fond des Automobils stieg. Während Pfaff zur Anlegestelle stapfte, rutschte Ulrich neben sie auf die Rückbank.

»Du bist bestimmt völlig erschöpft von der langen Reise. Aber jetzt haben wir nur noch eine kurze Fahrt vor uns, dann kannst du dich ausruhen. Glücklicherweise sind auf diesem Inselchen die Wege recht kurz.«

»Mach dir keine Sorgen, es geht mir gut. Aber für ein Bad und eine Tasse Tee könnte ich glatt einen Mord begehen.«

Ulrich lachte. »So weit lasse ich es schon nicht kommen.«

Nachdem Pfaff Friederikes Köfferchen verstaut hatte, ließ er sich hinters Steuer fallen. »Die Schrankkoffer werden mit dem Pritschenwagen gebracht, Herr Oberstleutnant. Heute Nachmittag, spätestens morgen früh.«

»Gut gemacht, Pfaff. Sie können dann fahren.«

Durch einen Schleier von Erschöpfung und Übelkeit nahm Friederike die Landschaft, durch die der Fahrer sie steuerte, nur schemenhaft wahr. Gesäumt von wilden Rosen schlängelte sich die kurvige, ungeteerte Straße die Steilküste entlang. Das Ziehen in Friederikes Magen verstärkte sich, bis sie schließlich die Augen schloss.

»Wach auf, Liebling, wir sind zu Hause.« Friederike schreckte blinzelnd auf, als Ulrich ihren Arm berührte.

Das Automobil war auf dem gepflasterten Platz vor einem großen weiß getünchten Haus zum Stehen gekommen. Das Dach war mit Schieferplatten gedeckt, und neben der himmelblau gestrichenen Haustür rankte eine Kletterrose bis über die Regenrinne. In der Ferne konnte man die Dächer von St. Peter Port sehen.

»Meine Güte«, murmelte Friederike benommen. »Das ist ja traumhaft schön! Werden wir wirklich in diesem Haus wohnen? Nur wir beide?«

»Es ist hübsch, nicht? Ich habe es extra für dich ausgesucht. Warte nur, bis du den Garten siehst! Du wirst begeistert sein.« Er beugte sich zum Fahrer vor. »Warten Sie hier, ich komme gleich wieder. Um den Koffer kümmere ich mich schon selber«, winkte er ab, als Pfaff Anstalten machte, die Fahrertür zu öffnen.

Ulrich stieg aus und ging um die Motorhaube herum, um Friederike auf der anderen Seite behilflich zu sein. Dann holte er den Koffer aus dem Kofferraum und öffnete die Haustür. Nach dem strahlenden Sonnenschein draußen war es dämmrig in der Halle. Sie konnte nur schemenhaft ein paar Möbel und einen Spiegel erkennen, eine Treppe führte ins Obergeschoss. Als Friederike zögernd auf den dunklen Schieferplatten stehen blieb, schob Ulrich sie mit sanfter Gewalt weiter.

»Da vorne ist das Wohnzimmer.« Als er die Tür öffnete und Friederike über die Schwelle trat, stieß sie einen freudigen Schrei aus. Sonnenlicht flutete durch die großen Fenster und ließ den polierten Parkettboden leuchten wie Bernstein. Auf der Couch und dem Ohrensessel, die vor dem offenen Kamin standen, waren cremefarbene Überwürfe gebreitet. Auf dem Boden lag ein bunter Flickenteppich, und in einem großen Regal drängten sich Bücher, Ziergegenstände und Sträußchen mit Trockenblumen.

»Wem gehört dieses Haus?«

»Ich weiß nicht. Die Leute sind Hals über Kopf geflüchtet, als Churchill den Einheimischen die Möglichkeit bot, sich evakuieren zu lassen. Sie haben noch nicht einmal das Frühstücksgeschirr vom Küchentisch geräumt. Aber mach dir keine Gedanken darüber und komm lieber her.« Ulrich zog Friederike hinter sich her nach draußen. »Ist das nicht hübsch?«

Auf der Rückseite des Hauses erstreckte sich ein von einer Sandsteinmauer umgebener Garten. Spalierobst und Weinreben schmiegten sich an den sonnenwarmen Stein. Der leicht abschüssige Rasen war blau getüpfelt von wilden Hyazinthen, und überall wuchsen Rosen: edle Beetrosen, Kletterrosen, die selbstbewusst ihre hölzernen Spaliere erobert hatten, und bescheidene Bodendeckerröschen, die ihr junges Laub scheu der Sonne entgegenreckten. Doch über alldem hing ein Schatten von Vernachlässigung. In den Beeten drohten Unkraut und Brombeerranken die Stauden zu überwuchern, und einer der Apfelbäume am anderen Ende des Gartens war eingegangen.

»Ja, der Garten ist wirklich schön.«

»Ich wusste, dass er dir gefallen wird.« Ulrich schloss sie in die Arme und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. »Rike, mein Rehlein, ich hab dich so unsäglich vermisst.«

Friederike lächelte in Ulrichs Haar hinein. Sie mochte es, wenn er ein bisschen albern war. Dann wirkte er nicht mehr so förmlich und reserviert, und sie fühlte sich in seiner Gegenwart nicht mehr wie das junge, dumme Ding, das sie zweifelsohne war.

»Ich hab dich auch vermisst«, flüsterte sie.

»Ist das wahr?« Ulrich drückte ihr einen Kuss auf die Nasenspitze, dann einen auf den Mund. Friederike schloss die Augen, hob ihr Gesicht seinem Kuss entgegen und versuchte, sich zu entspannen. Doch Ulrich löste sich gleich wieder von ihr und strich ihr bedauernd übers Haar. »Ich wünschte, ich könnte noch hierbleiben, aber ich muss leider gleich zurück nach St. Peter Port.«

»Das macht doch nichts. Ich vertreibe mir schon die Zeit, bis du wieder nach Hause kommst. Ich werde meinen Koffer auspacken und dann eine Entdeckungsreise durch den Garten machen.«

»Tu das, Liebes. Ich verspreche dir, dass ich spätestens um sechs wieder da sein werde. In der Speisekammer steht ein Topf mit Suppe, falls du hungrig bist.«

Noch bevor Friederike ihn fragen konnte, woher diese Suppe kam, drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn, griff nach seiner Mütze und verließ das Wohnzimmer. Er lächelte ihr noch einmal zu, dann hörte sie nur noch die zuschlagende Haustür und das gedämpfte Brummen eines Automotors.

Ein paar Minuten blieb Friederike am Fenster stehen und schaute in den sonnenbeschienenen Garten hinaus. Dann zog sie ihren Mantel aus und ging in die Halle, um ihn aufzuhängen. Über dem Rahmen des Garderobenspiegels hing ein getupftes Halstuch. Vorsichtig nahm Friederike es herunter, faltete es ordentlich zusammen und legte es in die oberste Schublade der Kommode. Dann machte sie sich, beinahe auf Zehenspitzen wie ein Besucher im Museum, auf den Weg in die Küche.

Auch dieser Raum war in helles Licht getaucht. Neben dem Spülstein thronte ein riesiger roter AGA-Herd. Vor dem Fenster hingen dünne Musselin-Gardinen, und auf der vom vielen Schrubben beinahe weißen Tischplatte des Esstischs lag ein besticktes Deckchen. Obwohl die Küche aufgeräumt und blitzsauber war, strahlte sie immer noch so viel von der Persönlichkeit ihrer früheren Besitzerin aus, dass Friederike beinahe Scheu hatte, die Schwelle zu übertreten. Doch dann wurde ihr Verlangen nach einer Tasse Tee so groß, dass sie sich ein Herz fasste, den Kessel füllte und mit einiger Mühe sogar den Herd in Gang brachte.

Bis das Wasser kochte, lugte Friederike verstohlen in Schränke und Schubladen und öffnete die Tür zur Speisekammer. Dort stand auch ein Topf, in dem sich wohl die Suppe befand, von der Ulrich gesprochen hatte, doch Friederike hatte noch keinen Hunger. Mit ihrer Teetasse ging sie zurück ins Wohnzimmer, setzte sich in den Ohrensessel und schloss die Augen. Später würde sie auspacken und den Rest des Hauses erkunden.

Kapitel 3

Während sie darauf warteten, dass sie endlich von Bord gehen durften, standen die Soldaten Schulter an Schulter an Deck der Monte Rosa. Diejenigen, die einen Platz in Backbordnähe gefunden hatten, konnten schon den Hafen sehen. Florian stellte seinen Seesack wieder ab und kletterte auf die unterste Sprosse der Reling, um einen besseren Blick zu haben.

Gott, war das schön hier. Am liebsten wäre er mit einem großen Satz von Bord gesprungen und an Land geschwommen. Die Sonne schien ihnen auf den Kopf, und die bunten Markisen, die vor den Geschäften in der frischen Brise flatterten, winkten ihnen einen Willkommensgruß zu. Wie eigenartig, dass diese wunderschöne Insel, die einen sich fühlen ließ, als wäre man im Urlaub, von den Deutschen besetzt war, dass hier tatsächlich Krieg herrschte und die Menschen, die in dem Städtchen wohnten oder hier ihre Einkäufe erledigten, seine Feinde sein sollten. Seine aufgeregte Vorfreude bekam einen schalen Beigeschmack.

Schon mehr als einmal hatte Florian sich gefragt, womit er es verdient hatte, nach seinem letzten Heimaturlaub nicht mehr nach Frankreich zurückgeschickt worden zu sein oder an die Ostfront wie so viele andere, sondern ausgerechnet hierher. Er war kein übler Kerl – zumindest hoffte er das. Er schwindelte nicht öfter als unbedingt nötig, bot alten Damen seinen Platz in der Tram an und hatte Marion nichts versprochen, was er nicht glaubte, halten zu können, aber war das wirklich genug, um so viel Glück zu haben?

Florian hatte allen Grund, dankbar zu sein. Und das wusste er auch. Schließlich war er lange genug als Sanitäter an der Westfront gewesen und hatte selbst gesehen, wie hässlich das Gesicht des Krieges jenseits von Paraden und Fähnchenschwingerei war.

Doch was half es, sich graue Haare wachsen zu lassen? Er würde versuchen, sich der gnädigen Fügung, die ihn nach Guernsey geschickt hatte, würdig zu erweisen und die Zeit hier genießen,

»Ich weiß nicht, warum das so lange dauert«, sagte er. »Warum lassen die uns nicht einfach von Bord gehen?«

Jochen zündete sich in aller Seelenruhe eine Zigarette an. »Weil erst die Damen ausschiffen. Wie sich das gehört.« Mit dem Kinn deutete er auf die junge Frau, die gerade ungeschickt ins Tenderboot kletterte. Sie schwankte, als wäre sie betrunken. »Also hör schon auf mit dem Herumgezappel. Wir kommen noch früh genug wieder in die Tretmühle. Ich habe gehört, dass hier eine riesige Befestigungsanlage gebaut werden soll. Wenn wir Pech haben, dürfen wir dort Dreck schaufeln.«

»Du vielleicht, mein Lieber. Ich bin Sanitäter.«

Jochen lachte. »Und du glaubst ernsthaft, dass du hier mehr zu tun haben wirst, als gelegentlich einem armen Schwein eine Spritze gegen den Tripper zu verpassen? Die finden schon eine Beschäftigung für dich, damit dir nicht langweilig wird.«

»Ich kann ja dann deine Blasen verarzten.« Als sich weiter vorne auf dem Deck Unruhe ausbreitete, drehte Florian den Kopf. »Ich glaube, es tut sich was.«

Es war schon Mittag, als die 4. Kompanie des Infanterie-Regiments 583 endlich an Land ging. Mit ein paar gebellten Befehlen formte der Kompanieführer den ungeordneten feldgrauen Haufen zu einer strammstehenden Einheit. Die kurze Ansprache, die folgte, hatte Florian schon zu oft über sich ergehen lassen müssen, um sie auch nur noch im Entferntesten interessant zu finden. Sieg und Ehre und Treue zum Führer. Das übliche Gerede eben. Stattdessen genoss er lieber die Sonne, die ihm ins Gesicht schien.

In die salzige Seeluft, die ihnen um die Nase wehte, mischte sich ein fremder, lieblicher Geruch. Aus dem Augenwinkel entdeckte er nicht weit von ihnen neben einem Haus mit feuerrot gestrichener Eingangstür ein Bäumchen, übersät von duftenden rosaroten Blüten. Florian musste sich ein breites Grinsen verkneifen – wegen der Tür, vor allem aber wegen der Wonne, die es mit sich brachte, aus dem grauen Kassel mit seinen schmutzigen Schneeresten unversehens in diesem Paradies zu landen.

Jochen war begeistert, als sie hörten, dass die Soldaten in Hotels und Privathäusern untergebracht werden würden statt in einer Kaserne. »Stell dir vor, sie stecken uns in diesen schicken Kasten direkt an der Hafenpromenade! Du weißt schon, den mit dem vielen Stuck und den Palmen vor dem Eingang. Wenn ich das meinen Leuten daheim schreibe! Das wär doch was!«

Florian lachte. »Mach dir da mal keine allzu großen Hoffnungen. Ins Ritz dürfen bestimmt nur die Offiziere.« Ganz wohl war ihm bei dem Gedanken, vielleicht bei wildfremden Leuten einquartiert zu werden, nicht. Er würde sich fühlen wie ein ungebetener Eindringling, der er ja zweifelsohne auch war. Da wäre ihm eine Pritsche im Soldatenheim oder ein Zimmer über dem Pub doch lieber.

Im Büro des Quartiermeisters wurde ihnen ihre Unterkunft zugewiesen. »Les Effards Road«, las Jochen von dem mit offiziell aussehenden Stempeln bedeckten Papier ab, nachdem sie wieder ins Freie getreten waren. »Irgendeine Ahnung, wo das sein könnte?«

Florian faltete einen kleinen Stadtplan auf. »Die Hafenpromenade ist es nicht gerade. Aber nicht weit weg. Na ja, nicht sehr zumindest«, schränkte er ein.

»Das ist ja mitten in der Pampa«, brummte Jochen, als sein Blick Florians Zeigefinger folgte, der auf einen Fleck weit am Rand des Stadtplans deutete.

»Übertreib mal nicht. Es ist direkt vor der Stadt.«

Mit einem tiefen Seufzen schulterte Jochen seinen Seesack, dann machten sie sich auf den Weg.

»Alles Gute zum Hochzeitstag, Liebling!« Als Alice ihr Glas hob, brachte das Licht, das durchs Fenster fiel, die bernsteinfarbene Flüssigkeit zum Funkeln.

Johnny schaute sie liebevoll an, ein verschmitztes Lächeln in den Augen. Sein Haar, das unter der Fliegermütze hervorsah, war ungewohnt ordentlich gescheitelt und glänzte vor Frisiercreme. Unglaublich, dass sie auf den Tag genau seit fünf Jahren verheiratet waren.

Trotz der vielen Arbeit, die heute noch im Haus und auf der Farm auf sie wartete, war Alice vorhin ins Schlafzimmer hinaufgegangen und hatte das rot-weiß gepunktete Kleid angezogen, das Johnny so gern an ihr sah. Sie hatte es bei ihrer ersten richtigen Verabredung getragen, als sie nicht wie an unzähligen Sommerabenden zuvor einfach nach St. Peter Port geschlendert waren und sich auf dem Albert Pier eine Tüte Vanilleeis gekauft hatten. Das Kleid passte ihr immer noch, auch wenn es mittlerweile ziemlich verwaschen und fadenscheinig war.

Alice nahm einen Schluck von dem Ginger Ale, das sie noch im Keller gefunden hatte. In den Läden gab es schon eine Weile keines mehr zu kaufen, aber Johnny mochte es so gern, deshalb hatte sie zur Feier des Tages die letzte Flasche geöffnet. Seufzend stellte sie ihr leeres Glas in den Spülstein. Zeit, wieder an die Arbeit zu gehen. Sie nahm Johnnys gerahmtes Foto in die Hand und drückte die Stirn gegen das kalte Glas.

»Ich vermisse dich so, du blöder Kerl.« Ihr Atem ließ die Scheibe beschlagen und sein Gesicht hinter einem weißen Nebel verschwinden, als entferne er sich immer noch weiter von ihr. Hastig hob sie den Saum ihres Kleids und wischte das Glas ab. »Warum musstest du dich nur freiwillig melden?« Noch einmal fuhr sie mit den Fingerspitzen über das Gesicht ihres Mannes. »Pass gut auf dich auf, ja? Ich muss wieder an die Arbeit. Die Kartoffeln müssen in den Boden. Ich bin viel zu spät dran damit, das hat dein Bruder mir schon unter die Nase gerieben.« Alice hängte das Foto wieder an seinen Platz über dem Spülstein, wo sie es immer sehen konnte, wenn sie den Abwasch machte oder Kartoffeln schälte. »Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, schicken sie uns heute noch mal zwei Jackboots. Einquartierungen«, fügte sie erklärend hinzu. »Ich hoffe nur, dass sie wenigstens nicht den ganzen Tag stiefelknallend über den Hof marschieren und sich aufführen wie die Könige der Welt.« Sie lächelte ihrem Mann noch einmal zu, dann verließ sie die Küche und rannte nach oben ins Schlafzimmer, um das rot-weiß gepunktete Kleid auszuziehen und wieder in Rock und Bluse zu schlüpfen.

St. Peter Port war stufenförmig auf den Felshang gebaut, der auch die Bucht formte, in der der Hafen lag. Hatte man die Uferpromenade mit ihren großen weiß getünchten Stadthäusern und den hübschen Plätzen verlassen, wurden die Straßen zu engen Gässchen, die sich zwischen den Häusern hindurchzwängten und unversehens zu steilen Treppen mit buckligen Stufen wurden.

Als sie St. Peter Port in Richtung des Landesinneren verlassen hatten, änderte sich das Bild erneut. Gedrungene Farmhäuser standen auf beiden Seiten des unbefestigten Wegs. Hinter weiß gestrichenen Lattenzäunen grasten Kühe, und immer wieder blitzten Gewächshäuser in der Mittagssonne wie ein ganzes Heer von Spiegeln.

»Hier ist es.« Jochen seufzte und zeigte auf ein großes aus grauem Feldstein gebautes Haus, das weit zurückgesetzt hinter einem verwitterten Zaun stand. Ein Baum schützte das moosbewachsene Schieferdach vor der Sommersonne und die Sprossenfenster vor neugierigen Blicken.

Langsam gingen sie den Zufahrtsweg entlang und blieben vor dem vorgebauten Windfang stehen. »Also dann«, sagte Florian und klopfte an. Eine Weile geschah gar nichts. Er wollte gerade noch einmal klopfen, als er schnelle Schritte hörte. Dann wurde die Tür geöffnet.

Eine junge Frau schaute heraus. Ihre Miene verfinsterte sich, als sie erkannte, wer da vor ihr stand. »Ja, bitte?«, fragte sie mit kühler Abneigung in der Stimme.

Der Blick, der Florian traf, ließ ihn wieder zu dem Schuljungen werden, der vom Direktor erwischt worden war, als er sich zusammen mit seinen Freunden hinter dem Fahrradschuppen Schmuddelhefte anschaute. Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg, und verfluchte wieder einmal seine helle Haut, diese Verräterin, die bereitwillig jedes seiner Gefühle preisgab.

Er öffnete den Mund. »Ich …« Dann schloss er ihn wieder. Wo war nur das verflixte Englisch geblieben, das Studienrat Brenner ihnen neun lange Jahre eingetrichtert hatte?

»Ja?«, wiederholte die Frau ungeduldig.

Sie war schlank, beinahe mager. Keine klassische Schönheit, dafür war ihre Nase ein wenig zu lang und ihr Blick bei weitem zu scharf. Kurze dunkle Locken ringelten sich um ihren Kopf, von einer Spange notdürftig aus dem Gesicht gehalten. Ihre Augen blitzten vor unterdrücktem Zorn.

Jochen schob Florian zur Seite und schenkte der Frau ein strahlendes Lächeln. »Guten Tag, Miss. Ich glaube, wir sind Ihre neuen Einquartierungen.« Er streckte ihr den Quartierbrief entgegen. »Ich bin der Obergefreite Jochen Böttcher und das ist Sanitätsunteroffizier Florian Hauk.«

Die Frau warf einen flüchtigen Blick auf den Brief und stopfte ihn in die ausgebeulte Tasche ihres Rocks, dann trat sie an ihnen vorbei ins Freie.

»Kommen Sie mit«, rief sie über die Schulter und ging vor ihnen her um das Haus herum. Florians Blick fiel auf ihre schlanken Fesseln. Sie trug keine Strümpfe, ihre Füße steckten in ausgetretenen Segeltuchschuhen.

Hinter dem Haus lag eine kleine Obstwiese, an einer zwischen zwei Bäumen gespannten Wäscheleine flatterten Bettbezüge wie fröhliche Segel in der allgegenwärtigen Meeresbrise. Hinter den Bäumen blitzten die Scheiben von Gewächshäusern hervor.

Die Frau führte sie an den Glashäusern vorbei, bis sie ein kleines holzverkleidetes Häuschen erreichten.

»Na, wunderbar«, brummte Jochen, der die Enttäuschung darüber, doch nicht im Ritz logieren zu dürfen, immer noch nicht verwunden hatte. »Das ist ja wie im Schullandheim.«

Auch wenn sie kein Deutsch sprach, hatte die Frau Jochens Tonfall zweifellos richtig interpretiert. »Das ist die Unterkunft für die Saisonarbeiter, die wir vor dem Krieg hatten.« Es dauerte einen Moment, bis Florian verstand, was sie gesagt hatte. Ihr Dialekt war ganz anders als das Schulenglisch, das er auf dem Gymnasium gelernt hatte, melodisch und ein bisschen verwaschen, und passte nicht zu den zornig blitzenden Blicken, die sie ihnen zuschoss. »Es tut mir leid, falls sie Ihre Ansprüche nicht erfüllen sollte. Aber wenn Sie möchten, können Sie natürlich auch gern drüben im Wohnhaus im Ehebett schlafen. Dann ziehe ich einfach mit meiner kleinen Tochter zu den anderen Soldaten in den Schlafraum.«

»Oh nein, nein!« Florian wedelte abwehrend mit den Händen. Seine Wangen fühlten sich an, als wollten sie jeden Moment in Flammen aufgehen. »Alles bestens! Wir werden uns hier ganz wie zu Hause fühlen!«

Jochen schnaubte. »Ich fühle mich jetzt schon ganz wie zu Hause. Die Frau hat eine verblüffende Ähnlichkeit mit meiner Tante Helga. Die ist auch so eine Xanthippe.«

Florian, der den Verdacht hatte, dass das Wort Xanthippe im Englischen auch nicht anders hieß als auf Deutsch, schloss kopfschüttelnd die Augen. Dann öffnete er sie wieder.

Die Frau stieß die Tür des Häuschens auf, zu der drei wackelige Stufen hinaufführten. »Rechts ist der Schlafraum, hier das Bad und der Aufenthaltsraum. Dort ist auch ein elektrischer Wasserkessel, wenn Sie sich eine Tasse Tee machen wollen. Frühstück bringe ich Ihnen um sieben.« Sie ließ die Tür wieder ins Schloss fallen. »Bettwäsche ist im Schrank. Ich gehe davon aus, dass Sie in der Lage sind, Ihre Betten selbst zu beziehen.«

»Natürlich«, murmelte Florian wie ein getadelter Schüler. »Selbstverständlich.« Wieder spürte er, wie ihm das verdammte Blut in den Kopf schoss.

»Gut. Wenn Sie noch Fragen oder Wünsche haben …« Sie nickte ihnen flüchtig zu, drehte sich um und marschierte zurück zum Wohnhaus.

Jochen öffnete die Tür wieder und ging in den Schlafraum. Dort ließ er sich auf eines der noch nicht bezogenen Betten fallen. »›Wenn Sie noch Fragen oder Wünsche haben, dann lassen Sie mich bloß in Frieden damit‹«, grinste er. »Mann, ist das ein Besen.«

»Natürlich. Selbstverständlich«, murmelte Florian. »Kein Wunder, dass sie die Deutschen hasst. Und mich ganz besonders.«

»Mach dir nichts draus, Rotbäckchen. Sie hat dich einfach eiskalt erwischt. Das nächste Mal weißt du, was auf dich zukommt.«

»Halt die Klappe«, sagte Florian. »Und zieh wenigstens deine dreckigen Stiefel aus, wenn du schon auf dem Bett herumlungern musst, du Ferkel.«

Er ließ sich auf das zweite freie Bett fallen und sah sich im Zimmer um. Vier schmale Bettgestelle aus Metall standen nebeneinander an der Wand. Neben der Tür, an die jemand ein verknittertes Foto der Schauspielerin Hilde Krahl geklebt hatte, standen zwei schmale Spinde und in der Ecke ein Tisch mit zwei Stühlen.

Florian öffnete das Fenster und ließ Wärme und den Geruch nach Frühlingserde herein. Direkt hinter dem Häuschen, nur durch einen schmalen Grasstreifen getrennt, lag ein frisch gepflügter Acker, in dessen Boden wahrscheinlich gerade die berühmten Guernseyer Frühkartoffeln ihre Keime dem Licht entgegenstreckten.

Seine Stimmung hob sich schon wieder ein wenig. Noch nie in seinem Leben hatte er auf dem Land gewohnt. Felder und Wiesen kannte er nur aus gelegentlichen Sonntagsausflügen, die er als Kind mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder Bernhard unternommen hatte. Doch er hatte das Gefühl, dass er sich hier wohlfühlen würde. Vorausgesetzt, er schaffte es, ihrer widerwilligen Gastgeberin mit ihren dunkel blitzenden Augen aus dem Weg zu gehen.

Das gedämpfte Schlagen einer Autotür ließ Friederike aufschrecken. Benommen fuhr sie sich mit der Hand über die Augen. Der strahlende Sonnenschein vor dem Fenster war einem pudrigen Pastellblau gewichen, es war kühl im Zimmer. Auf ihren Knien balancierte sie immer noch die Tasse mit dem Rest des kalt gewordenen Tees. Hastig stand sie auf, strich sich die Haare glatt und ging zur Haustür, Ulrich entgegen.

Er stand schon in der Halle und zog seine Uniformjacke aus. »Liebling, da bist du ja! Hast du dich schon ein wenig eingelebt?«

»Eigentlich wollte ich nur rasch eine Tasse Tee trinken, aber ich muss eingeschlafen sein …«

»Du bist bestimmt noch erschöpft von der Reise. Ich ziehe mich um, dann können wir zu Abend essen und früh ins Bett gehen. Morgen wirst du dich dann schon wie zu Hause fühlen.«

Solange Ulrich im Schlafzimmer war, setzte Friederike noch einmal den Herd in Gang und holte den Topf mit der Suppe aus der Speisekammer. Sie war dick und sämig, mit Kartoffeln, großen Fleischstückchen und Kräutern. Erst jetzt merkte Friederike, wie hungrig sie war. Während die Suppe auf dem Herd stand, durchsuchte Friederike die Küchenschränke nach Tellern und Besteck. In der Tischschublade fand sie sogar Servietten.

Ulrich betrat mit einer Flasche Wein unter dem Arm die Küche. »Das riecht köstlich. Ich bin schon gespannt auf Nans Kochkünste. Nicht unbedingt das passende Willkommensessen für dich, aber der gute Rote wird es wettmachen.«

»Wer ist Nan?«, fragte Friederike, als sie vor der dampfenden Suppe saßen und Ulrich den Wein eingeschenkt hatte.

»Nan? Du wirst sie mögen. Ich habe sie eingestellt, damit sie dir ein wenig im Haus zur Hand geht. Sie hält auch die Räume in der Feldkommandantur in St. Peter Port sauber.« Ulrich schob sich einen Löffel Suppe in den Mund. »Hm, schmeckt wirklich gut. Koste doch auch mal.«

Friederike warf ihm einen entsetzten Blick zu. »Du hast eine Haushälterin eingestellt? Aber ich kann doch eine wildfremde Frau nicht meine Arbeit machen lassen! Unsere Wäsche waschen und die Betten beziehen!« Schon bei dem Gedanken daran färbte ihr Gesicht sich schamrot.

Ulrich lachte. »Aber warum denn nicht, Liebling? Langsam musst du dich daran gewöhnen, dass du als Offiziersgattin andere Aufgaben hast, als den Boden zu schrubben und Teppiche zu klopfen. Genieße es, dass du jemanden hast, der dir die schweren Arbeiten abnimmt. Außerdem werde ich gelegentlich ein paar Tage auf den Nachbarinseln sein, dann ist es doch schön, wenn du nicht die ganze Zeit allein bist. Und wer weiß, vielleicht kündigt sich bei der gesunden Seeluft, und mit meiner bescheidenen Unterstützung natürlich, ja bald Nachwuchs an. Dann wirst du froh sein, wenn Nan dir den Haushalt abnimmt.«

Friederike biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick auf ihren Bauch. »Aber ich werde diese Frau … diese Nan … doch gar nicht verstehen! Und sie mich nicht. Sprechen die Leute hier nicht alle einen französischen Dialekt?«

»Die meisten hier sprechen auch Englisch – zumindest, wenn sie wollen. Nan auch. Keine Sorge, ihr werdet schon miteinander zurechtkommen.«

»Und diese Nan will wirklich für uns arbeiten? Ich meine, schließlich hat die Wehrmacht die Kanalinseln ja besetzt.«

Ulrich nickte zustimmend. »Anfangs haben die Leute sich tatsächlich ein wenig geziert. Aber sie haben schnell gemerkt, dass wir Deutschen nicht die Unmenschen sind, als die die britische Propaganda uns darstellt. Außerdem zahlen wir viel höhere Löhne als die heimische Industrie. Allein hier auf dem Flughafen arbeiten mittlerweile über 200 Männer. Lange hat es nicht gedauert, bis sie ihre Treue zum König über Bord geworfen haben.«

Er aß noch einen Löffel Suppe, dann kam er wieder auf ihr ursprüngliches Gesprächsthema zurück. »Du bist hier die Hausherrin, Friederike. Du sagst Nan, was sie zu tun hat, und sie wird deine Anweisungen befolgen.« Als er Friederikes zweifelnden Blick bemerkte, drückte Ulrich über den Tisch hinweg ihre Hand. »Du wirst dich schnell an Nan gewöhnen. Sie scheint eine recht umgängliche Person zu sein. Und wenn du es nicht möchtest, dann musst du ihr das Kochen natürlich nicht überlassen. Ich würde ohnehin um nichts in der Welt auf deinen köstlichen rheinischen Sauerbraten verzichten wollen.«

Friederike lächelte schwach. Sie wusste nur zu gut, dass ihr Sauerbraten wie alles andere, das sie seit ihrer Heirat in der Küche von Ulrichs Wohnung zustande gebracht hatte, bestenfalls durchschnittlich war und dass Ulrich sie mit dieser Schmeichelei nur aufmuntern wollte. Sie trank einen Schluck Wein und räusperte sich. »Möchtest du noch etwas Suppe?«

»Nein, ich bin satt.« Wieder griff Ulrich nach ihrer Hand und zog sie über den Tisch hinweg zu sich. Sanft küsste er ihr Handgelenk, wo sich blaue Adern unter ihrer blassen Haut den Arm hinaufschlängelten. »Lass uns zu Bett gehen, Liebste.«

Als Friederike aufstand, um die schmutzigen Teller ins Spülbecken zu stellen, hielt er sie zurück. »Lass doch das Geschirr, das kann Nan morgen erledigen. Dafür wird sie bezahlt. Ich habe sie für zehn Uhr bestellt.« Er kam um den Tisch herum und legte Friederike die Arme um die Taille. »Komm, gehen wir nach oben.« Er lachte leise in ihr Haar. »Eigentlich hätte ich dich heute Mittag über die Schwelle tragen müssen, denn schließlich ist dies ja unser erstes gemeinsames Haus. Aber vor Pfaff wäre das vermutlich nicht passend gewesen. Was hältst du davon, wenn ich dich stattdessen ins Schlafzimmer trage?«

»Aber du kannst mich doch nicht …!« Friederikes Widerspruch ging in einem überraschten Quietschen unter, als Ulrich sich bückte, sie um die Kniekehlen fasste und mit einem beinahe übermütigen Lachen hochhob.

»Natürlich kann ich. Hältst du mich etwa für einen schwachen alten Mann, der seine Frau nicht ins Bett bringen kann?«

»Nein, natürlich nicht!« Friederike verbarg ihr vor Verlegenheit und Belustigung gerötetes Gesicht in Ulrichs Hemdbrust und hielt sich an seinen Schultern fest, als er mit schwankenden Schritten die Küche verließ und sich auf den Weg die Treppe hinauf machte.

»Sei so gut und mach die Tür auf«, bat Ulrich sie mit atemloser Stimme, als sie im Obergeschoss angekommen waren.

Friederike öffnete die Schlafzimmertür, nach kurzem Umhertasten fand sie auch den Lichtschalter. Das Schlafzimmer war einfacher eingerichtet als die Räume unten, aber genauso behaglich. Außer zwei Betten mit bunten Flickendecken darauf standen nur ein riesiger Schrank und eine geschnitzte Truhe im Zimmer. Vor den Betten lagen fröhlich rot-weiß gestreifte Vorleger.

Mit einem Schnaufen ließ Ulrich sie auf eines der Betten sinken. »Siehst du?«, sagte er zufrieden. »Leicht wie eine Feder.«

»Entschuldige, dass ich so ungestüm war, Liebste.« Ulrichs Stimme klang zerknirscht, als er Friederikes Nachthemd, das er wenige Minuten zuvor ungeduldig hochgeschoben hatte, wieder herunterzog. »Aber ich habe dich so furchtbar vermisst.« Er legte den Arm um sie und vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge. Friederike spürte, wie sein Atem ihre Haut kitzelte.

Natürlich hatte Ulrich an ihrem ersten Abend mit ihr schlafen wollen, denn sie waren ja beinahe ein halbes Jahr lang voneinander getrennt gewesen. Normalerweise war er immer sehr rücksichtsvoll zu ihr, zärtlich und vorsichtig, so dass Friederike sich deswegen manchmal schon gefragt hatte, ob er nicht zu anderen Frauen ging. Doch hätte sie ihm deswegen Vorwürfe machen können? Sie wusste ja selbst, dass sie als Ehefrau wie auch für die meisten anderen Dinge nicht besonders viel taugte.

Gerade jedoch war Ulrich auf beinahe rührende Weise eifrig gewesen, stürmisch und ungeschickt wie ein junger Bursche, nicht wie der reife, schon über 40-jährige Mann, der er war, dass sie kaum glauben konnte, dass er sie betrog.

Als sie im kalten Mondlicht das Blumensträußchen leuchten sah, das Ulrich ihr auf den Nachttisch gestellt hatte, musste sie lächeln. Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und rollte sich hinüber in sein eigenes Bett. »Und jetzt lass uns schlafen, damit du morgen früh frisch und ausgeruht bist.«

Kapitel 4

Florian wachte von einem ungewohnten Geräusch vor dem Fenster auf. Nachdem er eine Weile orientierungslos nach seiner Nachttischlampe getastet hatte, fiel ihm ein, wo er war. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und ging durch das dämmergraue Zimmer zum Fenster, öffnete es und sah hinaus. Ein Schwall kühler, nach Salz und Seetang riechender Luft strömte herein und vertrieb den letzten Rest Müdigkeit. Auf dem in perlgrauen Dunst gehüllten Kartoffelacker stolzierten steifbeinig ein paar große Vögel umher, die immer wieder krächzende Schreie ausstießen. Das war das Geräusch gewesen, das ihn geweckt hatte.

Vorsichtig, um seine Zimmergenossen nicht zu stören, schloss Florian das Fenster wieder und ging ins Badezimmer. Dann zog er den dicken Pullover an, den seine Mutter ihm zu Weihnachten gestrickt hatte, und klemmte sich das Anatomie-Lehrbuch und sein Kollegheft unter dem Arm. Er hatte sich fest vorgenommen, auch hier auf Guernsey zu büffeln, was das Zeug hielt. Dann würde er hoffentlich, wenn der Krieg vorbei war, mit dem Medizinstudium weitermachen können, ohne wieder ganz von vorn anfangen zu müssen.

Die Morgenluft ließ seine Wangen prickeln, als er vor die Tür trat, doch er fror nicht. Wenn er die Haustür offen ließ, war es auf der Treppe hell genug zum Lesen. Er hatte gerade sein Lehrbuch aufgeschlagen, als ein kleines Mädchen an den Gewächshäusern vorbei auf ihn zukam. In den Händen hielt es ein paar Kaffeelöffel.

»Hallo«, sagte Florian.

»Hallo«, erwiderte das Mädchen und hielt die Löffel in die Höhe. »Ich helfe Mummy.«

»Da wird sie sich aber freuen.«

»Ja. Wie heißt du?«

»Florian. Und du?«

»Katie. Was machst du?«

»Hausaufgaben, schätze ich.«

Sie kicherte. »Gehst du noch in die Schule? Du bist doch schon groß.«

Florian zuckte grinsend mit den Schultern. »Na ja, ich bin wohl ein bisschen dumm.«

Katie überlegte einen Moment und nickte dann verständnisvoll. »Kannst du ein Flugzeug basteln?«

»Aber selbstverständlich. Das beste überhaupt.«

Sie zeigte auf Florians Kollegheft. »Machst du mir eines?«

Gehorsam riss Florian ein leeres Blatt heraus und faltete einen Papierflieger. »Bitte schön.«

»Mein Daddy hat auch ein Flugzeug.«

»Wirklich?«

»Mhm. Er fliegt damit nach Deutschland und schießt die Nazis tot.«

»Oh.«

Florian sah zu, wie Katie das Flugzeug herumsausen ließ. Es flog wirklich prima, stellte er in aller Bescheidenheit fest. Pfeilgerade und ohne zu torkeln.

»Katie! Du weißt doch, dass du nicht allein zum Cottage gehen sollst!« Die Frau mit den blitzenden Augen kam auf sie zu. Der köstliche Duft nach frisch aufgebrühtem Kaffee folgte ihr, und in den Händen trug sie ein Tablett mit Geschirr und einer Kaffeekanne.

Florian rappelte sich auf und öffnete ihr die Tür. »Sie hat mich nicht gestört«, sagte er, während er ihr in den Aufenthaltsraum folgte. »Ganz im Gegenteil.«

Die Frau warf ihm über die Schulter einen vernichtenden Blick zu. »Das hatte ich auch nicht gemeint.«

Ihre Verachtung traf ihn wie ein Schlag in den Magen. »Wir fressen keine kleinen Kinder, wissen Sie?«

»Oh, tatsächlich? Weiß ich das?«

Das Geräusch von Schritten vor der Tür beendete das angespannte Schweigen. Gähnend und mit verstrubbeltem Haar kam Jochen hereingeschlurft und ließ sich auf einen der Stühle fallen, die um den mit einer Wachstuchdecke bedeckten Tisch standen. Ihm folgten die beiden anderen Soldaten, die ebenfalls hier auf der Farm einquartiert waren.

Josef Mathes, ein schon etwas älterer Gefreiter, lächelte, als er ihre Gastgeberin sah. »Oh, Miss Alice! Ich hatte gehofft, Sie noch zu sehen!«, sagte er in holprigem Englisch.

»Ist etwas passiert?«

»Nein, nein«, wehrte Josef ab. »Doch, eigentlich schon. Ich habe gestern einen Brief von meiner Ältesten bekommen. Stellen Sie sich vor, meine Frau hat entbunden, vor zwei Wochen schon! Ein wunderhübsches kleines Mädchen, schreibt Margit!«

Für einen kurzen Moment erhellte ein Lächeln das Gesicht der Frau und ließ ihre finsteren Züge weicher werden.

»Das sind ja gute Nachrichten, Mr Mathes. Geht es Ihrer Frau und der Kleinen gut?«

Josef strahlte. »Ja. Es war zwar keine leichte Geburt, aber den beiden geht es schon wieder recht gut. Ist das nicht ein Wunder? Schließlich sind Nora und ich ja beide nicht mehr die Jüngsten. Ich bin froh, dass es ein kleines Mädchen geworden ist«, fügte er leise hinzu. »In diesen Zeiten.«

»Meinen herzlichen Glückwunsch. Solche Neuigkeiten können wir alle gut gebrauchen.«

Schau an, dachte Florian. Hinter der rauen Schale steckte tatsächlich ein weicher Kern. Er erhob sich und gratulierte dem frischgebackenen Vater, der ihm freudestrahlend dankte und versprach, seinen Quartiersgenossen am Abend eine Runde zu spendieren.

Die Frau verschwand wieder und kehrte wenig später mit ihrem Tablett zurück, auf dem ein Milchkännchen, Brot und Gläser mit Honig und Marmelade standen. Eilig stellte sie die Sachen auf den Tisch.

»Vielen Dank«, sagte Jochen mit einem strahlenden Lächeln und zwinkerte ihr zu.

»Vielen Dank, Miss«, schloss Florian sich ihm an.

»Mrs. Mrs Carey«, gab sie kühl zurück und verschwand.

»Oha«, sagte Jochen und biss in sein Honigbrot. »Bei der hast du ja einen richtigen Stein im Brett.«

Florian zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nur höflich sein. Aber wenn sie darauf keinen Wert legt, soll mir das auch recht sein.«

Nachdem sie Ulrich zur Haustür begleitet und dort gewartet hatte, bis er zum Gefreiten Pfaff ins Automobil gestiegen war, kehrte Friederike in die Küche zurück. Eine Weile blieb sie unschlüssig am Frühstückstisch sitzen und rührte in ihrer Kaffeetasse. Wie es ihren Eltern wohl ging? Ob sie in der Wäscherei zurechtkamen, nachdem ihr Bruder Michael eingezogen worden war und seit der Hochzeit auch noch Friederikes Arbeitskraft fehlte? Zwar half auch ihr jüngster Bruder Theo schon fleißig mit und lieferte Wäsche aus, aber er war erst 14 und ging noch zur Schule. Friederike würde ihnen bald einen Brief schreiben müssen und ihnen berichten, wie gut es ihr hier ging und wie liebevoll Ulrich sie empfangen hatte. Und irgendwann würde sie auch Michael einen Brief schreiben, ihm sagen, dass alles in Ordnung mit ihr war und dass sie ihm keine Schuld an dem gab, was passiert war. Sie würde Michael schreiben, ganz bestimmt. Aber nicht heute.

Zuerst musste sie ihre Arbeit tun. Sie stand auf und ließ Wasser in den Spülstein laufen, um die verkrusteten Suppenteller einzuweichen. Sie wollte nicht, dass Nan sie gleich am ersten Tag für eine liederliche Hausfrau hielt.

Als das Geschirr gespült und abgetrocknet war und wieder an seinem Platz im Schrank stand, wischte sie die Krümel vom Tisch und wusch den Lappen aus. Dann zog sie ihre Strickjacke an, öffnete die Verandatür und trat hinaus in den Garten. Kühle Luft schlug ihr entgegen, die Salz und Feuchtigkeit mitbrachte, doch der Dachfirst hinter ihr und die Wipfel der Obstbäume leuchteten schon in der Morgensonne. Friederike betrat den Rasen, auf dem noch der Tau glitzerte, und ging langsam durch den Garten. Die Rosen waren im letzten Jahr nicht zurückgeschnitten worden – natürlich nicht, denn die Bewohner Guernseys, die es vorgezogen hatten, nach England umquartiert zu werden, hatten die Insel im Juni verlassen. Das würde Friederike nachholen müssen, aber erst im Herbst, denn sonst würden die Sträucher dieses Jahr nicht blühen. Doch auch vorher würde ihr die Arbeit nicht ausgehen. Allein das Unkraut und die Brombeerranken aus den Rabatten zu entfernen, würde Tage, wenn nicht gar Wochen dauern. Und das geschützte Stück Rasen zwischen der Hauswand und der Sandsteinmauer würde sie opfern, um dort einen kleinen Gemüsegarten anzulegen.

In die Mauer, die den Garten umgab, war eine Holztür eingelassen. Als Friederike sie öffnete, verschlug es ihr den Atem. Nicht nur, weil der starke Wind, der innerhalb des geschützten Gartens nicht viel mehr gewesen war als eine frische Brise, ihr jetzt die Haare um den Kopf wirbelte und den Rock um die Beine flattern ließ. Hinter der Gartenmauer, nur getrennt von einem Sandweg und ein paar Kiefern und Ginsterbüschen, lag das Meer. Ein steiler Trampelpfad wand sich in weitem Bogen zwischen den Klippen hinab, bis er direkt am Wasser mündete. Die morgendliche Flut hatte ihren Höchststand erreicht, so dass der Strand bis auf einen schmalen Streifen nassen Sandes, der im Sonnenlicht glitzerte, vom Meer verschluckt war.

Friederike stieß einen leisen Freudenschrei aus. Wenn man von der unseligen Überquerung des Ärmelkanals absah, war sie noch nie am Meer gewesen, und nun hatte sie es direkt vor der Haustür. Sie würde jeden Tag einen Spaziergang am Strand machen können und an den Wochenenden vielleicht sogar gelegentlich ein Picknick mit Ulrich.

Vorsichtig machte sie sich an den Abstieg. Die Steine waren noch nass vom Tau und rutschig, so dass sie nur langsam vorankam, doch sie hatte ja Zeit. Über ihr stießen die Möwen klagende Schreie aus, es roch nach Moder und Seetang. Zwischen den Steinen streckten immer wieder Büschel kleiner Blumen ihre gelben Köpfchen der Morgensonne entgegen.

Als sie den Fuß des Klippenpfades erreicht hatte, blieb Friederike stehen. Sie schloss die Augen und genoss den Wind, der ihr ins Gesicht blies und ihr den Atem raubte.

Erst ein kaum hörbares Geräusch hinter ihr ließ sie herumfahren. Zuerst konnte sie nicht ausmachen, woher es kam, doch dann sah sie, dass auf dem Sandweg über den Klippen eine Frau stand, neben sich ein Fahrrad. Mit einer Hand schien sie dessen Klingel zu betätigen, mit der anderen winkte sie zu Friederike hinunter. Ihr Mund bewegte sich, als würde sie rufen, doch Friederike konnte sie nicht verstehen.

Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und biss sich auf die Lippen. Es war tatsächlich schon zehn Uhr. Das sah ihr ähnlich. Sie hatte gebummelt, völlig die Zeit vergessen und musste ihrer Haushaltshilfe jetzt atemlos und ungekämmt gegenübertreten statt gelassen und selbstbewusst, so wie sie sich das vorgenommen hatte.

Friederike winkte der Frau zu, versuchte wenig erfolgreich, ihre Haare zu ordnen, und machte sich dann an den Aufstieg.

»Guten Morgen«, sagte sie ein bisschen verlegen, als sie nur noch wenige Meter von der Frau entfernt war. Ihr halb vergessenes Schulenglisch klang hölzern und unbeholfen und ließ ihr die Röte ins Gesicht steigen. »Sie müssen Nan sein.«

Statt ihren Gruß zu erwidern, griff sich die Frau an die Stelle, an der sich unter ihrer dicken Strickjacke ihr Herz befinden musste, und rief Friederike etwas zu.

»Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden.«

Diesmal redete die Frau langsamer und deutlich. »Ob Sie sich umbringen wollen, habe ich Sie gefragt! Und mich gleich dazu! Mich hätte fast der Schlag getroffen, als ich Sie eben da unten gesehen hab!«

Unsicher sah Friederike über ihre Schuler. »Aber warum …?«

»Da dürfen Sie nicht runter! Der ganze Strand ist voller Tretminen! Die haben die Deutschen gleich im letzten Sommer gelegt. Hat Ihr Mann Ihnen das denn nicht gesagt? Wenn Sie nur ein paar Meter weiter gegangen wären, dann hätte ich ihm jetzt ganz schön was erklären dürfen.«

»Minen?« Friederike spürte, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich. »Mein Gott, das habe ich nicht gewusst …«