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Wenn das Verbrechen in der eigenen Vergangenheit lauert: Der fesselnde Kriminalroman »Die Toten von Moskau« von Anna Blundy als eBook bei dotbooks. Nastrovje – einmal Wodka on the rocks! Den hat die englische Krisenreporterin Faith Zanetti bitter nötig, als sie ein verstörender Anruf aus Moskau erreicht: Dimitri, ihr seit Jahren verschollen geglaubter Ehemann, ist in einer psychiatrischen Klinik wiederaufgetaucht – und behauptet, Faith hätte damals einen Mord begangen. Aber was treibt ihn dazu? Schon bald muss Faith erkennen, dass sie Teil eines perfiden Spiels ist: Der Mann, dem sie in der Klinik gegenübersteht, ist gar nicht Dimitri. Aber woher kennt er so viele Details aus ihrem Leben – und aus jener Nacht, in der Faith’ Nachbarn grausam ermordet wurden? So sehr Faith es auch versucht, sie kann sich nicht an diese dunklen Stunden erinnern – und nun läuft ihr die Zeit davon … »Anna Blundy hat einen großartigen Sinn für Humor.« The Guardian Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der mitreißende Kriminalroman »Die Toten von Moskau« von Anna Blundy – der zweite Fall in der spannenden Faith-Zanetti-Reihe, in der jeder Band unabhängig gelesen werden kann. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 505
Über dieses Buch:
Nastrovje – einmal Wodka on the rocks! Den hat die englische Krisenreporterin Faith Zanetti bitter nötig, als sie ein verstörender Anruf aus Moskau erreicht: Dimitri, ihr seit Jahren verschollen geglaubter Ehemann, ist in einer psychiatrischen Klinik wiederaufgetaucht – und behauptet, Faith hätte damals einen Mord begangen. Aber was treibt ihn dazu? Schon bald muss Faith erkennen, dass sie Teil eines perfiden Spiels ist: Der Mann, dem sie in der Klinik gegenübersteht, ist gar nicht Dimitri. Aber woher kennt er so viele Details aus ihrem Leben – und aus jener Nacht, in der Faith’ Nachbarn grausam ermordet wurden? So sehr Faith es auch versucht, sie kann sich nicht an diese dunklen Stunden erinnern – und nun läuft ihr die Zeit davon …
»Anna Blundy hat einen großartigen Sinn für Humor.« The Guardian
Über die Autorin:
Anna Blundy, geboren 1970 in London, ist eine englische Schriftstellerin und Journalistin. Sie studierte Russisch an der Oxford University, arbeitete für einen amerikanischen TV-Sender in Moskau, wo sie abends in einer Blues-Band sang, war als Kolumnistin für die »Times« tätig und reiste so oft wie möglich nach Amerika, Afrika und in den Nahen Osten. Als ersten Roman veröffentlichte sie die Memoiren ihres Vaters, der als Auslandskorrespondent bei einem Auftrag in El Salvador ums Leben kam: Erlebnisse, die Anna Blundy auch in ihrer »Faith Zanetti«-Reihe aufgreift. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Kindern in Italien.
Anna Blundy veröffentlichte bei dotbooks in ihrer »Faith Zanetti«-Reihe auch:
»Mord in Jerusalem – Band 1«
»Die Schatten von Sizilien – Band 3«
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eBook-Neuausgabe Januar 2021
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 2006 unter dem Originaltitel »Neat Wodka« bei Sphere, London. Die deutsche Erstausgabe erschien 2007 unter dem Titel »Wodka pur« bei Ullstein.
Copyright © der englischen Originalausgabe 2006 by Anna Blundy
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2007 Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
Copyright © der Neuausgabe 2021 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Baturina Yuliya, schankz, ND700
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-96655-425-1
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Anna Blundy
Die Toten von Moskau
Faith Zanetti ermittelt
Aus dem Englischen von Sybille Klose
dotbooks.
Für Grace.
Es tut so gut, jemanden zu haben, mit dem ich mich an Moskau erinnern kann.
Moskau 1989
Mit der Veranstaltung im Dom Literatow, dem Haus der Schriftsteller, fing alles an. Irgendein Autor – Limonow? – stellte sein neues Buch vor, und sämtliche Ausländer, sofern sie einen Brocken Russisch sprachen oder dem Rest der Welt signalisieren wollten, dass sie dazugehörten, gingen hin.
Ich wollte ein schwarzes Samtkleid tragen, kurz, eng, schulterfrei und mit Puffärmeln. Meine Vermieterin, Sinaida Petrowna, war dabei, es mir anzupassen. Stecknadeln guckten zwischen ihren zusammengepressten Lippen hervor. Um ihre ausufernde Körpermitte hatte sie eine speckige Schürze geschlungen.
»Echter Samt«, nuschelte sie. »Echter Samt!« Ehrfurchtsvoll strich sie über meinen Rücken. Dabei machte sie den Eindruck, als wolle sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
Es schneite vom tiefhängenden, bleigrauen Himmel herab, und die alten Männer, die im Hof vor dem Bierkeller anstanden, hatten die Ohrenklappen ihrer Mützen heruntergezogen. Ihre Hände, die bauchige Einmachgläser umklammert hielten, waren rot und aufgesprungen. Einer der Männer wirkte mit seinem aufgedunsenen Purpurgesicht, den tränenden roten Augen und einer Triefnase, aus der der Rotz in seinen Bart rann, besonders beklagenswert. In seinem Schritt lag müde Verzweiflung. Stück für Stück rückte er schlurfend in der Schlange vor, ohne mit jemandem zu sprechen. Er sah nicht einmal vom Boden auf.
»Seine Mutter hat ihn geliebt«, pflegte Dimitri zu sagen.
Ich war mir da nicht so sicher.
Sinaida Petrowna schnalzte jedes Mal missbilligend mit der Zunge, wenn einer der Männer zum Urinieren an unsere Hauswand trat. Der Schnee war so tief, dass die Verwehungen fast bis an die Fenster heranreichten. Das Gebäude stammte aus dem neunzehnten Jahrhundert, und die Fenster verfügten über eine vorsintflutliche Form der Doppelverglasung, bei der zwischen der inneren und der äußeren Scheibe ungefähr dreißig Zentimeter Platz waren. In diesem Zwischenraum bewahrte ich ein tiefgekühltes Hühnchen auf. Ich fürchtete allerdings, dass Sinaida Petrowna es stehlen würde, sobald ich fort war.
Als Miete für ein einziges winziges Zimmer verlangte sie drei Viertel meines Monatsgehalts, und ich zahlte klaglos, weil ich illegal bei ihr wohnte. Dimitri, mein russischer Ehemann und offizieller Mieter der Wohnung, war nach unserem letzten großen Streit in seine Heimatstadt Rjasan gefahren und machte bisher – zum Glück – keine Anstalten, zu mir zurückzukehren. Leider wartete ich noch immer auf meine Papiere und darauf, dass ich endlich die Rechte eines Sowjetbürgers genießen durfte. Das waren übrigens überraschend viele, und sie standen größtenteils im Zusammenhang mit der Beschaffung von Lebensmitteln und Wohnraum.
Als freie und möglicherweise sogar wieder alleinstehende Frau hatte ich mich an diesem Abend mit Scott Weisman im Dom Literatow verabredet. Wie es der Zufall wollte, war er derjenige, der, wenngleich unwissentlich, für meinen veränderten Personenstand verantwortlich zeichnete: Seinetwegen war es zwischen Dimitri und mir in der Bar des Hotel Savoy zu jenem verhängnisvollen Streit gekommen. Oder nein, eigentlich war es kein Streit gewesen. Eher ein ausgedehntes Schweigen.
Das Savoy hatte drei Monate zuvor seine Pforten geöffnet. Es war das einzige halbwegs zivilisierte Haus in ganz Moskau, und da es seine Gäste sehr viel strenger kontrollierte als die übrigen Etablissements, vermochten sich hier die Prostituierten und zwielichtigen Schläger, die allerorten die Hotelhallen bevölkerten, keinen Zutritt zu verschaffen.
Dimitri leider auch nicht – jedenfalls nicht ohne beträchtliche Anstrengungen. Es war kein verheißungsvoller Auftakt für unseren gemeinsamen Abend.
Wir waren in Dimitris braunem Lada Samara vorgefahren – ich in einen dicken schwarzen Pelz und er in einen billigen wollenen Wintermantel gehüllt. (Sein Auto hatte keine Heizung.) Schlingernd kamen wir im Tiefschnee unmittelbar vor dem Portal zum Stehen. Dabei hätten wir um ein Haar einen der Messingständer mitgerissen, zwischen denen schwere rote Seile hingen, die den Eingangsbereich abriegelten. Auf der anderen Seite dieser Absperrung, unter dem beleuchteten Baldachin des Hoteleingangs, war auf dem Gehsteig Teppich ausgerollt. Die Türen, bewacht von Polizisten und Hotelangestellten in Zylindern und altmodischen Gehröcken, gaben den Blick auf die warme und hell erleuchtete Lobby dahinter frei: ein riesiger Lüster, spiegelblanke Marmorböden und überall hübsche Mädchen, die vor Kurzem ihr Englischstudium an der staatlichen Universität Moskau abgeschlossen hatten und nun in adretten Uniformen mit Namensschildchen am Revers die Gäste begrüßten.
Seit Tagen schon litt ich unter schrecklichen Albträumen. Meine Nächte wurden beherrscht von Aufzügen, die in schwarze, gähnende Tiefen sausten, abstürzenden Flugzeugen, bewaffneten Verbrecherbanden und Häusern, die lichterloh in Flammen standen. In jener Nacht unseres Ausflugs ins Savoy war ich zuvor keuchend aufgewacht, ausgedörrt durch den Alkohol des Vorabends und mit heftig pochendem Herzen. Barfuß lief ich über den eiskalten, stumpfen Parkettboden in die Küche, wo ich einen Löffel Brausepulver in ein Glas Leitungswasser rührte. Natürlich soll man in Russland nicht das Wasser aus dem Hahn trinken, aber ich habe noch keinen Russen krepieren sehen. Nicht nach dem Genuss von Leitungswasser, meine ich damit.
Dimitri, mein Mann, der wie so oft beim Schlafen eine Hand flach gegen die Wand gepresst hatte (ich konnte die Narbe an seinem kleinen Finger sehen, die er davongetragen hatte, als er mit sechs Jahren in der Schule Hals über Kopf zum Klo laufen musste und dabei hinfiel), wachte auf, zündete sich eine Zigarette an und versuchte, mich zu trösten. Manchmal machte er es sich nicht ganz so schwer, und wir fuhren einfach für eine Weile im Auto spazieren. Dabei erzählte ich ihm von Mädchen, die zu ihrem siebzehnten Geburtstag ein eigenes Auto geschenkt bekommen, dessen Schlüssel ihnen von den strahlenden Eltern in einer kleinen Schachtel überreicht wird, während die Freundinnen um die mit flackernden Kerzen dekorierte Geburtstagstorte herumstehen und klatschen. Die Überraschung parkt draußen in der Einfahrt, stilecht mit einer großen Schleife am Kühlergrill. Oder ich erzählte von Menschen, die in der Karibik überwintern, und berichtete von Restaurants, in denen Hummer serviert wird und wo die Kellner vor den Augen der Gäste Crêpes Suzette direkt am Tisch zubereiten. Das meiste von dem, was ich sagte, glaubte er mir vermutlich nicht.
In jener Nacht unserer Trennung bedachte er mich mit einem mitfühlenden, wenn auch müden Blick und sagte nur: »Du musst dringend ins Savoy.«
Wie recht er hatte. Das düstere Grau des kommunistischen Moskau war ein allzu exaktes Abbild meiner seelischen Befindlichkeit. Darüber hinaus schien Dimitri der Auffassung zu sein, dass man nur von einem echten Russen erwarten könne, ein Leben, wie wir es führten, zu bewältigen.
Inzwischen kann ich kaum noch glauben, dass er damals erst siebenundzwanzig Jahre alt war. Seinen Augen nach zu urteilen, hätte er fünfzig sein können.
Ich zeigte den Polizisten und Türstehern am Hoteleingang meinen Pass. Dimitri stand mannhaft an meiner Seite im Schnee und unterhielt sich mit mir auf Englisch. Im Intourist fiel man normalerweise auf diese Masche rein, aber hier ließ sich niemand davon blenden: Erwartungsgemäß wurde ihm der Zutritt verwehrt. Daraufhin senkte er seine Stimme zu einem bedrohlichen Flüstern. Seine Widersacher ließen sich nicht beeindrucken. Einer der Polizisten beugte sich vor, um ihm etwas ins Gesicht zu fauchen. Ich steckte mir eine Zigarette an, beobachtete die fetten, trägen Schneeflocken, die um uns herumfielen, und wartete. Dimitri stellte sich auf die Zehenspitzen und zischte dem Polizisten etwas ins Ohr. Es zeigte Wirkung: Die Türen taten sich auf.
Wir begaben uns auf direktem Weg in die ganz in Rosa- und Goldtönen gehaltene Bar. So glanzvoll ging es hier zu, dass sogar Fertigmenüs aus der Mikrowelle serviert wurden. Draußen hingegen, wo alte Frauen, die Füße in Lumpen gewickelt, in Straßenunterführungen Schutz vor der eisigen Kälte suchten, herrschte eine so schlimme Lebensmittelknappheit, dass man inzwischen sogar Hilfspakete aus Deutschland willkommen hieß. Die Menschen erinnerten sich noch genau an den Krieg, und man hatte den Deutschen ihre Taten nicht vergeben. Während der Belagerung von Leningrad hatten die Bewohner Ratten essen müssen.
»Warum drohst du den Menschen eigentlich immer gleich?«, fragte ich, die Hände fest um ein Glas mit Campari Soda gelegt. Eine dumme Frage, zweifellos. Ich wusste, dass Dimitri nicht ins Savoy hatte fahren wollen. Er hatte es nur mir zuliebe getan, damit ich für eine kurze Zeit wieder in meiner eigenen Welt sein konnte. Eine Welt, in der er sich sein Leben lang unwohl fühlen würde.
Dennoch rechtfertigte diese mangelnde Anerkennung seiner Großzügigkeit in meinen Augen keine anderthalb Stunden verkniffenes Schweigen, das er lediglich kurz unterbrach, um mir die Frage zu stellen: »Warum gehst du nicht einfach mit Scott Weisman aus?«
Dimitri hatte Scott kennengelernt und mochte ihn nicht – seine typisch amerikanische, lässige Überlegenheit, die weißen Zähne, den blauen Pass, die Taschen voller Dollars.
Gute Frage, dachte ich, während ich seufzend die Augen verdrehte.
Als wir wieder im dunklen, stinkenden Eingangsflur vor unserer schmuddeligen Wohnung angekommen waren – ein treffendes Sinnbild für unseren kläglichen Beziehungsversuch –, ließ Dimitri mich dort einfach stehen. Er selbst stieg wieder ins Auto und fuhr in die Nacht hinaus.
Ich steckte den großen eisernen Schlüssel ins Schloss und trat ein. Im Badezimmer lag eine tote Ratte. Ich hatte aus London Gift mitgebracht. Lange saß ich im Pelzmantel auf dem Bett, die Knie an die Brust gezogen, und weinte, bis ich leer war. Nicht um Dimitri. Um mich selbst, um meinen Vater, der in Belfast ums Leben kam, als ich neun Jahre alt war, und um all die anderen verzweifelten Seelen, die nachts einsame Tränen vergossen. Die meisten von ihnen, so dachte ich melodramatisch, lebten vermutlich in Moskau.
Am Morgen nach dem Streit (nach der Trennung?) hatte ich einen Mordskater. Ich rief Scott an, der mich zu dieser Feier im Dom Literatow einlud. Er war ein Kalifornier, der alles Russische liebte und bei der New York Times ein Praktikum absolvierte. Unermüdlich wohnte er den Treffen von Müttern getöteter sowjetischer Wehrpflichtiger bei (davon gab es viele), besuchte Gedenkveranstaltungen für die Gulag-Opfer vor der Lubjanka, bei denen niemand festgenommen wurde (noch ein halbes Jahr zuvor wäre so etwas undenkbar gewesen), und baggerte notleidende junge Damen wie mich an. Er war clever und humorvoll, und mit seiner süßen Brille, seinen kurzen Haaren und den gebügelten Khakihosen sah er aus, als käme er vom Mars. Er erinnerte mich immer ein wenig an einen britischen Soldaten auf einem alten Foto aus dem Zweiten Weltkrieg: adrett und von einem Hauch Gestrigkeit umweht. Meinen von müdem Weltschmerz geprägten Sarkasmus hielt er für die Ausdrucksform eines messerscharfen Intellekts. Er bewies mir seine Zuneigung, indem er mir Gläser voll mit getrockneten Speckwürfeln schenkte, die er von der Salatbar in der amerikanischen Botschaft abgezweigt hatte, und mit mir auf dem staubigen Fußboden meiner Wohnung saß, wo wir süßen Schampanskoje tranken und Songs von Billy Joel schmetterten. Er beteuerte, noch nie ein Mädchen wie mich kennengelernt zu haben.
Sinaida Petrowna huschte um mich herum, damit sie mich von vorn betrachten konnte.
»Preljestno!«, säuselte sie. Man hätte sie beinahe mögen können.
Ich stopfte meine Stilettos in eine Plastiktüte, zog die wasserfesten Winterstiefel an, dann Mantel, Mütze und Handschuhe, und trat hinaus in die Düsternis. Den Kopf zum Schutz gegen den Schnee gesenkt, stapfte ich den Roschdestwenski Bulwar entlang. Auf einer Bank saß eine alte Frau. Sie hatte einen Pappkarton bei sich und verkaufte zerknautschte Eiswaffeln für zehn Kopeken das Stück. Ein uralter Reisebus wartete mit laufendem Motor vor dem alten Zirkus und erstickte jeden, der ihm zu nahe kam, mit Wolken dichter schwarzer Abgase.
Vor dem Dom Literatow standen die Gäste im Schneematsch in kleinen Grüppchen zusammen, rauchten und unterhielten sich gedämpft.
»Hallo, Zanetti«, flüsterte mir jemand ins Ohr. Scott war unbemerkt hinter mich getreten und hatte mir die Hände um die Hüften gelegt.
»Du kannst mich mal«, erwiderte ich, drehte mich um und küsste ihn auf die Wange. »Ich habe mein Hühnchen mit Sinaida Petrowna allein gelassen«, vertraute ich ihm an.
»Dann hast du es zum letzten Mal gesehen«, sagte er ernst, zog sich die Wollmütze vom Kopf und stampfte den Schnee von den Sohlen seiner Timberlands, einem unverkennbaren Merkmal seiner Nationalität.
Das Foyer war schummrig beleuchtet und voller alternder Männer in hässlichen Anzügen, die vor den beschlagenen Spiegeln standen und mit Kämmen die kläglichen Reste ihrer Haare bändigten. Ich ließ mich auf einem Hocker nieder und zog meine mitgebrachten Stilettos an. Scott trug unsere Winterkleidung zur Garderobe und nahm dafür eine grüne Plastikmarke entgegen, die er an mich weiterreichte. Limonow (was übersetzt so viel heißt wie »der von den Zitronen«) sprach bereits. Vor dem Rednerpult hatte sich eine Traube Menschen versammelt, die andächtig lauschte. Scott nahm zwei Gläser Wodka von einem Klapptisch und gab mir eines. Wir stießen an und kippten den Wodka in einem Schluck hinunter. Hmmm, daran konnte ich mich gewöhnen. Wir wiederholten den Vorgang einige Male, und was danach passierte, weiß ich nicht mehr genau.
Ich kann mich noch erinnern, dass ich Limonow die Arme um den Hals warf und ihm überschäumend gratulierte. Ich weiß auch noch, dass ich bei Scott etwas Ähnliches versuchte, und zwar in einem menschenleeren Korridor, den wir hinter einer schwarzen gepolsterten Tür entdeckt hatten. Dort wurden wir von einem KGBler gestellt, der uns barsch darüber aufklärte, dass wir zu diesem Bereich des Gebäudes keinen Zutritt hätten. Kurze Zeit später fiel ich eine Steintreppe hinunter ... oder reimte ich mir diesen Unfall später nur zusammen, um meine Schürfwunden zu erklären? Und dann gab es noch ein letztes flackerndes Bild im hintersten Winkel meines Gedächtnisses: Es zeigt mir ein Mädchen in Stilettos, das in tiefster Nacht die vereiste Straße entlangstolpert.
Dann war es Morgen. Ich lag auf dem Bauch. In meinem Mund schmeckte es nach Erbrochenem. Jemand hämmerte mit der Faust gegen die Wohnungstür. Dünnes graues Licht sickerte durch die Fenster herein. Meine Hand lag direkt vor meinen Augen. An ihr klebte Blut. Ich setzte mich auf, stellte die Füße auf den Boden und sah, dass ich die Stilettos vor dem Zubettgehen nicht ausgezogen hatte. Meine Knie waren zerschrammt, und ich trug noch immer das schwarze Kleid. Ich berührte mein Gesicht und ertastete eine klaffende Wunde an meiner Stirn. Mein Kiefer schmerzte. Ich sah mich im Zimmer um. Die Wintersachen hatte ich achtlos auf den Boden geworfen. Meine Stiefel musste ich wohl im Dom Literatow vergessen haben.
Mühsam ging ich die Ereignisse der vergangenen Nacht durch, soweit ich sie meinem Gedächtnis entlocken konnte. Halb so schlimm. Keine unverzeihlichen Peinlichkeiten. Ich streifte die Schuhe ab und wankte ins Bad, um mir das Gesicht zu säubern. Nachdem ich das Blut abgewaschen hatte, sah die Kopfverletzung schon weniger dramatisch aus. Eigentlich war es nur ein Kratzer. Erstaunlich, wie stark eine Platzwunde bluten kann.
Ich schlurfte in die Küche, wo die alte Frau, deren Namen ich nie herausgefunden habe, in einem kleinen Tiegel eine Hand voll Cornflakes mit Wasser aufkochte. Sie konnte das Haus nicht mehr verlassen und roch nach Verwesung. Ein Junge namens Ljoscha brachte ihr hin und wieder nutzlose Lebensmittel aus Hilfspaketen mit: meistens Halbfertigprodukte, deren Gebrauchsanleitungen ausnahmslos auf Englisch verfasst waren und sie dazu aufforderten, die Speise mit Milch, Eiern oder einer anderen Zutat anzurühren, die man nirgends kaufen konnte.
»Guten Morgen«, sagte ich.
»Guten Morgen«, antwortete sie.
»Da ist jemand an der Tür«, sagte ich.
»Ja«, sagte sie.
Ich selbst war nicht gemeldet und durfte daher die Tür unter keinen Umständen öffnen. Zwar klang mein Russisch ganz passabel (angeblich wie das einer Estländerin), aber das reichte nicht: Auch Estländer mussten sich ausweisen können.
Ich nahm ein Glas Kool-Aid mit in mein Zimmer, und erst jetzt bemerkte ich Dimitri. Er schlief, wie immer eine Hand an die Wand gepresst. War er schon hier gewesen, als ich heimgekommen war? War er nach mir zurückgekehrt?
Mein überraschter Aufschrei weckte ihn. Mit trüben Augen blickte er mich an.
»Dein Kopf«, murmelte er.
»Ich weiß. Da ist jemand an der Tür.«
Er stand auf, zündete sich eine Zigarette an, ging dann zu unserer schweren und reich verzierten Wohnungstür und öffnete sie. Er trug nichts weiter als seine Unterhose.
Als ich die Polizeibeamten sah, verkroch ich mich in Windeseile auf der Toilette. Manchmal spielen sich die Menschen hier gegenseitig einen Streich, indem sie mit Fäusten an die Türen von Freunden hämmern und laut »Polizei!« brüllen. Um diesen Scherz, der sich auf die stalinistischen Säuberungsaktionen in den Dreißigerjahren bezieht, zu verstehen oder gar darüber lachen zu können, bedarf es eines sehr finsteren, typisch russischen Sinns für Humor.
Dies aber war kein Scherz. Waren sie meinetwegen gekommen? Irgendwann einmal hatten Dimitri und ich spaßeshalber eine Liste aller Vergehen erstellt, die ich während meines Aufenthalts in Moskau bereits gegen den sowjetischen Staat begangen hatte. Vorsichtigen Schätzungen zufolge erwarteten mich insgesamt etwa dreißig Jahre Arbeitslager. Ich hatte mit Devisen gehandelt, illegale Drogen konsumiert, die Stadt ohne entsprechendes Visum verlassen, ich besaß keine Propiska und etliches mehr.
Die Beamten ließen sich Dimitris Pass zeigen. (Obwohl das Papier »Passport« genannt wurde, ermächtigte es den Besitzer keineswegs zum Reisen. Dafür brauchte man einen internationalen Pass, und die Chancen, ein solches Dokument zu bekommen, waren gleich Null – es sei denn, man war eng mit Gorbatschow verwandt.) Weder die Polizisten noch Dimitri ließen sich in irgendeiner Weise davon aus der Ruhe bringen, dass Letzterer beinahe nackt war. Dimitri rauchte, während die Beamten seine Papiere überprüften.
»Sie sind hier nicht gemeldet«, verkündete der pickeligere der beiden Polizisten schließlich.
»Es ist die Wohnung meiner Mutter«, erklärte Dimitri gelassen. Ich fragte mich, ob er Sinaida Petrowna bereits instruiert hatte, seine Aussage zu bestätigen, oder ob er vorhatte, sie später durch Drohungen gefügig zu machen.
Da ich nun sicher sein konnte, dass ich nicht der Grund des frühmorgendlichen Besuchs war, trat ich, immer noch im Aufzug der letzten Nacht, aus dem Bad.
»Das ist meine Frau«, stellte Dimitri mich vor. »Sie ist stumm.«
Nanu? Ungläubig sah ich ihn an und hob die Augenbrauen, nickte aber den Beamten eifrig und mit fest aufeinandergepressten Lippen zu.
»Sie haben überall Blut«, bemerkte einer.
Ich nickte erneut, bevor ich mich umdrehte und davonschlich, um mich ins Bett zu legen und in aller Ruhe an Alkoholvergiftung zu sterben. Hoffentlich würde Dimitri nicht bleiben.
Das Gemurmel im Flur hielt noch eine Weile lang an. Irgendwann trat Dimitri ins Zimmer, um sich eine Hose überzuziehen.
»’s los?«, nuschelte ich.
»Irgendetwas nebenan. Sie brauchen Zeugen.«
Das Zimmer zwischen unserem und dem der alten Dame hatte seit unserem Einzug leer gestanden, aber vorige Woche war ein junges Pärchen eingezogen. Obgleich sich alle Bewohner ein Bad und eine Küche teilten, hatte ich die junge Frau erst einmal gesehen, als ich spät nachts zum Klo musste. Sie kam gerade zur Tür herein, betrunken und stark geschminkt. Der Mann war mir bereits mehrfach über den Weg gelaufen. Er war sehr modern und westlich gekleidet. Miteinander gesprochen hatten wir nie.
Nun öffneten die Beamten die Tür zu ihrem Zimmer. Ihre schweren Lederstiefel polterten auf dem hölzernen Boden.
»Kommen Sie bitte«, sagten sie an Dimitri gewandt.
»In Ordnung«, hörte ich ihn sagen. Das war, bevor er laut aufstöhnte. »O mein Gott!«, entfuhr es ihm, und gleich darauf kam er zurück in unser Zimmer gestürzt, gefolgt von den beiden Polizisten.
Ich hob meine Hand an die Stirn.
Dimitri unterschrieb ein Formular, womit er bestätigte, den Tatort gesehen zu haben.
Danach war ich an der Reihe. Mühsam rappelte ich mich auf. Dimitri war kalkweiß im Gesicht. Die Polizisten sprachen nicht mit mir, und ich, als Stumme, sprach auch nicht mit ihnen. Zaghaft lugte ich in den Raum und erblickte die Leichen meiner Nachbarn. Am Boden lag eine Axt. Eine Holzfälleraxt, groß und mächtig wie das Werkzeug einer Märchengestalt. Die Frau lag auf dem schmalen Bett, das sich das Paar offenbar geteilt hatte. Ihr Kopf war fast vollständig vom Rumpf abgetrennt. Sie trug noch ihre Wintersachen. Die Verletzungen des nackten Mannes waren, sofern möglich, noch schauerlicher. Ich schlug die Hand vor den Mund und musste würgen. Wahrscheinlich hatte er zuerst die Frau getötet und dann sich selbst, indem er sich das Bein über dem Knie abgehackt hatte und verblutet war. Überall war Blut. Überall. Der Gestank war überwältigend und erinnerte mich an den von einem Stück Fleisch, das mehrere Tage in der Sonne gelegen hat. Süß und faulig. Ich übergab mich auf dem Fußboden.
Das war vor sechzehn Jahren. Ich war neunzehn. An mehr kann ich mich aus jener Nacht nicht erinnern. Außer daran, dass jemand während meiner Abwesenheit tatsächlich das tiefgefrorene Hühnchen gestohlen hatte.
Es war der erste richtige Auftrag, den ich seit meinem Zusammenbruch bekommen hatte: Moskau.
Nach meiner endgültigen Trennung von Dimitri war ich noch mehrere Male zurückgekehrt, aber niemals für längere Zeit. Samtkleider habe ich seit jener Nacht übrigens auch nie wieder getragen.
Ich hatte mich weiß Gott nicht um den Posten gerissen, es allerdings für klüger gehalten, ein wenig guten Willen zu zeigen, um zu vermeiden, dass ich an die Luft gesetzt wurde. Eine Weigerung hätte mein Arbeitgeber sicher nicht gerade wohlwollend aufgenommen, und außerdem scheint es unangebracht, die Primadonna zu spielen, wenn man mehr als genug damit beschäftigt ist, den Wahnsinn zu bekämpfen, der im eigenen Inneren brodelt. Unglücklicherweise hatte ich nämlich während des Irakkriegs in Qatar den Verstand verloren. Das ist wörtlich zu nehmen. Tja, so geht es, wenn man sich verliebt. Jedenfalls waren vertrauensbildende Maßnahmen dringend geboten.
Tamsin, immer noch Leiterin des Auslandsressorts, und der Redakteur der Kolumnen-Seite hatten mich zum Mittagessen in ein großes Fischrestaurant in Butler’s Wharf eingeladen. Wir saßen draußen und knackten Hummerscheren mit großen Metallzangen, die im Sonnenlicht blitzten.
Tamsin schleckte sich Butter von den Fingern. »Also Russland, Zanetti«, begann sie. »Kennst du sie noch, deine alte Liebe?«
»Seit Jahren nicht gesehen«, murmelte ich, woraufhin sie mich fragend anblickte. »Trotzdem. Russland und ich – alte Freunde, wir zwei«, beeilte ich mich zu sagen. »Aber wieso? Was ist mit Toby? Geht er weg?« Toby war ein Mann, der stets im Dreiteiler in der Moskauer Redaktion auftauchte – ein schäbiges Büro in einem großen Gebäudekomplex voller Ausländer. Nebenbei verdiente er ein hübsches Sümmchen durch illegalen Kaviarhandel.
»Miami«, sagte Tamsin und zündete sich eine Zigarette an. Der Herr von der Kolumnen-Seite hüstelte und betupfte sich die Mundwinkel mit seiner großen weißen Serviette. Mir war zu Ohren gekommen, dass er bei den Lokalwahlen nächsten Monat für die Torys kandidieren würde. Bestimmt würde er gewinnen.
»Miami? Was um alles in der Welt will er in Miami?« Ich lachte dröhnend, tastete in meinen Taschen vergeblich nach Zigaretten und nahm schließlich eine aus Tamsins Schachtel.
»Wir eröffnen dort ein Büro«, klärte sie mich mit Trotz in der Stimme auf.
»Toby McFarquhar wird der neue Karibik-Korrespondet des Chronicle? Worüber soll er denn da unten berichten? Nennt man es neuerdings etwa investigativen Journalismus, wenn man sich in einem Spa auf Nevis einmietet, um die nackte Wahrheit über Tiefenentspannung ans Licht zu zerren?« Vor einiger Zeit hatte ich einen Artikel über das Thema in der Financial Times gelesen. Der Glückliche, dem man einen solchen Rechercheauftrag zugeteilt hatte!
»Zanetti, ich habe nicht die Absicht, die Entscheidungen des Herausgebers vor dir zu rechtfertigen. Es gibt viele gute Storys, die uns entgehen, weil wir sie von New York oder Washington aus abdecken müssen.«
Absolut. Aber Toby würde nichts weiter tun, als Bildunterschriften für halbseitige Prominentenfotos zu verfassen. Wer wurde am Strand gesichtet? Wessen Brüste waren plötzlich kleiner, größer, verdächtig verhüllt oder unanständig entblößt? Daneben gab es vielleicht den einen oder anderen Mord. All die verrückten, nicht ganz adligen Engländer, die sich – der Geist vernebelt von der Hitze und dem Übermaß an Alkohol – aus Eifersucht über belanglose Affären abmurksten. Immerhin wusste ich nun, um welchen Posten ich mich bewerben würde, wenn ich aufs Altenteil musste. Aber wenn es so weiterging, war das nicht mehr lange hin.
Aber Moskau ... Dort gab es nur eine einzige Hoffnung auf ein kleines bisschen Abwechslung: Tschetschenien. Es ist nicht besonders feinfühlig, das zuzugeben, aber wenn nicht gerade Krieg herrscht, fällt es mir manchmal schwer, mich für die Arbeit zu begeistern. Wenn man lange genug am äußersten Rand des Lebens gewandelt ist, hat man Mühe, sich wieder auf die alltägliche Mitte zu konzentrieren. Die Arbeit als Kriegsberichterstatter führt dazu (Gott weiß, dass fast alle meine Kollegen ein Buch darüber geschrieben haben), dass man einen ganz bestimmten Blick für die Realität gewinnt, den man für unverrückbar hält. Wenn man die größten Schrecken mit angesehen hat, kommt einem alles andere unbedeutend vor. Plötzlich sind die Zeitungen voll von Artikeln, die einem in ihrer Banalität geradezu absurd erscheinen: Ein Premierminister hat gelogen. Das Gesundheitsamt warnt vor dem Verzehr von Fisch. Bitte untertänigst um Vergebung, aber anderswo auf der Welt werden kleinen Kindern die Beine von Minen weggerissen, Frauen werden von Soldaten vergewaltigt und vor den Augen ihrer Familien ermordet. Man verschone mich mit schwindelnden Politikern und einem möglichen Gesundheitsrisiko durch Zuchtlachs!
Das ist die Haltung, die jeder in meiner Branche früher oder später annimmt, und man kommt sich dabei sehr abgeklärt vor. Das Problem ist nur, dass man sehr schnell sehr einsam wird, wenn man all jene Menschen aufrichtig verachtet, die sich über die Fuchsjagd ereifern. Die meisten von uns sind es schon – einsam. Des Weiteren ist es ja nicht so, als würden wir um die Welt jetten, um dem Krieg und dem Unrecht ein Ende zu bereiten. Wir schauen bloß zu, auch wenn die Bücher meiner Kollegen ihren Lesern in vielen Fällen etwas anderes weismachen wollen. Daher birgt unsere Pose – »Ich habe das Grauen des Krieges erlebt!« – noch einen weiteren Stolperstein: Wenn man nämlich zum ersten Mal einen solchen Schrecken am eigenen Leib erlebt, weiß man gar nicht, wie man damit umgehen soll. Man hat dem Leid so lange zugesehen, dass man es versäumt hat, sich auf den Moment vorzubereiten, an dem es einen selbst trifft. Man hat nichts, womit man sich helfen könnte.
Sehen Sie nur, ich rede von »man«. Ist Ihnen aufgefallen, dass die Menschen, wann immer sie über etwas Schreckliches sprechen, dies in der unpersönlichen Form tun? Katastrophenopfer im Fernsehen sagen nie: »Ich hatte furchtbare Angst. Ich dachte: Jetzt muss ich sterben.« Sie sagen: »Man hat furchtbare Angst. Man denkt, man muss sterben.« Es ist eine Art, Distanz zu schaffen. Genau wie bei der Arbeit des Korrespondenten: Wir beobachten etwas, verdauen es und spucken es wieder aus. Es soll der ganzen Welt gehören und nicht unseren eigenen Organismus vergiften. Reiner Selbstbetrug, wie man sich vorstellen kann, denn es bleibt immer ein Rest im Körper, der vor sich hin gärt und sich irgendwann einen anderen Weg an die Oberfläche frisst. Das habe ich in Qatar gemerkt, als ich dem Wahnsinn anheimfiel. Ich dachte tatsächlich, in meinem Koffer sei eine Bombe versteckt. Eigentlich bin ich mir immer noch nicht sicher, dass es nicht so war – aber bitte sagen Sie meinem Psychiater nichts davon.
Was ich mit alldem ausdrücken will, ist Folgendes: Als mich selbst ein Schicksalsschlag traf, war ich nicht darauf vorbereitet. (Es bereitet mir große Mühe, in der Ich-Form zu bleiben.) Dabei handelte es sich nicht einmal um eine schreckliche Gewalttat, sondern um einen ganz normalen Teil des Lebens. Wer, wenn nicht ich, hätte glänzend damit zurechtkommen müssen? Wer, wenn nicht ich, hätte in der Lage sein müssen, gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen, und zwar viel schneller als die Menschen, die nicht all das Grauen erlebt haben, dessen Zeuge ich im Laufe meiner Arbeit geworden bin?
Aber ich konnte es nicht.
Was war geschehen?
Schlicht dies: Meine Mutter war gestorben.
Ich hatte Urlaub – eine kleine Auszeit, bevor ich nach Moskau ging. Ich bin nicht sehr gut im Urlaubmachen. Ich nehme mein Laptop mit und rufe pausenlos meine E-Mails ab. Sobald ich einen Kiosk sehe, kaufe ich sämtliche Zeitungen, deren ich habhaft werden und die in einer Sprache geschrieben sind, die ich halbwegs entziffern kann. Ich sitze in einem lauschigen Café, trinke literweise Kaffee, rauche, überfliege die Schlagzeilen und trommle währenddessen mit den Fingern auf die marmorne Tischplatte. Um solche Zwangshandlungen zu vermeiden, hatte ich diesmal ein Angebot für ein Feature in der Wochenendausgabe angenommen. Ich wollte meine Freundin Leonore besuchen, die eine Ranch in Simbabwe besitzt und wundersamerweise bis jetzt noch nicht von Mugabe enteignet wurde. Dort konnte ich arbeiten, ohne mir wie ein armseliger Junkie vorzukommen. Gleichzeitig konnte ich mich richtig entspannen, weil ich nicht das Gefühl haben musste, zwanghaft untätig zu sein. Brillant.
Darüber hinaus war ich einige Wochen lang für Nachrichten aus der Region zuständig (dies teilte man mir kurz vor meiner Abreise mit, und insgeheim war ich stolz). Der Afrikakorrespondent hatte sich in eine Entzugsklinik in Surrey zurückgezogen, um dort ein für alle Mal seine Alkoholsucht zu überwinden. Viel Glück. Als ich mit dem zuständigen Ressort das geplante Feature besprach – ich wollte über einige Veteranen aus dem Bürgerkrieg berichten –, sagte Tamsin nur: »Das zieht dich bestimmt ganz schön runter, Faith.«
Recht hatte sie.
Trotzdem war es aufregend. Ich fuhr in einem rostigen Jeep an grünen Tümpeln voller Nilpferde vorbei und beobachtete die Wogen springender Impalaherden. Das Feature über das Schicksal der Weißen, die für das, was früher einmal Rhodesien war, gekämpft und verloren hatten, wurde wie erwartet ausgesprochen düster. Ich saß in der brennenden Äquatorialsonne unter einer Passionsfruchtranke und sprach mit einem Menschen, der durch das, was er getan und erlebt hatte, so zerfressen war, dass es schien, als sei nur noch ein Wrack von ihm übrig. Etwas, das in einen tranceartigen Zustand verfallen war und nur noch mechanisch funktionierte, während sein Inneres in Wirklichkeit schon vor Jahren gestorben war.
»Hätte es ein Kriegstribunal gegeben«, klärte mich der Alkoholiker mit den toten Augen auf, »wären wir alle verurteilt worden.«
Terry war sein Name. Er trug seine Blutgruppe als Tätowierung auf seinem Unterarm.
Leonore, die mich mit Terry bekannt gemacht hatte, sagte, dass er tatsächlich um ein Haar vor ein Kriegsgericht gestellt worden wäre, weil er die Folterung und Vergewaltigung von sieben Frauen und Kindern in einem Dorf im Busch angeordnet hatte. Er und seine Männer hatten fünf Tage lang nicht geschlafen, es hatte kaum noch Wasservorräte gegeben, die Hitze war mörderisch gewesen, die körperlichen Anstrengungen unerträglich. Angeblich. Er plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit und kam davon. Er war noch immer überzeugt davon, den psychologischen Gutachtern ein Schnippchen geschlagen zu haben. Ich dachte dabei nur eins: Wenn er damals noch nicht wahnsinnig war, so ist er es jetzt.
Nicht zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass man Menschen, die etwas Unaussprechliches getan hatten, eigentlich gar nicht bestrafen muss. Damit gibt man ihnen nur etwas, wogegen sie sich auflehnen können. Wenn man sie in Ruhe lässt, sind sie sich selbst Strafe genug. Sie verdorren innerlich, weil sie keinen Frieden finden. Anfangs hatte ich Mitleid für Terry empfinden wollen. Doch dann begann er mir von den Gräueltaten zu berichten, die er begangen hatte, und ich nippte an meinem Bier, lächelte mechanisch und dachte bei mir, dass er es verdient hatte, sehr, sehr lange zu leben, damit er nicht allzu früh durch den Totenschlaf von seinen inneren Qualen erlöst würde.
Tod. Genau, das war die Verbindung. Ich war gerade beim Zähneputzen, als ich es erfuhr. Mein Zimmer auf der Ranch war riesig und spärlich möbliert, mit einem massiven Teakbett, eingehüllt in Moskitonetze. Bambustüren gingen auf die Veranda hinaus. Eine SMS erreichte mich: »Ruf mich an. Schlechte Nachrichten. Eden.«
Eden Jones: ehemaliger Kommilitone und Gelegenheitsaffäre. Während meiner Abwesenheit wohnte er in meinem Londoner Apartment und wartete darauf, dass sein Vertrag bei seinem derzeitigen Arbeitgeber, einer Londoner Tageszeitung, auslief. Er hatte vor Kurzem einen fantastischen Auftrag für den New Yorker an Land gezogen. Keine Ahnung, wie er das geschafft hatte. Kann kaum einen vollständigen Satz formulieren, aber vielleicht erledigen das dort die Redakteure.
Ich zog mich aufs Bett zurück und steckte mir eine Zigarette an. Dort unter den Moskitonetzen war es wie in einem ganz eigenen Universum: Aschenbecher, eine Tasse kalter Kaffee, Zeitungen, Telefon, Laptop – alles da.
»Was ist los?«, fragte ich ihn, sobald er den Hörer abgenommen hatte.
»Faith«, sagte er. »Deine Mutter ist tot.«
Ich war ihm dankbar dafür, dass er es ohne Mühe und peinliche Formulierungen über die Lippen gebracht hatte. Dafür, dass er es mir einfach gesagt und dabei nicht den Eindruck erweckt hatte, er wolle so schnell wie möglich wieder auflegen, weil er unter der ungeheuren Verantwortung zusammenzubrechen drohte.
»Ah«, sagte ich, und empfand noch gar nichts. »Wie ist es passiert?«
Sie hatte mit ihrer Freundin Pauline am Küchentisch gesessen und zu Mittag gegessen. Sie hatten sich etwas vom Chinesen kommen lassen. Pauline ist Nigerianerin und hatte in der Vergangenheit ständig versucht, Mum zu überreden, mit ihr nach Lagos zu fahren. Lagos, um Himmels willen! Als ich damals in Moskau lebte, wimmelte es dort von Menschen aus Lagos, die auf der Suche nach einem besseren Leben waren. Wenn es sie dazu ausgerechnet nach Moskau verschlagen hatte, konnte das nur bedeuten, dass Lagos eine echte Scheißgrube sein musste.
Haben Sie es gemerkt? Das war mein Verstand bei dem Versuch, das, was Eden mir mitgeteilt hatte, nicht zu verarbeiten.
Sie hatten also gerade Hühnchen mit Cashewnüssen, Spinat in Knoblauchsauce, gedämpfte Klöße und Reis nach Kanton-Art gegessen. Dazu eine Flasche überzuckerten kalifornischen Wein getrunken. Meine Mutter hatte sich über Kopfschmerzen beklagt und sich in die Nasenwurzel gezwickt. Irgendwann war sie aufgestanden und hatte gesagt: »Ich fühle mich ein bisschen komisch.« Dann war sie einfach umgekippt. Tot. Das ist, da sind sich die Mediziner einig, die beste Art, abzutreten. Kurz und schmerzlos. Eine massive Gehirnblutung. Sie war zweiundsechzig Jahre alt. Vor zehn Jahren hätte ich das noch für ein respektables Alter gehalten. Inzwischen kommt es mir sehr jung vor.
Ich hatte mich für das Telefonat mit Eden auf den Ellbogen gestützt. Nun legte ich mich auf den Rücken und betrachtete den Deckenventilator aus Messing, der träge die schwüle Luft durchpflügte. Ein Moskito war bis unter das Netz vorgedrungen, und ich blies ihm Zigarettenrauch entgegen. Ein Lied kam mir in den Sinn, von Mike and the Mechanics, glaube ich. Es handelt davon, dass mit dem Tod auf einmal alles zu spät ist. So wie jetzt. Zu spät.
Natürlich hatte ich schon vor Jahren aufgehört zu hoffen, dass Mutter mich eines Tages wieder zu sich nehmen würde. Aber anfangs, direkt nachdem ich zu meinem Vater und Evie gezogen war, konnte ich nicht glauben, dass sie mich einfach so hatte gehen lassen. Nachts lag ich wach und wartete darauf, dass es an der Tür klingelte. Glaubte, dass sie mich holen kommen würde. Wenn nicht in dieser Nacht, dann in der nächsten. Damals wusste ich nicht, dass sie, hätte sie auch nur den Versuch unternommen, sich mir zu nähern, sofort verhaftet worden wäre. Und ebenso wenig wusste ich, dass es einmal tatsächlich so weit gekommen war.
Dann, nicht lange nachdem ich über einen erschütternden Fall von Kindesmissbrauch in Jerusalem berichtet hatte, machte ich mich auf die Suche nach ihr. Schwer war es nicht – ich wusste, wo sie wohnte, und hatte sogar ihre Telefonnummer. Sie hatte stets mit Evie Kontakt gehalten, auch schon vor dem Tod meines Vaters.
Ich brachte ihr eine Krippe aus Olivenholz mit, die ich in Bethlehem gekauft hatte. Im Gegenzug schenkte sie mir eine Flasche Spülung für mein widerspenstiges blondes Kraushaar. Sie weinte sehr viel. Von da an sahen wir uns öfter, aber es stellte sich rasch heraus, dass nur sie wirklich davon profitierte. Sie brauchte nicht mehr traurig zu sein, nicht länger in dem Glauben zu leben, mich im Stich gelassen zu haben. Durch meine Rückkehr war ihr die Last genommen, sich wie eine Versagerin fühlen zu müssen. Für mich war nichts dergleichen drin. Vermutlich hatte ich das gehofft, was wir alle hoffen. Wir alle sind auf der Suche nach jemandem – sei es ein Elternteil oder ein Geliebter –, der uns in die Arme nimmt und uns all die Sicherheit und Geborgenheit und Liebe gibt, nach der wir uns ein Leben lang sehnen. Ein Wunsch, der sich für mich nicht erfüllte – erfüllt er sich für andere? –, denn wieder war ich diejenige, die sich kümmern musste, so wie ich es schon als Kind während ihrer Alkoholabhängigkeit getan hatte. Es hatte sich nichts geändert.
Und jetzt war es ein für alle Mal zu spät. Sie würde nie mehr die Gelegenheit bekommen, mir die Haare zu bürsten, mich endlich einmal nüchtern zur Schule zu bringen, mir zum Geburtstag Kekse zu backen oder abends ein Schlaflied zu singen.
Andererseits: War es dafür nicht sowieso längst zu spät? Ich bin fünfunddreißig.
Der Leichenwagen hatte eine Panne. Wir, etwa zwanzig Trauergäste, standen unentschlossen auf der Streatham High Road herum, während ein Jüngling im schwarzen Anzug mit dem Büro des Bestatters telefonierte, um ein Ersatzfahrzeug herbeizurufen. Er entfaltete ein Warndreieck, stellte es vorschriftsmäßig auf der Straße auf, sah mich an und verdrehte entnervt die Augen. Offenbar war er sich nicht bewusst, dass ich die Haupttrauernde war. Niemand weinte.
Unsere Kolonne war vor einer Grundschule zum Stehen gekommen, gegen deren Zaun ich mich nun lehnte und rauchte. Ein hoher Metallzaun, mit Stacheldraht gekrönt. Angeblich diente diese todbringende Konstruktion dazu, Väter ohne Sorgerecht davon abzuhalten, auf das Gelände vorzudringen und ihre Kinder zu entführen.
Ein zweiter Leichenwagen hielt und schaltete das Warnblinklicht an. Die Sargträger luden meine Mutter um. Ich hatte ein Blumengesteck bestellt, das aus weißen Chrysanthemen bestand. Sie bildeten den Schriftzug »Mum«. Während des Verladevorgangs musste einer der Sargträger es halten. Ich hatte es gut gemeint, aber das lustig gemeinte Gesteck wirkte in Wahrheit zutiefst deprimierend. Beerdigungshumor – wie armselig.
»Los geht’s«, sagte der Fahrer. Wir stiegen wieder in unsere großen schwarzen Limousinen und folgten ihm zur Kapelle. Ich verstehe selbstverständlich, dass es unpassend ist, wenn ein Leichenwagen mit neunzig Sachen und quietschenden Reifen um die Ecken geschossen kommt, aber das Schneckentempo, in dem wir vorwärtskrochen, machte mich wahnsinnig nervös. Ich musste unbedingt ...
»Ich glaube, man darf hier drin nicht rauchen«, sagte Pauline. Ich steckte die Zigarette zurück in die Tasche meiner Lederjacke und trommelte stattdessen mit den Fingern auf die Armlehne.
Drei Stunden zuvor war ich mit dem Flugzeug aus Harare angekommen. An Bord hatte ich kein Auge zugetan, dafür aber ordentlich getankt, und jetzt waren meine Lippen staubtrocken, und allerlei übersäuerte Gedanken wirbelten mir im Kopf herum. Hätte ich doch nur den Muffin gegessen, den man mir zum Frühstück serviert hatte, selbst wenn er aussah, als sei er aus Pressspan gebacken worden. (Es heißt nicht umsonst Holzklasse.)
Evie wartete in der Kirche auf mich. Ich setzte mich neben sie und ergriff ihre Hand. Sie duftete nach Veilchen und sah aus wie Coco Chanel. Wenn irgendeine Frau meine Mutter gewesen war, dann Evie. Inzwischen hatte sie längst eigene Kinder, beide bereits erwachsen. Mo studiert, und Sash ist in Indien, um sich dort auf einem Berg selbst zu finden. Evies Mann arbeitet in Hongkong, und man bekommt ihn kaum je zu Gesicht. Vielleicht ist das eine glücklichere Verbindung als die mit meinem Vater, bei der sie sich um seine Tochter kümmern musste, während er in der Weltgeschichte herumreiste und sich in die Luft sprengen ließ.
Als wir gerade »Der Herr ist mein Hirte« anstimmten, kam Eden in die Kirche geschlüpft. Ich versuchte, meine aufsteigenden Tränen durch besonders eifriges Singen zu unterdrücken. »Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil ...« Es funktionierte nicht besonders gut. Ich hatte das Gefühl, schon viel zu lange in finsterer Schlucht gewandert zu sein. Berufshalber, gewissermaßen.
Wo hatte Eden bloß den schwarzen Anzug aufgetrieben? Er sah aus, als habe er darin geschlafen – aber das ist sein üblicher Look. Seine Haare waren noch nass vom Duschen, und bestimmt hatte er sich erst Sekunden zuvor rasiert (höchstwahrscheinlich im Taxi). Er glitt neben mich in die Bank und legte mir den Arm um die Schultern. Ich blickte auf seine Füße hinab und sah, dass er Turnschuhe trug.
»Hast du das gekauft, Zanetti?«, flüsterte er und deutete mit dem Kopf auf die Chrysanthemen.
»M-hm«, machte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Himmel«, brummte er.
Mit tränenblinden Augen starrte ich geradeaus. Ich wusste nicht, wohin mit meiner Trauer. Wenn der Ehepartner nach dreißig gemeinsamen Jahren stirbt, kann man sich kopfüber in die Umstrukturierung des eigenen Lebens stürzen, die sein Tod notwendig gemacht hat. Sterben die geliebten Eltern, so kann man mit all ihren Freunden sprechen, Fotos in Alben kleben und den eigenen Kindern von ihnen erzählen. Den eigenen Kindern ...
Ich hatte meine Mutter nicht einmal richtig gekannt. Einfach weitermachen wie bisher – das schien die einzig angebrachte Reaktion. Selbst mit Eden darüber zu sprechen kam mir ein wenig egozentrisch und überspannt vor, da ich fast nichts mit ihr zu tun gehabt hatte. Was verband mich mit ihr? Dennoch saß tief in meinem Magen ein Schmerz, der nicht weichen wollte. Ich musste mich zusammennehmen und redete mir allerlei ein: Der Tod ist ein Teil des Lebens. Für die meisten anderen Menschen ist das Ableben ihrer Eltern eine viel schlimmere Erfahrung als für dich ... Ich erinnerte mich daran, dass mir der Tod meines Vaters damals wie ein Weltuntergang erschienen war – ein verheerendes, aber gleichzeitig klares Gefühl. Im Geiste zuckte ich mit den Schultern und dachte an die russische Sitte, »bywajet« zu sagen – »Was passiert, passiert«. Aber eine Frage bleibt, und zwar diese: Wenn, evolutionär gesprochen, der Tod keine große Sache ist, da er früher oder später jeden ereilt – worin besteht dann der Zweck, wie ein Hund darunter zu leiden? Wenn der Tod nichts Besonderes ist, warum tut es dann so verdammt weh?
Als Westeuropäer ist man vermutlich noch zusätzlich im Nachteil. Oder vielmehr: als Westeuropäer in der heutigen Zeit. Vor hundert Jahren hätte jeder bereits im Alter von fünf Jahren seine erste Begegnung mit dem Tod gehabt. Ich hätte mittlerweile eine Hand voll Kinder – einige tote und einige lebende. Damals war der Tod wirklich noch Teil des Lebens. Die Särge waren offen, selbst kleine Kinder durften alles sehen. Heute hingegen verwenden wir unsere gesamte Energie darauf, so zu tun, als würden wir und all jene, die uns nahestehen, niemals sterben, solange wir nur immer brav den Sicherheitsgurt anlegen, regelmäßig zur Impfung gehen, nicht rauchen, nicht trinken, stattdessen fleißig Brokkoli essen und täglich mindestens anderthalb Liter Wasser trinken. Wenn wir dem Tod schließlich doch begegnen (was unweigerlich passiert), sind wir vollkommen verwirrt und hilflos. Nicht, dass dies zwei Adjektive wären, die ich jemals auf mich selbst anwenden würde.
Damals, als mein Vater starb, war es ganz anders. Ich war noch klein und wollte einfach nur, dass er zurückkam. Ich betete sogar darum. Ich betete, dass die Nachricht von seinem Tod nicht wahr sein möge, dass er eines Tages wieder vor der Tür stünde, zerzaust und voller wirrer Entschuldigungen für sein Fortbleiben.
Natürlich werden solche Gebete nie erhört. Aber welche dann?, frage ich mich. Wenn es zu gierig ist, um das zu bitten, was man wirklich will – was ist dann das richtige Maß? Ein vorzeigbares Prüfungsergebnis? Ein interessierter Blick von einem gutaussehenden Mann?
Inzwischen waren wir auf dem Friedhof angekommen. Eden hatte immer noch den Arm um mich gelegt. Evie hatte sich bereits verabschiedet. Wahrscheinlich war sie erleichtert, endlich die Frau los zu sein, die unaufgefordert in ihr Leben getreten war und so viel Unheil darin angerichtet hatte. Aber nein, für solche Gedanken ist Evie viel zu anständig. Sie ist ein ehemaliges Supermodel aus Pittsburgh und hat nie vergessen, woher sie kommt. Immer wieder betont sie, dass sie ohne ihr Gesicht wie ihr Vater ein trostloses Dasein irgendwo in einem Trailer Park fristen und ihre Sorgen in Schnaps ertränken würde. Und obgleich sie jedes Mal lacht, wenn sie das sagt, meint sie es bitterernst.
»Denn Staub bist du, und zum Staub kehrst du zurück ...«
Ich warf eine Hand voll Erde auf den Sarg. Mir schwindelte, und unerklärlicherweise war ich wütend. Ich habe so viele Menschen über den Särgen ihrer Söhne weinen sehen, Söhne, die in einem der zahllosen Kriege auf dieser Welt gefallen sind. Es reicht langsam. Kann nicht zur Abwechslung mal etwas Schönes passieren? Habe ich nicht das Recht, ausnahmsweise einmal das Gute am Werk zu sehen?
Dieser Trotz ... Typisch! Ich musste schmunzeln und wandte mich ab.
Pauline hatte einige schlaffe Sandwiches (sie waren natürlich nicht wirklich schlaff, ich dachte nur so über sie) anbieten und die Trauergäste mit reichlich Alkohol versorgen wollen, um ihnen über den Schmerz hinwegzuhelfen, aber das hätte ich nicht ausgehalten. Gemeinsam mit Eden fuhr ich in meine Wohnung nach Rosslyn Hill. Während meines Urlaubs hatte er, wie ich verärgert feststellte, die Kaffeemaschine kaputtgemacht.
Ich legte mich auf mein Bett (eine Matratze auf dem Fußboden und darauf ein Haufen weißer Decken und Kissen). Ich schloss die Augen. Eden werkelte in der Küche (ein Kühlschrank, zwei Kochplatten, eine kleine Spüle).
»Ich bin Waise«, rief ich ihm zu.
»Ich auch!«, brüllte er zurück. »Ein Drink?«
»Ja«, seufzte ich. »Warum nicht?«
Es ist immer wieder ein merkwürdiges Gefühl, auf einen Flug nach Moskau zu warten. Es gibt viel zu sehen.
Die Passagiere, die an diesem Tag mit mir in der Abflughalle saßen, waren bunt gemischt. Da gab es die üblichen Horden gepiercter Teenager mit farbenfrohen, teuren Rucksäcken, auf denen auffällige Logos prangten, oder die geschniegelten Männer, in Telefongespräche vertieft. Außerdem beobachtete ich einen Mann in einem uralten Tweedanzug und mit einer braunen Aktentasche, die ihm praktisch in den Händen auseinanderfiel. Er schlich sich an eine Frau in dicken Strumpfhosen heran und blieb vor ihr stehen, bis sie aufsah und ihn erkannte.
»Archie!«, rief sie überrascht. »Hältst du etwa den Vortrag?«
»Ich bin der Ersatz für Greigs«, seufzte der Mann und ließ sich neben ihr auf den Schalensitz fallen.
Bei dieser Nachricht klappte die Frau das Buch auf ihrem Schoß zu. »Es war ein entsetzlicher Schock«, sagte sie.
Archie nickte. »Noch schockierender ist es, wie wenig ich über Fonwisin weiß«, sagte er, und beide lachten.
Zwei russische Edelmiezen taten so, als seien sie hocherfreut, einander zu sehen, und herzten sich ausgiebig.
»Shopping, Shopping, Shopping!«, rief die eine vergnügt und hob ihre mit Tüten aus der Bond Street behängten Arme. Ihre Freundin wischte sich den Lippenstift von der linken Wange und präsentierte der anderen ihre Hand. Der Klunker daran blitzte selbst in dem diffusen Licht der Abflughalle von Terminal 2.
»Oho, Schwester! Wie heißt er denn?« Die erste Frau lachte, schob sich die Sonnenbrille ins Haar und beugte sich vor, um den Ringfinger ihrer Freundin eingehender zu inspizieren.
»Robin«, sagte die frisch Verlobte stolz.
»Meine Güte, was für ein alberner Name!«
»Und wenn schon«, sagte die Frau mit dem Ring. Dann drehte sie sich um und sah zu einer älteren Frau hinüber, die einen teuren Lederkoffer mit Logodruck hinter sich herzog. »Hier bin ich, Mama!«
Die Haare der Mutter waren sorgsam koloriert und perfekt gelegt, ihre Sonnebrille sah aus, als habe sie sie erst gestern gekauft, und sie war in jene gedeckten Beige- und Grautöne gekleidet, die gemeinhin von Superreichen bevorzugt werden. Ich schmunzelte. Mein Respekt. Diese Frau, inzwischen vielleicht Mitte sechzig, war im Kommunismus groß geworden, hatte die Lebensmittelknappheit der Achtziger erlebt und sich für jeden Bissen anstellen müssen, war vermutlich mit all ihren Habseligkeiten – Gabeln, wertloser Nippes, Lampenschirme – auf die Straße gegangen und hatte sie auf einem Küchentuch ausgebreitet feilgeboten, in der Hoffnung, dass ein Ausländer stehen bleiben und etwas kaufen würde. Sie hatte dreißig Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet. Sie hatte selbst nichts gegessen, um ihre Kinder ernähren zu können. Ihr Mann war vielleicht schon Jahre zuvor am Alkohol eingegangen. Und jetzt flog sie zusammen mit ihrer Tochter nach London zum Einkaufen. Gut gemacht.
Und meine Mutter? Etwas, das Eden gesagt hatte, schoss mir durch den Kopf. »Irgendetwas ist immer. Und wenn nur deine Mutter stirbt.«
Ich blickte auf das Buch, das ich im Flugzeug zu lesen vorgeben würde. Es war das Werk meines Vorvorgängers, Russland, wohin?, ein Buch über die Anfangsjahre der Ära Jelzin. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern, das wir damals hatten: Nun, da aus der Finsternis des Totalitarismus langsam die russische Demokratie emporstieg, schien alles möglich. Würden die Kommunisten wieder das Ruder übernehmen? Würde ein nationalistischer Irrer die Macht an sich reißen und es sich zur Aufgabe machen, jeden, der auch nur entfernt fremdländisch aussah, hinrichten zu lassen? Oder würde die Freiheit triumphieren und ein neues Zeitalter anbrechen? Ein Zeitalter mit nie gekannter Lebensqualität, blühenden Künsten und Wissenschaften und einem Hähnchen in jedem Kochtopf?
Stattdessen geschah das, was jeder mit ein wenig Weitsicht hätte voraussagen können: Die Demokratie überlebte zwar, ohne jedoch die Erwartungen zu erfüllen, die die Menschen in sie gesetzt hatten. Die meisten ihrer Versprechen vermochte sie nicht einzulösen, und niemand fühlte sich freier, sondern allenfalls um einiges betrogen. Das System fiel ebenso dem Filz und der Korruption anheim wie das eines jeden Landes, das mit ähnlichen Problemen wie Russland zu kämpfen hat. Es ist wie in Lateinamerika – bloß nicht so sommerlich warm.
Dem Aufruf per Lautsprecher folgend, drängten wir uns zum Gate. In der Schlange stand ich hinter zwei Vertretern von Coca-Cola.
»Wir haben eintausend Teilnehmer«, sagte einer von ihnen.
»Kennen sie das Produkt schon?«, erkundigte sich der andere.
»Aber nicht doch. Alles Jungfrauen.«
»Großartig.« Der zweite Mann nickte hochzufrieden, während er sich mit seiner Bordkarte Kühlung zufächelte.
Die Werbung ist in Russland inzwischen ebenso ausgeklügelt wie anderswo in Europa. Mein Lieblings-Werbespot zeigt einen weisen alten Bauern, der ein bisschen wie Tolstoi aussieht. Er geht mit seinem verwestlichten Enkel (Rollerblades und Ohrstecker) am Ufer der Moskwa spazieren. Tolstoi ist ganz und gar in buttergelbes Sonnenlicht getaucht und spricht salbungsvoll vom Herzen Russlands, welches sich, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, als ein Moosbeerensaft entpuppt.
Die Werbung hatte ihren Siegeszug über Russland recht zögerlich angetreten, damals, als ich noch mit meinem Mann in Moskau lebte. Es war zum Totlachen. Niemand hatte im Vorfeld Marktforschung betreiben dürfen, und darüber hinaus hatte man es hier mit Zielgruppen zu tun, die seit siebzig Jahren keiner Werbung mehr ausgesetzt gewesen waren und dem Konzept dementsprechend verständnislos gegenüberstanden. Die allererste Plakatwand wurde auf dem Puschkinplatz aufgestellt. Bis dahin war alles sehr ordentlich zugegangen: kein Graffiti, kein Müll auf den Gehsteigen, keine Leuchtreklame, kein Wettbewerb und nur sehr dürftige Straßenbeleuchtung. Geschäfte hießen »Brot« und »Milch« und »Fleisch« – eine unverschämte Übertreibung, da zu jener Zeit keiner der Läden die Waren anbot, die auf den Schildern angepriesen wurden. Wenn man, leicht frustriert, den Verkäufer darauf hinwies, dass draußen ein Schild mit der Aufschrift »Fleisch« hinge, erhielt man die patzige Antwort: »Na und? Auf dem Scheißhaus steht auch ›Damen‹ und ›Herren‹.«
Zurück zum ersten Werbeplakat: Darauf war ein Mann zu sehen, der eine Dose in der Hand hielt. Der Slogan war eine recht wörtliche und daher komplett sinnfreie Übersetzung des englischen Originals »More a can of drink than a way of life. Sprite« und lautete: »Viel mehr ein Glas Wasser als eine Lebenseinstellung. Sprite.«
Niemand hatte jemals zuvor von Sprite – oder vielmehr: Schprait – gehört oder war mit einer Reklamebotschaft konfrontiert worden, die auf eine Form der Produktwerbung anspielte, in der ein Konsumgut als Träger einer bestimmten Lebenseinstellung angepriesen wurde. (Die Coca-Cola-Plakate, auf denen dies versucht wurde, ernteten nichts als Spott.) Und überhaupt – wieso sollte man für ein Glas Wasser Geld ausgeben?
Das alles ist lange her. Inzwischen sind sogar die Russen gegen Versuche immun, ihnen das Essen bei McDonalds als Köstlichkeit zu verkaufen. In meiner Anfangszeit in Moskau musste man allerdings vor dem Schnellrestaurant drei Stunden Schlange stehen. Das weiß ich deshalb so genau, weil ich mit von der Partie war. Woanders gab es schließlich nichts zu essen. Einige Kinder verdienten sich ihr Taschengeld, indem sie die Bestellungen anderer entgegennahmen, sich unter den Beinen der Wartenden bis vorn zum Tresen durchdrängelten und das Essen für eine Provision von fünf Rubeln wieder nach draußen brachten. Mein Freund Adrian pflegte Servietten und Strohhalme mitgehen zu lassen, ebenso wie die Glühbirnen aus dem Klo und sogar Toilettenpapierrollen. Er war nicht der Einzige, und irgendwann sahen sich die Betreiber gezwungen, die Glühbirnen in fest installierte Glaskugeln einzuschließen. Der Rest wurde ganz einfach nicht mehr angeboten.
In derlei Erinnerungen versunken, starrte ich geistesabwesend aus dem Flugzeugfenster, als die Flugbegleiterin zu mir trat und mich bat, meinen Sicherheitsgurt anzulegen. Wie mir jetzt erst auffiel, saß ich neben einem Cello. Ein Mädchen mit langen blonden Haaren und einem Augenbrauenpiercing gehörte dazu.
»Laderaum geht nicht«, erklärte sie. »Zu kalt.«
»Aha.« Ich nickte. Auf der anderen Seite des Ganges unterhielt sich eine Katalogbraut, die soeben in London gewesen war, um ihren zukünftigen Ehemann kennenzulernen, mit ihrer englischen Sitznachbarin. Ob sechshundert Pfund für einen Verlobungsring viel oder wenig seien?
»Nun, das kommt ganz darauf an«, lautete die diplomatische Antwort ihrer Gesprächspartnerin.
»Und sind dreihundertfünfzigtausend eine große Hypothek? Was ist, wenn er stirbt und ich sie abbezahlen muss?«, wollte die Braut als Nächstes wissen. Und dann: »Ist Walton-on-Thames eine gute Wohngegend?«
Mein alter Lieblingskollege Don McCaughrean hatte versprochen, mich am Flughafen abzuholen. Er war mit seiner zweiten Frau Ira nach Moskau gezogen. Sie hatten sich während des letzten Irakkriegs in Bagdad kennengelernt. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, ungeachtet der Tatsache, dass er ein chronisch übergewichtiger, flegelhafter und obendrein alkoholsüchtiger Kriegsfotograf war und sie eine zarte, liebenswerte, kluge, vernünftige und überaus pragmatisch veranlagte Studentin. Eine Frau, die sich die Zehennägel lackierte, während unser Hotel unter Granatenbeschuss stand. Mit ihren zweiundzwanzig Jahren war sie bereits viel älter und weiser, als Don McCaughrean es jemals sein würde – und er hatte vier Jahrzehnte Zeit gehabt, an sich zu arbeiten.
Es ist ein ganz besonderes Gefühl, zurückzukommen. Schon wenn der Flieger russischen Luftraum erreicht, entspanne ich mich merklich. In Russland gelte ich nicht als absonderlich. Russland ist einer der wenigen Plätze auf der Welt, an dem alle Menschen um mich herum abgeklärter sind als ich und ich im Vergleich fast naiv und kindlich wirke.
So hatte ich, nachdem ich seinerzeit nach England zurückgekehrt war, einem russischen Freund berichtet, was sich in der Moskauer Wohnung zugetragen hatte.
»Jemand hat meine Nachbarn mit der Axt erschlagen«, sagte ich. »Mit einer Axt! Grauenhaft.«
Er zuckte mit den Schultern. »Kann vorkommen«, erwiderte er. »Bywajet.«
»Und als dann die Polizei kam –«, hob ich erneut an.
Urplötzlich war seine Neugier entflammt. »Die Polizei ist gekommen?«, fiel er mir aufgeregt ins Wort. »Unfassbar!«
Er hatte es nicht einmal ironisch gemeint. Seiner Ansicht nach war das der unglaublichste Teil der ganzen Geschichte gewesen.
Nachdem ich mein Gepäck in Empfang genommen hatte, blickte ich mich suchend um. Ich konnte den Mistkerl nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte ich im Flugzeug zu viel Wodka getrunken? Ach was – von »vielleicht« konnte keine Rede sein.
Ich und sämtliche Russen zündeten sich eine Zigarette an, während wir ruhelos in der Schlange vor dem Zoll warteten. Hunderte Schilder wiesen uns auf das Rauchverbot hin, die wir selbstverständlich ignorierten.
Heutzutage fliegt British Airways normalerweise den Flughafen Domodedowo an. Ursprünglich war er für internationale Flüge reserviert gewesen und berüchtigt für die Anzahl der Bruchlandungen und Abstürze. Deshalb hatten ihm die Amerikaner vor langer Zeit den Spitznamen »Dome of Death« verliehen. Inzwischen ist er komplett saniert und richtig nobel – was mir allerdings nichts nutzte, da unser Flugzeug in Scheremetjewo landete. Vielleicht der alten Zeiten wegen, dachte ich, denn hier hatte sich in den letzten zwanzig Jahren rein gar nichts verändert. Die Decke des Gebäudes sieht aus, als sei sie mit Millionen und Abermillionen antihaftbeschichteter Springformen beklebt, von denen etwa vierzig mit einer Glühbirne bestückt sind. Scheremetjewo ist ein schlecht beleuchteter, rauchverhangener und daher zutiefst russischer Ort.
Zahlreiche Wartende pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe, die den Zoll von der Ankunftshalle trennte, aber es war niemand darunter, den ich kannte. Ein alter Mann drängte sich durch die Menge, einen Strauß Nelken in der Hand, und lief auf seine Frau zu. Hünenhafte Kerle mit Goldzähnen bahnten sich den Weg zum Taxistand, und schmächtige Männer in billigen Anzügen hielten Pappschilder in die Höhe, auf denen ausländische Namen geschrieben standen. Die Luft war stickig – angefüllt von Zigarettenrauch und dem Dunst, der eintausend ungewaschenen und nassen Menschen entströmte. Ein kleiner Hund, die Leine hinter sich herschleifend, stürzte außer sich vor Freude auf sein Frauchen zu. Dieses ließ alle Koffer und Taschen fallen und hob ihren Schatz mit Tränen in den Augen hoch in die Luft.
Ein Mann in einer Lederjacke sah sich suchend unter den Ankommenden um. Er war in Begleitung einer hübschen jungen Frau, die ein Baby auf dem Arm trug. Plötzlich zeigte er auf mich. Die Frau lächelte. Sie sah aus wie Ira.
Don?
Unmöglich.
Schon kam der Mann auf mich zu und umarmte mich. Dann klopfte er mir fest auf den Rücken.
»Zanetti, du altes Luder! Du siehst grauenhaft aus!«
»Don?«, sagte ich unsicher und sah ihm forschend ins Gesicht. »Was um alles in der Welt ist mit dir passiert?«
Er breitete die Arme aus und strahlte. Dann drehte er sich im Kreis (wobei er mit seinen Armen einige der Umstehenden am Kopf traf) und wackelte, als er mir den Rücken zugedreht hatte, kokett mit dem Arsch.
»Grundgütiger«, stieß ich hervor.
»Nicht übel, was?«, fragte Ira, ebenfalls strahlend. Dann beugte sie sich über den Kopf des Babys hinweg, um mich auf die Wange zu küssen. »Das hier ist Dontschik.«
Ich musterte das Baby. »Dontschik?«
»Nach seinem Vater.« Sie errötete.
»Nach dem, was noch von seinem Vater übrig ist!« Ich schüttelte immer noch fassungslos den Kopf, als Don bereits meine Koffer ergriffen hatte und in Richtung des düsteren Parkplatzes davonstrebte.