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Wenn das Harstsche Familienhaus in der Blücherstraße einmal wie ich zur Feder greifen und seine eigene Chronik schreiben könnte, — ich glaube, sie würde keineswegs langweilig werden.
Über dem Eingang dieses behaglichen alten Steinkastens ist in die dicke Mauer ein zierlich behauener Sandstein in Form einer Maurerkelle eingefügt, deren breite Fläche in längst vom Zahn der Zeit arg verwaschenen Zeichen außer der Zahl 1803 noch die Buchstaben H. H., Hermann Harst, zeigt.
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Der Detektiv
Kriminalerzählungen
von
Walther Kabel.
Band 189
Die unerforschte Stadt
© 2023 Librorium Editions
ISBN : 9782385740931
Die unerforschte Stadt
Unseres Hauses Geheimnis.
Mein Fellboot.
Das Pergament.
Die Tote im Auto.
Die Unbekannte.
Die Geheimnisse der Prinz Albert-Berge
Frau Lucie Barne.
Er wäscht die Jacke …
Doktor Pillings Schlaflosigkeit.
Die deutsche Stadt.
Die Stadt, die niemand findet …
Wenn das Harstsche Familienhaus in der Blücherstraße einmal wie ich zur Feder greifen und seine eigene Chronik schreiben könnte, — ich glaube, sie würde keineswegs langweilig werden.
Über dem Eingang dieses behaglichen alten Steinkastens ist in die dicke Mauer ein zierlich behauener Sandstein in Form einer Maurerkelle eingefügt, deren breite Fläche in längst vom Zahn der Zeit arg verwaschenen Zeichen außer der Zahl 1803 noch die Buchstaben H. H., Hermann Harst, zeigt.
Dieser Maurermeister Hermann Harst, der Urgroßvater meines Freundes, muß nach allem, was sich über ihn in der Familie von Mund zu Mund weitervererbt hat, ein ebenso tüchtiger Handwerker und Geschäftsmann wie origineller Kauz gewesen sein. Damals, als er auf dem Gebiete des heutigen Vorortes Schmargendorf das große Gebäude errichten ließ, durchlebte Deutschland genau so unruhige Zeiten wie heute, wo wir unter den Folgen des unseligen Krieges schwer zu tragen haben. Napoleon war Kaiser der Franzosen geworden. Sein staatsmännischer und militärischer Ehrgeiz bedrohte die Ruhe Mitteleuropas. Weitsichtige Männer ahnten damals schon auch für Berlin die kommende Schreckenszeit, den Zusammenbruch des friederizianischen Preußens, das auf den Lorbeeren des großen Königs sanft eingeschlummert war. —
Nach dieser kurzen Vorbemerkung führe ich den Leser an einem klaren, kalten und stürmischen Dezemberabend in Harald Harsts Arbeitszimmer, das in besagtem Hause gleich rechts vom Vorderflur lag und mit seinen drei Fenstern, seiner Länge von sieben Meter und seiner Tiefe von fünf Metern mehr einem kleinen Saale glich — nein — gleicht.
Es war gegen halb zehn. Der altertümliche Kamin sandte seine Wärmestrahlen bis hinein in die linke Hinterecke dieses eleganten und doch so nachdrücklich persönliche Eigenart betonenden Raumes. In dieser Ecke stehen das Klubsofa, der viereckige Eichentisch und die drei Klubsessel.
Auf diesem mit einer kostbaren echten Kaschmirdecke belegten Tische brannte die elektrische Stehlampe mit bronzefarbenem Seidenschirm und zwei Birnen. Harst saß in der einen Sofaecke und kramte in alten Familienurkunden, während ich im Klubsessel lag und die Beine auf einen zweiten Sessel gestützt hatte. Ich war müde und schläfrig.
Aus meinem gedankenlosen Hindösen wurde ich durch einen leisen Ausruf Harsts aufgeschreckt.
»Sollte es möglich sein!!« — Und nochmals wiederholte er, nur leiser, denselben Satz …
Ich wandte faul mein haararmes Haupt. »Was gibt’s?!« »Ich habe hier den vergilbten Bauentwurf meines Urahns soeben wieder studiert, den Grundriß, lieber Alter. Und als ich ihn — heute zum ersten Male — umdrehte und mir die fleckige Rückseite des mürben, starken Papiers beschaue, entdecke ich zwischen den Stockflecken und der anderen Alterspatina Reste von Buchstaben. Die Tinte ist natürlich vollkommen vergilbt, und wenn ich nicht die unleserlichen Wortteile ergänzt hätte, würde ich auch heute noch nicht wissen, daß unser Heim … ein Geheimnis enthält. — Ob wohl — ein anderes Thema — bei der Wortbildung »Geheimnis« der Ausdruck »Heim« mit von …«
»Bleiben wir beim Thema,« unterbrach ich ihn. Ich war durchaus nicht mehr schläfrig. »Lies mal vor … Ich bin gespannt …«
»Darfst du auch sein … — Mein Urgroßvater hat hier ein Jahr nach der Fertigstellung des Gebäudes folgendes vermerkt:
18. Juni 1804.
Dieweil zu erwarten steht, daß der glorreiche Kaiser Napoleon, der in Punkto Klugheit die Herren Staatsmänner unserer Zeit bedeutend übertrifft, auch unsere Land sich untertan zu machen versuchen wird, habe ich für unruhige Tage zum Schutz des Wertvollen und zur Erhaltung des Lebens der Meinen in aller Diskretion mit eigener Hand in langen Nächten an diesem meinem Hause eine bauliche Wariatio vorgenommen, indem ich den westlichen Kellergang um ein beträchtliches erweiterte und so ein Gelaß schuf, dessen Ausdehnung, Einrichtung und Zugang uns, so Gott will, genügend schützen wird. — Meinem getreuen Eheweibe Anna habe ich dringend befohlen, diese Zeichnung vor jedermann verborgen zu halten, so daß, zumal mein Freund, der Apotheker Gimmel vom Gendarmenmarkt, Berlin, mir eine schnell wieder verschwindende Dintenmixtur gebraut hat, mit diesem Geheimnis meines Hauses keinerlei Mißbrauch getrieben werden kann.
Ich hatte mit gespitzten Ohren zugehört …
Harst reichte mir nun den zerknitterten, am Rande vielfach zerfetzten Grundriß, und mit steigendem Interesse überlas ich nun persönlich die Wortfragmente, aus denen ich freilich niemals den vollen Sinn herausgetüftelt hätte, obwohl Apotheker Gimmels »Dintenmixtur« immerhin leidlich erkennbare Schriftzeichen zurückgelassen hatte.
»Und dies Geheimnis ist nun hundertzweiundzwanzig Jahre selig entschlummert gewesen, bis du es …« — hier brach ich ab, denn Harald hatte sich erhoben und ging zum Schreibtisch, nahm die Karbidlaterne aus dem Seitenfach und wandte sich der Tür zu.
Ich kenne ihn seit Jahren. Überflüssige Worte macht er nie. Im Flur setzten wir die Wintersportmützen auf und schritten durch die Pendeltür in den Hinterflur, wo sich unter der in das erste Stockwerk hinaufführenden Treppe der Eingang zu den ausgedehnten Kellerräumen befindet.
Der altehrwürdige plumpe Schlüssel steckte im Schloß der Kellertür.
»Mathilde ist wieder einmal nachlässig gewesen,« meinte Harald. »Der Schlüssel soll abgezogen werden …«
Er öffnete die Tür. Ich rieb ein Zündholz an. Die Laterne puffte auf.
In demselben Moment drang aus dem Treppenschacht aus fernen Tiefen des Kellers ein unbestimmtes Geräusch an unser Ohr …
Harst, der die Hand nach der Laterne ausgestreckt hatte, ließ den Arm langsam sinken, beugte den Oberkörper lauschend vor und flüsterte: »Es kann eine Katze sein … Die kaputte Scheibe des einen Fensters des Kohlenkellers hätte längst erneuert werden müssen …«
Wir lauschten. Aus den Kellerräumen wehte uns die muffige Luft lagernder Kartoffeln entgegen. Jeder kennt diesen Geruch. Aber meine Nase — und mein Geruchssinn ist (als einziger!) wohl infolge meiner Nervosität besser entwickelt als der Haralds — unterschied noch etwas anderes: eine ganz geringe Beimengung von … Parfüm!
Nun gibt es im ganzen Harstschen Hause außer Kölnisch Wasser keine Wohlgerüche. Weder Harst noch ich benutzen jemals ein Parfüm. Für Leute unseres Liebhaberberufs könnte die geringste Menge Derby, Safranor, Peau d’Espagne oder eines sonstigen Herrenparfüms verhängnisvoll werden. Und Haralds Mutter schwärmte lediglich für Kölnisch Wasser, ebenso unsere brave dicke Köchin Mathilde, letztere »anleihenweise« — als Mitbenutzerin der schlichten Flaschen von Johanna Maria Karina ihrer gütigen, weißhaarigen Herrin. —
Wie der nachts auf Beute ausziehende lichtscheue Panther außer dem ausgelegten Köder auch den gut verborgenen Jäger wittert, — ein Vergleich, der hier vielleicht etwas hinkt, denn ich habe wahrhaftig nichts pantherartiges an mir, — ebenso windete nun ich mit meiner niemals prämierten Stupsnase mißtrauisch in das Dunkel vor uns hinein … Harst hatte die Laterne längst an sich genommen und unter der Schnürjacke verborgen.
Kein Zweifel: es war nicht nur der fade Geruch der eingekellerten Kartoffeln, es war auch Parfüm und zwar fraglos Derby! Auf meine Nase ist unbedingt Verlaß.
»Derby!« hauchte ich Harald ins Ohr …
Er — ebenso leise: »Ganz recht … Es ist ein Fremder vor uns in den Keller hinabgegangen!«
Da — — abermals das ferne unklare Geräusch …
Jetzt hielt es längere Zeit an, dieses merkwürdige Scharren.
»Es klingt wie das Arbeiten einer gut geölten Stahlsäge,« raunte mir Harald zu …
Dann schlich er die Treppe hinab, indem er die Jacke etwas lüftete …
Ich folgte …