Die Uhl im Gaslicht - Carsten Schlüter - E-Book

Die Uhl im Gaslicht E-Book

Carsten Schlüter

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Beschreibung

Drei unheimliche Fälle führen Privatdetektiv Holger Hammer in die übersinnliche Welt von Uelzen. Im Theater an der Ilmenau treibt ein unheimliches Phantom sein Unwesen und terrorisiert das neu gegründete Ensemble mit Botschaften. Doch dabei bleibt es nicht, denn schon bald taucht die erste Leiche unter der großen Bühne auf. Im Park des verlassenen Schlosses Holdenstedt streift eine unheimliche Frauengestalt nachts durch den Nebel. Das rätselhafte Geschwisterpaar Posalke beauftragt Hammer mit den Nachforschungen. Doch anders als Rowena Posalke, glaubt der Schnüffler nicht, dass es sich bei dem Gespenst um den Geist einer toten Jugendliebe handelt. Eine Schussverletzung zwingt Hammer schließlich, den unheimlichsten Ort Uelzens aufzusuchen: Das Krankenhaus. Hier verschwinden nachts auf mysteriöse Weise Patienten und immer ist die Gestalt einer Nonne auf den Fluren zu sehen. Als Hammer den Spuren nachgeht, entdeckt er, dass die Wahrheit grauenvoller ist, als jede Gruselgeschichte. "Die Uhl im Gaslicht" vereint die bekannten Noir-Elemente mit den Klassikern der Schauer-Literatur. Eine tödliche und unheimliche Mischung, wie sie nur in Uelzen möglich ist...

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Die

Uhl im Gaslicht

I.

Das Phantom der Uhl

Wer in Uelzen mit einem dicken Schädel aufwacht, muss nicht unbedingt gesoffen haben. Es reicht auch der Versuch, einen Arzttermin zu kriegen, oder die aktuellen Einbahnstraßen-Regelungen im Blick zu behalten. Oder, wie ich, das Pech zu haben, die Nächte in der Bahnhofstraße zu verbringen – dem Nürburgring der Kleinstadt-Poser.

Doch der Lärm in meinem Kopf an diesem Morgen stammte definitiv von einer unbekannten Hand, die an meine Bürotür hämmerte. Mühsam zog ich mich von der durchgelegenen Couch hoch, schleppte mich hinter meinen Schreibtisch und zog Scotch und Frühstücks-Kippe aus der Schubladen-Bar, bevor ich ein müdes „Herein“ Richtung Tür hustete.

Ich war sofort hellwach als die beiden unendlich langen Beine, die unter dem knappen Rock hervorwuchsen, mit hastigen Schritten auf meinen Schreibtisch zukamen. Sie gehörten einer jungen Frau mit dichten, dunkelblonden Locken, Kirschmund und großen blauen Augen. Eben der Typ Frau, der einen Mann um den Verstand bringt – und einem Schnüffler wie mir die nächste Miete sichert.

Ich versuchte, mir so gelassen wie möglich, die Zigarette anzustecken.

„Was kann ich für sie tun – Kleines?“

Sie hob eine Augenbraue. „Ist das ein Büro oder eine Zeitmaschine?“

Ich grinste schief. „Es ist ein Ort, den Frauen wie sie erst aufsuchen, wenn sie keine andere Wahl mehr haben. Also: Kommen wir auf meine ursprüngliche Frage zurück...“

Sie ließ sich mit einem tiefen Seufzen auf den Besucherstuhl fallen. „Jemand verfolgt mich – mit Briefen.“

„Okay. Das schließt die Mitarbeiter der Post schon mal aus. Ein Verehrer?“

„Eher ein Verrückter.“

„Was den Verdächtigenkreis in Uelzen nicht gerade kleiner macht... Fangen wir von vorne an. Wer sind sie?“

„Mein Name ist Mandy-Joelle Schwengelbeck. Aber meine Freunde nennen mich MaJo.“

„Sicher, dass das ihre Freunde sind?“

„Bitte, Herr Hammer – diese Sache ist nicht leicht für mich.“

Ich lehnte mich zurück und beobachtete, wie sie immer nervöser wurde – und ängstlicher. „Sorry. Erzählen sie.“

„Ich arbeite im Theater an der Ilmenau. Ich gehöre dort zu dem neuen musikalischen Ensemble.“

Meine Kultur-Kenntnisse endeten zwar bei der Jabelmannhalle, aber ich wurde trotzdem hellhörig.

„Das Theater hat ein eigenes Ensemble? Ich dachte, der Laden wäre nur ein Abstellraum für ausgemusterte Theatermöbel aus den 70er Jahren, in den sich hin und wieder Künstler verirren, die sonst niemand irgendwo sehen will.“

Sie hob wieder die Augenbraue und warf mir einen strafenden Blick zu.

„Sie irren, Herr Hammer. Seit der Renovierung hat sich eine Menge getan. Uelzen hat einen eigenen Theaterbetrieb gegründet. Mit eigenem Orchester und eigenem Profi-Ensemble. So wie Lüneburg.“

„Aber der Lüneburger Laden steht doch immer mit einem Fuß im Grab...“

„Das ist egal. Was Lüneburg hat, will Uelzen auch haben.“

„Stimmt – selbst wenn es die Pocken sind. Aber ich wollte nicht abschweifen. Sie sind da also... Musikerin...“

„Ich spiele die erste Flöte. Wir stecken mitten in den Vorbereitungen für die neue Spielzeit. Vor zwei Wochen kam der erste Brief.“ Zitternd holte sie einen zerknitterten Umschlag aus der Handtasche und warf ihn auf die Tischplatte, als wäre er mit Säure getränkt.

„Was steht drin?“

„Hauptsächlich wie unglaublich gut mein Flötenspiel sei. Dass ich mein Talent an diese Produktion vergeude und bald mein wahres Können zutage treten würde. Ich hatte mir erst nichts dabei gedacht, doch dann kam noch ein Brief und noch einer. Immer wieder ging es darum, dass ich mich bereit machen solle, berühmt zu werden. Und zwar unter der Leitung dieses unheimlichen Briefeschreibers. Er sagt, er würde mich unter seine Fittiche nehmen. Gemeinsam würden wir die höchsten Höhen des Flötenhimmels erklimmen. Oh, Herr Hammer! Ich habe solche Angst!“

„Kann ich verstehen. Niemand will Post von jemandem kriegen, der von Flöten besessen ist. Nicht mal in Uelzen!“

Sie packte noch drei weitere Briefe aus, die ich kurz überflog.

Die Handschrift war krakelig, der Satzbau chaotisch. Das fleckige Papier verströmte einen modrigen Geruch. Auf dem Umschlag stand nur „Mandy-Joelle“ - keine Adresse, keine Marke.

„Wie kamen die Briefe zu ihnen?“

„Sie lagen in meiner Garderobe.“

„Haben sie sie jemandem gezeigt?“

„Sandro, unserem Orchesterleiter und Herrn Böckbauer, dem Intendanten.“

„Interessant, was dieses Theater auf einmal alles hat. Was sagen die?“

Meine verängstigte Besucherin hob die Schultern. „Dass ich mich nicht drum kümmern soll. Ganz ehrlich, Herr Hammer: Ich habe das Gefühl, dass sie mir etwas verschweigen. Dass sie mehr wissen, als sie zugeben wollen.“

„In Uelzen täuscht das – auch wenn ich ihren Eindruck verstehen kann. Der Brief muss im Theater entstanden sein. Er stinkt und er wurde nicht verschickt. Also ist der Schreiber jemand in ihrer Nähe.“

„Wow, sie sind wirklich ein guter Detektiv...“

„Für die Rechnung ist es trotzdem noch zu früh. Haben sie einen Verdacht oder eine Ahnung, worauf der Kerl hinaus will mit dem Gesäusel über ihr Flötenspiel?“

„Ich weiß gar nichts, Herr Hammer – nur, dass ich mich fürchte, ins Theater zu gehen.“

„Geht mir genauso, wenn ich mir das Programm ansehe. Ich werde sie begleiten, wenn sie wollen.“

„Oh, das wäre eine große Beruhigung.“

„Dann lassen sie uns gehen – und ein bisschen Staub aufwirbeln.“

*

„Das ist die mit Abstand beschissenste Scheiße, die ich je gesehen habe!“

Obwohl Polizeikommissar Walter Wolter aus seinen verkniffenen Schweinsaugen direkt zu mir sah, war ich sicher, dass er nicht mich meinte, sondern die Reste der plattgedrückten Leiche auf dem Betonboden zwischen uns.

Als ich mit meiner neuen Auftraggeberin zum Bühneneingang gekommen war, war der Parkplatz schon mit Bullenwagen verstopft.

Mandy-Joelle hatte meinen Arm gepackt und mich ängstlich angesehen.

„Oh Gott, Herr Hammer! Hier muss etwas Furchtbares passiert sein!“

„Ja. Vielleicht die neue Ausstellung vom Kunstverein und jetzt brauchen die Mitglieder Personenschutz.“

Sie hatte mich ratlos angesehen und ich erklärte ihr, dass es nur der Versuch eines Witzes gewesen war.

Wir folgten also der Spur aus abgestandenem Kaffee und Butterbrotpapier bis in den Keller. Aus einer offenen Tür in der Wand quollen immer wieder blau Uniformierte wie aus einem Bienenstock. Ich erfuhr von meiner Begleiterin, dass dahinter der Hohlraum für die absenkbare Bühne lag. Die war irgendeinem armen Schwein auf den Kopf gefallen. Das schloss ich aus den Blutspuren am Boden und dem Gezeter von Walter Wolter.

Mandy-Joelle war schluchzend weggelaufen und ich sah mich um. Außer Wolter und seinen Bodyguards waren noch drei weitere lebende Personen in der Gruft: Eine hochgewachsene Mittvierzigerin mit langen, blonden Locken und kalten grünen Augen, ein schmächtiger Hänfling im schwarzen Rollkragenpulli mit Topfschnitt und Hornbrille und ein kantiger Kerl mit leichtem Buckel, langem Pony und verkniffenem Mund. Alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu belauern, als dass sie mich beachtet hätten.

Alle, außer Wolter – natürlich.

„Scheiße nochmal, Hammer! Was haben sie denn schon wieder hier zu suchen? Riechen sie etwa das verdammte Blut?“

„Irgendwoher muss der Name Schnüffler ja kommen.“

„Und ich dachte immer, das hätte was mit ihrem Klebstoff zu tun.“

„Witzigsein gehört noch weniger in ihren Kompetenzbereich als Ermitteln. Was machen SIE denn eigentlich hier? War doch bestimmt eh ein Unfall...“

„Worauf sie ihre Scheiß-Lizenz verwetten können, Hammer. Die arme Sau, die sich hier auf dem Boden verewigt hat, war ein Bühnenarbeiter. Irgendwie muss er durch die Tür nach unten gefallen sein, als die Bühne runterging. Hat 'ne ganz schöne Sauerei hinterlassen.“

„Das hätte nie passieren dürfen!“, empörte sich der Rollkragenpulli mit piepsiger Stimme. Ich ging einen Schritt auf ihn zu.

„Und wer sind SIE? Der Chefstatiker?“

Er rückte sein Sakko zurecht und drückte das dünne Kreuz durch.

„Pardon, Monsieur. Sandro de Moulin, Orchesterleiter. Hier gab es die höchsten Sicherheitsvorkehrungen.“

„Und die wären?“

Der Bucklige meldete sich. „Abschließbare Tür. Ich bin Hubert Böckbauer – Intendant. Diese Tür sollte immer verschlossen sein, wenn nicht dahinter gearbeitet wird.“

„Entschuldigung, wenn ich mich in die Ermittlungen einmische“, brachte sich Wolter wieder in Erinnerung. „Aber was zum Teufel haben SIE denn nun eigentlich hier verloren, Hammer?“

Ich hob so beiläufig wie möglich die Schultern. Kein Grund, Wolter durch Fakten zu verwirren. „Ich habe eine Bekannte begleitet.“

„Schwachsinn! Sie haben keine Bekannten in der Theaterszene!“

„Wieso? Sie machen doch auch regelmäßig... Theater...“

„Raus jetzt hier, Hammer. Das ist MEIN Tatort!“

„Tatort? Bei einem Unfall?“

„Sie wissen genau, was ich meine. Und jetzt verschwinden sie.“

Ich war nicht böse, mich zurückziehen zu können. Als erster Eindruck reichte mir, was ich gesehen hatte. Ein Ziehen im Nacken sagte mir, dass die Briefe und der Tod des Bühnenarbeiters irgendwas miteinander zu tun hatten. Meine Arbeit würde wie immer beginnen, wenn die Polizei den Fall zu den Akten gelegt hatte. Was nicht länger als eine Stunde dauern sollte.

*

Ich ließ mich von einer Theater-Pfadfinderin zur versteckten Garderobe meiner Klientin bringen, die völlig aufgelöst an ihrem Schminktischchen vor einem mannshohen Spiegel hockte.

„Es ist so schrecklich, was dort passiert ist, Hammer! Denken sie auch, dass es ein Unfall war?“

Ich zündete mir eine Selbstgedrehte an und lehnte mich gegen die Tür. „Erst die Briefe, jetzt das. Der Zufall wäre zu groß.“

„Dann glauben sie, der Schreiber der Briefe ist dafür verantwortlich?“

„Ich bin Schnüffler, kein Hellseher. Wer war der Tote?“

„Josef Bruckner, ein Ur-Gestein, der schon seit Jahrzehnten hier beschäftigt war. Schon vor der Sanierung. Er war ein erfahrener Bühnenarbeiter. Glauben sie, dass ich auch in Gefahr bin?“

„Eher nicht. Wer immer der Unbekannte ist, er hat was mit ihnen vor. Allerdings wissen wir jetzt, wie weit er für seine Ziele geht. Sehen sie sich einfach ein bisschen öfter um.“

Wir wurden durch ein drängendes Klopfen an der Tür unterbrochen. Nachdem Mandy-Joelle deutlich „Herein“ gerufen hatte, trat ein schlanker, dunkelhaariger Lockenkopf ein, der hektisch von mir zu meiner Klientin und wieder zurück blickte.

„Was geht hier vor?“, fragte er mit aufgebrachter Stimme und ich war schon drauf und dran, meine Knarre zu ziehen. Aber Mandy-Joelle sprang schnell auf und stellte sich zwischen uns.

„Das ist Holger Hammer – ein Privatdetektiv. Herr Hammer? Das ist Dustin Wunram – mein Freund.“

„Verlobter“, korrigierte mich der Spargel sichtlich angepisst, während er mich musterte.

„Ich glaube, dass wir ihre Dienste nicht benötigen, Herr Hammer. MaJo wird unter diesen Umständen hier nicht länger tätig sein.“

Sie stemmte wütend ihre Fäuste in die Hüften.

„Ich glaube, ich habe mich gerade verhört! Du hast doch nicht zu entscheiden, wo ich arbeite!“

Er drehte sich von mir weg, als wäre ich gar nicht mehr im Raum und versuchte, die aufgebrachte Flötistin in seine Arme zu nehmen.

„Bitte sei doch vernünftig, Liebling! Hier ist gerade ein Mensch ums Leben gekommen! Ich kann unmöglich zulassen, dass du dich einer solchen Gefahr aussetzt...“

„Sie sind erstaunlich gut informiert, Herr Wunram“, brachte ich mich wieder in Erinnerung und erntete dafür einen wütenden Blick. „Natürlich muss ich wissen, was in diesem Haus vor sich geht. Vor allem seit MaJo diese Briefe bekommt!“

Ich sah, wie sie die Augen verdrehte. „Dustin ist der festen Überzeugung, mich vor der Welt beschützen zu müssen.“

Er streichelte ihre Wange, obwohl sie zurückzuckte.

„Du bist einfach in großer Gefahr in diesem Haus, mein Schatz. Ich liebe dich, da kannst du es mir nicht verübeln, dass ich dich beschützen will.“

„Ich muss aber nicht beschützt werden!“

„Offenbar doch – sonst hättest du dir ja keinen... Schnüffler engagiert! Wie auch immer: Nach diesem Vorfall ist es entschieden, dass du hier aufhörst.“

Sie lachte hysterisch. „Du hast hier gar nichts zu entscheiden, Dustin! Und jetzt geh bitte. Ich möchte mit Herrn Hammer alleine reden. Ich rufe dich später an.“

Er wollte noch protestieren, doch ihr Blick brachte ihn vorzeitig zum Schweigen. Schmollend zog er sich wieder zurück.

„Bitte entschuldigen sie seinen Auftritt, Herr Hammer. Aber manchmal schlägt Dustin einfach über die Stränge.“

„In einem hatte er aber recht: Sie HABEN Angst.“

Sie wischte sich mit zitternden Fingern über die Stirn. „Natürlich habe ich das. Aber das heißt nicht, dass ich ein rohes Ei bin, dass in Watte gepackt werden muss.“

„Verstehe. Ich werde mal ein paar Spuren nachgehen. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß.“

Ich zog mich aus dem ehemaligen Großraum-Klo zurück, das jetzt in kleinere Garderoben-Segmente unterteilt war. Im Theater herrschte jetzt Grabesstille. Nicht unbedingt eine neue Geräuschkulisse. Wolter und seine Jungs waren mit der Leiche abgerückt und auch sonst ließ sich niemand mehr blicken. Ich schlich durch die schmalen, totenstillen Gänge, an der Kleider-Garderobe mit der neuen kleinen Bühne vorbei und dann nach oben ins Erdgeschoss. Auch hier war keiner mehr zu sehen. Im Theaterraum warf ich einen Blick auf die große Bühne und erkannte den Rahmen im Boden. Hier drunter war der arme Bruckner zerquetscht worden. Während der ganzen Zeit wurde ich das Gefühl nicht los, dass mich jemand beobachtete. Wer immer mich aus dem Verborgenen anstarrte, ich würde ihn ins Licht zerren. Das war mein Versprechen – an dieses Theater und an den, er hier sein Unwesen trieb.

Draußen tauschte ich die miefige Luft des Zuschauersaals gegen den Duft einer Selbstgedrehten. Leider konnte ich sie nicht lange genießen, denn eine Stimme in meinem Rücken ließ mich herumfahren.

Im Schatten der Sträucher rund um den Eingang löste sich die Gestalt von Dustin Wunram und kam auf mich zu, die Hände in den Manteltaschen.

„Was versprechen sie sich von ihrer Schnüffelei, Hammer?“

„Antworten.“

Er lachte herablassend. „Niemand kann Mandy-Joelle besser beschützen als ich.“

„Auch vor einem Killer? An den glauben sie doch, oder nicht?“

„Etwas unheimliches geht in diesem Theater vor – und damit meine ich nicht die Treffen des Kunstvereins.“

„Darin sind wir uns zumindest einig. Aber ich glaube nicht, dass sich ihre Verlobte in unmittelbarer Gefahr befindet. Wenn wir davon ausgehen, dass dieser Briefeschreiber auch für den Tod des Bühnenarbeiters verantwortlich ist, dann hat er kein Interesse daran, Mandy-Joelle zu schaden. Im Gegenteil: Er scheint sie zu protegieren.“

„Vielleicht will er sie nicht umbringen. Aber das heißt nicht, dass er ihr nicht schaden kann.“

„Das ist richtig. Aber im Moment brauchen sie sich noch keine Sorgen zu machen.“

Er funkelte mich aus wütenden Augen an. „Sie haben mir nicht zu sagen, wann ich mir Sorgen machen soll und wann nicht, Hammer.“

Ich hob abwehrend die Hände und fragte mich, woher Wunrams Feindseligkeit kam.

„Was genau ist eigentlich ihr Problem? Ich will ihrer Verlobten doch nur helfen.“

Er kam noch näher.

„Sie braucht keine andere Hilfe, als meine. Ich weiß, was gut für sie ist. Und dieses Haus gehört nicht dazu. MaJo ist ein musikalisches Genie und damit zieht sie natürlich auch die Stalker und die Perversen an.“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. „Sie spielt Flöte in Uelzen, Mann. Bleiben sie mal auf dem Teppich.“

Er hob mir eine geballte Faust entgegen. „Die Frage ist eher, ob sie auf dem Teppich bleiben, Schnüffler.“

Die Faust in der Magengrube schickte den blasierten Angeber zu Boden. Ich hatte keine Lust mehr auf das Gespräch.

„Bleiben sie noch eine Weile unten, bis die Sterne nicht mehr vor den Augen tanzen“, riet ich ihm. „Und dann kühlen sie sich am besten zu Hause ab und lassen mich meinen Job machen. So Long...“

*

In meinem Büro schenkte ich mir ein Mittagessen auf Eis ein und genoss dazu eine Selbstgedrehte, während ich mich über das Führungs-Panoptikum des frisch sanierten Theaters im Internet informierte. Hubert Böckbauer war schon an mehreren Spielstätten gescheitert und hatte die typische Nord-Süd-Abwärtskarriere absolviert: Von Hamburg über Buchholz nach Lüneburg und schließlich Uelzen. Wenn er auf seiner Spur verbrannter Theatererde blieb, würde als nächstes Gifhorn auf der Abschuss-Liste stehen.

Böckbauers Scheitern zeichnete sich durch innovative Ideen aus, die kein Schwein sehen wollte. In seiner Vita fanden sich vor allem Konzepte für Musicals. Keine aufgeblasenen Disney-Filme wie „König der Löwen“, sondern musikalische Versionen der „Schwarzwaldklinik“ und der „Lindenstraße“. Nicht nur, dass sämtliche dieser Rohrkrepierer schon keiner sehen wollte, als sie aktuell waren, die Menschen hatten sie längst vergessen. Und auch die Idee einer seriellen Inszenierung, bei der jede Woche eine neue Folge auf der Bühne lief, hatte sich nicht durchsetzen können. In Lüneburg war er mit seiner Musical-Version von „Rote Rosen“ wenigstens noch in den Kulturausschuss eingeladen worden. Doch als klar wurde, dass sämtliche Darsteller nachsynchronisiert werden müssten und Playback singen sollten, wurde die Idee wieder in der Schreibtischschublade vergraben.

Ähnlich schillernd war auch der Lebenslauf von Orchesterleiter Sandro de Moulin, der eigentlich Stefan Müller hieß und sich einen Namen als Soundtrack-Komponist für abstrakte Kunst-Installationen in Berlin gemacht hatte. Sein Faible für atonale Blechbläser- und Streicher-Musik hatte bisher den Durchbruch verhindert, ihm aber einen gewissen Ruf bei der akustischen Schädlingsbekämpfung eingebracht.

Das war also das Top-Duo hinter dem neuen Theater an der Ilmenau. Wie immer ließ die Stadt nichts unversucht, um das Millionen-Projekt gleich an die Wand zu fahren – mit zwei Flachpfeifen an der Spitze, die über jede Menge „Erfahrung“ verfügten. Und dabei war es scheißegal, wie oft sie schon geteert und gefedert aus einem Saal getragen worden waren. Hauptsache es waren „Theaterleute“.

Das Problem mit solchen Klappspaten ist, dass ihnen für gewöhnlich jede Form von krimineller Energie abgeht – mal abgesehen von ihren Konzepten und Partituren...

War einer von denen in der Lage, ein Mädchen wie Mandy-Joelle zu bedrohen, oder einen Bühnenarbeiter auf derart unappetitliche Weise über die Ilmenau zu schicken?

Mein Schädel rauchte nicht nur von der Selbstgedrehten. Ich musste tiefer in die Schein-Welt des Glitzer und Glamours von Uelzen eintauchen. Eine Welt, die mir bisher genauso verschlossen geblieben war... wie den meisten anderen in dieser Stadt.

Das Schrillen des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Das Rathaus forderte meine Anwesenheit. Ich wurde offenbar dringend in irgendeinem kleinen Konferenzraum im zweiten Stock erwartet. Es müsste schon mit dem Teufel zugehen, wenn das nichts mit meinem morgendlichen Erlebnis im Theater zu tun hätte.

*

Ich ließ mir trotz der Neugierde Zeit. Ist nie gut, den Wünschen der Verwaltung zu schnell nachzukommen. Schon hinter den elektronischen Schiebetüren erwartete mich ein kahlköpfiger Kleiderschrank im Bestatter-Zwirn, der mich durch die schmalen Flure und mit einem engen Fahrstuhl zu einer weißen Tür brachte. Hinter einem Konferenztisch saß der aparte Rauschgoldengel vom Vormittag, mit übereinandergeschlagenen Beinen und schlankem Zigarillo zwischen den Lippen. Sie musterte mich, als würde sie sich fragen, welcher Wein wohl am besten zu meiner marinierten Leber passte.

Sie war die einzige von heute Morgen, deren Identität mir bisher verborgen geblieben war. Ich baute mich vor dem Konferenztisch auf und legte so viel gelangweilte Arroganz wie möglich in meine Haltung. Aber ihr Blick konnte einfach aus allem die perfekte Whisky-Kühlung machen.

Als sie mit dem Kopf auf einen Stuhl deutete, war das mehr ein Befehl, als eine Aufforderung.

„Hammer“, sagte sie mit dem Tonfall einer Nonne, der ein Pornoheftchen in die Hände gefallen ist.

„Und sie sind?“

Sie beobachtete die Glut ihres Zigarillos. „Bernadette Bretzke – hauptamtliche Kulturdezernentin der Stadt Uelzen.“

Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen. „Seit wann kann sich Uelzen denn wieder eine hauptamtliche Dezernentin für Kultur leisten?“

Sie hob eine sorgfältig gezupfte Augenbraue. „Seit der Bürgermeister ein Cousin meines Schwagers ist.“

„Ja, Verwandtschaft hat schon so manchen Nachtragshaushalt ermöglicht. Und wofür sind sie noch zuständig? Kultur kann ja wohl kaum alles sein.“

Während ihr Lächeln zu einem Gletscher gefror, schossen ihre Blicke Glut-Pfeile ab, die sogar Granit zum Schmelzen brachten.

„Kultur ist in jeder Hinsicht ALLES. Ich habe dafür gesorgt, dass sie von Tourismus, Stadtmarketing, Sport und dem ganzen anderen überflüssigen Ballast befreit wird. Die Kultur ist ein Diamant. Und den stecken sie ja auch nicht mit Kieselsteinen in einen Beutel.“

„Und was wollen sie jetzt? Mir ein Kulturkreis-Abo aufschwatzen?“

„Schade um den verschwendeten Theatersitz. Nein, ich will nur verhindern, dass sie Ärger machen.“

„Aber Ärger ist nun mal... mein Geschäft.“

„Ach was. Ich dachte, das sei Phrasendreschen.“

Sie stieß ihren Zigarillo so fest in den Aschenbecher, dass ich unwillkürlich die Knie zusammenpresste.

„Wie auch immer – sie hätten heute Morgen gar nicht im Theater sein dürfen. Was dort passiert ist, war ein... tragischer Unfall.“

„Wenn alles so klar ist – warum bin ich dann jetzt hier?“

„Weil sie den unangenehmen Ruf haben, in der Scheiße rumzustochern.“

„Nur wenn sie mehr stinkt, als gewöhnlich.“

„Hier stinkt gar nichts, das haben die Ermittlungen der Polizei einwandfrei ergeben. Ein technischer Defekt hat zu dem Unglück geführt – belassen wir es dabei. Die Kultur in dieser Stadt ist gerade wieder dabei, zaghafte Blüten zu treiben. Die dürfen nicht ersticken.“

„In der Vergangenheit hat die Kultur hier nicht schlecht von ihren Negativschlagzeilen gelebt.“

„Ab sofort wollen wir mit Qualität Aufmerksamkeit erzielen. Ich habe genug damit zu tun, diese Intendanten-Parodie auf Kurs zu bringen, da will ich mich nicht noch um einen drittklassigen Schnüffler kümmern.“

„Nur wer mich bezahlt, darf mir auch sagen, was ich zu tun habe.“

Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter – was bei einer solchen Frau keine beruhigende Geste ist.

„Sollten sie Zweifel an meinen Möglichkeiten haben, Hammer, dann bedenken sie bitte, dass ich eine hochverschuldete Kleinstadt in der Provinz dazu gebracht habe, eine hauptamtliche Dezernentenstelle nur für die Kultur zu schaffen – das sollte ihnen eine Ahnung davon vermitteln, wozu ich fähig bin. Mit diesem Denkanstoß beende ich unseren Austausch. Machen sie keinen Sturm im Wasserglas, Hammer.“

„Aber vielleicht werfe ich eine Aspirin in die Colaflasche, Frau Dezernentin. Denn auch ICH habe... Möglichkeiten.“

„Glauben sie mir Hammer – MICH wollen sie nicht zur Feindin haben.“

„Zur Freundin aber ehrlich gesagt auch nicht.“

Ich wandte mich ab und genoss meinen Abgang – trotz der weichen Knie.

Der Kleiderständer stand noch immer vor der Tür und brachte mich wieder zum Ausgang. Dass er mich nicht am Kragen packte und auf den Herzogenplatz schleuderte, überraschte mich ein bisschen.

Ich hatte den Eindruck, dass es zwischen Bretzke und Böckbauer die berühmten „künstlerischen Differenzen“ gab. Das Theater war nur einen Steinwurf entfernt. Ich war schon gespannt, was mir der Boss über die neue Eiskönigin von Uelzen zu erzählen hatte.

*

Ich hatte das Theater kaum betreten, als mich eine schrille Stimme bereits wieder davon abhielt, meinen Weg zum Zuschauerraum fortzusetzen. Von der Treppe watschelte ein pummeliger Zwerg in zu enger, roter Röhrenjeans und kariertem Sakko auf mich zu.

Ich rechnete schon damit, dass er anfangen würde, Luftballon-Tierchen zu basteln, doch stattdessen baute er sich vor mir auf und starrte mich aus backsteindicken Brillengläsern an.

„Kann ich was für sie tun, Herr... Herr...“

„Hammer. Holger Hammer. Ich wollte zu Böckbauer.“

„Der Herr Intendant befindet sich gerade in einer Probe. Kann ich ihnen vielleicht weiterhelfen?“

„Da ich gerade keinen Clown für einen Kindergeburtstag suche, wüsste ich nicht, wie.“

„Sehr witzig. Mein Name ist Felix Griepenhagen – ich bin der Leiter dieses Theaters.“

Ich konnte meine Überraschung nicht gut verbergen.

„Ich dachte, Böckbauer sei der Intendant.“

Der Zwerg warf sich in eine kugelige Pose. „Genau – der INTENDANT. Ich bin der LEITER. Böckbauer ist für das Künstlerische zuständig. Und ich für das Marketing und die Belegung. Und dann gibt es natürlich noch einen technischen Leiter.“

„Natürlich... ein bisschen viel Leitung, oder?“

„Wenn sie so ein Theater professionell betreiben wollen, brauchen sie auch Personal.“

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass sie das Geld dafür mit Ohnsorg und Shakespeare-Dramen im Original wieder reinbekommen.“

Griepenhagens Augen funkelten vor Erregung und er schien schon wieder vollkommen vergessen zu haben, dass er mich eigentlich zur Sau machen wollte.

„Darum gehen wir jetzt auch inhaltlich völlig neue Wege. Mit Herrn Böckbauer und Herrn de Moulin haben wir zwei Koriphäen, die eine große Bandbreite unterschiedlichster Zuschauerströme generieren werden. Dazu kommt noch das qualitativ hochwertige Programm aus dem städtischen Kulturdezernat. Bald wird es keinen Grund mehr geben, warum dieses Theater auch nur an einem Abend in der Woche nicht ausverkauft sein sollte.“

Ich grinste. „Außer der schlechten Luft und dem sozialistischen Durchfall-Braun an den Wänden des Zuschauerraums.“

Der Dicke rückte sich pikiert das geschmacklose Sakko zurecht. „Wir haben eben bei der Renovierung das ganze Geld in die Technik gesteckt. Da war für den Zuschauerraum nicht mehr viel übrig.“

„Für Steckdosen und Lagerräume auch nicht, wie ich so höre...“

Er kniff die Augen zusammen. „Wer sind sie eigentlich? Kommen sie etwa vom Bund der Steuerzahler? Dann hole ich sofort einen Anwalt hinzu!“

„Nein, keine Sorge. Ich bin nur ein unbedeutender Privatschnüffler...“

Jetzt schien ihm was zu dämmern und die tümpelgroßen Pupillen hinter seiner Nasen-Lupe wurden sogar noch größer.

„Verdammt, jetzt weiß ich, wer sie sind! Was zum Teufel haben sie hier verloren?“

Die Panik in seiner Stimme gefiel mir – und machte mich neugierig.

„Ich höre mich einfach mal ein bisschen um. Versuche rauszukriegen, wie der arme Bühnenarbeiter ums Leben kam...“

„Ein Unfall“, kreischte mich der Theaterleiter an. „Ein schrecklicher Unfall. Das sagt auch die Polizei.“

„Das heißt nichts. Aber wenn es ein Unfall war, dann bedeutet es ja, dass ihr schönes, neues Theater alles andere als sicher ist.“

Seine Lippen zitterten und ich sah, wie sich die Augen hinter der Brille mit Tränen füllten. „Es ist eine Katastrophe! Eine unglaublich große Katastrophe! Wenn das an die Öffentlichkeit kommt, können wir den Laden gleich wieder dichtmachen! Kein größeres Ensemble wird dann noch hier spielen wollen. Marketingtechnisch ist das der absolute Mega-Gau!“

Ich hätte den Zwerg fast in den Arm genommen, so leid tat er mir. Aber ich konnte mich zurückhalten und nutzte stattdessen seine offene Flanke.

„Und jetzt stellen sie sich mal vor, was los ist, wenn die Sache sich doch nicht als Unfall rausstellt...“

Seine Augen wurden größer. „Sie meinen, es kommt tatsächlich... ein Mord in Betracht?“

Ich tat so, als würde ich überlegen. „Könnte ihnen sogar den Arsch retten. Ich meine, ein Killer ist leichter zu fassen, als ein Defekt in einer so komplexen technischen Anlage...“

Griepenhagen nickte nachdenklich.

„Da könnte was dran sein...“

„Dann spielen wir die Sache doch mal durch: Gibt es jemanden im Haus, der von Bruckners Tod profitiert?“

Er hob die Schultern. „Nicht, dass ich wüsste. Ich meine, der Kerl war ein Urgestein. Der kannte das Haus hier besser als jeder andere. Niemand konnte was gegen ihn haben... Gut, er war manchmal etwas vorlaut und ein Klugscheißer – wie das eben bei Urgesteinen so ist... Aber deshalb wird doch keiner umgebracht.“

Er räusperte sich. „Mir gefällt die Vorstellung nicht, dass jemand in diesem Haus Menschen umbringen soll...“

„Wenn ihnen die Vorstellung besser gefällt, dass ihnen jederzeit eine Hebebühne auf den Kopf fällt...“

Die Lippen zitterten wieder. „Eine Katastrophe. Ich sage es ja!“

„Sie haben doch sicher eine Personalakte von Bruckner.“

Er starrte mich an, als hätte ich die Herausgabe der Kronjuwelen verlangt. „Die können sie unmöglich haben.“

„Dann wollen sie einen weiteren Unfall riskieren?“

Er kaute auf seiner Unterlippe herum. „Kommen sie heute Nachmittag in mein Büro in der Veerßer Straße. Aber von mir haben sie diese Informationen nicht.“

Ich zwinkerte ihm zu und klopfte ihm auf die Schulter.

„Und wenn sie mich jetzt noch zu Böckbauer lassen, könnte es sein, dass wir noch richtig gute Freunde werden.“

Er ließ mich ziehen und ich konnte endlich meinen Weg in den großen, leeren Saal fortsetzen.

Der bucklige Intendant fuchtelte auf der Bühne herum und brüllte irgendwas in die Luft, woraufhin ein paar Scheinwerferschienen von oben herabkamen und ihn blendeten.

„Nein, nein, nein! Ich kann so nicht arbeiten!“, rief Böckbauer nach oben, woraufhin die Schienen wieder verschwanden und er wütend mit den Füßen aufstampfte.

„Verdammte Dilettanten!“

„Show must go on“, rief ich ihm grinsend zu, während ich über die Seitentreppe auf die Bühne kam.

Er wischte sich das fettige Haar aus der Stirn und schob die Ärmel seines Hemdes hoch.

„Niemand versteht die Vision für dieses Theater.“

Ich zündete mir eine Selbstgedrehte an und ließ meinen Blick über die große Bühne gleiten. „Sieht nicht so aus, als würde die Trauer über den Tod ihres Mitarbeiters die Produktion einschränken.“

Böckbauer grinste schief. „Hier steht zuviel auf dem Spiel, Hammer. Dieses Haus muss wie Phoenix aus der Asche neu entstehen.“

„Staub gibt’s hier ja genug.“

Er kam mit funkelnden Augen auf mich zu. „Jahrzehntelang lag dieses wunderbare Theater im Dornröschenschlaf! Jetzt nach der großen Sanierung ist es an der Zeit zu erwachen und über den Landkreis hinaus zu strahlen! Neue, innovative Produktionen werden die Zuschauer aus Lüneburg, Hamburg und Hannover anziehen! Uelzen wird eine neue Musical-Metropole!“

„Habe ich schon mal gehört – hat nicht so richtig gut funktioniert. Womit wollen sie die Leute denn diesmal locken?“

„Womit schon? Mit Hundertwasser natürlich!“

„Habe ich schon mal gehört – hat nicht so richtig gut funktioniert. Scheiße, ich habe gleich zwei Déjà-vu auf einmal!“

Er packte mich an den Armen und seine Augen funkelten. „Natürlich hat es nicht funktioniert, weil das Hundertwasser-Musical von damals das Publikum nicht mitgerissen hat! Nackige D-Promis die zu Konstantin-Wecker-Musik über die Bühne hüpfen, wie ein Waldorfschüler auf LSD beim Eurythmie-Festival, und sozialkritische Betroffenheitslieder jaulen! Das konnte doch nicht gut gehen!“

„Also machen sie es jetzt besser?“

Böckbauer rannte ins Dunkel der Bühne und schob ein Klavier nach vorne. „Natürlich. Jede neue, große Produktion lebt von Musik, die die Menschen kennen! Sie können niemanden mehr ins Theater holen, wenn er nicht mitsingen kann!“

„Und ich dachte immer, bei Musicals wäre die Musik extra für das Stück geschrieben...“

Böckbauer lachte. „Ich bitte sie, Hammer, wir leben doch nicht mehr in den 50ern. Das wussten schon die Macher von Tanz der Vampire. Pop-Songs und Schlager und eine schlichte Geschichte über einen Underdog, der groß rauskommt. Mehr brauchen sie nicht! Den Rest erledigen Scheinwerfer und fliegendes Konfetti. DAFÜR zahlen die Leute!“

Ich wusste, ich würde die Frage bereuen, aber ich stellte sie trotzdem. „Und sie haben neue Ideen für Hundertwasser?“

Mehr Einladung brauchte er nicht, um sich ans Klavier zu hocken. „Wir nehmen die bekannte Geschichte des alten Musicals. Statt der Eröffnungsnummer Fahr übers Meer hören wir jetzt: Über'n Katzenbuckel musst du geh'n / Sieben Mal den O-See übersteh'n...“

„Das ergibt keinen Sinn...“

„Drauf geschissen – es ist lokalpatriotisch. Oder dieser hier: Uelzen in der Nacht / Am Hunderwasser-Bahnhof wird gelacht...

Die dicke Wiener Stadträtin singt jetzt eine Version von „Aber bitte mit Sahne“. Es gibt natürlich auch englische Songs, Abba kommt immer gut. Nicht nur, wenn die Figur Mr. Money seinen neuen Song Money, Money, Money singt. Auch das hier wird das Publikum zu Tränen rühren:

Uelzen takes it all / And Lüneburg must fall / Hundertwasser rise / The rest of it is.... ja, gut daran müssen wir noch arbeiten.“

„Und das PROBEN sie hier tatsächlich?“

„Aber natürlich. Uelzen wird strahlen!“

„Aber eher wie ein Castor, oder? Ich meine, haben sie überhaupt die Rechte an der Musik?“

Böckbauer winkte ab. „Um solche Kleinigkeiten kümmert sich extra eine neu geschaffene Struktur. Die Kulturförderungs-Gesellschaft 2.0. Sowas hatten wir schon mal, wir wissen also, wie man sie liquidiert, wenn sie gegen die Wand fährt. Doch niemand wird darauf achten, wenn sich die Scheinwerfer der Welt auf Uelzen richten.“

„Die Suchscheinwerfer der Staatsanwaltschaft vielleicht. Der ganze Mist muss doch ein Vermögen kosten!“

„Ich bin Intendant, also künstlerischer Leiter. Um Banalitäten wie den schnöden Mammon muss ich mich nicht kümmern. Hier geht es nicht ums Geld, es geht um eine Vision.“

„Die trotzdem bezahlt werden muss. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Stadt Uelzen mit so etwas wie... kulturellem Engagement fast in den Ruin manövrieren würde.“

„Ha!“, schrie Böckbauer. „Und warum? Doch nur weil die Stadt Uelzen am Publikum vorbei geplant hat. Niemand will diesen hochtrabenden Scheiß sehen. Die Leute wollen Zerstreuung und Unterhaltung! Sie wollen den großen Glamour von Hamburg!“

„Oder von den Roten Rosen mit Gesang“, konnte ich mir nicht verkneifen.

Böckbauer verzog schmerzhaft das Gesicht. „Streuen sie nur Salz in die Wunde, Hammer. Wir können den Triumphzug dieser Vision leider nicht erleben. Aber es wäre einer geworden. Serielles Erzählen ist der große, ungebrochene Trend! Die Menschen wollen keine abgeschlossenen Geschichten mehr. Alles ist Serie! Und was auf der Mattscheibe und im Kino funktioniert, würde auch auf der Bühne funktionieren. Die Leute wären JEDEN Tag ins Theater gekommen, um zu sehen, wie die Geschichte weitergeht. Und wenn es dann noch Lieder zum Mitsingen gäbe, wäre der Erfolg vorprogrammiert.“

Ich wusste, ich würde ihn von seiner schlichten Milchmädchenrechnung nicht abbringen können. Also war ich einfach nur dankbar, dass uns die Umsetzung erspart blieb. Doch Böckbauer hatte ja noch mehr inszenatorische Greueltaten im Gepäck.

„Und wenn ihre Hundertwasser-Schlager-Revue doch gegen die Wand fährt?“

„Dann ist es als künstlerischer Leiter nicht mein Problem. Um Geld muss sich die Stadt kümmern. Aber diese Frage ist sowieso ausschließlich hypothetisch. Es KANN gar nicht schiefgehen.“

Böckbauer funkelte mich an und fuchtelte mit seinem Finger vor meiner Nase herum. „Sie werden es erleben, Hammer.“

„Es sei denn, ihr unheimlicher Briefeschreiber macht ihnen vorher einen Strich durch die Rechnung.“

Böckbauer erstarrte. „Was wissen sie darüber?“

„Nicht genug. Und sie?“

„Ich habe keine Zeit, mich mit so einem Unsinn zu beschäftigen. Ein durchgeknallter Stalker. Daran werden wir uns im Rampenlicht gewöhnen müssen.“

„Dann haben sie auch Briefe bekommen? So wie Frau Schwengelbeck?“

Seine Augen unter dem Pony wurden schmal und seine Mundwinkel zuckten. „Und wenn schon? Ich ignoriere das Geschmiere eines Irren.“

„Was macht ihn denn zum Irren?“

„Er verlangt, dass wir die Proben einstellen.“

„Und wieso ist er dann ein Irrer? Und nicht einfach nur ein besorgter Steuerzahler?“

Böckbauer schnaufte. „Sind sie eigentlich nur hier, um MIR auf den Sack zu gehen, Hammer?“

„Nein, eigentlich bin ich hier, um über ihr Verhältnis zur neuen Kulturdezernentin zu sprechen. Würde mich interessieren, ob SIE von ihr genausoviel halten, wie sie von IHNEN.“

„Diese Frau ist mir genauso egal, wie dieser Briefeschreiber! Sie alle versuchen mich zu Fall zu bringen, damit Uelzen klein bleibt. Doch das künstlerische Potenzial dieser Stadt lässt sich nicht länger unterdrücken! Auch nicht von der bösen Hexe des Ostens drüben im Rathaus.“

„Klingt, als hätten sie beide unterschiedliche Vorstellungen von einem erfolgreichen Kulturbetrieb.“

Böckbauer winkte ab. „Die Bretzke will das Publikum fernhalten und das Theater nur für einen pseudo-elitären Bildungsbürger-Kreis öffnen. Doch dafür haben wir nicht die Millionen hier reingesteckt! Kultur muss für alle da sein! Und das wird auch die Bretzke lernen müssen – auf die eine oder andere Weise.“

„Hört sich nach einer Drohung an. Vergessen sie nicht, dass einer ihrer Bühnenarbeiter heute gestorben ist.“

„Die Polizei sagt, dass es ein Unfall war.“

„Ja, aber das würde sie auch über den 11. September sagen. Ich werde ein Auge auf Frau Schwengelbeck haben. Und auf das, was hier sonst noch so vor sich geht.“

Böckbauer sah demonstrativ auf seine Uhr. „In einer halben Stunde geht die Probe weiter. Dann sind sie von hier verschwunden, Hammer. Und kommen sie mir besser nicht in die Quere.“

Er warf Kopf und Haarsträhnen in den Nacken und trollte sich von seiner Bühne. Ich blieb allein zurück und hatte wieder das Gefühl, beobachtet zu werden. Ein plötzliches Geräusch ließ mich herumfahren. Ich sah eine zusammengeknüllte Zigarettenpackung, die über die Bühne rollte. Instinktiv riss ich den Kopf in den Nacken, in Richtung des Schnürbodens, wo die Schienen für die Scheinwerfer hingen. Einige schienen leicht hin- und her zu schwingen...

Vorsichtig hob ich den Müll auf. Hinter der Plastikfolie steckte ein Zettel, auf den jemand hastig ein paar Worte gekritzelt hatte: „Heute Nacht – am Hintereingang der Bühne. Kommen sie allein.“

Ich hatte keinen Zweifel, dass die Botschaft für mich bestimmt war. Wer immer sie geschrieben hatte, wusste, was hier vorging und lauerte in den Schatten des Theaters. Um Antworten zu bekommen, musste ich also warten. Und wiederkehren, wenn der Vorhang gefallen war – hoffentlich nicht der letzte...

Bis dahin blieb noch genug Zeit, um in den verschlungenen Gängen des Theaters nach Spuren zu suchen. Ich wollte zuerst in die Garderobe meiner Klientin. Der tote Bruckner war eine solche Spur. Wenn er tatsächlich nicht durch einen Unfall gestorben war, hatte jemand von seinem Tod profitiert. Ich musste also herausfinden, wer und warum.

Es dauerte eine Weile, bis ich die Garderobe gefunden hatte. Ich klopfte und öffnete die Tür als ich ein leises „Herein“ hörte. Ich rechnete damit, Mandy-Joelle vorzufinden und war umso überraschter, eine ältliche, gebückte Frau, mit strohigem Haar zu sehen, die mich aus müden Augen anstarrte.

„Äh... eigentlich wollte ich zu Frau Schwengelbeck...“

Die Alte hob die Schultern. „Die Kleine hat sich freigenommen, nach dem, was heute Vormittag hier passiert ist...“

„Ich verstehe. Und sie sind?“

„Anneliese Kröger – Garderobiere.“

„Erstaunlich, was sich die Stadt alles für ihr Theater leistet.“

Ich hatte mich schon wieder umgedreht, als mir eine Idee kam. „Sagen sie, Frau Kröger: Kannten sie den Verstorbenen eigentlich gut?“

Sie lachte heiser. „Josef? Wir haben schon seit Ewigkeiten hier zusammengearbeitet.“

„Was können sie mir über ihn sagen? War er ein... netter Kollege?“

Sie hob die Schultern. „Er war halt Josef. Man konnte sich auf ihn verlassen. Aber er war auch laut. Hat sich oft im Ton vergriffen. Und er war ein Angeber.“

„Wie meinen sie das?“

„Na ja. Hat gerne geprahlt. Und so getan, als sei er der Einzige, der das Theater kennt und weiß, wie die Dinge laufen. Die meisten haben ihn in Ruhe gelassen und sein Geschwätz ignoriert. Genau wie seine Angebereien über sein neues Vermögen.“

Ich wurde hellhörig. „Neues Vermögen? Seit wann hatte er es und woher?“

„Keine Ahnung. Er hat sich ein neues Auto gekauft, erst vor ein paar Wochen. Und in eine größere Wohnung wollte er auch ziehen. Hat erzählt, er hätte eine neue Quelle aufgetan, die nie versiegen würde.“

Ich nickte. Klassische Erpresser-Plattitüden...

„Wissen sie, wir alle hatten nach der Sanierung Angst um unsere Jobs. Schließlich sind wir alte Hasen. Mit der neuen Technik haben wir nichts am Hut. Und eigentlich sind wir wahrscheinlich auch überflüssig. Aber die Stadt behält uns aus alter Verbundenheit. Oder aus Pflichtgefühl, was weiß ich.“

„Und wie viele alte Hasen gibt es hier?“

Sie überlegte. „Da war Josef. Und da bin ich. Und noch ein Beleuchter aus Stade, mir fällt gerade der Name nicht ein. Der ist eh immer nur für sich. Und dann noch ein Hausmeister und eine Reinigungskraft. Niemand also, der wirklich noch gebraucht würde. Also haben wir alle brav unsere Arbeit gemacht und nicht aufgemuckt. Nur Josef hat eine dicke Lippe riskiert. Als ich ihm sagte, er solle lieber vorsichtig sein, meinte er nur, dass ihm nichts passieren könne und er unkündbar sei.“

Jetzt war mir nicht nur klar, wie er an die Kohle gekommen war, sondern auch woher sie kam: Aus dem Theater.

„Ich danke ihnen, Frau Kröger.“

Ich wandte mich ein weiteres Mal ab, als mich die Garderobiere wieder zurückrief. Mit düsterem Blick und teuflischem Lächeln sah sie mich an.

„Seien sie lieber auf der Hut, Schnüffler. Dieses Haus hat seine... Geheimnisse.“

„Und kennen sie die?“

„Selbst wenn, ich würde sie nicht verraten. Was mit Josef passiert ist, sollte uns allen eine Lehre sein.“

„Wie meinen sie das?“

Sie winkte hastig ab. „Ich habe schon zuviel gesagt. Sie sind gewarnt. Und jetzt gehen sie. Von mir werden sie nichts mehr erfahren.“

Ich verließ die Garderobe mit einem unguten Gefühl. Auch wenn ich entschlossen war, mich nicht einschüchtern zu lassen, so konnte ich nicht leugnen, dass die unheimliche Atmosphäre dieses Hauses nach mir zu greifen schien.

Es war Zeit, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Auch wenn diese Wirklichkeit nur Uelzen war.

*

Über einige Umwege erfuhr ich, dass Mandy-Joelle in einer kleinen Wohnung in er Luisenstraße lebte. Als sie mir öffnete, sah sie blass aus und trug nur einen Bademantel. Sie schien sich auch keine Mühe zu geben, ihr Äußeres auf Vordermann zu bringen. Sie war müde und abgeschlagen.

Sie führte mich in ihr Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen.

„Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich in diesem Theater noch spielen kann“, seufzte sie nach einer Weile.

„Ich glaube, ich begreife erst jetzt, was da heute geschehen ist. Wie soll ich mich in diesem Haus je wieder sicher fühlen?“

Ich nahm meinen Hut ab und ließ mich unaufgefordert auf einem Sessel nieder.

„Lassen sie sich nicht von ihrem Freund verrückt machen... MaJo. Sie wissen doch: Selbst wenn es einen Mörder geben sollte, hat er es nicht auf sie abgesehen.“

Sie hob die Schultern. „Aber diese Briefe... die haben doch auch etwas zu bedeuten. Oder nicht?“

„Im Moment weiß ich noch zu wenig. Darum wollte ich sie sehen. Wie gut kannten sie diesen Josef Bruckner?“

„Nicht gut. Man hat sich mal auf der Bühne getroffen und ein paar Worte gewechselt. Mehr auch nicht. Ich bin ihm eher aus dem Weg gegangen.“

„Und wieso?“

Sie hob die Schultern, aber ich merkte, dass sie leicht zitterte. „Er war mir ehrlich gesagt immer... ein bisschen unheimlich. Hat so getan, als würde er viele dunkle Geheimnisse kennen. Und hat immer Andeutungen gemacht.“

„Andeutungen? Worüber?“

„Ich weiß nicht... Über das Haus, das Theater... Und irgendwelche Geheimnisse, die es dort geben soll. Er ist nie deutlicher geworden. Ich glaube, er hat sich einfach nur gerne reden hören.“

Sie sah mich aus großen Augen an. „Aber jetzt, da er tot ist... ich weiß nicht... Vielleicht war ja doch etwas an diesen unheimlichen Geschichten dran.“

„Lassen sie sich nicht verrückt machen. Ich glaube, ihr Freund hat ihnen da einen ziemlich großen Floh ins Ohr gesetzt. Wieso ist er eigentlich so besorgt?“

„Ich weiß nicht, ist eben Dustins Art. Er hat immer Angst und glaubt, dass alle Leute was Böses wollen. Er arbeitet beim Gebäude-Management, wissen sie...“

„Okay, das erklärt einiges. Sind sie schon lange... verlobt?“

Sie winkte ab. „Ach, Dustin übertreibt, was das angeht. Wir haben noch nicht mal richtig übers Heiraten gesprochen! Und so lange kennen wir uns auch noch gar nicht. Knapp ein Jahr. Wir haben uns im Theater getroffen. Ich hatte damals mehrere Vorspiel-Termine und er hat für das Gebäude-Management noch den Innenausbau überwacht. Irgendwann sind wir dann mal ins Alcatraz gegangen. Na ja... wie das eben so läuft.“

Also hatte auch Wunram mit der Renovierung des Theaters zu tun. Ich hatte noch keine Ahnung, ob das wirklich was zu bedeuten hatte, aber ich beschloss, diese Information auf jeden Fall im Hinterkopf zu behalten.

Ich wollte meine erschöpfte Auftraggeberin nicht länger als nötig belästigen und wuchtete mich aus dem Sessel hoch.

„Sie sollten sich ein bisschen ausruhen, Mandy-Joelle.“

Sie seufzte. „Dazu werde ich kaum kommen. Herr Böckbauer drängt mit den Proben. Er will, dass das gesamte Orchester mit dabei ist, damit wir so schnell wie möglich auf die Bühne kommen. Ich glaube, er hat Angst vor dieser Kultur-Frau und dass sie ihm sein Programm kaputt macht.“

„Ja, Kultur ist ein hartes, gnadenloses Geschäft.“

Ich ließ die junge Frau allein und schlenderte mit einer Selbstgedrehten zwischen den Lippen zurück Richtung Innenstadt.

Ich hatte einiges, worüber ich nachdenken konnte. Auf der Bühne dieses Falles spielten eine Menge Figuren mit. Aber noch durchschaute ich ihre Rollen nicht ganz.

Nach allem, was ich über Bruckner erfahren hatte, war ich mir sicher, dass sein Tod kein Unfall war. Er wusste Dinge, die er nicht wissen sollte. Und er hatte jemanden erpresst. Das hatte ihm eine Menge Kohle verschafft – und eine unschöne „Bühnenerfahrung“.

Ging es um die Unmengen Geld, die die Stadt ins Theater stopfte? Vielleicht sogar um die Position der neuen Kulturdezernentin?

Gab es Sicherheitsmängel im Haus? Das würde erklären, warum Wunram so einen Schiss um seine Freundin hatte...

Oder lag die Antwort vielleicht sogar in der Vergangenheit?

Die Garderobiere hatte so etwas angedeutet... Auch sie schien mehr über das Theater zu wissen, als andere. War sie in Gefahr? Oder war sie klug genug, ihren Mund zu halten?

Wie ich es auch drehte und wendete: Im Moment stocherte ich im Nebel. Und der tote Bühnenarbeiter war mein einziger Anhaltspunkt.

Ich steuerte das Büro des Theaterleiters in der Veerßer Straße an. Vermutlich hatte die Verwaltung ihn dorthin gesteckt, um ihn jederzeit im Blick zu haben – und zwar wortwörtlich.

Er hockte direkt hinter der Eingangstür in einem kleinen, schmucklosen Raum mit spartanischer Behörden-Einrichtung. Vermutlich noch Reste aus dem alten Kreishaus. Aber wer sich ein hauptamtliches Kultur-Dezernat leistete, konnte eben nicht noch Geld für den Theaterleiter ausgeben.

Griepenhagen war noch am Telefon und fuchtelte mit seinen Wurstfingern Richtung Besucherstuhl. Ich ließ mich entspannt auf dem harten Holz nieder und verfolgte das hektische Gespräch, das hauptsächlich darin bestand, jemandem am anderen Ende der Leitung zu versichern, dass sich nichts geändert habe und alles so ablaufen würde, wie es besprochen war.

Irgendwann legte der gestresste Zwerg auf und wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweißfilm von der Stirn.

„So geht es schon den ganzen Tag, Herr Hammer! Bruckners Tod ist noch nicht mal in der Zeitung und schon rufen die Gastspiel-Manager reihenweise an und wollen wissen, was bei uns los ist! Würde mich nicht wundern, wenn die Bretzke dahintersteckt!“

„Wieso glauben sie das?“

Er räusperte sich verlegen. Vermutlich tat es ihm jetzt schon leid, dass er das gesagt hatte. Aber zurücknehmen konnte er es auch nicht mehr.

„Nun, es ist ja ein eher offenes Geheimnis, dass die Vorstellungen von Herrn Böckbauer und Frau Bretzke im Hinblick auf Kultur deutlich auseinandergehen.“

„Und was ist mit ihren Vorstellungen, Griepenhagen?“

Er lehnte sich auf seinem Bürostuhl zurück und kratzte sich den Bauch.

„Die kennen sie doch schon, Herr Hammer. Ich will, dass der Laden voll wird. Wie, interessiert mich nicht. Ich habe nur die Auslastung im Kopf. Aber ich denke, dass es nur mit beiden Seiten geht. Kunst und Kommerz müssen sich hier die Klinke in die Hand geben. Es wäre schön, wenn Böckbauer und Bretzke das einsehen würden – tun sie aber nicht. Jeder sieht das Theater nur als seine eigene Spielwiese.“

„Dabei gibt es doch jetzt noch mehr Spielstätten. Sie könnten drei Aufführungen jeden Tag machen.“

Wieder kratzte sich der Marketing-Zwerg. Diesmal aber hinter dem Ohr – so wie ein Hund, wenn er verlegen ist.

„Theoretisch haben sie sicher recht. Aber praktisch geht immer nur eins. Wenn auf der großen Bühne gespielt wird, fällt die Hinterbühne wegen des Lärmpegels aus. Und auf der Studiobühne im Keller können wir dann auch nichts machen, weil da ja die Garderobe für das Publikum der Hauptbühne steht.“

„Ein bisschen doof geplant, oder?“

Er hob die Schultern. „War vor meiner Zeit.“

„Also doch nur EINE Bühne?“

„Wenn sie so wollen...“

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es war wieder so eine typische Uelzener Schildbürger-Geschichte.

„Außerdem brauchen wir die Studiobühne auch für andere Sachen“, beeilte sich Griepenhagen mit seiner Entschuldigungs-Litanei.

„Sie wissen ja, dass die Stadthalle dicht ist. Es gibt immer noch ein paar Politiker, die meinen, Uelzen brauche eine neue Stadthalle, für mehr als 20 Millionen Euro. Damit sich diese Idee nicht durchsetzt, soll ich jetzt zusehen, dass der ganze Kram aus der Stadthalle in die Studiobühne verfrachtet wird: Vereinssitzungen, Tanzstunden, Handwerker-Märkte, Hochzeitsmessen...“

Ich grinste: „Die Monster-Truck-Show?“

Griepenhagen grinste zurück. „Wieso nicht? Wenn mal irgendwann der verfluchte Fahrstuhl funktioniert.“

Der Kerl hatte sogar sowas wie Humor. Doch im Moment war seine Miene eher leidend. „Sie sehen also, auf wie vielen Hochzeiten ich hier tanzen muss!“

„Gut, dass sie die entsprechende Messe im eigenen Haus haben.“

„Witzig, Hammer! Mir geht der Arsch auf Grundeis. Und jetzt noch diese Scheiße mit dem Unfall. Ständig muss ich Veranstalter beruhigen und Termine sichern. Die Bretzke lacht sich bestimmt schon ins Fäustchen.“

Ich wurde hellhörig. „Inwiefern profitiert sie denn davon?“

„Wenn der ganze Glitzer-Kram von Böckbauer den Bach runtergeht, ist die Bühne frei für die Hochkultur. Bruckners Tod kommt ihr also wie gerufen.“

Griepenhagen erschrak, als ihm klar wurde, was er da gerade gesagt hatte.

Ich wiegelte ab. „Keine Sorge. Ich wäre sicher auch selber drauf gekommen. Aber apropos Bruckner: Wieso haben sie ihn eigentlich weiter beschäftigt? Soweit ich weiß, gibt es doch für einen Bühnenarbeiter aus Fleisch und Blut gar nicht mehr genug Beschäftigung im voll automatisierten Theaterbetrieb.“

Schon wieder dieses Verlegenheits-Kratzen.

„Na ja... irgendwas lässt sich immer finden. Außerdem war er doch schon immer da. So jemanden setzt man nicht einfach vor die Tür...“

„Oder wusste er zuviel?“

Für meinen Geschmack tat Griepenhagen ein bisschen zu sehr so, als wäre er überrascht.

„Gewusst? Wovon denn?“

„Das würde ich gerne von ihnen erfahren...“

Er lachte nervös. „In diesem Theater gibt es keine Geheimnisse, Herr Hammer...“

Entweder war er naiv wie Schneewittchen, oder er log. Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen und konnte deutlich sehen, wie er sich bemühte, etwas zu verbergen. Doch ich konnte auch lesen, dass ich im Moment nichts mehr aus ihm rausbringen würde.

Also entschloss ich mich zu einem taktischen Rückzug und nahm die Personalakte an mich, wegen der ich gekommen war.

So beiläufig wie möglich blätterte ich sie durch.

„Sieht so aus, als wäre Bruckner schon sein Leben lang im Theater beschäftigt gewesen.“

Griepehagen nickte. „Ja. Er und Fürchtegott waren ein unzertrennliches Team.“

„Wer?“

„Der ehemalige Leiter.“

„Wie? Es gab mal nur einen?“, spottete ich.

Griepenhagen verzog den Mund. „Ja, die Strukturen waren damals etwas... übersichtlicher. Fürchtegott war ein Theatermensch durch und durch. Was zur Folge hatte, dass Stücke, die ihm nicht passten, auch nicht auf die Bühne kamen. Er war weniger für sein kulturelles Engagement bekannt und dafür mehr für seine wilden Partys mit Künstlern und deren... Entourage. Bruckner hätte sicher viele Geschichten darüber erzählen können. So wie die anderen, die zu der Zeit im Theater gearbeitet haben.“

„Und es zum Teil doch auch immer noch tun... Ob das sinnvoll ist oder nicht...“

Griepenhagen räusperte sich. „Wir sind eine öffentliche Behörde, Herr Hammer. Wir entlassen niemanden, nur weil wir keine Arbeit mehr für ihn haben.“

„Stimmt – dann wäre das Rathaus auch ganz schön leer.“

Ich blickte gedankenverloren auf die vergilbten Seiten aus Bruckners Personalakte. Lebend hatte er ausgesehen, wie das Klischee eines Jahrmarkt-Gewichthebers: Große Muskelpakete, kahler Schädel, dafür buschige Augenbrauen und ein breiter Schnauzer. Ein unheimlicher Zeitgenosse, zumindest optisch. Ich konnte mir gut vorstellen, dass sich Mandy-Joelle in seiner Nähe unwohl gefühlt hatte.

Ich blätterte weiter, fand aber nichts auffälliges. Keine disziplinarischen Verstöße, keine langen Krankenzeiten, keine anderen Entgleisungen. Sein Leben lang schien Josef Bruckner ein vorbildlicher Mitarbeiter gewesen zu sein. Und doch musste es etwas in seinem Leben gegeben haben, dass jemand anderen dazu brachte, seinen Tod zu wollen.

An den verdammten Unfall konnte nur noch Wolter glauben. Apropos: Vielleicht war es an der Zeit, dem Bullen noch mal auf den Zahn zu fühlen. Ich war mir ziemlich sicher, dass mein Marketing-Clown im Moment nichts mehr zu sagen hatte. Also ließ ich die Akte auf seine Tischplatte fallen.

„Vielen Dank, Griepenhagen. Wir sehen uns...“

„Ich hoffe nicht, Hammer. Obwohl ich mir immer noch nicht sicher bin, was das kleinere Übel ist: Unfall oder Mord.“

„Ich bin sicher, wir werden es bald herausfinden.“

Ich tippte mir an den Hut und verließ das Büro wieder. Auf dem Herzogenplatz gönnte ich mir erstmal eine Selbstgedrehte, bevor ich Wolters Durchwahl wählte.

„Scheiße noch mal, Hammer!“, bellte er mich an. „Müssen sie mir denn wirklich zweimal am Tag auf den Sack gehen?“

„Sorry, Wolter, dass ich die Pause vor dem Feierabend unterbreche, aber ich hätte gerne gewusst, ob es was Neues zu dem Toten im Theater gibt.“

„Sind sie wahnsinnig, Hammer? Selbst wenn es eine Untersuchung gäbe, würden die Ergebnisse frühestens in zwei bis drei Monaten vorliegen. Da es aber ein Unfall war, wird auch nichts untersucht.“

„Nicht mal, wie es zu dem Unfall kam?“

Wolter knurrte und ich konnte ihn förmlich vor mir sehen, wie er auf seiner Zigarre rumkaute. „Das wird... ein technischer Defekt gewesen sein.“

„Also war die Elektronik kaputt?“

„Was weiß denn ich, Mann! Bin ich Elektriker?“

„Auf dem Papier sind sie immer noch Bulle, Wolter. Also, wie sieht es aus: War an der verdammten Bühne was kaputt?“

„Bisher konnten wir nichts feststellen“, gab er widerwillig zu. „Die Elektronik funktionierte einwandfrei.“