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H. P. Lovecraft: 'Welcher Schriftsteller kann schon mit Howard mithalten, wenn es um pure, lebendige Angst geht?' Robert E. Howard (1906?1936) gilt mit seinen Geschichten um Helden wie Conan von Cimmerien, Red Sonja, Bran Mak Morn, Solomon Kane und Kull von Atlantis als der Begründer der modernen 'Schwert und Magie'-Fantasy. Er war ein Schriftsteller von gewaltiger visionärer und literarischer Kraft, der leider sehr jung starb. Bis heute finden seine fantastisch-historischen Erzählungen eine enorme Fangemeinde. Eine seiner vielen Fan-Websites gibt es hier. Festa veröffentlicht erstmals auf Deutsch seine unheimlichen Geschichten (5 Bände), darunter einige die zu H. P. Lovecrafts 'Cthulhu-Mythos' gezählt werden können. Das Bonusmaterial bilden Briefe zwischen H. P. Lovecraft und Robert E. Howard sowie Essays zu Leben und Werk des Texaners. Stephen King: 'In Howards besten Erzählungen steckt eine so unglaubliche Energie, dass geradezu Funken sprühen!' Robert Bloch: 'Hinter Howards Erzählungen lauert eine dunkle Poetik, und die zeitlose Wahrheit der Träume.' Horrorgeschichten Band 4 Inhalt: Die unter den Gräbern hausen Der Nasenlose Der Dunkle Mann Der Geist von Tom Molyneaux Das Haus von Arabu Der Dämon des Ringes Würmer der Erde Solomon Kane Blutige Schatten Die Burg des Teufels (unvollendetes Fragment) Die Kinder Assurs (unvollendetes Fragment) Der Falke von Basti (unvollendetes Fragment) Die Schwarzen Reiter des Todes (unvollendetes Fragment) Der Schädelmond Don Herron: Der finstere Barbar ekz: 'Versetzte Howard in seiner Fantasy den Leser in eine Scheinwelt voller starker Männer, schöner Frauen und zwielichtiger Magier, so taucht sein Horror mit diversen Ich-Erzählern in die albtraumhafte Welt dunkler Bestien und übernatürlicher Wesen, die die Erde heimsuchen und vernichten wollen - Cthulhu lässt grüßen. Für Horror-Fans ein unverzichtbarer Klassiker.'
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Seitenzahl: 595
Veröffentlichungsjahr: 2014
Aus dem Amerikanischen von Manfred Sanders
1. Auflage August 2014
Originalausgabe
Copyright © dieser Ausgabe 2014 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Alexander Rösch
Alle Rechte vorbehalten
eBook 978-3-86552-239-9
www.Festa-Verlag.de
Ich schreckte aus dem Schlaf und fragte mich benommen, wer denn da so ungestüm gegen die Tür hämmert – es klang, als wolle er sie einschlagen. Dazu kreischte eine Stimme unerträglich schrill wie in tiefstem Entsetzen.
»Conrad! Conrad!«, schrie die Stimme vor der Tür. »Um Gottes willen, lassen Sie mich rein! Ich habe ihn gesehen! Ich habe ihn gesehen!«
»Das klingt nach Hiob Kiles«, meinte Conrad und hievte seine lange Gestalt von dem Diwan, auf dem er geschlafen hatte, nachdem er mir sein Bett überließ. »Jetzt brechen Sie nicht die Tür auf!«, rief er und schlüpfte in seine Hausschuhe. »Ich komme ja schon.«
»Beeilen Sie sich!«, schrie der unbekannte Besucher. »Ich habe gerade der Hölle in die Augen geblickt!«
Conrad machte Licht und öffnete die Tür. Halb fiel, halb stolperte eine wild dreinblickende Gestalt herein, die ich als jenen erkannte, den Conrad erwähnt hatte – Hiob Kiles, ein mürrischer und geiziger alter Mann, der auf dem kleinen Anwesen lebte, das an das von Conrad angrenzte. Eine grausige Veränderung war mit diesem ansonsten so zugeknöpften und selbstbeherrschten Mann vorgegangen. Sein spärliches Haar sträubte sich, Schweißtropfen bedeckten die gräuliche Haut, und von Zeit zu Zeit schüttelte er sich wie in heftigem Fieber.
»Was in Gottes Namen ist denn los, Kiles?«, rief Conrad und starrte ihn an. »Sie sehen ja aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!«
»Ein Gespenst!« Kiles’ hohe Stimme überschlug sich, und er stieß ein schrilles hysterisches Lachen aus. »Ich habe einen Dämon aus der Hölle erblickt! Ich sage Ihnen, ich habe ihn gesehen – heute Nacht! Vor wenigen Minuten! Er hat in mein Fenster geschaut und mich ausgelacht! Oh Gott, dieses Lachen!«
»Wer?«, fragte Conrad ungeduldig.
»Mein Bruder Jonas!«, schrie der alte Kiles.
Sogar Conrad stutzte. Hiobs Zwillingsbruder Jonas war vor einer Woche gestorben. Conrad und ich hatten gesehen, wie man seinen Leichnam in dem Grabmal hoch über den steilen Abhängen der Dagoth Hills beisetzte. Ich erinnerte mich an den Hass zwischen den beiden Brüdern – Hiob der Geizhals und Jonas der Verschwender. Letzterer hatte seine letzten Tage in Armut und Einsamkeit im alten Herrenhaus der Familie an den unteren Hängen der Dagoth Hills verlebt, all das ätzende Gift seiner verbitterten Seele auf den knausrigen Bruder konzentriert, der in einem eigenen Haus im Tal wohnte.
Diese Gefühle beruhten auf Gegenseitigkeit. Selbst als Jonas im Sterben lag, hatte Hiob sich nur widerwillig dazu überreden lassen, seinen Bruder aufzusuchen. Wie es sich ergab, war er mit Jonas allein gewesen, als dieser starb, und die Todesszene muss furchtbar gewesen sein, denn Hiob soll zitternd und mit grauem Gesicht aus dem Zimmer gestürmt sein, verfolgt von einem entsetzlichen meckernden Lachen, das mit einem plötzlichen Todesröcheln abbrach.
Jetzt stand der alte Hiob zitternd vor uns, mit kaltem Schweiß auf seiner grauen Haut, und stammelte den Namen seines toten Bruders.
»Ich habe ihn gesehen! Ich bin länger aufgeblieben als üblich. Gerade als ich das Licht löschte, um ins Bett zu gehen – da grinste mich sein Gesicht durch das Fenster an, eingerahmt vom Mondlicht. Er ist aus der Hölle zurückgekommen, um mich mit hinabzuziehen, so wie er es auf dem Totenbett geschworen hat. Er ist nicht menschlich! Schon seit Jahren nicht mehr! Den Verdacht hatte ich schon, als er von seinen langen Wanderungen durch den Orient zurückkehrte. Er ist ein Teufel in Menschengestalt! Ein Vampir! Er plant meine Vernichtung an Körper und Seele!«
Sprachlos und völlig perplex saß ich da, und selbst Conrad fand keine Worte. Was soll man schon sagen, wenn man sich einem augenscheinlichen Beweis für kompletten Wahnsinn gegenübersieht? Mein einziger Gedanke war der offensichtliche – nämlich, dass Hiob Kiles geisteskrank war. Jetzt packte er auch noch Conrad an seinem Morgenmantel und schüttelte ihn heftig in den Höllenqualen seines Entsetzens.
»Es gibt nur eins, was ich tun kann!«, schrie er, und in seinen Augen loderte die Verzweiflung. »Ich muss zu seinem Grab gehen! Ich muss mit eigenen Augen sehen, ob er noch dort liegt, wo wir ihn hingelegt haben! Und Sie müssen mich begleiten! Ich wage es nicht, allein durch die Dunkelheit zu laufen! Vielleicht wartet er auf mich – liegt hinter einer Hecke oder einem Baum auf der Lauer!«
»Das ist doch Wahnsinn, Kiles«, protestierte Conrad. »Jonas ist tot – Sie hatten einen Albtraum ...«
»Albtraum!«, schrie der Alte krächzend. »Davon hatte ich wahrlich genug, seit ich an seinem höllischen Totenbett stand und die blasphemischen Drohungen wie einen schwarzen Fluss aus seinen schäumenden Lippen strömen hörte. Aber das hier ist kein Traum gewesen! Ich war hellwach, und ich sage Ihnen – ich sage Ihnen, ich habe meinen Dämonenbruder Jonas gesehen, wie er mich durch das Fenster höhnisch angrinste!«
Er rang die Hände und stöhnte vor Entsetzen, sein ganzer Stolz, seine Selbstbeherrschung und Haltung waren von nacktem, primitivem, animalischem Grauen hinweggefegt worden. Conrad schielte zu mir herüber, aber ich hatte auch keinen Rat für ihn. Die ganze Sache erschien so vollkommen verrückt, dass es am naheliegendsten schien, die Polizei zu rufen und den alten Hiob in das nächstbeste Irrenhaus verfrachten zu lassen. Und doch lag da in seinem Verhalten ein fundamentales Entsetzen, das viel tiefer zu reichen schien als Wahnsinn und das, wie ich zugeben muss, mir einen eiskalten Schauder über den Rücken jagte.
Er schien unsere Zweifel zu spüren, denn er fuhr erregt fort: »Ich weiß! Sie glauben, ich bin verrückt! Aber ich bin nicht weniger bei Verstand als Sie! Und ich werde zu seinem Grab gehen, auch wenn ich es allein tun muss! Aber wenn Sie mich allein gehen lassen, wird mein Blut an Ihren Händen kleben! Also, kommen Sie mit?«
»Warten Sie.« Conrad begann, sich rasch anzukleiden. »Wir begleiten Sie. Vermutlich dürfte einzig der Anblick Ihres Bruders in seinem Sarg in der Lage sein, diese Halluzination aus der Welt zu schaffen.«
»Aye!« Der alte Hiob lachte furchterregend. »In seinem Grabmal, in seinem Sarg ohne Deckel! Warum hat er diesen offenen Sarg vor seinem Tod präpariert und Anweisungen hinterlassen, dass kein wie auch immer gearteter Deckel darauf gelegt werden darf?«
»Er war schon immer etwas exzentrisch«, meinte Conrad.
»Er war schon immer ein Teufel!«, knurrte Hiob. »Wir hassten uns seit unserer Jugend. Als er sein Erbe verschleudert hatte und ohne einen Penny zurückgekrochen kam, verübelte er es mir, dass ich meinen hart erarbeiteten Wohlstand nicht mit ihm teilen wollte. Dieser niederträchtige Hund! Dieser Teufel aus den Abgründen des Fegefeuers!«
»Nun, wir werden bald sehen, ob er sicher in seinem Grab liegt«, sagte Conrad. »Fertig, O’Donnel?«
»Fertig«, erwiderte ich und schnallte mir meinen 45er um. Conrad lachte.
»Sie können wohl nie Ihre texanische Herkunft vergessen, was?«, scherzte er. »Glauben Sie, auf ein Gespenst schießen zu müssen?«
»Na ja, man kann nie wissen«, antwortete ich. »Ich gehe nachts nicht gern ohne Waffe aus dem Haus.«
»Pistolen sind nutzlos gegen einen Vampir«, sagte Hiob, der ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. »Es gibt nur eins, womit man etwas gegen ihn ausrichten kann – ein Holzpflock durch das schwarze Herz dieses Teufels!«
»Gute Güte, Hiob!« Conrad lachte auf. »Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?«
»Warum nicht?« Ein Funken Irrsinn flackerte in seinen Augen. »Es gab Vampire in den alten Zeiten – und in Osteuropa und im Orient gibt es sie noch heute. Ich habe gehört, wie er sich mit seinem Wissen über geheime Kulte und schwarze Magie brüstete. Ich hatte es schon geahnt – und dann, als er im Sterben lag, enthüllte er mir sein grausiges Geheimnis. Er schwor mir, dass er aus dem Grab zurückkehrt und mich mit in die Hölle hinabzieht!«
Wir verließen das Haus und überquerten die Wiese. Dieser Teil des Tals war nur spärlich besiedelt, obwohl man in einigen Meilen Entfernung im Südwesten die Lichter der Stadt erkennen konnte. Direkt neben Conrads Grundstück lag Hiobs Anwesen. Trist und still ragte das dunkle Gebäude zwischen den Bäumen auf. Dieses Haus war der einzige Luxus, den der knauserige alte Mann sich gestattete.
Eine Meile weiter nördlich floss der Fluss vorbei, und im Süden erhoben sich die düsteren schwarzen Umrisse jener sanft geschwungenen Hügel – mit kahlen Kuppen und langen, von Büschen bewachsenen Hängen –, die man die Dagoth Hills nannte – ein seltsamer Name, der sich mit keiner bekannten indianischen Sprache in Verbindung bringen lässt, der aber zuerst vom roten Mann benutzt wurde, um dieses niedrige Hügelland zu benennen.
Die Hügel waren so gut wie unbewohnt. An den unteren Ausläufern, zum Fluss hin, gab es einige Farmen, aber die innen gelegenen Täler waren zu arm an Boden und die Hügel selbst zu steinig, um sie zu bewirtschaften. Weniger als eine halbe Meile von Conrads Anwesen entfernt stand der weitläufige Bau, der seit mehr als drei Jahrhunderten die Kiles-Familie beherbergt hatte – zumindest datierten die Fundamente aus jener Zeit, während der Rest des Hauses moderner wirkte. Der alte Hiob erschauderte sichtlich, als er es dort lauern sah wie einen Geier auf einem Ast, vor dem schwarzen welligen Hintergrund der Dagoth Hills.
Es war eine wilde, stürmische Nacht, in der wir zu unserer irrwitzigen Unternehmung aufbrachen. Wolken huschten unaufhörlich vor dem Mond vorbei, und der Wind, der durch die Bäume heulte, trug merkwürdige Nachtgeräusche zu uns und stellte seltsame Dinge mit unseren Stimmen an. Unser Ziel war das Grabmal, das am oberen Hang eines Hügels kauerte, der aus der restlichen Hügelkette herausragte und sich über das Plateau erhob, auf dem das alte Kiles-Haus stand. Fast schien es, als solle der Bewohner jener Grabstätte über das Haus seiner Vorfahren und das Tal, das seine Familie einst von den Hügeln bis zum Fluss besessen hatte, hinausschauen können. Heute bestanden die Ländereien, die zum alten Anwesen gehörten, nur noch aus dem Streifen Land, der den Hang hinauf in die Hügel reichte, mit dem Haus am einen und dem Grabmal am anderen Ende.
Der Hügel, auf dem sich das Grab befand, unterschied sich von den anderen, wie ich bereits sagte, und auf dem Weg zur Ruhestätte kamen wir dicht an seinem steilen, mit Gestrüpp überwucherten Ausläufer vorbei, der schroff in einer felsigen Klippe endete. Wir näherten uns der Spitze dieser Erhebung, als Conrad meinte: »Welcher Teufel hat denn Jonas geritten, dass er sein Grabmal so weit entfernt von der Familiengruft baute?«
»Er hat es nicht gebaut«, knurrte Hiob. »Es wurde schon vor langer Zeit von unserem Vorfahren, dem alten Captain Jacob Kiles, erbaut, weshalb dieser Hügel auch heute noch ›Pirate Hill‹ heißt – denn er ist ein Pirat und Schmuggler gewesen. Aus einer eigenartigen Laune heraus ließ er das Grab dort oben errichten, und zu seinen Lebzeiten verbrachte er viel Zeit alleine dort, vor allem nachts. Doch er wurde nie dort bestattet, denn er fiel auf See im Kampf mit einem Schlachtschiff. Er pflegte von dieser Klippe aus nach Feinden oder Soldaten Ausschau zu halten. Deshalb wird sie bis heute ›Smuggler’s Point‹ genannt.
Das Grabmal war zur Ruine verkommen, als Jonas in das alte Haus einzog, und er ließ es reparieren, um seine Knochen dort bestatten zu lassen. Er wusste wohl, dass er es nicht wagen konnte, in geweihter Erde zu ruhen! Bevor er starb, hatte er bereits alle Vorkehrungen getroffen – das Grab hatte man erneuert, und der deckellose Sarg stand bereit, um seine Leiche aufzunehmen ...«
Ich erschauderte unwillkürlich. Die Dunkelheit, die wilden Wolken, die vor dem leprösen Mond dahineilten, die schrillen Windgeräusche, die trostlosen schwarzen Hügel, die über uns dräuten, der abenteuerliche Bericht unseres Begleiters – das alles regte meine Vorstellungskraft dazu an, die Nacht mit Horrorgestalten und Nachtmahren zu bevölkern. Ich schielte nervös auf das Gestrüpp an den Hängen, die im unsteten Licht so schwarz und abweisend wirkten, und wünschte mir, nicht so nah an den dicht bewachsenen, verrufenen Klippen des Smuggler’s Point entlangzugehen, die wie der Bug eines Schiffes aus der düsteren Hügelkette herausragten.
»Ich bin kein dummes, kleines Mädchen, das Angst vor Schatten hat«, plapperte der alte Hiob weiter. »Aber ich habe sein hasserfülltes Gesicht im Mondschein an meinem Fenster gesehen! Im Grunde habe ich schon immer daran geglaubt, dass die Toten in der Nacht umherwandeln. Jetzt ... Was ist das?«
Er blieb wie angewurzelt stehen, erstarrt in einer Pose äußersten Entsetzens.
Unwillkürlich spitzten wir die Ohren. Wir hörten die Zweige der Bäume in der steifen Brise rascheln. Wir hörten das laute Flüstern des hohen Grases.
»Nur der Wind«, murmelte Conrad. »Er verzerrt alle Geräusche ...«
»Nein! Nein, glauben Sie mir! Es war ...«
Ein gespenstischer Schrei wurde vom Wind herangeweht – eine Stimme voller Todesangst und Pein. »Hilfe! Hilfe! Oh Gott, hab Erbarmen! Oh Gott! Oh Gott ...«
»Die Stimme meines Bruders!«, schrie Hiob. »Er ruft aus der Hölle nach mir!«
»Woher kam das?«, flüsterte Conrad mit plötzlich trockenen Lippen.
»Ich weiß es nicht.« Ich hatte eine Gänsehaut. »Ich konnte es nicht genau ausmachen. Vielleicht kam es von oben – oder von unten. Es klang seltsam gedämpft.«
»Der kalte Griff des Grabes dämpft seine Stimme!«, kreischte Hiob. »Das dichte Leichentuch erstickt seine Schreie! Ich sage Ihnen, er brät jaulend an den weiß glühenden Spießen der Hölle, und er will mich hinabziehen, damit ich sein Schicksal teile! Weiter! Weiter zum Grab!«
»Dem letztlichen Ziel jedes Menschen«, murmelte Conrad, aber dieses grausige Bonmot trug nicht gerade dazu bei, meine Stimmung zu heben. Wir folgten dem alten Kiles, konnten kaum Schritt halten mit dieser hageren, grotesken Gestalt, als er den Hang entlangeilte, auf den gedrungenen Bau zu, der wie ein trübe glänzender Schädel im trügerischen Mondschein lag.
»Haben Sie die Stimme erkannt?«, flüsterte ich Conrad zu.
»Ich weiß nicht. Sie war gedämpft, wie Sie schon sagten. Vielleicht hat uns lediglich der Wind einen Streich gespielt. Würde ich behaupten, Jonas’ Stimme erkannt zu haben, so hielten Sie mich sicher für verrückt.«
»Jetzt nicht mehr«, brummte ich. »Anfangs hielt ich es für reinen Wahnsinn. Aber der Geist dieser Nacht ist mir in die Knochen gefahren. Im Moment bin ich bereit, alles zu glauben.«
Mittlerweile waren wir oben angelangt und standen vor der massiven Eisentür des Grabmals. Dahinter erhob sich steil der Hügel, bewachsen mit dichtem Gestrüpp. Das trostlose Mausoleum schien mit finsteren Vorzeichen behaftet zu sein, hervorgerufen von den unerklärlichen Geschehnissen der Nacht. Conrad richtete den Strahl einer elektrischen Taschenlampe auf das schwere Schloss, das uralt aussah.
»Diese Tür wurde nicht geöffnet«, meinte Conrad. »Das Schloss wurde nicht manipuliert. Sehen Sie – Spinnen haben bereits dichte Netze über die Schwelle gewoben, und die Fäden sind nicht zerrissen. Das Gras vor der Tür ist nicht niedergetreten, wie es der Fall wäre, wenn jemand kürzlich das Grab betreten hätte – oder verlassen.«
»Was bedeuten einem Vampir schon Türen und Schlösser?«, jammerte Hiob. »Diese Kreaturen gehen durch feste Wände wie Geister. Ich sage Ihnen, ich werde nicht ruhen, ehe ich in diesem Grab war und getan habe, was ich tun muss. Ich habe den Schlüssel – den einzigen Schlüssel auf dieser Welt, der in diese Tür passt.«
Er zog ihn aus der Tasche – ein riesiges, altmodisches Exemplar – und rammte ihn in das Schloss. Quietschend und stöhnend bewegten sich die rostigen Bolzen, und der alte Hiob schreckte zurück, als erwarte er, dass sich jeden Moment ein zähnefletschendes Gespenst durch die geöffnete Tür auf ihn stürzte.
Conrad und ich blickten hinein – und ich gestehe, dass ich unter chaotischen Schreckensvisionen bebte und mich unwillkürlich für alles wappnete. Aber die Dunkelheit im Inneren war undurchdringlich. Conrad wollte mit der Taschenlampe hineinleuchten, doch Hiob hielt ihn auf. Der alte Mann schien seine Fassung inzwischen größtenteils zurückgewonnen zu haben.
»Geben Sie mir die Lampe«, sagte er mit grimmiger Entschlossenheit. »Ich gehe allein hinein. Wenn er ins Grab zurückgekehrt ist – wenn er wieder in seinem Sarg liegt, dann weiß ich, was ich zu tun habe. Warten Sie hier, und wenn ich rufe oder Sie die Geräusche eines Kampfes hören, kommen Sie schnell herein.«
»Aber ...«, wollte Conrad widersprechen.
»Keine Widerrede!«, kreischte der alte Kiles, und jetzt schien seine Selbstbeherrschung wieder Risse zu bekommen. »Das hier ist meine Aufgabe, und ich werde sie allein erledigen!«
Er fluchte, als Conrad den Lichtstrahl versehentlich voll in sein Gesicht lenkte, dann schnappte er sich die Lampe, zog etwas unter seinem Mantel hervor und stapfte in die Grabstätte. Die schwere Tür zog er hinter sich zu.
»Welch ein Irrsinn«, murmelte ich beklommen. »Warum hat er darauf bestanden, dass wir ihn begleiten, wenn er doch vorhatte, allein hineinzugehen? Und ist Ihnen das Leuchten in seinen Augen aufgefallen? Der nackte Wahnsinn!«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, antwortete Conrad. »Für mich sah es mehr wie bösartiger Triumph aus. Und was seinen Alleingang angeht, so kann davon ja kaum die Rede sein, denn wir sind nur wenige Meter von ihm entfernt. Er wird seine Gründe haben, dass er nicht mit uns zusammen ins Grab gehen will. Was hat er da aus seinem Mantel gezogen, bevor er hineinging?«
»Es sah aus wie ein angespitzter Stock und ein kleiner Hammer. Wozu braucht er einen Hammer, wenn da doch kein Deckel auf dem Sarg ist, den er aufbrechen müsste?«
»Natürlich!«, entfuhr es Conrad. »Was bin ich für ein Narr, dass ich es nicht gleich begriffen habe! Kein Wunder, dass er allein in das Grab gehen wollte! O’Donnel, er meint es ernst mit diesem Vampirunsinn! Erinnern Sie sich an seine Andeutungen, dass er vorbereitet sei und dergleichen? Er hat vor, diesen Holzpflock in das Herz seines Bruders zu rammen! Kommen Sie! Ich glaube nicht, dass wir eine solche Schändung ...«
Aus dem Grabmal drang ein Schrei, der mich bis auf mein Totenbett verfolgen wird. Das grauenvolle Entsetzen, das darin mitschwang, ließ uns erstarren, und bevor wir unsere fünf Sinne beisammen nehmen konnten, hörte man das wilde Getrappel von Füßen und einen heftigen Stoß gegen die Tür. Hiob Kiles kam aus dem Grabmal gestürmt wie eine Fledermaus aus den Pforten der Hölle. Er stürzte vor unseren Füßen zu Boden, die Taschenlampe glitt ihm aus der Hand und erlosch. Hinter ihm stand die Eisentür weit offen, und ich glaubte, ein seltsames kriechendes oder gleitendes Geräusch in der Dunkelheit zu vernehmen. Aber dann wurde meine ganze Aufmerksamkeit von dem armen Kerl beansprucht, der sich in entsetzlichen Zuckungen vor unseren Füßen krümmte.
Wir beugten uns über ihn. Der Mond, der gerade hinter einer dunklen Wolke hervorkam, leuchtete auf sein totenbleiches Gesicht, und beide schrien wir unwillkürlich auf, als wir das Grauen sahen, das sich dort eingeprägt hatte. Aus seinen weit aufgerissenen Augen war jede Spur von Vernunft gewichen – ausgeblasen wie eine Kerze in der Finsternis. Seine schlaffen Lippen stießen ein zusammenhangloses Geplapper aus. Conrad schüttelte ihn. »Kiles! In Gottes Namen, was ist passiert?«
Ein grauenvolles, sabberndes Wimmern war die einzige Antwort. Und dann erkannten wir unter dem Geifern und den sinnlosen Lauten einige menschliche Worte, verzerrt und kaum verständlich.
»Das Ding! Das Ding im Sarg!« Und als Conrad erregt nachfragte, verdrehten sich Kiles’ Augen und erstarrten, die Lippen gefroren zu einem freudlosen Grinsen, und der schmächtige Körper des Mannes erschlaffte und schien in sich zusammenzusacken.
»Tot!«, murmelte Conrad bestürzt.
»Ich sehe keine Verletzung«, flüsterte ich zutiefst erschüttert.
»Es gibt keine – nicht einen Tropfen Blut.«
»Dann ... dann ...« Ich wagte es nicht, den grausigen Gedanken in Worte zu fassen.
Entsetzt blickten wir auf den rechteckigen Streifen Dunkelheit, der von der halb geöffneten Tür des Grabmals eingerahmt wurde. Der Wind pfiff durch das Gras wie eine Hymne dämonischen Triumphs, und ein plötzliches Zittern erfasste mich.
Conrad stand auf und straffte die Schultern.
»Kommen Sie!«, sagte er. »Weiß Gott, was in diesem höllischen Grab lauert – aber wir müssen es herausfinden. Der alte Mann ist überreizt gewesen – er wurde zum Opfer seiner eigenen Angst. Sein Herz war nicht sehr kräftig; vieles hätte seinen Tod hervorrufen können. Begleiten Sie mich?«
Was sind die schlimmsten Schrecken greifbarer und bekannter Gefahren angesichts des Grauens unsichtbarer, namenloser Bedrohungen? Aber ich nickte, und Conrad hob die Taschenlampe auf, schaltete sie ein und brummte zufrieden, weil sie nicht zerbrochen war. Dann näherten wir uns dem Grab, wie man sich einem Schlangennest nähert. Ich hielt meinen Revolver mit gespanntem Hahn in der Hand, als Conrad die Tür ganz aufriss. Der Lichtstrahl wanderte rasch über die feuchten Wände, den staubigen Boden und das gewölbte Dach und verharrte dann auf dem deckellosen Sarg, der auf einem steinernen Podest in der Mitte des Raumes thronte. Darauf gingen wir nun mit angehaltenem Atem zu, und wir wagten nicht, uns vorzustellen, welche entsetzlichen Schrecken wir erblicken würden. Conrad atmete tief ein, dann richtete er den Lichtstrahl in den Sarg. Ein überraschter Aufschrei entfuhr uns – der Sarg war leer!
»Mein Gott!«, flüsterte ich. »Hiob hatte recht! Aber wo ist der ... der Vampir?«
»Es war kein leerer Sarg, der Hiob Kiles zu Tode erschreckt hat«, überlegte Conrad. »Seine letzten Worte waren: ›Das Ding im Sarg‹. Etwas hat dort drin gelegen – etwas, dessen Anblick Hiob Kiles’ Leben wie eine Kerze ausblies.«
»Aber wo ist es?«, fragte ich unruhig, und ein kalter Schauder lief mir über den Rücken. »Es konnte das Grab nicht verlassen, ohne dass wir es gesehen hätten. Ist es etwas, das sich nach Belieben unsichtbar machen kann? Lauert es in diesem Moment hier bei uns in der Grabkammer?«
»Das ist blanker Unsinn«, schnaubte Conrad, aber nicht ohne einen schnellen Blick über die Schulter. Dann fügte er hinzu: »Ist Ihnen auch der abstoßende Geruch dieses Sarges aufgefallen?«
»Ja, aber ich kann ihn nicht genau festmachen.«
»Ich auch nicht. Es ist nicht der übliche Geruch eines Leichenhauses. Es ist eher etwas Erdiges, Reptilienartiges. Es erinnert mich vage an Gerüche, die mir in Minenschächten tief unter der Erde begegnet sind. Es haftet an dem Sarg – als habe dort eine gottlose Kreatur aus den Tiefen der Erde gelegen.«
Er ließ den Lampenstrahl erneut durch die Grabkammer wandern. Das Licht verharrte abrupt an der rückwärtigen Wand, die aus dem nackten Fels des Hügels gehauen war, auf dem das Grabmal stand.
»Da!«
In der Wand, die eigentlich massiv hätte sein sollen, zeigte sich eine schmale Öffnung. Mit einem schnellen Schritt langte Conrad dort an, und gemeinsam untersuchten wir sie. Wir drückten vorsichtig gegen das Wandstück neben der Öffnung, das daraufhin leise nachgab und eine solche Schwärze enthüllte, wie ich sie in der diesseitigen Welt nie für möglich gehalten hätte. Unwillkürlich wichen wir einen Schritt zurück und spannten die Muskeln an, als rechneten wir damit, von irgendeinem Grauen der Finsternis angesprungen zu werden. Dann stieß Conrad ein kurzes Lachen aus, das wie ein Eimer Eiswasser auf unsere überspannten Nerven wirkte.
»Zumindest benutzt der Bewohner dieses Grabes einen nicht übernatürlichen Zugangsweg«, stellte er fest. »Diese Geheimtür wurde offensichtlich mit äußerstem Geschick konstruiert. Sie besteht lediglich aus einem großen, aufrechten Steinblock, der sich auf einem Lager dreht. Und die Geräuschlosigkeit, mit der sie sich bewegt, beweist, dass Lager und Sockel erst vor Kurzem geölt wurden.«
Er richtete den Lichtstrahl auf das schwarze Loch hinter der Tür, und wir erkannten einen schmalen Gang, der parallel zur Türschwelle verlief, offenbar aus dem soliden Fels des Hügels herausgeschlagen. Die Wände und der Boden schienen glatt und eben zu sein, die Decke gewölbt.
Conrad trat zurück und sah mich an.
»O’Donnel, ich vermeine hier in der Tat etwas Dunkles und Unheilvolles zu spüren, aber ich bin mir sicher, dass menschliches Wirken dahintersteckt. Es ist, als seien wir auf einen finsteren, verborgenen Fluss gestoßen, der direkt unter unseren Füßen fließt. Wohin er führt, vermag ich noch nicht zu sagen, aber ich bin überzeugt davon, dass die Kraft hinter alldem Jonas Kiles ist. Ich glaube, der alte Hiob hat heute Abend wirklich seinen Bruder am Fenster gesehen.«
»Aber ob das Grab nun leer ist oder nicht, Conrad – Jonas Kiles ist tot!«
»Das glaube ich nicht. Vermutlich war es ein selbst herbeigeführter Zustand der Katalepsie, so wie Hindu-Fakire es praktizieren. Ich habe einige solcher Fälle kennengelernt und hätte jedes Mal geschworen, dass die Männer wirklich tot sind. Sie haben das Geheimnis des willentlichen Scheintods entdeckt, allen Wissenschaftlern und Skeptikern zum Trotz. Jonas Kiles hat einige Jahre in Indien gelebt, und dort muss er ebenfalls dieses Geheimnis erlernt haben.
Der offene Sarg, der Gang, der vom Grabmal wegführt – das alles deutet darauf hin, dass er am Leben gewesen ist, als man ihn hier beisetzte. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass man ihn für tot hält. Vielleicht ist es nur die Marotte eines zerrütteten Geistes; vielleicht steckt auch etwas Tieferes und Dunkleres dahinter. Angesichts seines Auftritts bei seinem Bruder und des Todes des alten Hiob neige ich zu Letzterem, aber momentan sind meine Vermutungen noch zu grauenvoll und fantastisch, um sie in Worte zu fassen. Aber ich habe vor, diesen Gang zu erkunden. Möglicherweise versteckt sich Jonas dort irgendwo. Wollen Sie mich begleiten? Bedenken Sie, der Mann ist wahrscheinlich ein gemeingefährlicher Irrer, und falls nicht, so ist er womöglich noch gefährlicher als jeder Geisteskranke.«
»Ich komme mit«, knurrte ich, obwohl es mich beim Gedanken, in diese abgrundtiefe Schwärze vorzudringen, kalt überlief. »Aber was war das für ein Schrei, den wir hörten, als wir die Klippe passierten? Das war keine Vortäuschung von Höllenqualen! Und was für ein ›Ding‹ hat Hiob im Sarg gesehen?«
»Ich weiß es nicht. Eventuell war es Jonas in einer grauenerregenden Verkleidung. Ich gebe zu, dass die ganze Sache sehr mysteriös ist, selbst wenn wir von der Hypothese ausgehen, dass Jonas am Leben ist und hinter allem steckt. Aber wir wollen uns den Gang ansehen. Helfen Sie mir, Hiob hereinzutragen. Wir können ihn da draußen nicht so liegen lassen. Legen wir ihn in den Sarg.«
Und so nahmen wir Hiob Kiles und betteten ihn in den Sarg des Bruders, den er so gehasst hatte, und dort lag er dann, mit glasigen Augen in seinem erstarrten Gesicht. Als ich ihn ansah, schien das Klagelied des Windes mir Hiobs Worte ins Ohr zu flüstern: »Weiter! Weiter zum Grab!« Sein Weg hatte ihn tatsächlich ins Grab geführt.
Conrad ging als Erster durch die Geheimtür, die wir hinter uns offen ließen. Als wir diesen schwarzen Tunnel betraten, durchlebte ich einen Augenblick nackter Panik, und mich erleichterte, dass die schwere Außentür des Grabmals nicht mit einem Schnappschloss versehen war und Conrad in seiner Tasche den einzigen Schlüssel trug, der die massive Tür verriegeln konnte. Ich hatte die beklemmende Vision, wie der dämonische Jonas die Tür hinter uns verschloss und uns bis zum Jüngsten Tag in diese Grabkammer sperrte.
Der Tunnel schien grob nach Osten und Westen zu führen, der äußeren Kante des Hügels folgend. Wir wandten uns nach links – nach Osten – und bewegten uns vorsichtig voran, die Taschenlampe ins Dunkel vor uns gerichtet.
»Dieser Tunnel wurde nie im Leben von Jonas Kiles angelegt«, flüsterte Conrad. »Er strahlt etwas Uraltes aus – da, sehen Sie!«
Eine dunkle Öffnung erschien zu unserer Rechten. Conrad leuchtete hinein, und wir sahen einen anderen, schmaleren Gang, von dem zu beiden Seiten weitere Öffnungen abzweigten.
»Das ist ein ganzes Netz von Gängen«, brummte ich. »Parallele Tunnel, verbunden durch kleinere Gänge. Wer hätte je geahnt, dass so etwas unter den Dagoth Hills existiert?«
»Wie hat Jonas Kiles es wohl entdeckt?«, fragte sich Conrad. »Sehen Sie, rechts von uns ist noch ein Durchgang – und noch einer – und noch einer! Sie haben recht, es ist ein Netz von Tunneln. Wer um alles in der Welt hat sie gegraben? Sie müssen das Werk eines unbekannten prähistorischen Volkes sein. Aber dieser Gang hier muss vor Kurzem benutzt worden sein. Sehen Sie, wie der Staub auf dem Boden aufgewühlt ist? Alle Durchgänge liegen rechts von uns, links sind keine. Dieser Gang folgt dem äußeren Rand des Hügels, und irgendwo muss es einen Ausgang geben. Sehen Sie mal dort!«
Wir erreichten einen weiteren Eingang zu einem Nebengang, und Conrad richtete den Lichtstrahl auf die Wand daneben. Wir erblickten einen Pfeil, grob gezeichnet mit roter Kreide, der auf den schmaleren Gang wies.
»Der kann nicht zum Ausgang führen«, sagte ich leise. »Er reicht tiefer in den Hügel hinein.«
»Folgen wir ihm trotzdem«, erwiderte Conrad. »Wir werden leicht zu diesem äußeren Tunnel zurückfinden.«
Also folgten wir dem Weg, über mehrere Kreuzungen mit breiten Tunneln hinweg, und überall fanden wir diesen Pfeil, der immer weiter in die Richtung zeigte, in die wir gingen. Conrads schmaler Lichtstrahl wirkte verloren in dieser massiven Dunkelheit, und namenlose Vorahnungen und instinktive Ängste bedrängten mich, während wir tiefer und tiefer in das Herz des verwunschenen Hügels vordrangen. Plötzlich endete der Gang an einer schmalen Treppe, die nach unten führte und in der Dunkelheit verschwand.
Ein unwillkürlicher Schauder durchfuhr mich, als ich diese gehauenen Stufen hinabblickte. Wessen gottlose Füße mochten in längst vergessenen Zeitaltern dort hinabgestiegen sein? Und dann sah ich noch etwas – eine kleine Kammer, die neben dem Gang lag, direkt am oberen Ende der Treppe. Und als Conrad mit der Lampe hineinleuchtete, entfuhr mir ein unwillkürlicher Ausruf. Dort befand sich niemand, aber es gab genügend Anzeichen dafür, dass sich erst kürzlich jemand hier aufgehalten hatte. Wir traten ein und ließen unsere Blicke dem schmalen Lichtfinger durch den Raum folgen.
Dass die Kammer für den Aufenthalt eines Menschen eingerichtet war, erschien im Rahmen unserer jüngsten Entdeckungen gar nicht so erstaunlich, doch was uns sprachlos machte, war der Zustand der Einrichtung. Ein Feldbett lag zerbrochen auf der Seite, die Decken zerrissen und zerfetzt und über den felsigen Boden verstreut. Bücher und Zeitschriften waren in Stücke gerissen und wahllos verstreut, überall sammelten sich Konservendosen, eingedrückt und verbeult, einige aufgeplatzt, der Inhalt ausgelaufen. Eine Lampe lag zerschmettert auf dem Boden.
»Ein Versteck«, sagte Conrad. »Und ich würde wetten, das von Jonas Kiles. Aber was für ein Durcheinander! Sehen Sie sich die Dosen an, die sind offensichtlich aufgeplatzt, als jemand sie mit Wucht auf den Boden warf – und die Decken, in Fetzen gerissen wie ein Stück Papier. Mein Gott, O’Donnel, kein menschliches Wesen könnte ein solches Chaos anrichten!«
»Ein Verrückter schon«, murmelte ich. »Was ist das?«
Conrad war stehen geblieben und hatte ein Notizbuch aufgehoben. Er hielt es in den Lichtstrahl.
»Ziemlich zerrissen«, knurrte er. »Aber wir haben Glück: Es ist Jonas Kiles’ Tagebuch! Ich erkenne seine Handschrift. Sehen Sie, die letzte Seite ist noch intakt – und sie ist auf heute datiert! Der endgültige Beweis, dass er am Leben ist, falls es noch eines Beweises bedürfte.«
»Aber wo ist er?«, flüsterte ich und sah mich nervös um. »Warum diese Verwüstung?«
»Ich kann es mir nur so erklären«, überlegte Conrad, »dass der Mann zumindest noch teilweise bei Verstand gewesen ist, als er diese Höhlen betrat, dann aber dem Wahnsinn verfiel. Wir sollten auf der Hut sein – wenn er verrückt ist, kann es gut sein, dass er uns in der Dunkelheit angreift.«
»Daran habe ich auch schon gedacht«, brummte ich erschaudernd. »Eine wundervolle Vorstellung – ein Irrer, der in diesen grausigen Gängen darauf lauert, sich von hinten auf uns zu stürzen. Machen Sie schon – lesen Sie das Tagebuch, während ich die Tür im Auge behalte.«
»Ich werde den letzten Eintrag vorlesen«, meinte Conrad. »Womöglich wirft er etwas Licht auf die Sache.«
Und indem er den Lichtstrahl auf das dicht gedrängte Gekritzel richtete, las er: »Alles ist bereit für meinen großen Coup. Heute werde ich diesen Zufluchtsort für immer verlassen, und ich kann nicht behaupten, dass es mir leidtut, denn die ewige Dunkelheit und Stille zehrt allmählich selbst an meinen stählernen Nerven. Meine Sinne spielen mir Streiche. Selbst während ich dies schreibe, glaube ich, verstohlene Geräusche zu vernehmen, als schleiche etwas von unten herauf, dabei habe ich noch nicht eine Fledermaus oder Schlange in diesen Tunneln gesehen. Aber morgen werde ich in das noble Haus meines verfluchten Bruders einziehen, während er – und das ist ein so köstlicher Spaß, dass ich es bedaure, ihn mit niemandem teilen zu können – meinen Platz in der kalten Dunkelheit einnimmt. Einer Dunkelheit, die finsterer und kälter ist als selbst diese schwarzen Gänge.
Ich muss es niederschreiben, wenn ich schon nicht darüber reden kann, denn ich bin begeistert von meiner eigenen Gerissenheit. Was für eine diabolische Durchtriebenheit ist mir doch zu eigen! Mit welch teuflischer Schläue habe ich geplant und inszeniert! Mit welcher Raffinesse habe ich vor meinem ›Tod‹ – hahaha, wenn diese Narren nur wüssten! – den Aberglauben meines Bruders befeuert, indem ich Andeutungen und kryptische Bemerkungen fallen ließ. Er sah in mir immer ein Werkzeug des Leibhaftigen. Vor meiner ›tödlichen Erkrankung‹ zitterte er in dem Glauben, ich habe mich in ein übernatürliches oder höllisches Wesen verwandelt. Und als ich ihn dann auf meinem ›Sterbebett‹ das volle Ausmaß meines Hasses spüren ließ, da war seine Angst echt. Ich weiß, er ist davon überzeugt, dass ich ein Vampir bin. Ich kenne meinen Bruder gut. Ich sehe ihn förmlich vor mir, wie er aus seinem Haus stürmt und einen Holzpflock anspitzt, um ihn mir ins Herz zu rammen. Aber er wird nichts unternehmen, bevor er sicher ist, dass das, was er vermutet, stimmt.
Ich werde ihm die Bestätigung liefern. Heute Abend werde ich vor seinem Fenster erscheinen. Ich werde auftauchen und wieder verschwinden. Ich will nicht, dass er vor Angst stirbt, denn das würde meine Pläne durchkreuzen. Ich weiß, wenn er sich von seinem ersten Schrecken erholt hat, wird er zum Grab kommen, um mich mit seinem Holzpflock zu vernichten. Und wenn er hier ist, will ich ihn töten. Ich werde meine Kleidung mit ihm tauschen ... ihn in den Sarg in der Grabkammer legen ... und dann zurück zu seinem stolzen Haus schleichen. Wir ähneln uns ausreichend, dass ich, mit meinem Wissen über seine Gewohnheiten und Eigenarten, ihn perfekt imitieren kann.
Wer würde jemals einen Verdacht hegen? Es ist viel zu bizarr – viel zu fantastisch. Ich werde sein Leben dort weiterführen, wo er es beendet hat. Mancher wird sich über die Veränderungen wundern, die mit Hiob Kiles vor sich gehen, aber mehr kann nicht geschehen. Ich werde in meines Bruders Schuhen leben und sterben, und wenn der wirkliche Tod mich eines Tages findet – möge dieser Tag noch lange auf sich warten lassen –, so werde ich feierlich in der alten Kiles-Gruft beigesetzt, mit dem Namen von Hiob Kiles auf meinem Grabstein, während der wahre Hiob Kiles unentdeckt im alten Grabmal auf dem Pirate Hill schläft! Oh, was für ein wundervoller, köstlicher Spaß!
Ich frage mich, wie der alte Jacob Kiles wohl diese unterirdischen Passagen entdeckt hat. Errichtet hat er sie nicht. Die Hände vergessener Menschen hauten sie aus düsteren Höhlen und massivem Fels heraus – vor wie langer Zeit, wage ich nicht einmal zu vermuten. Während ich mich hier versteckte und abwartete, bis die Zeit reif ist, habe ich mich ein wenig damit vergnügt, sie zu erkunden. Ich fand heraus, dass sie weit ausgedehnter sind, als ich vermutete. Die Hügel müssen regelrecht durchlöchert sein, und sie senken sich unvorstellbar tief in die Erde, Ebene um Ebene, wie die Stockwerke eines Gebäudes, und jede Ebene ist mit der darunterliegenden nur durch eine einzige Treppe verbunden.
Der alte Jacob Kiles muss diese Tunnel, jedenfalls die der oberen Ebene, dazu genutzt haben, Beute und Konterbande zu verstecken. Er errichtete das Grabmal, um seine wahren Aktivitäten zu vertuschen, und hat natürlich den geheimen Eingang mit dem drehbaren Türstein erbaut. Er wird diese Gänge vermutlich durch den geheimen Eingang am Smuggler’s Point entdeckt haben. Die alte Tür, die er dort angebracht hat, war nur noch eine Masse aus morschen Splittern und verrostetem Metall, als ich sie vorfand. Da sie nach ihm nie jemand entdeckte, ist es unwahrscheinlich, dass jemand auf die neue Tür stößt, die ich mit meinen eigenen Händen anstelle der alten einbaute. Trotzdem werde ich zu gegebener Zeit entsprechende Vorkehrungen treffen.
Ich frage mich, was das für ein Volk gewesen sein mag, das einst dieses Labyrinth bewohnte. Ich stieß weder auf Knochen noch Schädel, doch auf der oberen Ebene entdeckte ich seltsame gehärtete Kupfergerätschaften. Auf den nächsten Ebenen fand ich Steinwerkzeuge, bis hinab zur zehnten Ebene, wo sie dann verschwanden. Obendrein begegnete ich auf der obersten Ebene Wandmalereien, größtenteils verblasst, die jedoch eine unbezweifelbare Kunstfertigkeit bezeugen. Diese Malereien verteilen sich über alle Ebenen bis hinab zur fünften, wobei die Zeichnungen jeder Ebene gröber und primitiver scheinen als die der darüber gelegenen, bis die letzten Bilder aus bloßem Geschmiere bestehen, wie es vielleicht ein Affe mit einem Pinsel hervorbringt. Auch die Steinwerkzeuge werden mit jeder tieferen Ebene primitiver, ebenso die Machart der Decken, Treppen, Durchgänge und so weiter. Man gewinnt den fantastischen Eindruck eines eingesperrten Volkes, das sich immer tiefer und tiefer in die schwarze Erde gräbt, Jahrhundert um Jahrhundert, und dabei mit jeder Ebene, die es sich weiter hinabwühlt, mehr seiner menschlichen Eigenschaften einbüßt.
Auf der 15. Ebene ist gar keine Struktur mehr erkennbar, die Gänge verlaufen ziellos und ohne ersichtlichen Plan – ein so auffälliger Kontrast zur oberen Ebene, die einen Triumph primitiver Architektur darstellt, dass man kaum zu glauben geneigt ist, dass sie vom selben Volk erbaut wurde. Viele Jahrhunderte müssen zwischen dem Bau dieser beiden Ebenen verflossen sein, und die Erbauer müssen sich immer mehr zurückentwickelt haben. Und die 15. Ebene stellt noch nicht das Ende dieses mysteriösen Gangsystems dar.
Der Durchgang zur Treppe am Boden jenes Stockwerks wurde von Steinen blockiert, die von der Decke herabgestürzt waren – wahrscheinlich vor Hunderten von Jahren, lange bevor der alte Captain Jacob die Gänge entdeckte. Von der Neugier angestachelt, fing ich an, den Schutt beiseitezuräumen, so viel Kraft es mich auch kostete, und erst heute gelang es mir, ein Loch im Geröll zu öffnen. Allerdings hatte ich nicht mehr die Zeit, zu erkunden, was darunterliegt. In der Tat habe ich meine Zweifel, ob es mir überhaupt möglich wäre, denn mein Licht zeigte mir nicht die üblichen steinernen Stufen, sondern einen steilen, glatten Schacht, der tief in die Schwärze führt.
Ein Affe oder eine Schlange mögen in der Lage sein, dort hinauf- und hinabzuklettern, aber nicht ein menschliches Wesen. In welche unvorstellbaren Tiefen dieser Schacht führen mag, wage ich mir nicht vorzustellen. In gewisser Weise erschreckt mich die Erkenntnis, dass die 15. Ebene nicht die äußerste Grenze des Labyrinths darstellt. Der Anblick dieses stufenlosen Schachtes bereitete mir ein seltsam grausiges Unbehagen und verleitete mich zu fantastischen Spekulationen über das letztendliche Schicksal des Volkes, das einst unter diesen Hügeln lebte. Ich hatte bislang vermutet, dass die Erbauer dieser Stollen auf der Stufenleiter des Lebens immer tiefer gesunken waren, bis sie schließlich auf den untersten Ebenen ausstarben, obwohl ich keinerlei Überreste fand, die meine Theorie bestätigten.
Die unteren Ebenen befinden sich nicht in dem nahezu massiven Felsgestein wie die höher gelegenen. Sie wurden in schwarze Erde und eine weichere Steinsorte gebohrt und augenscheinlich mit den primitivsten Hilfsmitteln ausgeschachtet – stellenweise scheinen sie sogar mit bloßen Händen gegraben worden zu sein. Man hätte sie auch für Tierbauten halten können, wäre da nicht der offensichtliche Versuch gewesen, die strukturierteren Systeme weiter oben zu imitieren. Aber unterhalb der 15. Ebene, soweit ich bei meinen sehr oberflächlichen Untersuchungen von oben erkennen konnte, endet alle Imitation; unterhalb der 15. Ebene wurden nur noch wilde und ungeordnete Löcher gegraben, und bis in welche blasphemischen Tiefen diese hinabreichen, habe ich nicht das Verlangen, zu ergründen.
Immer wieder spekuliere ich endlos über die Identität jenes Volkes, das vor so langer Zeit buchstäblich in der Erde versank und in ihren finsteren Tiefen verschwand. Bei den Indianern dieser Gegend gibt es eine alte Legende, dass Jahrhunderte vor der Ankunft des weißen Mannes die Vorfahren der heutigen Indianer ein seltsames fremdartiges Volk in die Höhlen der Dagoth Hills getrieben und dort eingesperrt haben sollen, damit es dort seinen Untergang fände. Dass dieses Volk nicht unterging, sondern zumindest einige Jahrhunderte lang überlebte, ist offensichtlich. Doch wer sie waren, woher sie kamen und was aus ihnen wurde, werden wir wohl nie erfahren. Anthropologen dürften in der Lage sein, einige Schlussfolgerungen aus den Wandmalereien der oberen Ebene zu ziehen, aber es gehört nicht zu meinen Plänen, dass jemals jemand etwas von diesen Tunneln erfährt. Einige der verblassten Bilder stellen unmissverständlich Indianer dar, im Kampf mit Menschen, die offenbar dem gleichen Volk angehören wie die Künstler. Diese Modelle, wage ich zu behaupten, ähneln mehr dem kaukasischen Typus als dem indianischen.
Doch jetzt ist es an der Zeit für den Besuch bei meinem geliebten Bruder. Ich werde durch die Tür am Smuggler’s Point hinausgehen und auch auf demselben Wege zurückkehren. Das Grabmal will ich vor meinem Bruder erreichen, so schnell er auch kommt – und kommen wird er, da bin ich sicher. Und wenn die Tat vollbracht ist, werde ich das Grab verlassen, und kein Mensch soll jemals wieder einen Fuß in diese Gänge setzen. Denn ich werde dafür sorgen, dass das Grabmal nie mehr geöffnet wird, und die Explosion einer ausreichenden Dynamitladung wird genügend Steine von den höher gelegenen Klippen herabstürzen lassen, dass die Tür im Smuggler’s Point für immer versiegelt wird.«
Conrad steckte das Notizbuch in seine Tasche.
»Ob verrückt oder nicht«, sagte er grimmig, »Jonas Kiles ist ein wahrer Teufel! Sehr überrascht bin ich nicht, aber ein wenig schockiert. Was für ein teuflischer Plan! Aber in einem hat er sich geirrt: Er ging offensichtlich davon aus, dass Hiob allein zum Grab kommt. Die Tatsache, dass er sich in Begleitung befand, reichte aus, um seine Berechnungen über den Haufen zu werfen.«
»Letzten Endes, ja«, räumte ich ein. »Aber was Hiob angeht, war Jonas’ niederträchtiger Plan erfolgreich – es gelang ihm, seinen Bruder zu töten. Offenbar lag er im Grab, als Hiob hereinkam. Er erschreckte ihn zu Tode, und als er dann unserer Anwesenheit gewahr wurde, floh er durch die Geheimtür.«
Conrad schüttelte den Kopf. Schon beim Vorlesen des Tagebuchs war ihm eine zunehmende Nervosität anzumerken gewesen. Immer wieder hatte er innegehalten und den Kopf gehoben, wie um zu lauschen.
»O’Donnel, ich glaube nicht, dass es Jonas gewesen ist, den Hiob im Sarg sah. Ich habe meine Meinung revidiert. Hinter alldem steckt ursprünglich tatsächlich ein bösartiger menschlicher Verstand, aber einige Aspekte dieser Geschichte kann ich nicht mit einer menschlichen Ursache in Verbindung bringen.
Dieser Schrei, den wir am Smuggler’s Point hörten, der Zustand dieses Raumes, die Abwesenheit von Jonas – all das deutet auf etwas noch Dunkleres und Unheimlicheres hin als Jonas Kiles’ Mordkomplott.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte ich unbehaglich.
»Nehmen wir doch einmal an, das Volk, das diese Stollen gegraben hat, ist nicht untergegangen!«, flüsterte er. »Nehmen wir an, ihre Nachkommen leben noch immer in irgendeiner pervertierten Existenzform in den finsteren Gruben unterhalb der Ebenen mit den Gängen! Jonas erwähnt in seinen Aufzeichnungen, dass er glaubte, verstohlene Geräusche gehört zu haben, als ob irgendwelche Kreaturen von unten heraufkriechen!«
»Aber er hat eine ganze Woche in diesen Gängen verbracht«, wandte ich ein.
»Sie vergessen, dass der Schacht, der nach unten führt, blockiert war, bis er heute die Steine beiseiteräumte. O’Donnel, ich glaube, dass die tieferen Gruben noch immer bewohnt sind, dass diese Kreaturen ihren Weg hinauf in diese Gänge gefunden haben und dass der Anblick einer von ihnen, die schlafend im Sarg lag, es war, was Hiob Kiles umbrachte!«
»Aber das ist vollkommener Wahnsinn!«, rief ich aus.
»Und doch sind die Stollen in früheren Zeiten bewohnt gewesen, und nachdem, was wir gelesen haben, müssen die Bewohner auf eine unglaublich niedrige Stufe des Lebens gesunken sein. Welchen Beweis haben wir denn, dass ihre Nachkommen nicht weiterhin in den grauenhaften schwarzen Gruben lebten, auf die Jonas unter der letzten Ebene stieß? Hören Sie das?«
Er hatte die Lampe ausgeschaltet, und wir standen nun schon seit einigen Minuten im Dunkeln. Von irgendwoher hörte ich ein leises Gleiten oder Kriechen. Vorsichtig schlichen wir in den Gang.
»Das ist Jonas Kiles«, flüsterte ich, aber ein eiskalter Schauder lief mir über den Rücken.
»Dann hat er sich unten versteckt«, raunte Conrad. »Die Geräusche kommen von der Treppe – als ob etwas von unten heraufkriecht. Ich wage nicht, die Lampe einzuschalten. Wenn er bewaffnet ist, geben wir ein zu gutes Ziel ab.«
Ich fragte mich, warum Conrad, der angesichts menschlicher Feinde mit eisernen Nerven gesegnet ist, plötzlich zitterte wie ein Blatt im Wind; ich fragte mich, warum kalte Schauder namenlosen Entsetzens über mein Rückgrat krochen. Und dann erstarrte ich. Ein Stück den Gang entlang, in der Richtung, aus der wir gekommen waren, hörte ich ein weiteres leises, abscheuliches Geräusch. Und in dem Moment gruben sich Conrads Finger wie Stahlklammern in meinen Arm. In der trüben Düsternis unter uns glitzerten mit einem Mal zwei schräge gelbe Funken.
»Mein Gott!«, flüsterte Conrad entsetzt. »Das ist nicht Jonas Kiles!«
Während er noch sprach, gesellte sich ein zweites Paar zum ersten – und plötzlich schwebten in der Dunkelheit unter uns unzählige gelbe Flecken wie unheilvolle Sterne, die von einem nächtlichen See reflektiert werden. Sie glitten die Treppe herauf auf uns zu, lautlos bis auf dieses widerwärtige gleitende Geräusch. Ein ekelhaft erdiger Geruch drang an unsere Nasen.
»Zurück, in Gottes Namen!«, keuchte Conrad, und schnell wichen wir von der Treppe zurück in den Gang, aus dem wir gekommen waren. Doch dann hörten wir das Rauschen eines schweren Körpers in der Luft, und indem ich herumwirbelte, feuerte ich blindlings und ohne zu zögern in die Dunkelheit. Und mein Schrei, als der Mündungsblitz kurzzeitig die Schatten erhellte, wurde von Conrad erwidert. Im nächsten Augenblick rannten wir den Stollen entlang, als sei uns die gesamte Hölle auf den Fersen, während hinter uns etwas auf dem Boden aufklatschte und zappelte und sich wälzte in seinem Todeskampf.
»Schalten Sie die Lampe ein!«, rief ich. »Damit wir uns in diesem höllischen Labyrinth nicht verlaufen!«
Der Lichtstrahl stach durch die vor uns liegende Finsternis und präsentierte uns den äußeren Korridor, in dem wir den Pfeil zum ersten Mal gesehen hatten. Dort blieben wir einen Moment stehen, und Conrad leuchtete zurück in den Gang. Wir sahen nur die leere Dunkelheit, doch hinter dem kurzen Lichtkegel krochen ungeahnte Schrecken durch die Finsternis.
»Mein Gott, mein Gott!«, keuchte Conrad. »Haben Sie es gesehen? Haben Sie es gesehen?«
»Ich weiß nicht!«, schnaufte ich. »Ganz kurz habe ich so etwas wie einen fliegenden Schatten im Blitz des Schusses gesehen. Das war kein Mensch – es besaß einen Kopf fast wie ein Hund ...«
»Ich habe nicht in die Richtung geblickt«, flüsterte er. »Ich habe die Treppe hinuntergeschaut, als der Mündungsblitz Ihrer Waffe die Dunkelheit erhellte.«
»Und was haben Sie gesehen?« Kalter Schweiß bedeckte mein Gesicht.
»Menschliche Worte vermögen es nicht zu beschreiben!«, rief er. »Die schwarze Erde wimmelte wie mit riesigen Maden. Die Dunkelheit wogte und waberte mit ekelerregendem Leben. Im Namen Gottes, lassen Sie uns von hier verschwinden. Diesen Gang entlang zur Grabkammer!«
Doch kaum hatten wir einen Schritt gemacht, ließen uns verstohlene Geräusche von vorne erstarren.
»In den Gängen wimmelt es von ihnen!«, flüsterte Conrad. »Schnell, in die andere Richtung! Dieser Hauptgang folgt dem Rand des Hügels und muss zur Tür im Smuggler’s Point führen.«
Solange ich lebe, werde ich niemals diese Flucht durch den tiefschwarzen lautlosen Stollen vergessen, mit dem schleichenden Grauen auf unseren Fersen. Jeden Moment rechnete ich damit, dass sich ein zähnefletschendes Ungeheuer von hinten auf uns stürzte oder aus der Dunkelheit vor uns aufragte.
Auf einmal stieß Conrad, der mit seiner schwächer werdenden Lampe unseren Weg beleuchtete, einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Endlich die Tür! Mein Gott, was ist das?«
Die Lampe zeigte uns eine massive eisenbeschlagene Tür mit einem großen Schlüssel in ihrem schweren Schloss – aber Conrad war über etwas gestolpert, das wie ein dunkler Haufen auf dem Boden lag. Die Taschenlampe enthüllte eine zusammengekrümmte menschliche Gestalt, ihr eingeschlagener Schädel in einer Pfütze aus Blut. Die Gesichtszüge ließen sich nicht mehr erkennen, aber wir wussten sofort, um wen es sich bei dieser hageren, schmächtigen Gestalt handelte, die noch immer ihre Grabkleider trug. Der wirkliche Tod hatte Jonas Kiles am Ende doch noch ereilt.
»Der Schrei, als wir vorhin am Smuggler’s Point vorbeigekommen sind«, flüsterte Conrad. »Es war sein Todesschrei! Er ist in den Stollen zurückgekehrt, nachdem er sich seinem Bruder gezeigt hatte – und hier erwischte ihn das Grauen im Dunkeln!«
Und dann, während wir noch über die Leiche gebeugt standen, hörten wir erneut dieses verfluchte gleitende, kriechende Geräusch aus der Finsternis. Wie rasend stürzten wir uns auf den Ausgang, drehten den Schlüssel herum, rissen die Tür auf. Mit einem erleichterten Stöhnen taumelten wir hinaus in die mondbeschienene Nacht. Für einen Augenblick blieb die Tür hinter uns offen, und dann, als wir zurückschauten, schlug eine heftige Windbö sie zu.
Doch bevor sie zufiel, traf uns noch ein grauenerregendes Bild, halb beleuchtet von einigen abirrenden Mondstrahlen: die blutige, verstümmelte Leiche und darüber eine graue, schlurfende Monstrosität – eine hundsköpfige Abscheulichkeit mit glühenden Augen, wie sie ein Wahnsinniger in seinen finstersten Albträumen wahrnehmen mag. Die zugeschlagene Tür nahm uns gnädigerweise die Sicht, und als wir im unsteten Mondschein den Hang hinabflohen, hörte ich Conrad plappern: »Ausgeburten der finstersten Abgründe des Wahnsinns und der ewigen Nacht! Kriechende Obszönitäten, die sich im Schleim der ungeahnten Tiefen der Erde suhlen! Das ultimative Grauen der Degeneration! Der Tiefpunkt menschlicher Rückentwicklung! Großer Gott, und ihre Ahnen waren Menschen! Jene Gruben unter der 15. Ebene – in was für Höllen blasphemischen schwarzen Grauens reichen sie hinab, und von welchen dämonischen Horden werden sie bevölkert? Gott schütze die Söhne der Menschen vor diesen Kreaturen – vor jenen, die unter den Gräbern hausen!«
Abgründe unbekannten Grauens liegen verhüllt in den Nebeln, die das alltägliche Leben des Menschen von den unerforschten und unerahnten Gefilden des Übernatürlichen trennen. Die Mehrzahl von uns lebt und stirbt in gnädiger Unkenntnis dieser Gefilde – gnädig, sage ich, denn das Lüften des Schleiers zwischen den Welten der Realität und des Okkulten ist häufig eine grauenvolle Erfahrung. Einmal habe ich erlebt, wie dieser Schleier gelüftet wurde, und die Geschehnisse, die damit einhergingen, haben sich so tief in mein Bewusstsein gebrannt, dass ich noch heute davon in meinen Träumen gequält werde.
Dem grausigen Vorfall ging eine Einladung voraus, das Anwesen von Sir Thomas Cameron, dem angesehenen Ägyptologen und Forschungsreisenden, zu besuchen. Ich nahm die Einladung an, denn der Mann war immer ein interessantes Studienobjekt, auch wenn mir seine grobe Art und sein mitleidloser Charakter nicht behagten. Dank meiner Zusammenarbeit mit verschiedenen Magazinen wissenschaftlicher Natur hatten wir in den letzten Jahren schon mehrfach miteinander zu tun gehabt, und ich vermute, dass Sir Thomas mich als einen seiner wenigen Freunde betrachtete. Begleitet wurde ich bei meinem Besuch von John Gordon, einem wohlhabenden Sportsmann und Jäger, der ebenfalls eine Einladung erhalten hatte.
Die Sonne ging gerade unter, als wir an das Tor des Anwesens gelangten, und die triste und öde Landschaft bedrückte mich und erfüllte mich mit namenlosen Vorahnungen. Einige Meilen entfernt konnten wir undeutlich das Dorf erkennen, in dem unsere Zugfahrt geendet hatte, und dazwischen, sowie auf allen Seiten, erstreckten sich die kargen Moore kahl und düster. Keine weitere menschliche Behausung war in Sicht, das einzige Anzeichen von Leben bot ein großer Sumpfvogel, der einsam landeinwärts flog. Ein kalter Wind wisperte aus dem Osten heran und brachte den bitteren Salzgeruch des Meeres mit sich. Mich fröstelte.
»Nun läuten Sie schon«, sagte Gordon, der mit seiner Ungeduld die Tatsache überspielte, dass die abweisende Atmosphäre auch ihn nicht unbeeindruckt ließ. »Wir können hier nicht die ganze Nacht stehen.«
Doch in dem Moment schwang das Tor auf. Ich sollte erklären, dass das Gutshaus von einer hohen Mauer umgeben war, welche das ganze Anwesen umschloss. Wir standen vor dem Haupttor. Als es sich öffnete, blickten wir eine lange Auffahrt entlang, die von dicht belaubten Bäumen gesäumt wurde. Doch im Augenblick richtete sich unsere Aufmerksamkeit auf eine bizarre Gestalt, die neben dem Weg stand, um uns einzulassen. Ein großer Mann in orientalischer Kleidung hatte uns das Tor geöffnet. Er stand da wie eine Statue, die Arme verschränkt, den Kopf auf ehrerbietige, aber würdevolle Weise geneigt. Die Dunkelheit seiner Haut verstärkte noch das Funkeln seiner leuchtenden Augen, und er hätte eine stattliche und ansprechende Erscheinung abgegeben, wäre da nicht eine grässliche Entstellung gewesen, die seinen Zügen jegliche Anmut raubte und ihnen eine gewisse Zwielichtigkeit verlieh – ihm fehlte die Nase.
Während Gordon und ich sprachlos vor dieser Erscheinung verharrten, verbeugte sich der Orientale – offenbar ein Sikh aus Indien, dem Turban nach zu urteilen – und verkündete in fast perfektem Englisch: »Der Meister erwartet Sie in seinem Arbeitszimmer, Sahibs.«
Wir entließen den Burschen, der uns aus dem Dorf hergebracht hatte, und als die Räder seines Karrens sich klappernd entfernten, gingen wir die beschattete Einfahrt hinauf, gefolgt von dem Inder mit unserem Gepäck. Die Sonne war untergegangen, während wir am Tor warteten, und mit überraschender Plötzlichkeit brach die Nacht herein, so schwer wurde der Himmel von grauen, nebligen Wolken verhangen. Der Wind seufzte trostlos in den Bäumen zu beiden Seiten der Auffahrt, und vor uns ragte das große Haus auf, still und dunkel bis auf ein einzelnes beleuchtetes Fenster. Im Zwielicht hörte ich das leise Tappen der Sandalen des Inders hinter uns. Es erinnerte mich so sehr an einen Panther, der sich an sein Opfer anschleicht, dass ich unwillkürlich erschauderte.
Dann erreichten wir die Haustür und wurden in eine große, nur schwach beleuchtete Halle geführt, wo uns Sir Thomas entgegenkam, um uns zu begrüßen.
»Guten Abend, meine Freunde«, hallte seine sonore Stimme durch das Haus. »Ich habe Sie bereits erwartet! Haben Sie zu Abend gegessen? Ja? Nun, dann kommen Sie in mein Arbeitszimmer. Ich verfasse gerade eine Abhandlung über meine neuesten Entdeckungen und hätte gern Ihren Rat hinsichtlich einiger Punkte. Ganra Singh!«
Das richtete sich an den Sikh, der bewegungslos neben uns stand. Sir Thomas sprach einige Worte auf Hindustani zu ihm, und mit einer erneuten Verbeugung nahm der Nasenlose unser Gepäck und verließ die Halle.
»Ich habe Ihnen zwei Zimmer im rechten Flügel vorbereiten lassen«, sagte Sir Thomas und ging uns zu den Treppen voran. »Mein Arbeitszimmer befindet sich in diesem Flügel – direkt über der Halle –, und oft arbeite ich dort die ganze Nacht.«
Das Arbeitszimmer entpuppte sich als ein weitläufiger Raum, übersät mit wissenschaftlichen Büchern und Magazinen und absonderlichen Trophäen aus aller Welt. Sir Thomas setzte sich in einen riesigen Lehnstuhl und bedeutete uns, ebenfalls Platz zu nehmen. Er war ein großer, grobschlächtiger Mann mittleren Alters, mit einem aggressiven Kinn, das sich hinter einem dichten blonden Bart versteckte, und scharfen, harten Augen, in denen aufgestaute Energien zu schwelen schienen.
»Ich benötige Ihre Hilfe, wie ich bereits sagte«, begann er übergangslos. »Aber damit werden wir uns heute Abend nicht mehr befassen. Dafür ist morgen noch genug Zeit, und Sie beide werden müde von der Reise sein.«
»Sie leben hier sehr abgeschieden«, warf Gordon ein. »Was ist nur in Sie gefahren, dass Sie dieses alte, heruntergekommene Anwesen gekauft und hergerichtet haben, Cameron?«
»Ich liebe die Einsamkeit«, antwortete Sir Thomas. »Hier werde ich nicht von Kleingeistern belästigt, die um einen herumschwirren wie Moskitos um einen Büffel. Die Abgeschiedenheit hält Besucher fern, und ich habe absolut keine Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Wenn ich in England bin, kann ich mich darauf verlassen, dass ich hier ungestört meiner Arbeit nachgehen kann. Ich habe noch nicht einmal Personal; Ganra Singh erledigt alles Notwendige.«
»Dieser nasenlose Sikh? Wer ist er?«
»Er heißt Ganra Singh. Mehr weiß ich nicht über ihn. Ich traf ihn in Ägypten und vermute, dass er aufgrund irgendeines Verbrechens aus Indien fliehen musste. Doch das spielt keine Rolle – er hat mir immer treue Dienste geleistet. Er sagt, er habe in der anglo-indischen Armee gedient und seine Nase bei einem Grenzscharmützel durch den Schlag eines afghanischen Talwars verloren.«
»Er gefällt mir nicht«, gab Gordon rundheraus zu. »Sie haben viele wertvolle Trophäen in diesem Haus. Wie können Sie einem Mann vertrauen, von dem Sie so wenig wissen?«
»Genug davon.« Mit einer ungeduldigen Geste wischte Sir Thomas das Thema vom Tisch. »Ganra Singh ist über jeden Zweifel erhaben. Ich habe mich noch nie in der Einschätzung eines Charakters geirrt. Reden wir von anderen Dingen. Ich habe Ihnen noch nicht von meinen letzten Forschungen berichtet.«
Er redete, und wir hörten zu. Als er uns von erduldeter Mühsal und überwundenen Hindernissen berichtete, merkte man seiner Stimme die Entschlossenheit und unermüdliche Energie an, die ihn zu einem der weltweit führenden Forscher und Entdecker gemacht hatten. Er habe der Welt einige sensationelle Entdeckungen zu verkünden, sagte er und fügte hinzu, dass die wichtigste dieser Entdeckungen aus einer sehr ungewöhnlichen Mumie bestehe.
»Ich fand sie in einem bislang unentdeckten Tempel weit im Hinterland von Oberägypten; die genaue Lage desselben werden Sie morgen erfahren, wenn wir gemeinsam meine Aufzeichnungen durchgehen. Ich gehe davon aus, dass sie die Geschichtsschreibung umwälzen wird, denn auch wenn ich bislang noch keine genauere Untersuchung anstellen konnte, so habe ich zumindest herausgefunden, dass sie keiner anderen Mumie gleicht, die jemals entdeckt wurde. Abweichend vom üblichen Prozess der Mumifizierung hat es hier keinerlei Verstümmelungen gegeben. Die Mumie ist ein vollständiger Körper, alle Körperteile sind intakt, so wie im Leben des Verstorbenen.
Wenn man die Tatsache berücksichtigt, dass das Gesicht aufgrund der unvorstellbar langen Zeit, die seit der Mumifizierung vergangen ist, vertrocknet und verzerrt aussieht, könnte man den Eindruck gewinnen, dass man einen sehr alten Mann vor sich hat, der erst kürzlich verstorben ist und dessen Verwesung noch nicht eingesetzt hat. Die ledrigen Augenlider liegen geschlossen über den Augenhöhlen, und ich bin mir sicher, dass ich, wenn ich jene Lider hebe, darunter die intakten Augäpfel vorfinde.
Ich sage Ihnen, diese Entdeckung ist bahnbrechend und wirft alle vorherigen Meinungen über den Haufen! Wäre es auf irgendeine Weise möglich, dieser verdorrten Mumie Leben einzuhauchen, so wäre sie genauso in der Lage, zu reden, zu gehen und zu atmen wie jeder andere Mensch auch; denn, wie gesagt, alle Körperteile sind intakt, als sei der Mann erst gestern gestorben! Sie kennen die übliche Vorgehensweise – das Ausweiden und dergleichen –, mittels die Leichen zu Mumien gemacht werden. Nichts Derartiges wurde bei dieser hier vorgenommen. Was würden meine Kollegen nicht dafür geben, ihr Entdecker zu sein! Alle Ägyptologen dürften aus purem Neid tot umfallen! Es hat bereits Versuche gegeben, sie zu stehlen – ich sage Ihnen, so mancher Ausgräber schnitte mir ohne zu Zögern das Herz heraus, um sie in die Finger zu bekommen!«
»Ich glaube, Sie überschätzen die Bedeutung Ihres Fundes und unterschätzen das moralische Empfinden Ihrer Mitarbeiter«, meinte Gordon skeptisch.
Sir Thomas grinste höhnisch. »Ein Schwarm von Geiern!«, rief er mit einem wilden Lachen. »Wölfe! Schakale! Schleichen umher, um einem besseren Mann seine verdiente Anerkennung zu rauben! Laien haben doch gar keine Vorstellung von der Rivalität, die in den Reihen der ihnen Überlegenen herrscht. Da heißt es: jeder für sich – soll sich jeder um seine eigenen Lorbeeren bemühen, und zum Teufel mit den Schwächeren! Bislang habe ich mich mehr als behauptet.«
»Selbst wenn das wahr sein sollte«, versetzte Gordon, »haben Sie wohl kaum das Recht, die Vorgehensweise Ihrer Rivalen im Lichte Ihrer eigenen Taten zu verdammen!«
Sir Thomas blitzte seinen erklärten Freund so wütend an, dass ich halb mit einem tätlichen Angriff rechnete. Doch dann änderte sich die Miene des Entdeckers, und er lachte laut und spöttisch.
»Zweifellos denken Sie an die Geschichte mit Gustav von Honmann. Seit diesem unglücklichen Vorfall werde ich häufig das Opfer scharfer Angriffe, wohin ich auch gehe. Dies ist, das versichere ich Ihnen, völlig unbedeutend für mich. Ich habe mich nie nach dem Beifall des Mobs gesehnt, und ebenso ignoriere ich seine Anklagen. Von Honmann ist ein Narr gewesen. Er verdiente sein Schicksal. Wie Sie wissen, haben wir beide nach der verborgenen Stadt Gonar gesucht, deren Entdeckung solch einen gewaltigen Gewinn für die wissenschaftliche Welt darstellte. Ich richtete es ein, dass ihm eine gefälschte Karte in die Hände fiel, die ihn auf eine aussichtslose Suche nach Zentralafrika führte.«
»Sie haben ihn buchstäblich in den Tod geschickt«, ereiferte sich Gordon. »Ich gebe zu, dass von Honmann ein wahrer Rohling war, aber was Sie getan haben, ist niederträchtig, Cameron. Sie wussten, dass seine Chancen, lebend den wilden Stämmen zu entkommen, in deren Länder Sie ihn schickten, verschwindend gering standen.«
»Sie werden mich nicht wütend machen«, erwiderte Cameron unerschüttert. »Das mag ich so an Ihnen, Gordon: Sie scheuen sich nicht, offen Ihre Meinung zu sagen. Aber vergessen wir von Honmann; er ist den Weg aller Narren gegangen. Der eine Expeditionsteilnehmer, der dem allgemeinen Massaker entkam und den Außenposten der Zivilisation erreichte, berichtete, dass von Honmann, als ihm klar wurde, dass das Spiel aus war, den Betrug durchschaute und sterbend schwor, sich an mir zu rächen, ob lebend oder tot. Aber das hat mich nie beunruhigt. Ein Mann ist lebendig und gefährlich oder tot und unschädlich – das ist alles.