Die Tote im Siel - Gaby Kaden - E-Book

Die Tote im Siel E-Book

Gaby Kaden

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  • Herausgeber: CW Niemeyer
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

„Was ist in Carolinensiel passiert? Wie kommt die Tote ins Siel? Stammt das Opfer aus dem Ort, oder gar der Mörder?“, fragt sich Tomke Evers. Die Tote im Siel führt die Kommissarin in ihre alte Heimat Carolinensiel und in das Pflegeheim „Haus Abendrot“, von manchen auch „Abendtod“ genannt. Etwas außerhalb gelegen, gibt es hier für die Einheimischen immer wieder Anlass, die Gerüchteküche brodeln zu lassen. Was geht dort vor? Für Tomke und ihren Kollegen Carsten Schmied tun sich immer größere Abgründe auf.

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Seitenzahl: 409

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„Die Tote im Siel“ spielt im Dreieck Wilhelmshaven, Wittmund und vor allem in und um Carolinensiel, der neuen Heimat der Autorin.Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Organisationen oder Institutionen in diesem Roman sind rein zufällig und nicht geplant.Verbrechen, Mord und Totschlag in meinem Buch sind meiner Fantasie entsprungen und somit – bis auf einige wenige Geschehnisse, die dem Volk vom Munde abgeschaut wurden – frei erfunden. Echt sind: das „Klönsnack“ in Burhafe, das „Puppen-Café“ wie auch der „Kopfgärtner“ in Carolinensiel. Danke, dass ich euch erwähnen durfte.Außerdem danke ich Hermann und Anne Hallen sowie Hermann und Mariechen Hildebrand für die tatkräftige Unterstützung in Sachen Plattdeutsch, beim Verstehen von „Land und Lü“, und allen Nachbarn. Irina danke ich für die fachliche Hilfe in „ermittlungstechnischen Angelegenheiten“ und für ihre Hartnäckigkeit.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8439-9

Gaby KadenDie Tote im Siel

DIENSTAG, 21.10 UHR

Auf der Station war nun endlich Ruhe eingekehrt. Petra saß rauchend im Schwesternzimmer, die Füße hochgelegt, als sie vor der Tür leise Schritte hörte. Schnell sprang sie auf, riss das Fenster auf, warf die angerauchte Zigarette hinaus und schlüpfte in ihre Clogs. Da steckte auch schon Meike Petersen, von der Station im zweiten Stock, den Kopf durch die Tür.

„Ich bin’s, nicht erschrecken. Oh, schon passiert, sorry!“

„Mensch, Meike, schleich dich doch nicht so an“, brauste Petra auf, „du hast mich fast zu Tode erschreckt. Es ist so schaurig hier nachts alleine auf der Station. Dieser beschissene Nachtdienst macht mich langsam verrückt. Aber nicht mehr lange, das sage ich dir. Komm rein und setz dich. Willst du auch eine Tasse Tee?“

„Nein, lass mal gut sein, ich muss gleich wieder hoch. Wenn die Böttcher uns erwischt oder einer von den Alten petzt, sind wir dran … Ach was, eine Tasse wird schon gehen“, änderte sie dann doch ihre Meinung und setzte sich auf die Lehne von Petras Stuhl, nahm die angebotene Teetasse in die Hand und legte einen Arm um ihre Kollegin und Freundin.

„Ich wollte auch nur noch mal mit dir reden, können wir nicht …“

„Oh nein! Nicht schon wieder! Themawechsel oder du kannst gleich wieder gehen“, wetterte Petra los und schob resolut Meikes Arm zur Seite.

„Schon gut, schon gut, ich bin ja schon still“, entgegnete Meike traurig, „obwohl ich es nicht verstehe.“

„Das ist dein Problem. Du weißt, ich habe dir nichts versprochen. Alles hat seine Zeit und unsere ist nun mal vorbei.“

„Ja, ich weiß, du hast ja recht. Themawechsel! Ist alles ruhig auf deiner Station? Schlafen die Alten?“

„Ja, fast. Nur die Fußgänger, wie die Böttcher sie immer nennt, sind noch unterwegs oder sitzen vor dem Fernseher.“ Petra streckte ihre Beine aus, legte die Füße wieder auf den Tisch und nahm die Teetasse zwischen beide Hände. Mit funkelnden Augen grinste sie zu Meike hinüber.

„Was ist los?“, wollte ihre Kollegin wissen, „du brütest doch etwas aus.“

„Kann schon sein.“ Petra nahm genüsslich einen Schluck Tee.

„Nun erzähl schon, was ist los?“, bohrte Meike weiter.

Petra lehnte sich in aller Ruhe auf ihrem Stuhl zurück und genoss jede Sekunde der Spannung. „Ich habe festgestellt“, begann sie ausnehmend langsam und drehte ihre Teetasse zwischen den Händen, „dass dieser bescheuerte Nachtdienst auch seine Vorteile haben kann.“

„Ach ja? Das wüsste ich aber. Dieses Elend mit den Alten, der Gestank hier im Haus, Windeln wechseln und Hintern wischen? Wo siehst du da Vorteile? Bisher fandest du das alles doch eher zum Kotzen, um deine Worte zu gebrauchen.“

„Das meine ich nicht.“ Petra richtete sich auf ihrem Stuhl auf und lehnte sich weit vor. „In den letzten Wochen habe ich die Zeit genutzt und war nachts immer mal wieder im Haus unterwegs. Dabei habe ich Sachen entdeckt, sage ich dir …“

„Welche Sachen?“, wollte Meike wissen.

„Genaues kann ich dir noch nicht sagen, nur so viel: Wenn es klappt, muss ich oder müssen wir vielleicht bald keinen Nachtdienst mehr machen.“

„Wie bitte? Wie kommst du denn darauf?“

„Lass mal, mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Vielleicht habe ich dir auch schon viel zu viel erzählt. Halt bloß die Schnauze, sage ich dir.“

„Worüber denn? Du hast mir doch gar nichts erzählt.“

„Dann ist es ja gut, denn wenn du quatschst …“, Petra warf ihrer Kollegin einen drohenden Blick zu.

„Ich weiß nichts, also sage ich auch nichts. Wie könnte ich? Du hast mich damals ja auch nicht verraten. Aber neugierig gemacht hast du mich schon. Mensch, Petra, mach bloß keinen Mist!“ Meike erhob sich und stellte ihre Tasse ab. „Ich muss wieder hoch, sonst merkt noch jemand etwas. Danke für den Tee. Mach’s gut und überlege dir gut, was du tust.“

„Keine Angst, ich weiß schon, was ich tue“, antwortete Petra trotzig und schaute zur Tür. Sie hatte das Gefühl, von draußen ein Geräusch gehört zu haben und öffnete vorsichtig die Tür des Schwesternzimmers. Sie blickte den düsteren Flur entlang, aber es war nichts zu sehen. „Mein Gott, ich fang schon an zu spinnen. Du kannst gehen, alles okay, mach’s gut.“

Sie umarmten sich kurz und Meike verschwand in Richtung Treppenhaus. Petra entschloss sich, noch eine letzte Runde durch die Station zu machen, bevor sie sich etwas auf der harten Liege im Schwesternzimmer ausstrecken wollte. Plötzlich meinte sie, aus dem Treppenhaus einen erstickten Schrei gehört zu haben. Sie blieb stehen, lauschte in die Richtung, aber es war nichts mehr zu hören. War das Meike? War sie vielleicht gestürzt?

Vorsichtig öffnete Petra die Tür zum Treppenhaus, in dem nur die Notbeleuchtung brannte, und merkte, dass sie nicht alleine war. Sie spürte eine Gänsehaut und ihr Instinkt mahnte sie zur Wachsamkeit. „Meike!“, rief sie verhalten. „Meike, bist du da? Alles okay?“ Wieder war ein leises Geräusch zu hören. Ein eigenartiger Geruch, der ihr irgendwie bekannt vorkam, stieg ihr in die Nase. Sie ging vorsichtig einen Schritt nach vorn und beugte sich über das Treppengeländer, um nach oben zu blicken. Hinter ihr fiel die Treppenhaustür mit einem leisen Klicken ins Schloss. „Meike“, rief sie leise nach oben. Nichts. Sie sah nach unten und glaubte im düsteren Schein der Notbeleuchtung etwas liegen zu sehen. Sie beugte sich vor, in der Hoffnung, mehr erkennen zu können. „Meike“, wollte sie nochmals rufen, als sie aus den Augenwinkeln einen Schatten bemerkte. Bevor sie sich umdrehen konnte, packte sie jemand an den Beinen und kippte sie über das Geländer. Es blieb keine Zeit sich festzuhalten. Der Ruf nach Meike erstickte in einem Schrei.

MITTWOCH, 01.55 UHR

Ein schnarrendes Geräusch weckte Tomke aus dem Tiefschlaf. Erschrocken sprang sie auf, suchte im Dunkeln verschlafen nach ihrem Handy, stieß einen spitzen Schrei aus und rieb sich das Knie. Sie hatte sich an der Kante ihres Glastisches gestoßen und es schmerzte höllisch. Auf dem Display las sie „Carsten“.

„Ja, Tomke hier. Was gibt es denn?“, fragte sie, noch nicht ganz anwesend, denn sie war wieder einmal auf dem Sofa eingeschlafen. Ein langer Tag lag hinter ihr. Frühmorgens ins Büro, um zehn Uhr zum Gericht und danach Liegengebliebenes aufgearbeitet. Auch wenn Christof Gerdes, ihr Chef – dankbar, nicht mit dem Außendienst belastet zu werden –, die meiste Schreibarbeit für sie übernahm, musste sie doch manches selbst erledigen. So war sie erst gegen 22 Uhr nach Hause gekommen und prompt vor dem Fernseher eingeschlafen, auf dem jetzt eine Verkaufssendung flimmerte. Der lange Tag hatte sich gelohnt. Ihr Schreibtisch war leer und der Bürokram endlich erledigt. Das Handy am Ohr, das schmerzende Knie reibend, schaute sie auf die Uhr, es war fast zwei Stunden nach Mitternacht. Sie hörte nur ein Brummen und fragte noch mal: „Hallo Carsten. Was gibt es denn mitten in der Nacht?“

„Na was wohl“, schnarrte die Stimme ihres Kollegen. Manchmal hört er sich an wie mein Handy, dachte sie kurz.

„Was soll wohl sein, wenn ich dich um diese Uhrzeit anrufe?“ schnarrte es weiter.

„Mord?“, fragte Tomke. „Wann und wo?“

„Mach dich darauf gefasst, bei Nacht und Sturm durch die Pampa zu fahren“, murrte Carsten. „Die Zentrale hat mich angerufen. Du hast ja mal wieder dein Handy nicht gehört.“ Jetzt bemerkte Tomke auch, dass ihr Handy blinkte und damit einen nicht angenommenen Anruf anzeigte.

„Hol mich ab, wir müssen nach Carolinensiel“, raunzte Carsten weiter.

„Nach Clinsiel?“, rief sie. „Was ist denn dort passiert? Und wieso wir? Dafür sind doch die Wittmunder zuständig.“

„Ich sagte doch, ein Mord. Sonst hätten die vom Dauerdienst ja wohl nicht die Mordkommission angerufen“, war Carstens mürrische Antwort. „In Wittmund herrscht Notstand. Ein Kollege liegt mit einer heftigen Grippe im Bett und der andere ist auf einem vierwöchigen Lehrgang. Nun komm in die Gänge und hol mich ab.“

„Wieso ich dich? Warum kommst du denn nicht zu mir? Das liegt doch auf dem Weg. Oder hast du wieder mal einen gehabt?“

„Ja, mein Gott, ich hatte am Abend ein paar Schnäpse und einige Biere. Bin noch nicht fit. Also komm“, brummte er.

„Darf ich mir vielleicht noch die Zähne putzen?“

„Ja, aber beeil dich. Ich mach uns in der Zwischenzeit schnell eine Thermoskanne mit Kaffee und stehe dann vor dem Haus. Aber lass mich nicht warten, es ist saukalt draußen.“

Ist der wieder einmal schlecht gelaunt, dachte Tomke. Immer das Gleiche, wenn wir nächtliche Einsätze haben. Sobald er ein paar „Schluck“ gehabt hatte, konnte man mit Carsten selten etwas anfangen und seit zwei Tagen war er besonders schlecht drauf. Trotzdem war er ihr Lieblingskollege. Carsten Schmied, dieser verschrobene, manchmal auch mürrische Kerl, war ihr im ersten Moment sympathisch gewesen. Er hatte sich vor gut einem Jahr aus Hessen nach Norddeutschland versetzen lassen. Über die Gründe wusste sie nicht viel. Aber er war herzensgut, ruhig und einfach ein patenter Kollege. Anfangs dachte sie, er habe einen Sprachfehler. Ein, wie sie es nannte, „Sch-Problem“. Mittlerweile wusste sie, dass es im Hessischen „isch“, „misch“, „disch“, statt „ich“, „mich“, „dich“ hieß und hatte sich daran gewöhnt. Nur ganz selten zog sie ihn damit noch auf. Plattdeutsch war für Außenstehende schließlich auch nur schwer zu verstehen. Sie konnte sehr gut mit Carsten arbeiten, vor allem, weil er nicht den Macho raushängen ließ und ihre manchmal eigenwilligen Ermittlungsmethoden hinnahm. Das taten nicht alle Kollegen, vor allem nicht die männlichen.

Tomke putze sich die Zähne, kämmte sich das kurze blonde Haar und stellte dabei fest, dass ein Friseurbesuch dringend nötig war. Sie zog sich ein frisches T-Shirt an, nahm ihre dicke Steppjacke vom Haken und war auch schon weg.

Was wohl in Clinsiel passiert sein mag, überlegte sie während der Fahrt. Tomke stammte von dort. Ihre Eltern lebten schon lange nicht mehr, die nächsten Verwandten waren ihre Oma Jette, Jettchen genannt, und Tante Fienchen. Sie war direkt nach dem Abitur für ein Jahr in die Staaten gegangen, was beim späteren Auswahlverfahren für die Polizeischule sehr hilfreich gewesen war. Diese hatte sie mit Auszeichnung absolviert, weswegen sie schon recht früh für besondere Aufgaben herangezogen wurde. Sie hatte dann fünf Jahre in Düsseldorf und sechs Jahre in Köln gearbeitet. Alles lief gut und sie hatte eine blendende Karriere in Aussicht. Ihr Leben bestand zu der Zeit ausschließlich aus Polizeiarbeit, Verbrechen und Verbrechern. Sie hatte den Ehrgeiz, die Welt ein bisschen besser zu machen. Irgendwann kam ihr jedoch die Erkenntnis, dass ihr das nicht gelingen würde und es stellte sich Ernüchterung ein. Über ihrem Ehrgeiz hatte sie Jan, ihre große Liebe, verloren und schließlich stellte sie sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens und wie es wohl weitergehen sollte.

Die Antwort war offensichtlich: Der Beruf machte ihr Spaß, aber nicht so. Sie zog zurück in die Heimat, nachdem sie festgestellt hatte, wie sehr sie die Nordsee, den Wind, das flache Land und die Menschen hinterm Deich vermisst hatte. Jetzt war sie schon mehrere Jahre bei der Mordkommission in Wilhelmshaven.

Ein Mord in Clinsiel – das ließ ihr keine Ruhe. Hoffentlich war das Opfer niemand aus ihrem Bekanntenkreis, das wäre furchtbar. Hoffentlich kein Mörder aus dem Dorf … Hoffentlich geht es Oma und Tant’ Fienchen gut. Hoffentlich, hoffentlich … Ach, sie wollte gar nicht weiter nachdenken. Professionalität, Frau Evers, ermahnte sie sich, Professionalität!

Sie bog in die Straße ein, in der ihr Kollege wohnte und sah ihn auch schon vor dem Haus im Regen stehen. Winkend bedeutete er ihr, stehenzubleiben. Tomke hielt an: „Was hampelst du hier denn so herum? Meinst du, ich hab dich nicht gesehen? Steig ein und lass uns fahren. Was weißt du von dem Mord? Was ist denn geschehen?“

„Mein Gott, bist du munter um diese Zeit. Geht es auch etwas leiser? Mein Schädel brummt.“ Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, als wollte er ihn vor Tomkes Aktivität schützen. Aber er hatte keine Chance.

„Na?“, meinte sie nur.

„Also, viel weiß ich auch nicht. Nur dass es eine Frau erwischt hat und sie halb in einem kleinen Fluss liegt. Irgendwie soll sie sich an einem Rohr verfangen haben, das wohl verhindert hat, dass sie weiter abgetrieben wurde, sagen die von der Zentrale.“

„Kleiner Fluss in Carolinensiel? Im Siel in der Harle meinst du?“

„Was weiß denn ich, was ein Siel ist? Euren Dialekt werde ich nie verstehen.“

„Wir sprechen hier in Ostfriesland keinen Dialekt, sondern Plattdeutsch, merk dir das endlich. Das Plattdeutsche ist eine eigene Sprache, das solltest du langsam wissen. Und ein Siel ist so eine Art Entwässerungssystem aus dem Landesinneren, das zur Nordsee führt. Also kein Fluss.“

Seine Antwort brummte er vor sich hin. Hatte sie jetzt etwa Klugscheißerin verstanden? An ihren Erklärungsversuchen war er wohl nicht wirklich interessiert.

„Nun erzähl doch mal. Was hat dir die Zentrale an Informationen mitgegeben?“

„Leiche, weiblich, im Siel“, zählte er genervt auf. „Und es soll kein schöner Anblick sein. Mehr weiß ich nicht.“

Leichen sind nie schön anzusehen, dachte Tomke und fuhr konzentriert durch die Nacht. Zum Glück waren die Straßen frei, denn bei diesem Sturm war es nicht einfach voranzukommen. Der Wind peitschte den Regen so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass die Scheibenwischer einen schweren Kampf auszufechten hatten. „Hoffentlich hört das bald auf“, murmelte Tomke leise. „Das braucht wirklich keiner mitten in der Nacht.“ Auch wenn ihnen nur wenige Autos entgegenkamen, so wurden sie doch jedes Mal von dem sich auf der nassen Straße spiegelnden Scheinwerferlicht geblendet. Obwohl sie die Strecke gut kannte, kamen sie nur langsam voran. Von Wilhelmshaven aus waren es knapp 30 Kilometer, durch kleine Dörfer, an einzelnen Häusern und kleinen Ansiedlungen vorbei. Eine sehr schöne und entspannte Strecke bei Tage. Sie wäre noch besser, wenn die Umgehungstraße fertig sein würde. Aber jetzt, bei diesem Wetter …

Wieder einmal musste sie fahren. Carsten machte es sich, wie so oft, auf dem Beifahrersitz bequem und hatte die Augen geschlossen. Wo er wohl mit seinen Gedanken war? Ihr kam seine Geschichte in den Kopf: Frau und Tochter waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Es war bei einem Rundflug mit einer kleinen Propellermaschine in der Nähe von Frankfurt am Main geschehen. Sie wollten gemeinsam diesen Rundflug in Richtung Bergstraße und über den Odenwald machen und hatten sich alle drei so sehr darauf gefreut. Doch dann wurde Carsten überraschend zu einem Einsatz gerufen und überredete die beiden, ohne ihn zu fliegen. Das Wetter war wunderschön und die Sicht umwerfend. Also flogen sie los. Die Maschine hatte in der Luft einen Motorschaden und stürzte ab. Alle Insassen waren tot. Mehr wusste sie nicht. Er erzählte nicht viel von sich. Nur ganz selten ließ er etwas heraus und man spürte seine tiefe Trauer.

Nach fast vierzig Minuten Fahrt kamen sie in Carolinensiel an. Trotz der Dunkelheit war Tomke alles sofort vertraut. Der alte Bahnhof, der keiner mehr war, die hell erleuchtete Tankstelle, die Klinkerhäuser auf der linken Seite. Die Häuser rechts auf dem Deich lagen im Dunkeln. Viele der Bewohner kannte sie noch aus ihrer Kindheit, manche waren schon verstorben, neue Leute waren eingezogen, zugezogen aus ganz Deutschland. Die Menschen zog es an die Nordseeküste.

„Wo muss ich denn nun hin?“, weckte sie ihren Kollegen.

„Warte mal. Also, durch Carolinensiel durch bis zum Museumshafen, dann sofort scharf links hinter der Brücke rein“, las er im Schein seiner Taschenlampe von einem Notizblock ab.

„Also zum Fischhörn.“

„Kann sein, fahr einfach mal!“

Tomke fuhr in die vorgegebene Richtung und dann sahen sie auch schon hinter der Brücke einen Kollegen stehen. Sie bog Richtung Fischhörn ab und zeigte dem Kollegen ihren Ausweis. Wild gestikulierend wies er sie an, weiter nach hinten zu fahren. „Ist ja gut, ich hab’s ja verstanden“, murmelte Tomke und fuhr vorsichtig den schmalen Weg entlang der Harle weiter. Am Ende war ein kleiner Parkplatz. Dort sah sie dann auch Blaulicht, Absperrungen in Rot-Weiß und Kollegen in weißen Overalls. Hier musste es sein. Tomke suchte sich eine Parklücke und sie stiegen aus. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen. Nach knapp zwanzig Metern sahen sie die Kollegen von der Spurensicherung im Scheinwerferlicht arbeiten. Sonst ein idyllisches Plätzchen, überlegte Tomke. Die Häuser dicht an der Harle, der schmale Weg davor. Aber heute …

„Moin, Kollegen“, rief sie den Männern in den weißen Overalls zu, die teils knietief am Rand der Harle im Wasser standen und die Böschung und den Rand des Siels, soweit dies möglich war, nach Hinweisen absuchten. „Was gibt es denn hier? Ihr hättet euch auch besseres Wetter aussuchen können.“

„Moin“, kam einsilbig und knurrig die Antwort.

„Oh, ein Wortgeizer.“ Tomke kannte das. So sind Ostfriesen eben: nicht stur und maulfaul, sondern einfach sparsam mit Worten.

„Nee, Schietwetter halt“, war die Antwort. „Ich bin durchfroren bis auf die Knochen. Bei diesem Wetter im Wasser zu stehen, da kommt nicht wirklich Freude auf. Kumm rin in ’t koll Water, denn kannst mitsnacken.“

„Nee, laat man. Kann drauf verzichten. Weiß man schon, wer die Tote ist?“ In Gedanken war Tomke schon bei der Leiche und stieg vorsichtig die Böschung hinunter.

„Nein, aber vielleicht findet Hajo bei der Leiche Papiere“, rief er ihr nach.

Sie sah, dass sich die Kollegen mit Gurten gesichert hatten, um nicht in das tiefe Wasser zu fallen. Einige arbeiteten von einem Boot aus. Viel war von Weitem nicht zu erkennen. Sie musste näher heran, um im Scheinwerferlicht mehr sehen zu können. Das Ufer war rutschig und steil und obwohl einer der Kollegen auch ihr einen Sicherheitsgurt verpasst hatte, stand sie plötzlich mit beiden Füßen im Wasser. Toll, genau das hatte sie vermeiden wollen. Sie stapfte vorsichtig weiter und blieb vor der Leiche stehen.

„Was ist denn das? Da fehlt doch etwas!“, rief sie erschrocken. Sie hatte schon einige Leichen gesehen und war einiges gewohnt, aber das …

„Ja“, brummte Hajo Manninga, der Rechtsmediziner, „das hast du gut erkannt, hier fehlt eine Hand. Ein Fuß übrigens auch, aber das kannst du nicht sehen, da das Bein im Wasser liegt. Moin übrigens, so viel Zeit muss sein.“

„Moin, Hajo, entschuldige bitte, aber das sieht man ja nicht alle Tage. Wo ist denn der Rest, Hand und Fuß, meine ich?“

„Nicht da – weg – nicht zu finden, bisher jedenfalls. Wir müssen warten, bis es hell ist, dann geht die Mannschaft auf die Suche. Außerdem kommen dann auch die Taucher und suchen hier jeden Millimeter ab.“

„Fehlt noch etwas?“, wollte Tomke vorsichtig wissen.

„Als wenn das nicht reichen würde“, brauste Hajo auf. „Mann, ist das ein Schiet. Wir wollen übermorgen in Urlaub fahren, das habe ich Sina hoch und heilig versprochen. Und nun habe ich eine zerstückelte Leiche auf dem Tisch.“

„Todesursache?“, fragte sie knapp weiter.

„Vermutlich erschlagen. Es ist jedenfalls eine Wunde am Kopf zu erkennen. Später mehr, wie immer“, war die Antwort.

„Irgendwelche Anhaftungen an der Kleidung oder am Körper?“

„Es ist dunkel und sie liegt im Wasser. Was erwartest du? Warte ab, bis ich fertig bin.“

„Zeugen?“, fragte sie beharrlich weiter.

„Schau dich doch mal um. Hier hinten ist der Hund begraben.“

Hajo Manninga wurde ungeduldig.

Tomke konnte sich gut vorstellen, wie er sich fühlte. Auch sie hatte schon den einen oder anderen Urlaub absagen oder verschieben müssen. Die Rechtsmedizin war chronisch unterbesetzt. Das sah nicht gut aus. Arme Sina. Aber Job ist Job. Hier müssen wir jetzt alle durch. Beziehungsfördernd war das nicht, auch das wusste sie aus eigener Erfahrung. Sie schaute sich um. Wo war eigentlich Carsten? Hatte der sich wieder einmal verkrümelt? Tatorte waren nicht sein Ding. Er sondierte lieber die Umgebung, befragte umstehende Menschen. Aber hier stand niemand und es gab somit auch niemanden zu befragen.

„Wer hat eigentlich die Leiche gefunden, hier so mitten in der Nacht?“, fragte sie Thorsten de Vries, den diensthabenden Kollegen aus Wittmund, der oben am Siel stand.

„Komische Sache“, meinte der. „Wir haben einen Anruf von einem Handy bekommen, die Nummer war unterdrückt. Ich war selbst am Telefon. Die Kollegen in der Dienststelle versuchen zurzeit, den Besitzer ausfindig zu machen.“

„Was hat der Anrufer denn gesagt?“

„Auch komisch, es war eine Anruferin. Sie sagte nur: ‚Kiekt mal röver zur Museumsbrügg, bi Fischhörn liggt en Doden in ’t Siel‘.“

„Und was ist daran nun komisch?“

„Die Stimme. Die Stimme war komisch. Es hörte sich nach einer alten Frau an. Und nicht verstellt, sondern echt. Ich kenne das, meine Oma ist 87, die spricht auch so und dann auch noch auf Platt.“

„Was macht eine alte Frau um diese Zeit, bei diesem Schietwetter, hier am Siel? Es ist stockdunkel, die muss doch richtig nah dran gewesen sein, um die Leiche zu erkennen. Oder sie weiß etwas, hat etwas gesehen, war vielleicht an dem Mord beteiligt. Obwohl – eine alte Frau?“, sinnierte Tomke vor sich hin. Ob sie wohl vom Fenster eines der umliegenden Häuser aus etwas beobachtet hatte? Unwahrscheinlich, sie hätte gute Augen haben müssen.

„Wann genau kam eigentlich der Anruf?“, wollte sie von de Vries noch wissen.

„Eben nach zwölf ungefähr.“

„Und was genau heißt eben nach zwölf?“

„Moment.“ Er schaute in sein Notizbuch. „0.11Uhr genau, das habe ich mir notiert.“

Wenigstens etwas. Tomke zügelte ihre Ungeduld. Dass man den Kollegen vom Land immer auf die Sprünge helfen musste. Aber was soll’s, die haben eben nicht so oft mit Mord und Totschlag zu tun wie wir. Ich darf nicht ungerecht sein.

Sie kletterte die Böschung weiter hoch und schaute sich um. Hier hinten war wirklich nichts los. Ob sie da Zeugen finden würden? Eher nicht. Die Häuser weiter vorn lagen, trotz des riesigen Aufgebots an Polizei, im Dunkeln. Ach ja, meine Clinsieler, dachte Tomke, nix sehen, nix hören, aber sicher sind sie rundum alle wach und stehen hinter den Gardinen. Allerdings nachts um diese Uhrzeit? Und so weit entfernt vom Fundort? Sie bezweifelte stark, dass sie Zeugen finden würden. Meine Füße sind nass und so kalt, dass ich sie kaum spüre, ärgerte sich Tomke. Warum muss ich auch immer an die vorderste Front? Wo wohl Carsten steckte?

Als er sie kommen sah, machte er sich an seinem Notizblock zu schaffen. „Wo warst du?“, fragte Tomke. „Ich hole mir bei der Leiche nasse Füße und du?“

„Ich habe mich mal umgehört.“

„Umgehört? Dass ich nicht lache! Hier gibt es niemanden zum Umhören. Alles dunkel, keiner auf der Straße, und ob mitten in der Nacht hier jemand öffnet, bezweifle ich stark. Carsten, was ist los mit dir? Wir haben hier eine Leiche.

Interessiert dich das denn gar nicht?“

„Ist ja schon gut, Tomke. Ich bin heute nicht gut drauf.“

„Was ist denn los? Kann ich dir helfen?“

„Nein, nein, jetzt nicht. Vielleicht später mal. Also, was gibt es. Erzähle …“

Tomke sah ihren Kollegen prüfend von der Seite an und berichtete, was sie bisher erfahren hatte. „Die fehlenden Extremitäten können die Kollegen erst suchen, wenn es hell wird“, endete ihr Bericht.

„Mann, Mann, Mann, wer hackt einer Frau denn Hand und Fuß ab? Wie krank ist das denn?“

„Ob abgehackt, abgesägt oder fein säuberlich mit dem Skalpell entfernt, konnte Hajo noch nicht sagen. Die Leiche liegt seit ungefähr vier Stunden im eiskalten Wasser, schätzt er, und es ist dunkel. Er konnte trotz der Scheinwerfer noch nichts Genaues erkennen. Wir müssen wie immer auf seinen Bericht nach der Obduktion warten.“

„Dann würde ich vorschlagen“, warf Carsten ein, „wir sprechen noch mal mit den Kollegen aus Wittmund. Vielleicht haben sie ja schon etwas über die Anruferin in Erfahrung bringen können. Danach hören wir uns in dem Dorf um, falls jemand auf der Straße ist. Und dann fahren wir zurück nach Wilhelmshaven. Auf dem Weg kann ich noch eine Mütze voll Schlaf nehmen, aber nur wenn du während der Fahrt die Klappe hältst.“

„Nein, mein Lieber, da hast du dich geschnitten. Wir reden erst mit den Kollegen. Vielleicht wissen die was über die Anruferin, da gebe ich dir recht. Danach suchen wir uns eine Bleibe für die nächsten Tage und ich weiß auch schon wo. Glaubst du vielleicht, ich will jeden Tag die Tour hier heraus zur Küste fahren? Nein, wir mieten uns bei Tant’ Fienchen und Oma ein und bleiben die nächsten Tage vor Ort. So lässt es sich viel besser ermitteln. Wir müssen später zu Hajo in die Rechtsmedizin, da können wir ja schnell einen Umweg in unsere Wohnungen machen und ein paar Sachen für die nächsten Tage einpacken.“

„Hierbleiben, in dem Kaff? Und so nah am Wasser? Das ist nichts für mich. So hoch können die Deiche gar nicht sein, dass ich freiwillig hierbleibe.“

„Aber du wohnst doch jetzt auch in Wilhelmshaven, gibt es dort etwa kein Wasser?“

„Doch, aber für mich ist es weit weg, zumal ich in einem Vorort Richtung Inland wohne. Und außerdem habe ich nicht vor, hier an der Küste alt zu werden. Nee, nee, Tomke, direkt an der Küste, das ist nichts für mich. Wo ich herkomme, gibt es den Main oder einen Baggersee. Aber offenes Meer? Nein, das nicht. Ich kann doch alles vom Büro aus organisieren und dir den Rücken freihalten. Ganz vorne am Wasser? Nein, das geht gar nicht“, jammerte er.

„Jetzt stell dich nicht so an, hier ist es wunderschön. Lass es erst mal hell werden. Keine Widerrede – so machen wir es.“

Tomke schaute auf die Uhr. Es war eben nach vier. Schuhe und Strümpfe waren nass, die Füße eiskalt. Sie brauchte unbedingt frische Sachen. Aber wie? Wenn ich jetzt bei Oma oder Tant’ Fienchen klingele, riskiere ich, dass sie einen Herzinfarkt bekommen. Das geht nicht. Beide sind schließlich schon über achtzig. Also, was tun? Vielleicht konnten ihr ja die Kollegen in Wittmund aushelfen. Sie musste unbedingt aus den nassen Sachen raus, wenn sie keinen dicken Schnupfen riskieren wollte.

Tomke ging noch mal zu den Kollegen der Rechtsmedizin und der Spurensicherung und fragte, ob sich etwas Neues ergeben habe. „Wir sind dran, es ist schließlich noch dunkel“, war die genervte Antwort. „Moment mal, doch, den Ausweis hat Hajo gefunden. Sie hatte ihn in einer kleinen Kunststoffmappe in der Po-Tasche ihrer Jeans stecken. Etwas Geld war auch dabei, aber sonst nichts.“ Tomke nahm den Ausweis an sich, der in einer Plastiktüte steckte, nickte Carsten zu und sie stiegen ins Auto. „Petra Meister, 38 Jahre alt“, las sie vor. „Mal sehen, was wir auf dem Revier über sie herausfinden. Okay, fahren wir.“

Auf dem Weg nach Wittmund spürte sie ihre Füße kaum und hoffte sehr, unfallfrei dort anzukommen. Gas und Bremse waren kaum zu beherrschen.

Aber Carsten hatte ja „Promille“. Hatte er nicht Kaffee von zu Hause mitbringen wollen? Tomke warf einen Blick auf den Rücksitz, dort war jedoch nichts zu sehen. Das sieht ihm mal wieder ähnlich, den hat er mit Sicherheit vergessen. Etwas Warmes würde ihr jetzt ganz guttun, überlegte Tomke und hoffte auf einen Tee bei den Kollegen in Wittmund.

Sie fuhr auf den Parkplatz vor dem Polizeirevier und stieß Carsten in die Seite. „Auf geht’s, wir sind da.“ Sie kannte keinen der Kollegen vom Nachtdienst und stellte sich und Carsten vor. „Hab schon gehört, dass da welche aus Wilhelmshaven kommen. Wenn ’t denn ween mutt“, brummte Willi Schröder, der Diensthabende. Tomke zog die Augenbrauen hoch und schluckte eine Antwort hinunter.

Im Büro war es angenehm warm. Carsten verzog sich sofort in Richtung Teeküche, in der Hoffnung, Kaffee vorzufinden. Tomke zog Schuhe und Strümpfe aus, worauf die Kollegen sie verwundert ansahen. „Ich bin in der Harle gelandet“, erklärte sie. „Habt ihr trockene Sachen für mich?“ Schröder winkte einem Kollegen und befahl: „Geh mal in die Sammelstelle. Da müssen noch ein paar Sachen rumliegen, vielleicht passt ja etwas.“ Tomke nahm den „Anzeiger für Harlingerland“ von gestern vom Tisch, knüllte ein paar Seiten zusammen und stopfte sie in ihre Schuhe.

„Was gibt es Neues über den Anruf? Konntet ihr das Handy bestimmen?“

Die ausgestopften Schuhe legte sie auf die Heizung, drehte das Thermostat voll auf und hoffte, dass sie schnell trockneten. Der Gedanke, fremde Schuhe anziehen zu müssen, verursachte ihr Unbehagen.

„Nein, bisher nicht. Vermutlich ein Prepaid-Handy, dann geht nicht viel. Aber wir bleiben dran.“

Der Kollege kam aus dem Lager zurück und reichte ihr ein paar Strümpfe, welche noch mit einer Banderole versehen waren. Tomke schaute ihn verwundert an. „Von einem Kaufhausdiebstahl, wurden nie abgeholt“, erklärte er.

„Na, wenigstens unbenutzt. Schuhe in Größe 38 wurden nicht zufällig auch geklaut?“

„Nee“, war die einsilbige Antwort, „kann ik nich mit denen.“

Carsten kam aus der Teeküche, reichte Tomke eine Tasse Tee sowie ein paar Papiertücher für ihre Füße. Er selbst hatte tatsächlich Kaffee ergattert und fragte in die Runde: „Also was haben wir? Fassen wir doch mal zusammen.“

Ihre kalten Füße reibend resümierte Tomke: „Leiche, weiblich, Name Petra Meister, laut Papieren 38 Jahre alt, ledig und wohnhaft in Jever. Kopfverletzungen, rechte Hand und rechter Fuß fehlen, warum auch immer. Gefunden anscheinend von einer alten Frau, der Stimme nach zu urteilen, wie ihr festgestellt habt.“

„Konntet ihr schon herausfinden, wo die Tote gearbeitet hat?“, wollte Carsten wissen.

„Kommt gerade rein. Im Alten- und Pflegeheim ‚Abendrot‘ zwischen Clinsiel und Neuharlingersiel“, meldete sich der Kollege vom Computer. „Sie war dort seit sieben Jahren beschäftigt, meistens im Nachtdienst.“

„Moment, Moment“, überlegte Tomke laut. „Da haben wir doch schon den ersten Zusammenhang. Es muss zwar nichts heißen, aber die Tote hat im Altenheim gearbeitet und die Anruferin soll eine alte Frau gewesen sein. Carsten, lass uns dort gleich mal hinfahren.“

„Es ist jetzt gerade mal sechs Uhr, vor acht Uhr brauchen wir da gar nicht aufzuschlagen.“

„Na gut, du hast recht. Dann machen wir uns erst einmal auf den Weg zu Tant’ Fienchen und Oma, so kannst du die beiden auch gleich kennenlernen. Die sind immer schon früh wach. Wenn etwas ist, Kollegen, wir sind in Clinsiel und über Handy zu erreichen.“ Sie suchte in ihrer Jackentasche nach einer Visitenkarte.

***

Tomkes Oma und Tante Fienchen waren Schwestern und lebten gemeinsam in einem alten Kapitänshaus in Carolinensiel auf dem Ortsdeich. Oma war eine lang verwitwete Kapitänsfrau und Tant’ Fienchen, die unverheiratet geblieben war, hatte hier jahrzehntelang als Ortskrankenschwester gearbeitet. Beide waren nie wirklich aus Carolinensiel herausgekommen. Schön, die beiden mal wieder zu sehen, dachte Tomke, ich komme viel zu selten hierher.

„Wir kaufen unterwegs Brötchen und frühstücken mit den beiden. Oma kocht den besten Tee der Welt, der weckt Tote auf. Das können wir nach dieser Nacht gebrauchen. Anschließend fahren wir ins Haus ‚Abendrot‘.“ Carsten verdrehte die Augen, fügte sich aber. Er hatte auch keine andere Wahl.

Tomke nahm die Schuhe von der Heizung und zog das Zeitungspapier heraus. Viel gebracht hatte es in der Kürze der Zeit nicht. Wenigstens waren die Strümpfe trocken und die Füße wieder einigermaßen warm. Während Tomke sich die Schuhe anzog, fiel ihr Blick auf die zerknüllte Zeitung. Es war die Seite mit den Todesanzeigen. „Lisbeth Janssen“ las sie da, verstorben im Haus „Abendrot“. Sie band sich die Schuhe und stand auf. „Lass uns fahren, Carsten. Tschüss Kollegen – und wie gesagt, wenn sich etwas Neues ergibt, bitte sofort melden. Hier ist meine Handynummer. Und die Kollegen vor Ort sollen nicht vergessen, die Bewohner am Fundort zu befragen, gebt das bitte weiter.“ Sie legte ihre Karte auf den Tisch und folgte Carsten hinaus.

Auf dem Weg zum Auto kauften sie noch eine Tüte Brötchen. Hier gab es doch tatsächlich noch eine Bäckerei, in der Brot und Brötchen selbst gebacken wurden und nicht aus Teiglingen und Fertigware bestanden. Die ersten Brötchen konnte man kurz nach sechs Uhr ganz warm kaufen. Während der Fahrt schwiegen beide und hingen ihren Gedanken nach. Im Auto hatte sich der feine Duft warmer Brötchen ausgebreitet. Tomke spürte, wie ihr Magen knurrte. Was muss passieren, dass man einen Menschen ermordet und zerstückelt? Wie viel Hass, Wut oder auch Schmerz muss da zugrunde liegen?

Halb sieben, Anfang April, und es war noch fast dunkel. Es regnete und stürmte noch immer. Auf der Straße lagen abgebrochene Äste. Tomke musste sich sehr konzentrieren und doch war sie tief in Gedanken versunken. Ein Fasan am Fahrbahnrand ließ sie aufschrecken. Na, du bist aber früh unterwegs, dachte sie. Im selben Moment musste sie einem wie aus dem Nichts auftauchenden Fahrradfahrer ausweichen. „Mein Gott! Wer fährt denn da auf der Straße und auch noch ohne Licht?“, schrie sie erschrocken auf. „Links ist doch ein Fahrradweg!“

Carsten fuhr hoch, drehte sich um und schaute zurück. „Alles okay, komische Gestalt da auf dem Fahrrad, aber nichts passiert.“

„Für was gibt es denn hier einen Fahrradweg? Das war supergefährlich. Ich bin noch ganz fertig.“

„Jetzt reg dich ab, ist doch gut gegangen“, versuchte Carsten sie zu beschwichtigen. Tomke ging deutlich vom Gas und fuhr gemächlich die letzte Strecke auf Carolinensiel zu. Dann waren sie auch schon beim Kreisel am Ortseingang. Tomke fuhr Richtung Ortsmitte und weiter über die Brücke am Museumshafen. Dort waren noch immer Kollegen mit der Spurensicherung beschäftigt und das Gebiet um Fischhörn war weiterhin abgesperrt. Wird auch noch eine Weile dauern, überlegte sie, und bog links in die Bahnhofstraße ein. Ich hätte auch die Umgehung nehmen können, das vergesse ich immer.

In der Bahnhofstraße war noch alles ruhig. Bei manchen Häusern sah man Licht durchs Fenster scheinen. Auch bei Oma und Fienchen. Tomke fuhr mit Schwung die Deichauffahrt hoch und parkte vor der Garage.

Als hätte man sie erwartet, wurde die Haustür aufgerissen. „Fienchen, kom her, Tomke is dor“, rief Oma ins Haus und fiel ihr auch schon um den Hals. „Wat maakst du denn hier? Und das um diese Zeit! Ach, egal, ich freu mich ja so! Fienchen, wo bleibst du denn?“

Fienchen erschien im Bademantel in der Tür und meinte: „Hättest dir auch eine andere Uhrzeit einfallen lassen können, um uns deinen neuen Freund vorzustellen.“

„Nein; Oma, Tant’ Fienchen, das ist mein Kollege Carsten Schmied. Wir sind beruflich hier. Aber lasst euch doch erst mal drücken.“

„Moin tosamen. Komt rin und maakt de Dör dicht, damit das Schietwetter draußen bleibt“, grantelte Fienchen.

„Carsten, das sind Tant’ Fienchen und meine Oma. Die beißen nicht, die tun nur so.“

„Guten Morgen, die Damen, und entschuldigen Sie die Störung. Ich wollte ja nicht, aber …“

„Schnack nich“, schnauzte Fienchen gutmütig, „dat Teewater kookt schon.“

„Wir haben Brötchen im Auto, die hole ich schnell.“ Tomke war schon wieder weg.

„Na, junger Mann, und Sie sind wirklich ein Kollege von Tomke?“, versuchte sich Fienchen nun auf Hochdeutsch, damit er sie auch verstand.

„Ja, wir sind beruflich hier. Es hat einen Mord gegeben.“

„Wo? Wer? Hier in Clinsiel, und wir haben nichts mitbekommen?“, riefen die Schwestern wie aus einem Munde.

„Wer wurde ermordet? Kennen wir den, Tomke?“ Die kam mit der Brötchentüte durch die Tür und setzte sich an den Tisch.

„Nein, ich denke nicht. Es ist wohl eine Pflegerin aus dem Altenheim draußen vor Neuharlingersiel und auch keine Hiesige.“

„Wie? Aus dem ‚Abendtod‘? Na, hoffentlich hat es die Richtige getroffen. Eines sage ich dir, wenn du uns in dieses Gefängnis verfrachtest, enterben wir dich.“

„‚Abendrot‘, Oma, ‚Abendrot‘.“

„Nein, nein, du hast schon richtig verstanden. Hier heißt es nur ‚Abendtod‘. Freiwillig geht von den Hiesigen keiner dorthin, keiner. Das kannst du mir glauben.“

„Aber wieso …“

„Wieso? Das kann ich dir sagen. Die einen sterben wie die Fliegen und diejenigen, die nicht rechtzeitig abkratzen, werden so lange drangsaliert, bis sie freiwillig die Augen zumachen. Ich könnte dir Geschichten …“

„Oma!“

„Ist doch so, nicht wahr, Fienchen?“

„Nix genaues weiß man nicht, aber es wird so einiges erzählt und ständig stehen Todesanzeigen von Leuten aus dem ‚Abendtod‘ im ‚Anzeiger‘, die olle Siebers, die Janssen und der Möllenberg auch, alleine in den letzten vier Wochen. Und an das Drama um Johanne damals darf ich gar nicht denken.“

„Fienchen, du nicht auch noch. Das Haus heißt ‚Abendrot‘ und ist ein Altenheim, da sterben nun mal Menschen. Die meisten haben doch auch ihr Alter.“

„Du hast ja keine Ahnung, Kind, du bist so weit weg. Von wegen Alter. Deine Oma hat recht, keiner von uns will da hin. Und jetzt lasst uns endlich frühstücken, der Tee word kold. Eure Brötchen könnt ihr übrigens selbst essen, das machen unsere Dritten nicht mit. Wir essen Graubrot, wie immer.“

„Schön, dass ihr uns besucht, ich freu mich ja so“, warf Oma mit strahlenden Augen ein. „Auch wenn es nur beruflich ist.“

„Ja, Oma, das hat aber auch noch einen anderen Grund. Wir müssen für ein paar Tage in Clinsiel übernachten und da habe ich an euch …“

„Fienchen, wir müssen die Betten beziehen, die Kinder wollen …“, rief Oma aufgeregt.

„Ich hab’s gehört, aber jetzt wird erst einmal gefrühstückt“, bemerkte Fienchen in ihrer ostfriesischen Ruhe. „Aber getrennte Zimmer“, warf sie noch ein.

Tomke schüttelte nur den Kopf. Ja, was denn sonst, dachte sie. Carsten verhielt sich ganz ruhig. Er hoffte wohl, dass der Kelch an ihm vorüberging, aber es sah ganz und gar nicht danach aus. Die Übernachtung an der Küste war beschlossene Sache.

Verstohlen musterte er die beiden alten Frauen. Das sollen Schwestern sein? Die haben ja gar nichts gemeinsam, jedenfalls nicht auf den ersten Blick. Die eine, Tante Fienchen, hager, nein, spindeldürr – der Bademantel schlabberte nur so um sie herum – mit ihrer bissigen Art, die andere eher der Typ gutmütige Oma mit ihrem rosa Bademantel, unter dem ein Spitzennachthemd hervorschaute.

Oma raunte Carsten zu: „Das freut mich, dass wieder einmal Leben im Haus ist. Wir vermieten ja nicht mehr an Feriengäste und seitdem …“

„Schnack nich un et“, befahl Tant’ Fienchen.

Sie ließen sich die frischen Brötchen schmecken und der Tee wärmte sie auf, auch wenn Carsten lieber Kaffee trank. An diesen Ostfriesentee hier im Norden hatte er sich noch immer nicht gewöhnt. Oma und Fienchen aßen ihr geliebtes Graubrot.

In diese entspannte Ruhe klingelte Tomkes Handy. „Ja, Tomke hier. Ach Hajo, du bist es. Was gibt es Neues?“ Sie lauschte seinem Bericht. „Waaas?“, rief sie entsetzt, „das glaube ich nicht. Und wo ist der Rest?“

MITTWOCH, 05.30 UHR

Michaela Heeger stellte ihr Fahrrad am Hintereingang ab und betrat das Pflegeheim durch den Personaleingang. Sie war wie immer die erste vom Frühdienst und hatte einen Schlüssel. Sie schloss auf, ging durch den Keller Richtung Treppenhaus und blieb kurz vor dem Treppenaufgang stehen. Trotz der spärlichen Beleuchtung sah sie den großen Schmutzfleck vor der Treppe.

„Was ist das denn für eine Sauerei?“, murmelte Michaela. „Was ist denn hier ausgelaufen? Hat das der Putzdienst wieder einmal übersehen oder ist das frisch? Kann eigentlich nicht sein.“

Sie ging in den Putzraum neben der Treppe, holte Wasser und Wischmopp, säuberte den Boden und ging nach oben auf ihre Station. Sie liebte es, mindestens eine halbe Stunde vor Dienstbeginn im Hause zu sein, um sich so in Ruhe auf den Tag und ihre anstrengende Arbeit vorbereiten zu können. Michaela mochte ihren Beruf, auch wenn ihr hier im Hause „Abendrot“ einiges nicht gefiel. Aber sie kam gegen die Pflegedienstleitung und so manche Kollegin einfach nicht an. Und sie wusste auch, wie die Einheimischen das Haus heimlich nannten. Sie arbeitete gerne mit alten Menschen, war sehr fürsorglich und fühlte sich gerne verantwortlich für andere; vor allem für die Hilfslosen und Alten.

Als sie ihre Station im ersten Stock betrat, merkte sie sofort, dass etwas nicht stimmte. Leise und auch lautere Rufe waren zu hören, aus manchen Räumen drang leises Wimmern. Was war denn hier los? Wo war Petra? Sie blickte auf ihre Armbanduhr, es war viertel vor sechs. Ihre Kollegin hatte Nachtdienst und der endete erst um halb sieben nach der Übergabe an den Frühdienst. Also wo war sie? Michaela schaute ins Schwesternzimmer. War Petra etwa eingeschlafen? Nein, das Zimmer war leer. Sie lief weiter und suchte in den Zimmern der Bewohner. Nichts, Petra war nirgends zu sehen. Manche der Bewohner schliefen noch, andere lagen wach und still oder auch laut rufend in ihren Betten. Da ist doch etwas passiert, überlegte Michaela, vielleicht liegt sie ohnmächtig in einer Ecke. Sie öffnete die Tür zum Bad, schaute in die Toilettenräume – nichts. Petra war auf der ganzen Station nicht zu finden.

Michaela eilte zurück in das Schwesternzimmer, nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer der Station im zweiten Stock. Vielleicht ist sie ja oben bei Meike, hoffte sie. Doch dort ging niemand ans Telefon. Sie ließ es weiter klingeln und eilte mit dem Hörer am Ohr über den Flur, in der Hoffnung, Petra doch noch irgendwo zu entdecken. Nichts. Petra war und blieb verschwunden. Auch in der Abteilung darüber meldete sich niemand. Wo waren die beiden Nachtschwestern denn nur? Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, 5.50 Uhr. Wen von den Bewohnern kann ich denn nach Petra fragen, vielleicht … Und plötzlich fiel ihr auf, dass noch jemand fehlte. Wo war Luise? Sie ging noch einmal zurück in das Zimmer der Bewohnerin, doch es war leer, das Bett unberührt. Luise war immer schon früh auf den Beinen, aber wieso war ihr Bett unberührt?

MITTWOCH, 07.30 UHR

„Wir kommen dann direkt zu dir nach Wilhelmshaven. Zuerst müssen Carsten und ich aber ins Haus ‚Abendrot‘. Bis dann, tschüss, Hajo.“ Tomke legte ihr Handy zur Seite. „Stell dir vor, Carsten, Hajos Leute haben die Extremitäten gefunden, mehr erzähle ich dir später“, flüsterte sie. Sie frühstückten zu Ende und verabschiedeten sich dann schnell von Oma und Fienchen. Tomke erinnerte die beiden alten Damen daran, dass es am Abend spät werden könnte. „Also wartet nicht auf uns, ich nehme den Ersatzschlüssel mit. Ich kenne mich oben aus und weiß, wo die beiden Gästezimmer liegen.“

„Wir legen euch Handtücher zurecht und die Betten beziehen wir auch. Das Bad müsst ihr euch teilen, wir haben oben nur eines.“

„All’ns god, Oma, all’ns god. Bis dann, wir müssen los.“

Als sie außer Hörweite waren, berichtete Tomke, was sie von Hajo Manninga erfahren hatte: „Also, die Spurensicherung hat Extremitäten gefunden, einen linken Arm und einen linken Fuß.“

„Na, das ging dann doch schnell“, meinte Carsten.

„Carsten! Linker Arm, linker Fuß. Fällt dir nichts auf?“

„Ach du Scheiße, stimmt, Mensch, bei unserer Leiche fehlten die rechten Extremitäten. Moment mal, das heißt ja, es muss noch eine weitere Leiche geben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand ohne Arm und Fuß durch die Gegend laufen kann, der würde wohl umfallen, meine ich.“

„Carsten, das ist nicht witzig. Und ja, es muss eine zweite Leiche geben, nur wo ist der Rest? Hajo konnte es mir auch nicht sagen. Die haben noch nichts weiter gefunden, suchen aber auf Hochtouren. Wir jedenfalls fahren nun zuerst ins ‚Abendrot‘ und hören uns dort einmal um. Später müssen wir dann in die Rechtsmedizin. Vielleicht weiß Hajo dann schon mehr.“

Seinen Urlaub kann der arme Kerl nun wirklich abhaken, war sich Tomke sicher. Na, Sina wird sich freuen. Sina war als gefragte Künstlerin viel unterwegs. Sie hatte Auftritte in ganz Deutschland und Benelux, Österreich und der Schweiz, manchmal sogar im Fernsehen. Ihre plattdeutsche Kodderschnauze war überall bekannt und beliebt. Sie sang, tanzte und moderierte eine Talkshow und einige andere Sendungen. Als Künstlerin präsentierte sie sich als eine tolle, interessante und manchmal etwas spleenige Frau mit feuerroten Haaren. Zu Hause bei Hajo allerdings war sie eine ganz andere Frau. Die beiden lebten schon über fünfzehn Jahre zusammen und ergänzten sich wunderbar. Manchmal sahen sie sich wochenlang nicht, wenn Sina auf Tournee war. In den wenigen Wochen im Jahr, in denen sie nicht arbeitete, lebten die beiden ein ganz normales Leben. Sie hatten ein sehr inniges Verhältnis und passten, wenn auch nicht äußerlich, sehr gut zusammen. Hajo war Sinas ruhender Pol außerhalb ihrer Promiwelt. Gegensätze ziehen sich manchmal doch an, überlegte Tomke. Sie mochte Sina und auch Hajo sehr. Die beiden hatten sich so auf ihren Urlaub gefreut und nun das.

MITTWOCH, 04.00 UHR

In der alten Scheune gab es nur den dünnen Lichtschein einer Taschenlampe. Eine dunkle Gestalt im langen Regenmantel und mit Gummistiefeln huschte aufgeregt hin und her. Auf dem blanken, harten Scheunenboden lag ein toter Frauenkörper, die linke Hand und der linke Fuß fehlten. Der Körper war blutverschmiert. Ein paar Schritte daneben lagen eine Hand und ein Fuß. Aber etwas stimmte nicht. Was stimmte da nicht? Was war hier falsch? Es war dunkel, man konnte kaum etwas erkennen.

Die Person lief immer wieder um die Frauenleiche herum, stolperte über die zu großen Gummistiefel und rappelte sich wieder hoch, nahm die blutige, abgetrennte Hand und legte sie an den toten Arm, nahm den abgetrennte Fuß, legte ihn zum blutigen Stumpf des Beines. Immer wieder lief sie um die Leiche, betrachtete sie von allen Seiten. Rechts, das ist es, rechts. So ein Mist, ich habe die falschen Körperteile weggeschafft. Ach, was soll’s, weg ist weg und ab ist ab. Darf mich keiner hören, leise. Wollte nur die eine, jetzt habe ich zwei, zwei. Hat nicht die Falsche getroffen, alles ein Kaliber, alles ein Kaliber. Haben’s beide verdient.

Die Gestalt hockte sich auf den kalten Scheunenboden, nahm die Hand auf und betrachtete sie. „Das machst du nie wieder, nie wieder“, murmelte sie. Muss zurück, damit mich keiner vermisst. Sie stand auf und warf die Hand angewidert zurück auf die Leiche. Sie zog die großen Gummistiefel aus, nahm den langen Regenmantel ab, versuchte ungeschickt, alles sorgfältig zusammenzulegen, packte das Bündel umständlich in eine Plastiktüte, verließ die Scheune und ließ das Schloss einschnappen. Sie schaute sich vorsichtig um. Keiner da, das ist gut, gut, nichts wie weg. Sie stieg in das Auto vor der Scheune und verschwand in der düsteren Nacht. Sie merkte nicht, dass jemand versteckt hinter einem Holzstapel kauerte und sie beobachtete.

***

Luise wagte kaum zu atmen. Einige Meter vor ihr sprang ein Motor an und das Auto entfernte sich endlich. Gott sei Dank, jetzt konnte sie sich aufrichten. Sie versuchte, tief durchzuatmen. Die Geräusche des wegfahrenden Autos wurden leiser und waren bald nicht mehr zu hören. So fasste sie endlich den Mut, aus ihrem Versteck hervorzukommen. Sie wusste genau, was geschehen war, auch wenn sie es nicht fassen konnte. Sie hatte in der Nacht alles beobachtet.

Es war kurz nach 22 Uhr gewesen. Im Haus war es ruhig, die meisten Bewohner schliefen schon – in ihren Betten oder vor ihren Fernsehern. Sie jedoch konnte wieder einmal nicht schlafen. Das Fernsehprogramm interessierte sie nicht und so stand sie am dunklen Fenster ihres Zimmers. Es regnete in Strömen und der Aprilwind heulte um das Haus. Der Parkplatz unten im Hof war fast leer, bis auf einen dunklen Kombi. Es war alles wie immer. Plötzlich kam vom Haus her eine Person, die einen Wäschewagen schob. Sie zog ein schweres, großes Bündel heraus – es sah aus wie ein unförmiger Sack –, öffnete den Kofferraum und hievte es mühsam hinein.

Wer ist das, überlegte Luise oben an ihrem Fenster. Ist das etwa die Böttcher, die olle Hexe? Lässt sie mal wieder Lebensmittel mitgehen? Nein, oder? Der Gang und die Figur kommen mir bekannt vor, nur, wer ist das? So schnell sie konnte lief sie nach unten und durch die Halle Richtung Keller zum Hintereingang. Mit ihren 79 Jahren war Luise noch flink wie ein Wiesel. Klein und drahtig, kein Gramm zu viel, eher etwas untergewichtig, aber zäh. Fast wäre sie der Länge nach hingeschlagen, als sie im Dunkeln über etwas stolperte. Sie fing sich gerade noch an der rauen Kellerwand und riss sich dabei die Haut an den Händen auf. Verflucht, was war das? Sie ging vorsichtig ein paar Schritte zurück und ihr Herz machte einen heftigen Satz. Mein Gott, das ist ja … Trotz der schummerigen Notbeleuchtung konnte sie Petra Meister erkennen. Die Nachtschwester von ihrer Station.

Tot, eindeutig tot, so wie die da lag. Das wusste Luise sofort. Sie hörte Schritte und versteckte sich hinter der halb offenen Tür zur Waschküche. Mein Herz schlägt so laut, das kann man hören, dachte sie angstvoll. Die Person, die sie auf dem Parkplatz gesehen hatte, lief an ihr vorbei in die Wäschekammer und Luise nutzte die Gelegenheit, um ins Freie zu verschwinden. Ich muss hier weg, muss mich verstecken. Ihr Blick fiel auf den geöffneten Kombi einige Meter vor ihr. Trotz ihrer Angst trieb die Neugier sie dorthin. Sie schaute sich vorsichtig um und lief dann auf das Fahrzeug zu. Die Innenraumbeleuchtung brannte. Im Kofferraum lag der Sack, den sie von oben gesehen hatte. An einem Ende war er mit einem Seil locker zugezogen. Luise schaute sich wieder um, öffnete dann vorsichtig das Seil und schob den Sack etwas herunter. Den Schrei konnte sie gerade noch unterdrücken. Das war doch Meike! Meike Petersen, die Nachtschwester vom zweiten Stock. Tot, genauso tot wie Petra.