Die Toten von der Königsmauer - Ralph Knobelsdorf - E-Book

Die Toten von der Königsmauer E-Book

Ralph Knobelsdorf

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Beschreibung

Berlin jagt den ersten Serienmörder der Stadtgeschichte

März 1856. An der Königsmauer, der berüchtigten Bordellgasse Berlins, wird die Leiche einer jungen Frau aus gutem Haus gefunden. Auf den ersten Blick ist klar: Sie wurde stranguliert. Dem Leichenbeschauer fallen jedoch seltsame Kerben am Schienbein auf, die er bereits bei drei anderen Opfern entdeckt hat. Sie alle waren Prostituierte, jeder ihrer Fälle blieb ungelöst. Serientäter sind als Phänomen nicht unbekannt, in Berlin aber ist noch keiner umgegangen. Haben sie es mit dem ersten Serienmörder der Stadt zu tun? Der junge Kriminalkommissar Wilhelm von der Heyden und sein Kollege Vorweg ermitteln unter Hochdruck. Sollte die Presse von den Fällen erfahren, wird Unruhe die Stadt erfassen ...

Vier junge Frauen und ein skrupelloser Täter - Wilhelm von der Heyden löst seinen zweiten Fall


Als Paperback unter dem Titel EIN FREMDER HIER ZU LANDE erschienen

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Seitenzahl: 623

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumGedichtWidmungBerlin, im Frühjahr 18561234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647484950Fakt oder Fiktion?Literatur- und andere HinweiseDanksagung

Über dieses Buch

Band 2 der Reihe »Ein Fall für Wilhelm von der Heyden«

Berlin jagt den ersten Serienmörder der Stadtgeschichte

März 1856. An der Königsmauer, der berüchtigten Bordellgasse Berlins, wird die Leiche einer jungen Frau aus gutem Haus gefunden. Auf den ersten Blick ist klar: Sie wurde stranguliert. Der Leichenbeschauer entdeckt jedoch seltsame Kerben am Schienbein, die er bereits bei drei anderen Opfern nachgewiesen hat. Sie alle waren Prostituierte, keiner der Morde wurde aufgeklärt. Haben es der junge Kriminalkommissar Wilhelm von der Heyden und sein Kollege Vorweg mit dem ersten Serienmörder der Stadt zu tun? Der Druck auf sie wächst von Tag zu Tag: Sollte die Presse von den Fällen erfahren, wird Angst die Stadt erfassen …

Über den Autor

Ralph Knobelsdorf wurde in Löbau/Sachsen geboren und studierte in Halle an der Saale Philosophie, Jura und Geschichte mit dem Schwerpunkt Deutschland im 19. Jahrhundert. Nach Tätigkeiten in Werbe- und Internetagenturen arbeitet er gegenwärtig in einem Unternehmen der IT-Branche. Mit seinen Kriminalromanen um Wilhelm von der Heyden führt er die Leser zurück zu den Anfängen der Kriminalistik. Er lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Erfurt.

Vollständige E-Book-Ausgabe

der bei Bastei Lübbe unter dem Titel »Ein Fremder hier zu Lande« erschienenen Paperbackausgabe

Copyright © 2022 und 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Lektorat: Dr. Stefanie Heinen

Umschlaggestaltung: U1berlin / Patrizia Di Stefano

Einband-/Umschlagmotiv: © David Makings /Alamy Stock Photo

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5983-0

luebbe.de

lesejury.de

Ich bin ein Fremder hier zu Lande,Wo Krongewalt herrscht allerwärts,Mich binden nicht die starren Bande,Doch dieser Hain erfreut mein Herz!

Gottfried Keller (1819–1890) in: Im Tiergarten

Meinen Eltern gewidmet.

Berlin, im Frühjahr 1856

1

Die Leiche der jungen Frau lag ausgestreckt auf den Steinen am rechten Ufer der Spree unweit der Spandauer Brücke und wäre womöglich noch einige Zeit unentdeckt geblieben, hätte nicht Gotthilf Schneider ebenso wie sein Hund am dunklen Morgen dieses Tages einen dringenden Harndrang verspürt. Herr Schneider war ein pensionierter Major, und mit den Jahren hatte sein Bedürfnis nach Schlaf ebenso abgenommen, wie der Zwang zunahm, die Toilette aufzusuchen. Max, seinem treuen Schäferhund, der mit ihm in die Jahre gekommen war, ging es ebenso, nur konnte er natürlich nicht die Toilette benutzen, die sich Herr Schneider vor einiger Zeit für eine nicht unerhebliche Summe neben der Küche hatte einbauen lassen.

So hatten die beiden bereits beim Sechs-Uhr-Läuten der nahen Garnisonkirche das Haus in der Oranienburger Straße verlassen. Üblicherweise nutzten sie die frühe Stunde, um im Park des gegenüberliegenden Monbijou-Schlosses nach Herzenslust umherzuwandeln. Heute aber zog es Max hinunter zum Ufer der Spree. Warum auch immer der Hund den schmalen Uferweg zur Spandauer Brücke wählte, blieb Herrn Schneider ein Rätsel. Vermutlich hatte sich an einem der Bäume oder an einer der Häuserecken ein befreundeter Hund oder gar eine Hündin verewigt, auch wenn Herr Schneider bezweifelte, dass Max in dieser Hinsicht noch großes Interesse zeigte. Statt wie sonst freudig und mit aufgeregt wedelndem Schwanz herumzuschnüffeln, blieb der Hund zudem unvermutet auf halber Strecke stehen, hob witternd die Nase und zog seinen Herrn sodann zur Brüstung.

Dankbar für die Pause lehnte sich Herr Schneider gegen das Geländer und überlegte, ob er sich eine Pfeife anstecken oder warten sollte, bis er zu Hause war. Verwundert betrachtete er den Hund. Der war aufgeregter als sonst, fast wirkte er beunruhigt. Er konnte nicht über die Brüstung sehen, steckte aber wiederholt seine Nase durch die Gitterstäbe und bellte schließlich Herrn Schneider an.

Unwillig sah Herr Schneider nach unten. Sogleich bemerkte er einen bloßen Fuß, der halb im Wasser lag. Dann sah er ein Bein, und weil es sich in etwas verschlungen hatte, das wie ein Kleid aussah, musste es sich um das Bein einer Frau handeln. Mehr war von hier oben nicht zu sehen.

Herr Schneider seufzte. Er würde hinuntersteigen müssen, um nachzusehen, und dazu mehrere Meter flussaufwärts gehen müssen, zu der steilen Treppe, deren zunehmende Baufälligkeit ihm Respekt einflößte. Dabei wusste er, was ihn erwartete; ähnliche Szenen waren ihm aus seinem langen Soldatenleben zur Genüge bekannt. Noch einen Moment betrachtete er grübelnd das leblose Bein, während sein Hund an der Leine zog. Nichts bewegte sich dort unten, abgesehen vom Saum des Kleids, das träge in den kleinen Wellen der Spree auf- und abtauchte.

Die nächstgelegene Polizeiwache, zuständig für den Wohnbezirk, in dem Herr Schneider seit Jahrzehnten seinen Wohnsitz hatte, befand sich praktisch um die Ecke, ein Fußweg von nicht einmal fünf Minuten. Das war vielleicht die einfachste Lösung.

So griff er die Leine fester, zog den widerstrebenden und sich häufig umblickenden Max mit sich und betrat kurz darauf die Wache, deren Schild ganz allein im Wind pendelte, ohne dass ihm zu dieser Morgenstunde ein Posten Gesellschaft leistete.

Es mussten erst einige Männer zusammengetrommelt und auch nach dem zuständigen Kriminalbeamten gesandt werden, der seinen Dienst zwar noch bis gegen Mittag zu versehen hatte, aber gerade in seiner Privatwohnung drei Eingänge weiter sein Frühstück zu sich nahm. Dadurch dauerte es eine geschlagene halbe Stunde, bis fünf Polizisten, der pensionierter Offizier und der Hund am Ufer standen und die junge Frau betrachteten, deren Haut eine blaue Färbung angenommen hatte, während das verzerrte Gesicht unter dem blonden, jetzt verschmutzten Haar aufgedunsen und dunkel war. Etwas, das wie ein seidenes Hutband aussah, hatte sich in ihren Hals gegraben und wäre kaum zu sehen gewesen, hätten sich nicht die Enden im Gestrüpp verfangen.

Zum Glück war Max offenbar das einzige Tier, das sich für den Fund interessiert hatte, denn der Polizeileutnant, der den Kriminaldienst des Reviers an diesem Morgen versah, konnte keinerlei Fressspuren erkennen und sagte das den Umstehenden, die sich fröstelnd in ihre Uniformen vergraben hatten. Davon abgesehen sagte der Beamte außer einem knurrigen »Guten Morgen«, der Frage »Wo haben Sie die Frau gefunden?« und einem »Vielen Dank, wir melden uns, Herr Major« nicht viel und ließ Herrn Schneider recht schnell ziehen.

Abgesehen von einem kurzen Gespräch am Abend desselben Tages, als der Kriminalbeamte noch auf einen Sprung vorbeischaute und eher nachlässig seine Angaben notierte, war der Rentier Schneider fortan nicht mehr mit dem Fall befasst.

»Eine Prostituierte, zweifellos«, erklärte der Polizist, bevor er sich verabschiedete. »Tragisch für sie, aber auch nicht gerade ungewöhnlich. Wir werden den Fall nach oben melden und die Leiche in die Charité bringen, aber viel mehr wird, denke ich, nicht passieren.«

2

Ob es tatsächlich so war, dass alle Täter sich zum Tatort hingezogen fühlten, wie er glaubte einmal in einem dieser Zeitungsromane gelesen zu haben? Falls die Behauptung zutraf, musste er sich eine ähnliche Neigung eingestehen. Tatsächlich hatte er in der Nacht kein Auge zugetan. Wann immer er sich an die wenigen Sekunden auf der Brücke erinnerte, verspürte er dieses überwältigende Gefühl von Wissen und Macht. Er dachte an das überraschte Gesicht der jungen Frau, die in Gedanken sicher bei dem fürstlichen Verdienst war, den er ihr in Aussicht gestellt hatte, und beglückwünschte sich wiederholt zu der raschen eleganten Bewegung, mit der er die seidene Hutschnur um ihren Hals geworfen und ebenso kräftig wie erbarmungslos zugezogen hatte. Er dachte an die aufgerissenen Augen der jungen Frau, in die sich erst im letzten Moment so etwas wie Verstehen mischte, bevor sie brachen und sich blicklos in den Himmel richteten.

Schließlich hielt ihn nichts mehr in dem Sessel, in dem er seit seiner Rückkehr gesessen, eine Flasche Wein geleert und einige Zigarren geraucht hatte. Bei schnellem Schritt konnte er in weniger als einer Stunde vor Ort sein, und um diese Zeit würde er unter den zahlreichen Menschen nicht auffallen, die aus den verschiedensten Gründen unterwegs sein würden. So machte er sich auf den Weg. Angesichts der Kühle und des scharfen Windes entschied er dann doch, einen Pferdeomnibus zu nehmen, und verbrachte einige ungemütliche Minuten inmitten übel riechender verschlafener Männer, die zur Arbeit eilten. Grund genug, den Bus zwei Stationen früher zu verlassen, zumal er nicht dabei gesehen werden wollte, wie er in der Nähe des Tatorts ausstieg. Vorsicht war bei aller Erregung angebracht.

Die Sorgen hätte er sich offensichtlich nicht machen müssen: Eine kleine Menschenmenge hatte sich bereits auf der Brücke versammelt und beobachtete eifrig debattierend einige Personen am Ufer, die rauchend und plaudernd um eine große Decke herumstanden, die den Blicken der neugierigen Zaungäste ihren Fund vorenthalten sollte. Als sei er ein Angestellter auf dem Weg ins Büro, gesellte er sich wie zufällig zu den Neugierigen und bemerkte sogleich, dass sich drüben auf der Spandauer Brücke eine ebenso große Ansammlung genau an der Stelle ausbreitete, an der Stunden zuvor das Objekt ihrer Neugier zu Tode gekommen war.

Beiläufig und einsilbig beteiligte er sich an den Gesprächen, versicherte, dass auch er keine Ahnung habe, was dort unten vor sich ging, stimmte zu, dass es wohl um einen Leichenfund gehen mochte, wog zweifelnd den Kopf, als die Vermutung geäußert wurde, dass es sich angesichts der Größe, die man vom hiesigen Standort überhaupt nicht einschätzen konnte, um eine Frau handelte – und beobachtete gespannt die Tätigkeiten der Polizisten. Genauer die Untätigkeit, denn eigentlich passierte nichts.

Ob sie den Tatort bereits untersucht hatten, bevor er eingetroffen war? Hatten sie bereits versucht, Hinweise zur Identität der Toten zu finden?

Er wartete einige Minuten, bis sich schließlich etwas rührte. Ein Karren fuhr oben an der Promenade vor, die Polizisten traten ihre Zigarrenstummel aus, gingen zur Mauer und ließen sich eine Trage herunterreichen.

Den Abtransport beobachtete er schon nicht mehr. Allem Anschein nach waren die Polizisten nicht mit besonders großem Eifer bei der Sache. Damit hatte er gerechnet, denn es kam nicht selten vor, dass an dieser Stelle die Leichen von Ertrunkenen gefunden wurden. Und da es sich um eine Prostituierte handelte, wie die Polizei sicher schnell herausfinden würde, war auch nicht davon auszugehen, dass dieser Fall besondere Priorität erhalten würde. Im Moment jedenfalls nicht. Aber das würde sich bald ändern.

Alles war wie geplant verlaufen.

Nicht, dass er es anders erwartet hätte. Ein guter Plan war alles, was er benötigte, und den hatte er. Natürlich war es spannend gewesen, immerhin konnte man nie wirklich alle Gegebenheiten berücksichtigen, und es konnte einiges schiefgehen. Umso wichtiger war es, den Plan schlicht zu halten und flexibel zu bleiben. Auch das hatte er getan, und es war ihm nicht besonders schwergefallen.

Bereits in frühester Kindheit hatten seine Eltern und die Privatlehrer seine schnelle Auffassungsgabe und sein Geschick in fast allen Fächern bemerkt. Der Unterricht stellte kaum eine Herausforderung dar, und die Langeweile war ihm bald eine ständige Begleiterin. Dennoch bestand er seine Prüfungen stets mit besten Noten und immer stärker in dem Bewusstsein, überdurchschnittlich intelligent und seinen Altersgenossen wie auch seiner Familie überlegen zu sein. Manche warfen ihm daher vor, eine gewisse Arroganz entwickelt zu haben. Er jedoch störte sich nicht daran, sondern nahm sie an und setzte sie, wenn es die Situation erforderte, auch gezielt ein. Schließlich konnte er nichts dafür, dass der größte Teil seiner Umgebung dumm wie Bohnenstroh war.

Er mochte acht Jahre alt gewesen sein, als er einen Hasen fand, der sich auf einem Feld in der Nähe seines am Stadtrand von Weimar gelegenen Elternhauses in einer Falle verfangen hatte. Das Tier war halb tot und quälte sich mit den Schmerzen. Still und fasziniert saß er daneben und wartete, bis das Tier sich nicht mehr rührte und das Leben aus seinen Augen gewichen war. Seither ließ ihn der Tod, dem er hier das erste Mal ins Antlitz geschaut hatte, nicht mehr los. Er begann, selbst Tiere zu fangen und mit den Schmerzen zu experimentieren, die er ihnen zufügte.

Auch Feuer war ein angenehmer Zeitvertreib, vor allem dann, wenn er beides verbinden konnte. Irgendwann einmal war er allerdings unachtsam gewesen, und beinahe wäre die Scheune des elterlichen Anwesens abgebrannt, die nicht nur als Remise für die Wagen, sondern auch als Lager für einige wertvolle Tuche diente. Erschrocken stellte der Vater fest, was sein Sohn nach dem Unterricht trieb. Und da er ohnehin zum einen wenig Zeit für die Erziehung der Kinder aufbringen konnte und sich zum anderen sein Sohn immer mehr von ihm entfremdete, beschloss er, den Jungen in ein nahe gelegenes Internat zu geben, in der Hoffnung, dass die harte Erziehung und der straffe Tagesplan bessere Ergebnisse zeigen würden als die eigenen halbherzigen Anstrengungen und die Bemühungen der Privatlehrer.

Ausgerechnet der Turnunterricht brachte ihm seine erste Niederlage bei. Er war körperlich nicht sonderlich aktiv gewesen, andere Mitschüler aber umso mehr. Als er nun einmal wieder nicht verbergen konnte, wie sehr er die anderen Jungen verachtete, die ihm intellektuell nicht das Wasser reichen konnten, kam es nach einer Turnstunde zu einer Auseinandersetzung, die für ihn mit Prellungen und einer gebrochenen Nase endete.

Es war ihm eine Lehre. Künftig trainierte er täglich, und bald stellte er fest, dass ihm die Ertüchtigung angesichts rascher Fortschritte sogar Spaß machte. Aus dem schmalbrüstigen Jungen wurde ein muskulöser und eleganter Schüler, und nicht lange danach gewann er bei heimlichen Boxkämpfen Geld und Anerkennung – und nutzte die Gelegenheit, sich an dem Schläger zu rächen.

Er suchte sich Herausforderungen jenseits des Sports, lernte Statistiken oder Theaterstücke auswendig, übersetzte Gibbons Decline and Fall of the Roman Empire im Laufe eines Sommerurlaubs neu, entwickelte den einen oder anderen nützlichen Apparat für das elterliche Geschäft und beschäftigte sich schließlich mit alten Sprachen, die nach der Entdeckung des Steines von Rosette und seiner Übersetzung durch den Franzosen Champollion die Gelehrtenwelt faszinierte. Doch im Gegensatz zu den meisten Wissenschaftlern, die nun endlich die Hieroglyphen verstanden und sich mit Eifer an die Erforschung der altägyptischen Geschichte machten, ging er einen anderen Weg.

Wenn es gelang, an ausreichend Material zu gelangen, sollte es seiner Überzeugung nach auch möglich sein, über die Kenntnis der Hieroglyphen die hieratische Schrift zu entziffern, die als die eigentliche Schrift des alten Ägyptens gelten durfte. Die Aufgabe war nicht einfach und stellte tatsächlich die Herausforderung dar, nach der er lange gesucht hatte.

Sie führte zu seiner zweiten Niederlage. In Weimar kam er nicht an ausreichend Material heran, um seine Theorien über die sich im Laufe der Jahrhunderte immer mehr verändernden Zeichen zu überprüfen, und musste schließlich aufgeben.

Er zog daraus eine weitere Lehre: Gehe nur Aufgaben an, die du auch lösen kannst. Angesichts der weiterhin drohenden Langeweile ergänzte er für sich: Eine solche Aufgabe stellt nur dann eine echte Herausforderung dar, wenn das Risiko des Scheiterns besteht. Mehr noch: Die Folgen dieses Scheiterns mussten gravierend sein, worin bestand sonst das Vergnügen? So eröffnete sich immer eine Möglichkeit, dem lauernden Ungeheuer der Langeweile entfliehen zu können, und sei es auch nur für kurze Zeit.

Für den Moment sah es nicht so aus, als würde die Polizei den Fall mit großem Eifer bearbeiten. Aber das würde sich, wie er wusste, bald ändern. Und Langeweile würde es dann nicht geben.

Neugutzow, 15.03.1856

3

Er war tot.

Eben war er noch auf jenem Felsen mit der wunderbaren Aussicht auf das Tal, das so bewaldet war, dass der kleine Fluss unten zwischen den großen Steinen nicht zu sehen, nur zu hören war.

Jemand ist tot.

Er wusste, dass er noch im Halbschlaf war. Er wusste, dass er in seinem Bett lag. Vertraute Geräusche drangen von außen an sein Ohr. Ein Pferdefuhrwerk rasselte durch das Tor des Gutshofes, zwei Mägde lachten über einen Scherz, den offensichtlich der Fuhrmann gemacht hatte. Er konnte hören, dass sie ihm etwas hinterherriefen, auch wenn er die einzelnen Wörter nicht verstand. Noch immer war er mit einem Teil seines Geistes oben auf dem Felsen, den sie gestern zu viert besucht hatten, und er wollte diese Sekunden nicht loslassen, nicht jetzt.

Das Wetter war ausgesprochen schön gewesen und eine Wohltat nach der langen dunklen Zeit in den Berliner Straßen und den ersten grauen Tagen hier auf dem Gut, wo er Dienstagabend nach einer langen, aufreibenden Fahrt eingetroffen war. Er hatte Glück, dass er überhaupt auf einige Tage hatte herkommen können, denn in Berlin wartete ein ungelöster Fall auf ihn, der zunehmend brisant zu werden drohte. Eigentlich hatte er weiterarbeiten wollen, aber Herford, sein Chef bei der Berliner Kriminalpolizei, hatte zunächst gedrängt und ihm dann geradezu befohlen, ein paar Tage Urlaub zu machen, denn Wilhelm hatte tagelang durchgearbeitet. Herford wollte ihn erst nächste Woche wiedersehen – ausgeschlafen und voll einsatzbereit. Außerdem sollte er unauffällig einige Briefe an Männer übergeben, die sich bei der im Sommer anstehenden Wahl für die Position des Landrats bewerben wollten.

»Ein Aufwasch, sozusagen«, hatte Herford gepoltert, ihm die Briefe gegeben und ihn faktisch hinausgeworfen. Und obwohl es ihm schwerfiel, seinen Fall vorerst ruhen zu lassen, hatte er den gestrigen Tag genossen.

Gemeinsam mit Marie, Anna und Johann hatte er sich am Mittag auf den Weg gemacht, entlang der von Obstbäumen gesäumten Pfade, die die Felder voneinander trennten, auf denen im Sommer das Getreide üppig wachsen würde. Die jungen Frauen hatten ihre Sonnenschirme mitgenommen, das erste Mal in diesem Jahr, und Johann und er hatten bald ihre Jacken ausgezogen und sie über den Schultern getragen. Wann immer es der Weg erlaubte, hatte sich Marie bei ihm untergehakt, und gemeinsam waren sie schweigend dem Waldsaum entgegengeschritten. Der Fluss, der unten im Tal sprudelte, markierte die Grenze zum Nachbargut, aber der Felsen, der das Ziel ihrer kleinen Wanderung war, lag auf ihrer Seite und würde, da sich die Bäume erst zu belauben begannen, einen grandiosen Ausblick bieten, vielleicht bis zum Grund des Flusses, auf jeden Fall aber auf der linken Seite zwischen den Hügeln hindurch bis zum Kirchturm der Stadt mit ihrem Bahnhof. Sie würden die Züge fahren hören, die ihr bevorstehendes Eintreffen stets mit einem langen Pfiff ankündigten und die Station auf ihrem langen Weg in die östlichen Provinzen jetzt immer öfter anliefen. Sonst waren nur die Vögel und der Wind in den Bäumen zu hören, vielleicht war sogar eines der immer zahlreicher werdenden Rehe zu sehen.

Wilhelm hatte sich den Korb über den Unterarm gelegt und trug Getränke und belegte Brote nebst Obst aus dem Keller des Gutshauses. Der Korb war schwer, und er würde sich mit Johann abwechseln müssen, der sich einige Schritte hinter ihnen mit den Decken abmühte, die sie zum Picknick benötigten. Ständig rutschten sie ihm vom Arm, ständig musste er die Hand wechseln, und schließlich legte er sie sich über die Schulter, begleitet von Annas spöttischen Kommentaren. Sie zog erst seine Fähigkeiten beim Tragen dieser doch nun wirklich leichten Decken in Zweifel und fragte dann auch noch, ob es vielleicht erforderlich sei, dass eine junge Dame aus gutem Hause diese Tätigkeit übernahm. Johann ertrug die Frotzeleien wie immer stoisch und schenkte seiner Begleiterin ein Lächeln, sobald sich die Gelegenheit bot.

So ging es den ganzen Weg über. Auch als sie schließlich auf dem Felsen lagen, die Decken ausgebreitet, der Korb geöffnet und die Aussicht so schön wie erhofft, frotzelte Anna weiter. Mal hatte Johann ihr ein kleines Kissen, das er auch noch getragen hatte, nicht wie gewünscht drapiert, mal hatte er eine Flasche nicht richtig geöffnet – Anna fand immer etwas, womit sie Johann aufziehen konnte. Und der schwieg und lächelte nur.

Schließlich wurde es Wilhelm zu bunt, und er warf seiner kleinen Schwester einen scharfen Blick zu. Sie lächelte ihn strahlend an und verdrehte die Augen, als er ihr mit einem kurzen Nicken bedeutete, dass es nun an der Zeit sei, mit Johann spazieren zu gehen. Anna nahm noch einen Bissen von dem Braten, den die Köchin kurz vor dem Aufbruch in den Korb gelegt hatte, und stieß Johann an.

»Ich hoffe, ich kann mich wenigstens darauf verlassen, dass mein großstädtischer Galan bei unserem kleinen Spaziergang darauf achtet, dass ich nicht ins Wasser falle oder mir den Knöchel verstauche«, sagte sie und knuffte Johann in die Seite.

Dem gefiel das sichtlich, so schmerzhaft es vielleicht gewesen sein mochte. Jedenfalls sprang Johann sofort auf und bot Anna seinen Arm, den sie, nach kurzem Zögern, mit einem gönnerhaften Lächeln in Anspruch nahm.

»Wenn du dir den Knöchel verstauchst, was angesichts deiner so praktischen Schuhe im Bereich des Möglichen liegt«, sagte Marie unterdessen, »wird es Johann eine Freude sein, dich nach Hause zu tragen.«

Anna sah an sich hinunter und drehte nachdenklich ihre leichten Schuhe hin und her. »Diese Schuhe sind in Berlin derzeit der letzte Schrei. Die Vorlage stammt aus Paris, und ich finde, dass sie das Recht haben, etwas von unserer brandenburgischen Heimat zu sehen. Habe ich nicht recht, Johann?«

Johann nickte. Und lächelte.

»Nun«, sagte Anna, »dann begleitet mich der Herr wohl auf unserer Reise durch die Wildnis, damit unsere Turteltäubchen die Einsamkeit genießen können.« Sie schritt mit forschen Schritten und in der Überzeugung, die Schuhe würden ihre Aufgabe schon erfüllen, zu den Bäumen, die den Felsen umgaben. »Bei der Gelegenheit wird mir mein Begleiter seine Ansichten zu dem Buch darlegen, das ich ihm gestern gegeben habe. Es ist doch gelesen worden, nicht wahr?«

Anna hatte Johann das Buch erst nach dem Abendessen in die Hände gelegt, aber Wilhelm hatte keinen Zweifel daran, dass sein Freund die halbe Nacht damit verbracht hatte, sich auf das kommende Examen vorzubereiten.

Anna winkte Johann, ihr nun endlich zu folgen, nahm seinen Arm und ging mit ihm den steilen Weg hinunter zum Fluss, der kürzer war, Johann aber vor Herausforderungen stellen musste. Erst nach einer Weile verklang ihre Stimme zwischen den Bäumen, und Wilhelm war sich sicher, dass die beiden die Zeit weniger mit einem Gespräch als vielmehr mit einem Monolog seiner Schwester verbringen würden.

Marie hatte die ganze Zeit geschwiegen, doch jetzt wandte sie sich ihm zu, und sie verstanden es, die Zeit zu nutzen.

Obwohl Wilhelm versuchte, die Erinnerung festzuhalten, die mit seinem zu Ende gehenden Halbschlaf zu entschwinden drohte, entglitt sie ihm: zuerst die Farben, dann die Geräusche und dann auch der Geruch von Maries Haut und die Bewegungen ihrer geschickten Finger. Dabei sollten sich doch genau diese in sein Gedächtnis eingebrannt haben.

Er brummte unwillig.

Ein leichtes Gewicht hatte sich auf das Fußende seines Bettes gelegt und drückte die Matratze ein. Offensichtlich mit der Situation nicht vollkommen zufrieden, wurde hingeruckelt und hergeruckelt, die Bettdecke fortgezogen und kleinen Füßen energisch Platz verschafft.

Jetzt im Frühjahr waren die Nächte noch dunkel. So hell wie es war, musste die Sonne direkt auf sein Fenster scheinen und sich redlich Mühe geben, neben Licht auch Wärme in sein Zimmer zu senden. Dennoch wurde die Schulter, von der Decke entblößt, sofort unangenehm kühl. Und die kleinen Füße hatten noch immer nicht den Platz gefunden, den sie benötigten, und traten unsanft gegen seinen Hintern. Er brummte noch einmal.

Ihm war klar, wer das sein musste, denn Magnus hatte nicht angeschlagen, und außer seiner Schwester würde niemand so selbstverständlich sein Zimmer betreten und sich in seinem Bett breitmachen.

Moment. Wer ist tot?

Wilhelm öffnete ein Auge. Magnus lag entspannt auf dem Läufer vor seinem Bett und schaute ihn ruhig an. Natürlich ist es Anna, dort unten auf deinem Bett, schienen die braunen Augen zu sagen. Würde ich sonst so entspannt hier liegen? Ich kann im Übrigen noch sehr lange darauf warten, dass der junge Herr sich endlich bequemt, aufzustehen und mit mir eine Runde durch das Dorf zu laufen.

Wilhelm setzte sich auf und blickte seine Schwester an, die im Nachthemd an das Fußende des Bettes gelehnt saß, den größten Teil der Decke um sich gewickelt hatte und ihn grinsend ansah.

»Meine Güte.« Wilhelms Stimme klang belegt, und er räusperte sich vorsichtshalber. »Wer ist gestorben?«

»Auch dir einen guten Morgen, Bruderherz«, sagte Anna im Plauderton und wischte eine imaginäre Daune von ihrem Handrücken. »Wie ich sehe, warst du in deinen Träumen an einem ganz bestimmten Platz, nicht wahr? Einem Platz, an dem zwei nicht näher benannte Personen viel Zeit damit verbringen konnten, ihre Kleidung in Unordnung zu bringen. Zeit, die im Übrigen ich durch einen schrecklich langen Gewaltmarsch durch das Unterholz erst möglich gemacht habe …«

Wilhelm musste etwas tun, bevor sich seine Schwester in Mutmaßungen über den gestrigen Tag erging – nicht, dass sie dazu ihre Fantasie besonders hätte anstrengen müssen, denn tatsächlich waren Maries Kleider anschließend ein wenig derangiert gewesen, und es wurde Annas Hilfe benötigt, um ihre Freundin wieder in eine vorzeigbare jungen Dame zu verwandeln.

»Wer ist tot?«

Anna sah ihn mit großen Augen an. »Dein Chef, hörst du nicht zu? Gestorben in einem Duell.«

Jetzt war er wach, hellwach. Blut schoss ihm ins Gesicht, sein Magen verkrampfte sich, und er hatte Mühe, Atem zu holen. Herford ist tot? Um Gottes willen! Herford, sein Mentor. Was war geschehen?

»Herford …«

Anna winkte ab. »Nein, nicht Onkel August, der ist gesund und munter, glaube ich jedenfalls. Nein, dein oberster Chef.«

Er brauchte einen Moment. Erleichterung durchwogte ihn, Herford war nichts geschehen. Aber welchen obersten Chef meinte sie? Sein oberster Chef, abgesehen vom König natürlich, war …

»Hinckeldey? Tot? In einem Duell?«

Anna nickte. »In der Vossischen steht, dass er in einem Pistolenduell getötet wurde.«

»In einem Pistolenduell?« Wilhelm war vollkommen durcheinander. Niemals hätte sich Hinckeldey zu einem Duell fordern lassen. Das war seiner Stellung als Polizeipräsident absolut nicht gemäß, zumal Duelle verboten waren. Und dann auch noch ein Duell mit Schusswaffen! Dabei wusste doch jeder Berliner, dass der kurzsichtige Hinckeldey damit überhaupt nicht umgehen konnte.

Anna warf die Decke zurück und sprang auf ihre nackten Füße. »Beeil dich, Wilhelm. Das Frühstück steht bereits auf dem Tisch, und Papa hat gesagt, ich soll eine Zeitungsschau machen.«

Anna stieg über Magnus hinweg, der mit keiner Wimper zuckte, sondern weiterhin gleichmütig seinen Herrn betrachtete, und eilte zur Tür.

Wilhelm schüttelte den Kopf. Was hatte das zu bedeuten? Wer konnte den Polizeipräsidenten von Berlin und Preußen zum Duell fordern und ihn noch dazu töten? Es war doch nicht so schwer, an einem Mann, der zwanzig Schritt entfernt stand, vorbeizuschießen, wie es sich gehörte. Was war nur geschehen? Die Zeitungen, die er seit Tagen nicht gelesen hatte, würden vielleicht mehr darüber berichten. Angesichts der Bedeutung dieses Falles würden sie berichten müssen, Zensur hin oder her. Es wären viele Informationen zwischen den Zeilen versteckt, doch die Leser würden sie ohne Mühe finden.

Er sprang auf, und sofort stand Magnus auf seinen Pfoten und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz. Der Hund beobachtete, wie Wilhelm seine Schlafsachen auszog und Wasser in eine Schüssel goss. Mit einem getränkten Tuch rieb er sich eilig über Arme, Oberkörper und Beine und warf sich anschließend einige Hände Wasser ins Gesicht. Wenige Augenblicke später trocknete er sich ab, schlüpfte in ein Hemd und eilte, das Hemd in die Hose stopfend, seiner Schwester nach.

Magnus trottete hinterher. So aufgeregt, wie sein Herr war, würde der Spaziergang wohl noch etwas auf sich warten lassen. Also zunächst Frühstück, da fiel immer etwas für ihn ab.

4

Das Speisezimmer war vor einigen Jahren neu eingerichtet worden. Dabei war die ausladende barocke Gestaltung aus dem letzten Jahrhundert komplett entfernt worden, nur einige wenige schwere und vom Alter fast schwarz gewordene Vitrinenschränke und ein passender Uhrenkasten hatten das Massaker überlebt. Der Vater hatte das Zimmer einfach weiß streichen lassen, und obwohl keine Gardinen an den Fenstern hingen und nur einige wenige Teppiche den hellen Holzfußboden bedeckten, war das Zimmer geradezu gemütlich.

Eine lange Tafel, an der bei Bedarf gut und gern dreißig Menschen Platz fanden, verschwand unter einer weißen Tischdecke. An der Stirnseite war für drei Personen gedeckt, Getränke standen auf einer Anrichte, und Speiseglocken verbargen, was die Küche für das Frühstück vorgesehen hatte. Die Seite des Raumes, die dem Platz des Hausherren gegenüberlag, war komplett von einem Bücherregal und einem Kamin belegt, vor dem ein kleines Sofa und zwei Sessel standen und zum Kaffee nach dem Essen, zu einem Drink oder einfach zum Entspannen einluden.

Friedrich Wilhelm von der Heyden hatte einigen Aufwand betrieben, um zu den Möbeln passende Stühle aufzutreiben, was nicht gelang. Daher musste der ortsansässige Schreiner die Stühle nach genauen Vorgaben anfertigen, und er hatte seine Arbeit gut gemacht. Das Holz war künstlich gealtert und bis auf das kleinste Detail an den Vitrinenschrank angepasst, die roten Bezüge hatten genau den Farbton der Teppiche erhalten.

Wenn abends die zweiarmigen Leuchter an den angedeuteten Säulen an den Wänden das Licht der Kerzen auf dem Tisch unterstützten, ein Feuer im Kamin prasselte und die Fenster nur die Schwärze der Nacht im Gutsgarten zeigten, dann war dieser zweitgrößte Raum des kleinen Schlosses ein beliebter Treffpunkt von Familie und Gästen, falls dafür – zumindest bei offiziellen Anlässen – nicht der Rittersaal herhalten musste.

Jetzt, am frühen Morgen, war das Zimmer hell und freundlich. Wie immer hatte der Vater darauf verzichtet, sich bedienen zu lassen, und hatte sich sein Frühstück an der Anrichte selbst zusammengestellt. Und wie immer war er tadellos gekleidet, als erwartete er jeden Augenblick den Besuch eines Standesgenossen oder gar einer höher gestellten Persönlichkeit. Er musste nur noch den Rock, der über der Lehne seines Stuhls hing, über die graue Hose, die schwarze Weste und das weiße Hemd werfen und war sofort gesellschaftsfähig, zumal er seinen Querbinder ordentlich geknotet hatte. Wilhelm konnte sich nicht erinnern, seinen Vater jemals anders als ordentlich und vollständig gekleidet bei Tisch gesehen zu haben, gleichgültig, ob es sich um ein Mittagsmahl, ein formelles Abendessen oder eben um das Frühstück handelte.

Wilhelm sah diese Notwendigkeit nicht, sondern erschien in Hose und Hemd und trat an die Anrichte, um die Teller und Speiseglocken zu inspizieren und anschließend sein Frühstück an den Tisch zu tragen.

»Wie ich sehe, meine liebe Tochter«, sagte der Vater und köpfte sein Frühstücksei, »hat sich dein Bruder zumindest bemüht, angezogen bei Tisch zu erscheinen. Ein Terminus, der mir bei dir nicht zu passen scheint, wieder einmal.«

Anna, die an der Fensterseite saß und einen Platz zwischen sich und ihrem Vater frei gelassen hatte, um dort einige Zeitungen zu deponieren, sah von ihrem Rührei auf, das sie sich gerade hastig in den Mund schob, und zog eine Grimasse. Eine kleine Falte bildete sich über der kraus gezogenen Nase.

Wie immer ging Wilhelm das Herz über beim Anblick seiner kleinen Schwester, die in jeder Situation eine Augenweide war, angemessene Kleidung oder ordentliche Frisur hin oder her. Bereits als kleines Kind, kaum fähig, mehrere Meter zu laufen, hatte sie versucht, auf Bäume zu klettern, oder half im Stall aus. Sie kümmerte sich um die Tiere und war sich auch für niedere Tätigkeiten wie das Ausmisten nicht zu schade. Wie damals machte sie auch heute, mit achtzehn Jahren, in jeder Situation eine gute Figur, ob in Stiefeln, im Reitmantel oder wie jetzt im Negligé, das nur von einem leichten Morgenrock bedeckt war. Ihm war bewusst, dass seine Ansicht von Liebe, von Geschwisterliebe beeinflusst war, aber er wusste auch, dass es nicht nur ihm, sondern auch vielen anderen Menschen so ging, die in den unterschiedlichsten Situationen die Gesellschaft seiner kleinen selbstbewussten Schwester genossen. Wenn er den Versuch unternahm, durch Vergleiche mit Altersgenossinnen eine Einschätzung zu treffen, musste er immer zu dem Schluss kommen, dass seine Liebe nicht weit von einem objektiven Maßstab entfernt war. Er hatte schon einige Male die Blicke der Gäste bei Empfängen beobachtet, wenn seine Schwester sich in einem schlichten Kleid und mit hochgesteckten Haaren zeigte und mit traumwandlerischer Sicherheit ihre Vorzüge betonte, und war sich sicher, dass sie bei ähnlichen Anlässen in Berlin die versammelte Gesellschaft aus dem Häuschen bringen würde.

»Papa«, sagte seine Schwester jetzt in jenem Tonfall, den alle Töchter gelernt haben. Immerhin gab es Wichtigeres als die Kleiderordnung, und es war ohnehin Wochenende, an dem es eher leger zugehen durfte, anders als an den Wochentagen, an denen bereits morgens ein strengeres Regime galt, an das sie sich immer gehalten hatten, fast immer, oder etwa nicht? Anna verstand es perfekt, diese komplexe Botschaft in einem Wort unterzubringen.

Der Hausherr unterbrach die schwierige Operation des Eiköpfens, um seinem Sohn einen Blick zuzuwerfen. Habe ich die Sache nicht toll im Griff?, fragte der Blick und kehrte dann auf den Teller zurück, leicht resigniert und vielleicht eine Spur amüsiert, wie Wilhelm fand.

Wilhelm zuckte leicht mit den Schultern, stellte seinen Teller ab, setzte sich an die Seite seines Vaters und warf einen Blick auf den leeren Stuhl gegenüber, auf den Platz, den seine Schwester für die Zeitungen vorgesehen hatte, der aber eigentlich der Mutter vorbehalten war.

»Eure Mutter lässt sich mit Kopfschmerzen entschuldigen«, sagte der Vater. »Sie wird ihr Frühstück später auf ihrem Zimmer nehmen.«

Mal wieder, dachte Wilhelm. Vielleicht hing auch der Haussegen schief, wie es oft vorkam, auch wenn Wilhelm in den letzten Tagen den Eindruck gehabt hatte, dass seine Eltern vollkommen normal miteinander umgingen. Vielleicht war seine Mutter ja tatsächlich unpässlich und er sollte womöglich bei ihr vorbeischauen, bevor er mit Magnus das Haus verließ. Der Hund hatte sich neben seinen Stuhl gelegt und wartete geduldig darauf, dass Vater oder Sohn den einen oder anderen Happen herunterreichen würden.

Die Tür öffnete sich, und die Köchin höchstselbst kam herein, lächelte den Kindern stumm zu und schenkte Kaffee in die Tassen. Es war Sitte im Haus, dass bei Tisch nicht gesprochen wurde, ehe der Vater das Gespräch freigab, und das war beim Frühstück in der Regel erst dann der Fall, wenn der Kaffee eingeschenkt und die erste Tasse getrunken war.

Die Köchin bewegte ihren kleinen gedrungenen Körper erstaunlich rasch um den Tisch, stellte schließlich die große Kanne darauf ab und verschwand mit einem zweiten Lächeln. Die Herrschaften würden sich nunmehr selbst bedienen.

Anna legte die Gabel beiseite und pustete eine widerspenstige Haarlocke aus dem Gesicht. Angelegentlich spielte sie mit den Seiten der Zeitungen und konnte nicht verhindern, auf ihrem Stuhl immer unruhiger hin und her zu rutschen. Hatte Wilhelm ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht des Vaters gesehen, der ruhig den Teller beiseiteschob und langsam zur Kaffeetasse griff?

Genüsslich nahm er den ersten Schluck, dann den zweiten und warf einen Blick zu seiner Tochter, die bereits hilfesuchend ihrem Bruder schöne Augen machte. Schließlich stellte er die Tasse ab. »Nun gut, Anna. Wir sind bereit für die große Zeitungsschau.«

Sofort straffte sich Annas Körper, und ein schlanker Arm griff flink nach der ersten Zeitung.

Der Vater hob die Hand. »Bitte konzentriere dich auf das Wesentliche und geh –«

»… chronologisch vor. Ja, Papa, ganz wie du es mir beigebracht hast.« Der Ton war freundlich, geradezu liebevoll, und zeigte doch, wie genervt die Schwester war, die endlich beginnen wollte. Wilhelm grinste in seinen Teller.

Anna räusperte sich. »Der erste Bericht steht in der Vossischen vom 12. März und muss eigentlich komplett vorgetragen werden.«

Der Vater atmete tief durch und nickte dann.

»Ein ebenso außerordentliches als in seinem Erfolge überaus beklagenswertes Ereignis beschäftigt seit gestern die öffentliche Unterhaltung in Berlin«, begann Anna. Sie hielt die Zeitung mit beiden Händen vor sich und hatte unbewusst ihren rechten Fuß auf die Sitzfläche gestellt, wodurch der Morgenrock verrutschte und den Blick auf ihr Knie freigab. Niemand kommentierte das, während sie weiterlas:

… und wird in den nächsten vierundzwanzig Stunden Gegenstand des öffentlichen Aufsehens im ganzen Lande sein. Wir können die ganze Schwere und Tragweite des Ereignisses in die wenigen Worte zusammenfassen: Der Generalpolizeidirektor von Hinckeldey ist gestern, den zehnten des Monats, im Duell erschossen worden. Die näheren Umstände des tragischen Vorganges sind natürlich zurzeit noch nicht vollständig bekannt und werden möglicherweise auch vielleicht vollständig nicht bekannt werden.

Wilhelm legte das Besteck zur Seite und fuhr sich mit der Hand über den Mund. Ich muss mich noch rasieren, fuhr ihm durch den Kopf. Und gleich darauf der Gedanke, dass es doch etwas seltsam war, angesichts dieser Nachricht über eine Rasur nachzudenken. Wollte sich sein Kopf nicht mit der Nachricht befassen und zog eine Ablenkung vor? Der Vater hatte sich zurückgelehnt und stützte das Kinn in die Hand.

»Denn wenn auch eine gerichtliche Untersuchung bereits eingeleitet ist«, fuhr Anna fort, ohne die veränderte Haltung ihrer Zuhörer zur Kenntnis zu nehmen, »so wird deren Aufgabe doch zumeist nur die Feststellung der Tat und der sie begleitenden Umstände, nicht aber eine minutiöse Nachforschung der Beweggründe sein. Was wir äußerlich vernahmen, rechtfertigt einigermaßen die Vermutung, dass die Anfänge des Ereignisses in jenem bekannten Vorfalle zu suchen sind, der die seinerzeit besprochene politische Aufhebung einer nächtlichen Sitzung des Jockeyclubs im Hôtel du Nord unter den Linden betraf. Die Mitglieder jenes aus Angehörigen des vornehmsten Adels zusammengesetzten Clubs zeigten sich durch das Einschreiten des Polizeileutnants Damm verletzt und verlangten von dem Generalpolizeidirektor die Bestrafung desselben. Die Art, in welcher solche eintrat, scheint nicht den Ansichten der Herren entsprochen zu haben, welche den mehrgedachten adeligen Club bilden. Was sind das für Leute, Papa?«

»Ein Haus unter den Linden«, sagte der Vater automatisch. »Hier treffen sich Männer von hohem Adel und tauschen sich aus.«

Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt, dachte Wilhelm. »Sie spielen. Um manchmal sehr hohe Beträge«, sagte er und fügte hinzu: »Was verboten ist.«

»Das ist ein Problem?« Annas Stimme klang ruhig, aber interessiert.

Wilhelm nickte. »Spielschulden sind vor allem für junge Offiziere ein Problem. Schlimmstenfalls verlieren sie ihren Posten.«

»Seine Majestät haben in der Vergangenheit immer wieder unter der Hand ausgeholfen, um einen Skandal zu vermeiden«, ergänzte der Vater. »Und er hat Hinckeldey angewiesen, auf diese Umtriebe ein Auge zu haben.«

Wilhelm und Anna wussten, dass ihr Vater dem Glücksspiel ablehnend gegenüberstand. Zu viel hatte er bei alten Kameraden erlebt. Als einer von ihnen dadurch sogar sein Gut verlor, hatte er die Söhne zusammengerufen und ihnen einen langen warnenden Vortrag gehalten. Anna war dabei gewesen, wie sie bei allen wichtigen Besprechungen dabei war. Es war nicht Sitte des Hauses, die Tochter vom Leben der Brüder fernzuhalten.

»Verstehe«, sagte Anna. »Die adligen Spieler werden das nicht gern gesehen haben.«

Der Vater nickte und hob die Hand. Lies weiter, sagte die knappe Geste.

Anna holte Luft, konzentrierte sich und fuhr fort, die dicht gedrängten Zeilen vorzutragen:

Wenigstens war ein Mitglied desselben so wenig damit einverstanden, dass es den Weg der Beschwerde betrat und hierbei Anführungen machte, welche der Generalpolizeidirektor als beleidigend für sich ansehen zu müssen glaubte. Dieses Clubmitglied war ein Herr von Rochow-Plessow, dreißig Jahre alt, Leutnant außer Diensten und Inhaber eines Sitzes im Herrenhause, den er auf Präsentation seiner Familie von Seiner Majestät dem Könige erhalten hat. Ob die zuletzt gedachte Beschwerde desselben die nächste Veranlassung des Duells gewesen ist, möge dahingestellt sein; jedenfalls war sie die letzte, ohne dass es darum ausgeschlossen ist, dass schon andere Reibungen und Kränkungen vorausgegangen waren. Wenn wir sagen, dass Herr von Hinckeldey es war, welcher Herrn v. Rochow forderte, und wenn wir dabei erwägen, dass Herr von Hinckeldey ein im reifen Lebensalter stehender Mann, dass er Vater von sieben Kindern war und vermöge seiner hohen Stellung den ernsten und dringendsten Beruf hatte, das Gesetz zu wahren und keine Verletzung desselben zu gestatten – so werden wir ganz von selbst zu der Annahme geführt, dass eine schwere Reizung vorhanden gewesen sein muss, die diesen Mann, von dem man außerdem weiß, dass er ein sehr glückliches Familienleben führte, zu einer Herausforderung auf tödliche Waffen bewegen konnte.

»Fürwahr«, sagte der Vater und nickte nachdenklich.

Annas Stimme wurde leiser:

Wer die Pistole zur Duellwaffe bestimmt hat, wird uns zwar nicht ausdrücklich mitgeteilt; nach den Duellgesetzen aber hat der Geforderte die Wahl der Waffen, und es ist also zu vermuten, dass es Herr von Rochow war, welcher die Pistolen wählte. Von vornherein war der Kampf insofern ungleich, als Herr von Rochow als ein vorzüglicher Schütze gilt, während Herr von Hinckeldey mit der Pistole nicht umzugehen verstand, auch überdies durch ein sehr schwaches Gesicht dabei behindert wurde.

Wilhelm wurde es heiß, der Vater schnaubte. Anna blickte überrascht auf und sah in den Gesichtern helle Empörung.

»Das war kein Duell«, murmelte der Vater.

Wilhelm ergänzte mit rotem Gesicht: »Das war eine Hinrichtung!«

Seine Schwester senkte den Blick wieder auf die Zeitung und suchte mit dem Zeigefinger die richtige Zeile, die sie gerade verloren hatte:

Das Duell fand gestern Vormittag um zehn Uhr in der Jungfernheide statt. Der Sekundant des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey war der Geheime Oberregierungsrat von Münchhausen; der Sekundant des Herrn von Rochow – beiläufig ein Sohn des Hofmarschalls von Rochow – aber ein Herr von der Marwitz, Leutnant bei den Garde du Corps oder Garde-Kürassieren, was wir nicht genau wissen. Wie es auf der Mensur zugegangen, darüber wichen bis jetzt die Berichte noch ab. Es scheinen nur zwei Schüsse gewechselt worden zu sein. Den ersten Schuss hatte Herr von Hinckeldey als der Beleidigte. Das Pistol versagte. Es wurde ein zweites Pistol gereicht; Herr von Hinckeldey schoss und fehlte. Man sagt nun, und zwar geht diese Ansicht von Augenzeugen aus, Herr von Hinckeldey habe absichtlich in die Luft geschossen. Wir sind nicht im Stande, die Richtigkeit dieser Wahrnehmung zu bestätigen oder ihr entgegenzutreten. Herr von Rochow, welcher darauf den zweiten Schuss hatte, zielte und traf bedauerlich gut …

»Verdammt!« Anna fuhr erschrocken auf, als die Faust des Vaters den Tisch traf und die Tassen zum Hüpfen brachte. »Das ist Mord!«

Unsicher sah Anna zu ihrem Bruder, der aschfahl im Gesicht war.

»Normalerweise schießen beide Duellanten in die Luft. Der Ehre wäre Genüge getan und niemand verletzt worden«, sagte er leise.

»Vor allem bei Pistolen.« Der Vater schüttelte den Kopf. »Beim Säbel sieht es anders aus, aber auch da wird das Duell in der Regel bei der ersten kleinen Verletzung abgebrochen, damit niemand zu Schaden kommt.«

Anna nickte und glättete sacht die Seiten:

Herr von Hinckeldey kehrte sich nach empfangenem Schuss nur noch in einer halben Schwenkung um und fiel dann lautlos zu Boden. Die Kugel war auf der rechten Seite in die Brust gedrungen und hatte den Lauf nach der linken Achsel genommen, ist aber im Körper stecken geblieben. Ein mit zur Stelle gebrachter Arzt legte zwar sogleich den ersten Verband an, worauf der Verwundete in seiner eigenen Equipage, welche ihn nach dem Orte des Kampfes hinausgebracht, nach Charlottenburg in die Wohnung des Polizeidirektors Maaß geschafft wurde. Die Verletzung war unbedingt tödlich, und alle ärztliche Hilfe musste deshalb erfolglos bleiben.

Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. Schweigen legte sich über den Tisch. Erst nach einigen Minuten, die sich zu Stunden zu dehnen schienen, nickte der Vater, und Anna las weiter:

Herr von Hinckeldey soll, wie uns versichert wird, das ihm bevorstehende Duell und die Notwendigkeit desselben Seiner Majestät dem Könige schriftlich angezeigt haben. Übrigens hat der Verstorbene, wie schon gedacht, außer seinem Sekundanten, niemanden, namentlich kein Familienmitglied, von dem ihm bevorstehenden Duelle in Kenntnis gesetzt. Auch sein Äußeres ließ nichts Außergewöhnliches wahrnehmen. Erst jetzt erinnert man sich, dass er am Sonntagabend beim Gutenachtsagen an seine Kinder sich zärtlich bewegt zeigte. Dagegen war derselbe gestern früh durchaus heiter. Dass der Verstorbene übrigens an die Möglichkeit eines tödlichen Ausganges des Zweikampfes für ihn sehr ernsthaft gedacht, dafür spricht, dass er am Sonntag sein Testament gemacht hat. Gestern Abend gegen sieben Uhr ist die Leiche von Charlottenburg hier angekommen und in der Wohnung des Generalpolizeidirektors niedergesetzt worden. Der Gegner des Herrn von Hinckeldey meldete sich unmittelbar nach dem Duelle auf der hiesigen Kommandantur und zeigte den Vorgang und seinen Verlauf an. Er gab sein Ehrenwort, sich bis auf weitere Verfügung in der Sache aus seiner unter den Linden No. 9 gelegenen Wohnung nicht zu entfernen. In dieser seiner Wohnung ist er gestern Abend zwischen sieben und acht Uhr, auf gerichtlichen Befehl, durch den Polizeiassessor Stieber verhaftet worden. Der Sekundant des Herrn von Hinckeldey, Geheimer Oberregierungsrat von Münchhausen, ist von seinen Geschäften im Ministerium des Innern vorläufig dispensiert worden.

Die beiden Männer wechselten einen Blick, den Anna registrierte. Sie ließ die Zeitung sinken und sah abwechselnd Vater und Bruder an. »Der König wusste davon?«

»So scheint es.«

»Und er hat nichts unternommen?«

»So scheint es.«

Wilhelm suchte nach einer Erklärung. »Wird er davon ausgegangen sein, dass Rochow danebenschießt?«

»Das will ich doch annehmen.« Die Augenbrauen des Vaters trafen sich über der Nase, und seine Stimme grollte. »Wie soll man ihm sonst noch dienen können?«

»Aber Rochow –«

»Dieser Drecksack hatte nichts Eiligeres zu tun, als sich in die Fittiche der Armee zu begeben«, zischte der Vater und wandte sich an seine Tochter, deren erschrockenen Blick er bemerkt hatte. Wesentlich sanfter sagte er: »Entschuldige den Ausdruck, Anna. Nicht nur, dass mich dieser gemeine Vorgang empört, nein, ich bin auch enttäuscht vom König.«

Wilhelm nickte. »Er hätte sofort eingreifen müssen.«

»Und was hat das Ganze mit der Armee zu tun?« Anna war sichtlich verwirrt.

»Angehörige der Armee unterstehen dem Armeestrafrecht und sind der normalen Gerichtsbarkeit entzogen«, erklärte Wilhelm geistesabwesend.

»Aber er ist doch von diesem …«

»Stieber.«

»… Stieber verhaftet worden.«

Der Vater nickte. »Lies weiter, ich könnte mir vorstellen, dass die Nachricht noch nicht zu Ende ist.«

Anna nahm die Zeitung wieder zur Hand. »Tatsächlich, hier ist noch ein Nachtrag«, sagte sie:

Wir erfahren über dieses verhängnisvolle Ereignis noch folgendes Nähere: Der Herr von Rochow, welcher den Generaldirektor von Hinckeldey erschossen hat, hat gestern aus seiner gerichtlichen Haft wieder entlassen werden müssen. Derselbe ist nämlich Leutnant der Landwehr und steht als solcher nach den Bestimmungen des Militärstrafgesetzbuchs, wenn er wegen eines Duells belangt werden soll, unter dem Militärgericht. Dem Vernehmen nach ist er deshalb vom Generalkommando reklamiert worden, und dieses hat keine Veranlassung gefunden, ihn während der betreffenden Untersuchung in Haft zu nehmen, da es sich nur um ein Duell handelt und Herr von Rochow sein Wort gegeben hat, sich nicht von hier zu entfernen.

»Sieh an«, sagte Wilhelm.

»Wen wundert’s«, sagte der Vater.

Anna beeilte sich, die erste Zeitung zu Ende zu bringen:

In der Wohnung des Herrn von Hinckeldey ist die Leiche desselben öffentlich ausgestellt. Der Molkenmarkt ist fast ununterbrochen mit dichten Menschenhaufen gefüllt, welche jedes Mal in Abteilungen von zwanzig zu dreißig Personen zu der Leiche gelassen werden. Man erblickt auf allen Seiten die rührendsten Beweise der Teilnahme gegen die unglückliche Familie und der hohen Achtung und Verehrung, welche der Verstorbene fast bei allen Schichten der Bevölkerung genossen hat. Dem Vernehmen nach hinterlässt Herr von Hinckeldey seiner starken Familie kein Vermögen. Der Verstorbene hat in seinem hinterlassenen Testament ausdrücklich um ein stilles, einfaches Begräbnis gebeten, und es wird daher alles besondere Gepränge vermieden werden. Jedenfalls wird das Begräbnis aber dennoch eines der großartigsten werden, welches die Stadt bisher erlebt hat. Die gerichtliche Obduktion der Leiche des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey fand gestern Nachmittag im Präsidialgebäude, Molkenmarkt No. 1, statt. Die Totenmaske des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey ist von dem Großherzoglich Weimar’schen Hofmaler Professor Schramm aufgenommen worden und wird, wie wir erfahren, in einigen Tagen lithographiert erscheinen. Der Ausdruck in den Zügen des Verstorbenen ist ein ungemein milder und ruhiger.

Wieder kehrte Schweigen ein, als Anna die Zeitung zusammenfaltete und zur Seite legte. Nachdenklich sah der Vater auf einen Punkt irgendwo oberhalb des Kamins, und Wilhelm rührte versonnen die Luft in seiner Kaffeetasse.

Anna stand auf, schenkte beiden Männern die Tassen voll und tat Milch hinein. Schließlich setzte sie sich wieder, trank selbst einen Schluck, um die trockene Kehle zu befeuchten, und wartete geduldig. Nichts war mehr von der Energie und der Spannung vor Beginn der Zeitungsschau geblieben, stattdessen herrschte Betroffenheit.

»Was schreiben die anderen Zeitungen?«, fragte der Vater schließlich.

»Es ist nur die Vossische. Die Kreuzzeitung ist schon seit einigen Tagen nicht mehr gekommen. Der alte Schultz hat etwas von Lieferschwierigkeiten erzählt«, erläuterte Anna und griff zu dem kleiner gewordenen Stapel.

»Nun, dann also die Vossische. Sie ist ohnehin objektiver in vielen Dingen.«

»Und mutiger, wie es scheint«, sagte Wilhelm.

»Wie das?«, fragte Anna mit Neugier in der Stimme.

»Wegen der Pressegesetze können sich Zeitungen nur in Andeutungen ergehen«, erklärte Wilhelm. »Werden sie zu deutlich, könnte es sich um Beleidigungen hochgestellter Persönlichkeiten oder gar staatlicher Einrichtungen handeln, und es kann passieren, dass nicht nur die einzelne Ausgabe von der Zensur beschlagnahmt wird, sondern die Zeitung ihr Erscheinen für eine gewisse Zeit oder gar für immer einstellen muss.«

»Wäre nicht das erste Mal«, sagte der Vater. »Vielleicht herrscht aber gerade auch ein gewisses Chaos in den Behörden, und die Vossische nutzt das weidlich aus.«

Anna nickte. »Nun, dann wird es noch etwas mutiger«, sagte sie und nahm die nächste Ausgabe zur Hand, in der sie bereits einige Zeilen überflogen hatte. »In der Vossischen vom dreizehnten geht es nämlich um den König höchstselbst.«

Der Vater und Wilhelm sahen sich überrascht an.

»Es beginnt, wie folgt«, sagte Anna:

Unsere gestern aus dem Publicisten entlehnte Nachricht, dass Herr von Hinckeldey Seiner Majestät dem König von dem ihm bevorstehenden Duell und dessen Notwendigkeit vorher Anzeige erstattet habe, ist dahin aufzufassen, dass diese Anzeige erst für den Fall seines Ablebens an Seine Majestät gerichtet war und eben deshalb auch erst nach dem Duell an allerhöchster Stelle einging.

»Hört, hört«, sagte der Vater.

»Da macht jemand einen Rückzieher«, sagte Wilhelm.

Anna brummte genervt und las dann weiter:

Man hört jetzt von zuverlässiger Seite als Tatsache erzählen, dass von dem Duell vorher nirgend etwas bekannt gewesen ist. Herr von Hinckeldey hat darüber das tiefste Stillschweigen gewahrt. Inzwischen schwebten bereits Unterhandlungen über die gütliche Beilegung der betreffenden Differenzen, und inmitten dieser Verhandlungen fand allen unerwartet das traurige Ereignis statt. Die gestrige Ausgabe der Nationalzeitung schreibt: »Die heutige Morgenausgabe Nummer 121 der Nationalzeitung ist polizeilich mit Beschlag belegt worden; dem Vernehmen nach haben dazu die Betrachtungen, welche wir an den Tod des Herrn von Hinckeldey knüpften, Veranlassung gegeben. Wir hören außerdem, dass auch die gestrige Abendausgabe der Nationalzeitung Nummer 120 aus hiesigen öffentlichen Lokalen entfernt worden ist; eine amtliche Mitteilung über die polizeiliche Beschlagnahme dieser Nummer ist uns jedoch nicht zugegangen.«

»Oha, das ist ja nachgerade eine kleine Zeitungsrevolte«, sagte der Vater fast amüsiert. Angesichts der Umstände setzte er aber sofort wieder eine ernste Miene auf.

»Da räumt jemand auf.« Wilhelm nickte. »Hier wird ein offizieller Sprachgebrauch durchgesetzt.«

»Um den König zu schützen?«

»Ganz recht, Anna. Du hast es gleich erfasst.« Der Vater nickte und widmete sich kurz seinem mittlerweile erkalteten Kaffee, etwas, was ihm angesichts der Kosten dieses Getränks nur selten passierte. »Der König wusste genau Bescheid, hat aber nicht reagiert. Wie wir hoffen wollen, weil er meinte, dass schon nichts geschehen würde. Das aber darf offiziell keinesfalls bekannt werden.«

»Womit die kleine Zeitungsrevolte, wie du sagst, auch schon wieder beendet ist«, stellte Anna fest. »Du scheinst das zu bedauern.«

Der Hausherr freute sich sichtlich über die Auffassungsgabe seiner Tochter. »Tatsächlich stehe ich der Sache der Pressefreiheit aufgeschlossen gegenüber«, begann er zu erklären. »Was nutzt uns eine Presse, wenn sie nicht Missstände benennt und dem Publikum erläutert? So, wie es jetzt ist, müssen die Redakteure jedes Wort auf die Goldwaage legen und die Menschen zwischen den Zeilen lesen. Das können sie durchaus, aber mir scheint das Ganze doch eine etwas unklare und insgesamt unbefriedigende Situation zu sein.«

»Komplett frei sollte die Presse in ihrer Berichterstattung aber auch nicht sein«, gab Wilhelm zu bedenken.

Anna schaute ihn überrascht an.

Wilhelm hatte den Blick bemerkt. »Nun, ich meine nicht die gesamte Berichterstattung, nur einzelne Aspekte. Es würde zum Beispiel unsere Arbeit enorm erschweren, wenn die Presse unsere Ermittlungen kommentiert und Dinge ausplaudert, die zu einem bestimmten Zeitpunkt besser ungesagt bleiben.«

»Ich fürchte, hier kann es keine halben Sachen geben«, warf der Vater ein. »Entweder ist die Presse frei, oder sie ist es nicht. Ich halte es für fraglich, ob sich das Publikum den gegenwärtigen Stand auf Dauer gefallen lassen wird.« Er stellte die Tasse zur Seite und beugte sich vor. »Mir erscheint es sinnvoller, wenn ihr bei der Polizei die Presse in eurem Sinne erzieht.«

Wilhelm hob die Augenbrauen. Was meinte der Vater damit?

»Eine geneigte Presse kann ein guter Verbündeter in vielen Bereichen staatlichen Handelns sein. Insbesondere in deinem. Ich denke da an Fahndungen oder das gezielte Streuen von Informationen, die einem bestimmten Zweck dienen, von dem die Presse keine Ahnung hat. Das setzt aber ein gewisses Maß an Vertrauen und dieses nun wiederum ein gewisses Maß an Freiheit voraus.«

»Stimmt«, sagte Wilhelm nachdenklich. »Stieber ist ein Meister dieses Fachs.«

»Wie das?«, fragte Anna in demselben interessierten Tonfall wie vor wenigen Augenblicken. Eine ganz neue Welt tat sich vor ihren Augen auf, eine Welt voller Irrungen, Fallstricke und geheimer Pläne.

»Er schreibt selbst«, erwiderte Wilhelm. »Unter Pseudonym, selbstverständlich, und er gibt eigene Publikationen heraus. Natürlich auch unter einem anderen Namen, seinen Volkskalender etwa als Carl Steffens oder so ähnlich.«

»Der Volkskalender ist von Stieber, einem Polizisten?« Anna war sichtlich erstaunt. Das kleine Jahresbüchlein mit wichtigen Terminen, historischen Daten, Hinweisen auf das Wetter und kleinen Geschichten und Anekdoten war in vielen preußischen Haushalten zu finden.

»Ganz recht, der ist von ihm.« Wilhelm lächelte. »Und da er gute Verbindungen zu Redaktionen und Korrespondenten unterhält, ist es oft erstaunlich, welche Reaktionen und Informationen die Polizei erhält … Oder wenig erstaunlich, wenn man es recht bedenkt.«

»So ist es«, sagte der Vater und legte prüfend die Hand an die Kaffeekanne. Er stand auf, sah seine Kinder fragend an und schenkte noch einmal nach. »Was gibt es noch?«, fragte er und setzte sich.

Anna nahm die letzte Zeitung zur Hand und rezitierte:

Gestern Vormittag fand, begünstigt vom schönsten Wetter, die feierliche Beerdigung des Generalpolizeidirektors von Hinckeldey statt. Selten hat unsere Stadt einen solchen Trauerzug gesehen, und selten hat sich eine so allgemeine Anteilnahme fast in allen Schichten der Bevölkerung bei einem Leichenbegängnis ausgesprochen als bei dem vorliegenden. Schon von morgens ab sieben Uhr an waren alle Straßen, durch welche der Zug gehen musste, mit dichten Menschenmassen bedeckt. Alle Fenster und selbst die Dächer der Häuser waren mit Zuschauern gefüllt; die halbe Stadt war herbeigeeilt, um sich entweder bei dem Trauerzuge selbst zu beteiligen oder demselben wenigstens als Zuschauer beizuwohnen. Die Menge beobachtete während der ganzen Feierlichkeit eine würdige, schweigende Haltung, sodass den zur Aufrechterhaltung der Ordnung aufgestellten Polizeibeamten das Amt sehr erleichtert wurde und auch nicht die geringste Störung oder Unziemlichkeit vorgekommen ist. Die Ehrerbietung, mit welcher die Zuschauer beim Herannahen des Leichenwagens überall aus eigenem Antriebe das Haupt entblößten, und die Tränen, welche wir in vielen Augen bemerkten, lieferten den besten Beweis, welche hohe Achtung der Verstorbene nach allen Seiten hin selbst bei denjenigen Personen, welche ihm ferner gestanden, genossen hat. Die Poststraße, die Breite Straße, der Mühlendamm, die Stralauer Straße und die neue Friedrichsstraße waren für den allgemeinen Verkehr abgesperrt, da all diese Straßen erforderlich waren, um die vielen Wagen der Teilnehmer aufzunehmen. Die umfangreichen Räume des Polizeipräsidiums reichten nicht aus, um das Leichengefolge vollständig zu fassen, sodass sich ein großer Teil desselben, namentlich die Deputationen der Gewerke und Korporationen, auf der Straße versammeln mussten. Um neun Uhr erschien Seine Majestät der König mit sämtlichen zurzeit hier anwesenden Prinzen der Königlichen Familie …

»Das ist ja wohl das Mindeste«, kommentierte der Vater, und ein leichter Anflug von Zorn kehrte in seine Stimme zurück.

Anna las ungerührt weiter:

Wir bemerkten darunter namentlich die Prinzen Friedrich Wilhelm, Carl, Adalbert, Friedrich, Georg, gefolgt von den höchsten Spitzen des Militärs, namentlich den Generalen Wrangel, Gerlach, Möllendorff, Schöler, Encke, Gröben, Falkenstein, Neumann, Maliszewski, Peucker, Hahn, dem Kommandanten von Schlichting. Inzwischen hatten sich auch fast sämtliche höhere Staatsbeamte eingefunden, namentlich die sämtlichen Staatsminister, den Herrn Ministerpräsidenten an der Spitze, mit Ausnahme des Herrn Kriegsminister.

»Schau an, wer sich so alles zeigt«, sagte Wilhelm. »Sogar Gerlach.«

»Vielleicht will er sichergehen, dass sein Rivale tatsächlich tot ist«, ergänzte der Vater bitter. Er nickte, damit Anna weiterlas.

Nicht minder hatten fast alle Behörden der Stadt Deputationen entsendet und waren insbesondere der Magistrat und die Stadtverordneten zahlreich vertreten. Auch aus dem Hause der Abgeordneten erblickten wir zahlreiche zum Teil bekanntere Persönlichkeiten, als die Herren von Patow, Geheime Commerzienräte Diergardt und Carl und viele Mitglieder der Rechten des Abgeordnetenhauses, ferner waren zugegen Alexander von Humboldt, der Generalintendant von Hülsen, der hier anwesende Generalconsul von Minutoli, der Bischof Neander, der Herr von Redern und viele andere. Die Königliche Familie begab sich zunächst zu den gebeugten Hinterlassenen des Verstorbenen und richtete insbesondere des Königs Majestät erhebende Worte des Trostes an die Witwe. Dann fand in dem zur Wohnung des Verstorbenen gehörenden Saale ein Trauergottesdienst statt, dessen tiefen und schmerzlichen Eindruck wir kaum zu schildern vermögen. Die unglückliche Witwe mit ihren hier anwesenden Kindern und die Schwester des Verstorbenen knieten am Sarge, nur mühsam unterstützt von den übrigen Mitgliedern der Familie. Des Königs Majestät und die Prinzen des Königlichen Hauses standen erschüttert an der Leiche ihres treuen Dieners, und Seine Majestät vermochten nicht, Ihre Tränen und Ihren tiefen Schmerz zu unterdrücken …

»Der König hatte schon immer nah am Wasser gebaut«, warf der Vater ein, und es war Wilhelm nicht klar, ob es sich um eine Feststellung handelte oder eine Kritik.

»Aber seine Trauer wird doch wohl echt sein«, warf er ein.

»Vermutlich«, stimmte der Vater zu. »Hinckeldey war einer seiner wichtigsten Männer.«

Anna seufzte vernehmbar, bevor sie weiterlas:

Nur einer kleinen Anzahl von Teilnehmern war es bei der beschränkten Räumlichkeit vergönnt, Zeugen dieser ergreifenden Szene zu sein. Ein Gesang des Königlichen Domchors, unter Leitung seines Direktors, zum Teil von Posaunen begleitet, eröffnete den Gottesdienst. Die Leichenrede hielt, nach dem ausdrücklichen Willen des Verstorbenen, der Prediger Blank. Ein Gesang und inbrünstiges Gebet beschlossen den kirchlichen Akt.

Sie schlug die Seite zu und legte die Zeitung neben sich. »Das war alles.«

Wieder herrschte Schweigen am Tisch. Alle hingen ihren Gedanken nach und nahmen nur ab und an einen Schluck vom Kaffee.

Schließlich streckte Wilhelm sich. »Nun gut, ich werde umgehend nach Berlin aufbrechen müssen, am besten schon morgen. Es werden Umstrukturierungen anstehen, und ich möchte so schnell wie möglich mit Herford reden. Außerdem muss ich mich ohnehin um meinen Fall kümmern.«

Der Vater nahm die Serviette, wischte sich den Mund ab und stand auf. »Es wird einiges an Veränderungen in Berlin geben. Grüße Herford, und bitte ihn, mich in der nächsten Woche zu treffen. Ich habe noch einige Dinge zu erledigen, werde dann aber auch aufbrechen. Im Herrenhaus wird es die eine oder andere Debatte geben, die ich nicht verpassen möchte.«

Alle drei standen auf. Anna würde sich zurechtmachen und nach der Mutter schauen, Wilhelm hatte die Aufgabe, seinen Hund auszuführen und bei dieser Gelegenheit die Koppeln auf dem Schafberg zu kontrollieren. Morgen war Sonntag, und er konnte nicht aufbrechen, ohne sich vorher mitsamt der Familie beim Gottesdienst sehen gelassen zu haben.

Leipzig, zwei Tage zuvor

5

Es regnete, und das seit Tagen. Bereits an dem Abend, an dem Vorweg mit dem Nachtzug in Leipzig angekommen war, war der Himmel wolkenverhangen gewesen, und so manches Mal glaubte er, in der Ferne Blitze zu sehen.

Seit seinem letzten Besuch vor vielen Jahren, noch vor der Revolution ’48, hatte sich in der sächsischen Messestadt einiges getan. Gleich drei Kopfbahnhöfe standen nun eng beieinander: der neue Thüringer Bahnhof, der Dresdner Bahnhof und sein Ziel, der Magdeburger Bahnhof. Weiter draußen hätte er, wenn die Sicht es gestattet hätte, das Gelände des künftigen Berliner Bahnhofs sehen können, mit dessen Bau bald begonnen werden sollte. Auch wieder ein Kopfbahnhof und für seinen Geschmack entschieden zu weit vor der Stadt gelegen. Aber immerhin würde sich die Fahrtzeit um einiges verkürzen, sparte man doch mit der geplanten Strecke über Bitterfeld den Umweg über Köthen.

Als er in Leipzig aus dem Abteil stieg, fielen die ersten Tropfen auf Hut und Mantel, vereinzelt erst, dann rasch immer mehr. Wenige Augenblicke später war die Hand, mit der er seinen Koffer trug, komplett nass, und er musste – warum auch immer – daran denken, dass das Wort Koffer aus dem Französischen stammte, was wiederum seinen Ursprung im lateinischen cophinus hatte, was nichts anderes als Weidenkorb bedeutete. Er war dankbar, dass sein Utensil nicht aus diesem Material bestand, sondern aus gutem Leder. Aber es würde leiden, wie angesichts des vom Himmel kommenden Wassers zu vermuten war, das sich rasch in deutlich sichtbare Bindfäden verwandelte. Dennoch konnte er sich natürlich vor den sächsischen Kollegen nicht mit irgendeinem Transportbehältnis sehen lassen, nicht in Leipzig jedenfalls, der Stadt der größten Kofferfabriken. Als preußischer Beamter hatte er in Sachsen eine in jeder Hinsicht perfekte Figur abzugeben. Und so hatte er sich nicht nur für seine beste Garderobe, sondern eben auch für seinen besten Koffer entschieden – nicht, dass die Auswahl sonderlich groß gewesen wäre.