Die Vergessenen - Maron Williams - E-Book

Die Vergessenen E-Book

Maron Williams

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Beschreibung

Ein Foto. Ein Fluch. Eine junge Frau zwischen Tradition, Verrat und Hoffnung, gekettet an einen Mann, der sie aus ganzem Herzen hasst. Kann sie es dennoch schaffen, ihr Schicksal zum Guten zu wenden und die Gefahr zu bannen, die über ihrer Familie schwebt?

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Epilog

Prolog

Kaum dass sich die Limousine in Bewegung setzt, wechselt die Schrift auf dem Bildschirm von (21) Spaziergang zu (22) Pressekonferenz SAB. Er seufzt resignierend. Es ist bereits halb vier und die Liste geht heute bis (51), er wird also wieder Überstunden machen müssen. Andererseits, wann war das je anders gewesen?

Gedankenverloren greift er nach seinem Handy, stöpselt die Kopfhörer ein und drückt bei seinem Lieblingslied auf Dauerschleife. „I want my life“ von Smile Empty Soul.

„… This world is crazy, crazy … My dreams are fading, fading … I want my life …“

Ich will mein Leben. Eigentlich ein bescheidener Wunsch, sollte man meinen, und doch wird er für ihn niemals in Erfüllung gehen. Sein Leben gehört ihm nicht, wird ihm niemals gehören. Das ist das grausame Schicksal, mit dem er geboren wurde.

Es dauert nicht länger als eine viertel Stunde, ehe der luxuriöse Wagen auf das Firmengelände einbiegt, das bereits von den Medien belagert wird. Gekonnt schlüpft der Chauffeur an den Reportern vorbei zum Hintereingang, wo eine Horde von Anzugträgern den hohen Gast bereits sehnsüchtig erwartet.

Nachdem er der halben Führungsetage die Hände geschüttelt hat und wieder und wieder mit Dankesreden überhäuft worden ist, bringt man ihn endlich dorthin, wo die Pressekonferenz stattfinden soll. Selbstsicher tritt er vor die Kameras und lässt seinen Blick gebieterischen über die Anwesenden schweifen.

Was für eine Zeitverschwendung. Am Ende wird sich ohnehin niemand mehr an ihn erinnern.

Er setzt sein charmantestes Lächeln auf und beginnt mit seiner Rede.

Kapitel 1

Aufstrebender Jungmanager rettet Softwareriesen vor Ruin“, liest meine Mutter verwirrt die Überschrift des Zeitungsartikels, den ich ihr aufgeregt vor die Nase halte. „Schön für ihn“, kommentiert sie nüchtern und macht sich weiter daran, den Kaffeefilter zu befüllen.

Ihr kurzes blondes Haar, das so im Kontrast zu meiner langen, dichten schwarzen Mähne steht, hat sie wie immer lässig mit einer hübschen Spange aufgesteckt. Das macht sie jung, finde ich. Außerdem unterstreicht es ihr freundliches Wesen.

Ich verdrehe frustriert die Augen und deute energisch auf die winzige Schrift, die sich unter dem Bild des Artikels befindet.

Foto: Hannah Ahrens.

Sofort lässt sie den Kaffee links liegen und wendet sich mir vollends zu. Ein stolzes Lächeln lässt ihre sanften, mütterlichen Züge erstrahlen.

Ich grinse breit, drücke mir die Zeitung an die Brust und beginne, vor Freude dümmlich von einem Bein aufs andere zu springen, ehe ich meiner Mutter übermütig um den Hals falle. Als sie sich von dem Schock erholt hat, streichelt sie mir liebevoll über das Haar, wie sie es oft tut.

„Ich freu mich, dass es für dich so gut läuft. Ich bin unglaublich stolz auf dich, Schatz.“

Nachdem ich sie aus meiner stürmischen Umarmung entlassen habe, streckt sie fordernd die Hand aus.

„Na dann lass mich mal einen genaueren Blick auf dein neustes Meisterwerk werfen“, bittet sie.

Ich reiche ihr die zerknüllte Zeitung und sie inspiziert das Bild nun eingängiger als zuvor.

„Ein schnuckeliger Bub“, lautet schließlich ihr Urteil.

„Mama!“, beschwere ich mich.

Sie räuspert sich und setzt eine gespielt seriöse Miene auf.

„Ich meinte natürlich: Oh, dieser perfekte Winkel! Und erst die Beleuchtung!“

„Danke sehr!“

„Ah, apropos Jungs … “

Sie wirft mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu.

„Nicht das schon wieder!“, stöhne ich.

„Ich meine ja nur“, wehrt sie kleinlaut ab. „Die Geschichte mit Daniel ist inzwischen drei Jahr her, es wird so langsam Zeit, dass du darüber hinwegkommst!“

Sie nickt in Richtung des Fotos.

„Der sieht doch zum Beispiel ganz nett aus. Würde dir so ein Typ nicht gefallen? Du hast bei deinen Jobs doch öfter mit solchen hübschen Kerlen zu tun, hat sich da noch nichts …“

„Erstens bin ich gerade mal fünfundzwanzig, ich hab es also nicht eilig, …“, unterbreche ich sie wirsch, wütend darüber, dass sie dieses leidige Thema ansprechen musste, „… und zweitens hab ich zur Zeit schon genug mit meinem Job um die Ohren. Eine Beziehung fehlt mir jetzt gerade noch!“

Ich lange an meiner Mutter vorbei in die Obstschale und kralle mir einen Apfel.

„Ich muss wieder los.“

Ich gebe meiner verdatterten Mutter einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Die schüttelt nur empört den Kopf.

„Hach, dieses Kind …“

„Falls sich doch etwas ergeben sollte verspreche ich dir, dass du die Erste bist, die davon erfährt!“, verabschiede ich mich mit einem versöhnlichen Zwinkern.

„Und nur damit du es weißt: Ich bin darüber hinweg!“, schiebe ich eindrücklich nach, ehe ich aus der Tür husche.

„Okay Leute, das Ding ist im Kasten! Gute Arbeit! Geht in eure verdiente Mittagspause!“

Die Models atmen erleichtert aus und lassen sich ihre Bademäntel bringen.

„Willst du die Lampen gleich für den nächsten Shoot arrangiert haben?“, fragt Thomas, der Chefbeleuchter.

Ich schüttle den Kopf.

„Du und deine Jungs habt euch auch eine Pause verdient. Wir kümmern uns später drum.“

Er nickt dankbar und bedeutet seinem Team, ihre Plätze zu räumen. Als sie das Studio verlassen, sehe ich ihnen wehmütig nach. Ich werde meine Pause mal wieder damit verbringen, das Material zu sichten.

Ein Räuspern lässt mich erschrocken zusammenfahren. Thomas steht noch immer neben mir und wirft mir einen tadelnden Blick zu.

„Ich kenne da noch jemanden, der sich eine Pause verdient hat. Auf, komm, deine Fotos laufen dir schon nicht weg!“

„Aber …“

Er lässt meinen Protest verstummen, indem er mich entschieden am Arm packt. Ich brummle missmutig, lasse mich dann aber willig mitziehen. Der Gedanke an eine kurze Auszeit ist zu verlockend.

Im Gemeinschaftsraum riecht es verführerisch nach chinesischem Fastfood. Alle machen sich bereits hungrig mit ihren Stäbchen über die Pappschachteln vom Lieferservice her.

„Ach, die Frau Fotografin beehrt uns auch mal wieder mit ihrer Anwesenheit! Wie hast du diesen Workaholic aus seiner Dunkelkammer bekommen, Boss?“, stichelt Sascha, einer der Techniker.

Ich boxe ihn freundschaftlich in die Schulter und setze mich auf den freien Platz neben ihm.

„Etwas mehr Respekt bitte, Herr Techniker!“, steige ich auf sein Spielchen ein. „Außerdem hab ich erst letzte Woche mit euch gegessen!“, verteidige ich mich.

„Ja, weil wir dir den Saft abgedreht haben!“, schießt er zurück.

„Was ich übrigens immer noch unverantwortlich finde!“

Ich hatte fast einen Herzinfarkt bekommen, als der Bildschirm plötzlich schwarz geworden war.

Sascha lacht.

„Du hättest dein Gesicht sehen sollen – unbezahlbar, echt!“

Ich verpasse ihm einen zweiten Haken, diesmal mit deutlich mehr Schubkraft.

„Blödmann!“

Die anderen fallen in sein Lachen ein, und auch der gutmütige Thomas kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

„Ja, ja, lacht ihr nur, aber so was …“, ich reiße Harald, unserem Elektriker, die Zeitung von gestern aus der Hand, um allen mein Foto zu zeigen, „… so was erreicht man eben nur mit harter Arbeit und Disziplin!“

Sascha grinst schief.

„Zugegeben, das muss man dir lassen: Du hast es geschafft selbst aus dem hässlichen Ackergaul noch was rausholen“, gibt er schließlich klein bei, während er zum Zeichen des Friedens ergeben die Hände hebt. Einige der Jungs nicken zustimmend. Das Triumphgefühl, dass in meiner Brust anschwillt, nimmt ein jähes Ende, um Verwunderung Platz zu machen. Das war eigentlich nicht der Punkt gewesen, auf den ich hatte hinaus wollen...

Augenblick, hat er etwa gerade hässlicher Ackergaul gesagt? Wovon zum Geier reden die da?

Ich drehe die Seite so, dass ich mein Foto selbst sehen kann – nur, dass es nicht mein Foto ist! An Stelle des jungen, attraktiven Managers lächelt mir nun ein alter, dicklicher Herr mit Halbglatze entgegen. Auch die Überschrift des Artikels ist verändert worden: Neugewählter Vorstandsvorsitzender der SAB betreibt souveränes Krisenmanagement und rettet 10.000 Arbeitsplätze. Nur mein Name unter dem Bild ist geblieben.

Ich blinzele mehrmals und sehe den fremden Mann auf dem Papier fragend an. Entgeistert blättere ich einige Seiten vor und zurück. Nein, ich bin definitiv auf der richtigen Seite!

„Das … das ist nicht mein Foto!“, stammle ich leise.

„Was? Aber hast du dir die Zeitung nicht gestern schon angesehen? Wie kann dir das dann erst jetzt auffallen?“, fragt Sascha verwundert.

„Natürlich hab ich sie mir gestern angesehen, aber da war noch ein anderes Foto drin!“, verteidige ich mich, obwohl ich weiß, wie verrückt das klingt.

Die Jungs sehen mich besorgt an.

„Alles okay bei dir?“, erkundigt sich Thomas vorsichtig.

Ich gebe die Zeitung wieder ihrem Besitzer zurück und stehe auf.

„Klar, alles bestens! Ich … ich muss mal schnell für kleine Fotografinnen!“, entschuldige ich mich, bevor ich Hals über Kopf aus dem Raum stürze. Ich habe noch nie zu den Geduldigen gehört. Ich will die Sache jetzt sofort geklärt haben!

Ich hab’s doch gestern mit meinen eigenen Augen gesehen! Ich hab mich ja sogar noch morgens mit Mama drüber unterhalten!

In Gedanken schlage ich drei Kreuze, dass ich meine Bilder immer über einen längeren Zeitraum auf meinem Laptop speichere, selbst bei Zeitungsaufträgen. Ich gehe zurück ins Studio, kralle mir meinen treuen, technischen Helfer und öffne rasch den betreffenden Ordner.

Das kann nicht sein!

Beinahe wäre mir das Gerät von den Knien gerutscht vor Schock.

Wie zum Geier kommt das in meinen Laptop? Ich habe diesen Mann noch nie in meinem ganzen Leben gesehen!

Alle meine Dateien sind passwortgeschützt, da kann also niemand ohne meine Einverständnis ran.

Was zum Teufel geht hier vor sich?

Ich beschließe, es mit Googlen zu probieren.

Wie hieß dieser Typ noch gleich? Irgendwas russisch Klingendes … Morjov … Morsov … Marsov … Markov … Markov, ja, genau, das war’s! Julian Markov!

Heraus kommen diverse Blogs und Facebook Profile, aber keiner dieser Männer hat auch nur entfernt Ähnlichkeit mit dem, den ich suche.

Frustriert klappe ich den Bildschirm zu und raufe mir die Haare. Entweder ist hier irgendetwas Krummes am Laufen, oder ich leide an einem extremen Fall von Überarbeitung!

Heute Abend genehmigst du dir ein Gläschen Wein vor dem Fernseher und dann gehst du früh ins Bett. Wer weiß, vielleicht sieht die Welt morgen früh ja wieder ganz anders aus?

Bedauerlicher Weise bleibt die Welt dieselbe. Niemand will je etwas von Julian Markov gehört oder gesehen haben. Es ist fast so, als habe er sich wie von Zauberhand in Luft aufgelöst. Habe ich ihn mir wirklich nur eingebildet?

„Stolz und Vorurteil – eine Romantikerin also.“

Überrascht sehe ich zu dem jungen Kellner auf, der mit einem Putztuch in der Hand einsatzbereit auf meinen Tisch starrt.

„Jedes Mädchen hat doch irgendwo eine kleine Romantikerin in sich“, erwidere ich schulterzuckend und rutsche mit meinem Stuhl ein wenig zurück, um ihm genug Platz zu machen. Ein Buch zu lesen und dabei Kuchen zu essen hatte sich als keine so gute Idee herausgestellt.

Nachdem ich gestern durch meine Abgelenktheit mal wieder ein Shooting unnötig in die Länge hatte ziehen müssen, bis wir endlich ein gutes Ergebnis erzielt hatten, und damit Thomas und seinen Jungs Überstunden aufgebrummt hatte, hatte mich der Chefbeleuchter nach getaner Arbeit zur Seite gezogen, um mir freundschaftlich die Leviten zu lesen.

„Weißt du, was du jetzt dringend brauchst? Einen Tag für dich! Lass die Arbeit mal für einen Nachmittag liegen und mach deinen Kopf frei. Geh Sport machen, ins Kino oder spazieren. Entspann dich“, hatte er mir mit einem väterlichen Schulterklopfen empfohlen. „Das wird dir guttun, glaub mir! Danach ist dieser Julian bestimmt Schnee von gestern.“

„Vielleicht hast du ja Recht“, hatte ich schließlich klein beigegeben. „Ein freier Tag hat sicherlich noch niemandem geschadet.“

Gesagt, getan. Nun sitze ich hier in meinem Lieblingscafé in der Heidelberger Einkaufspassage und schmökere in Jane Austens berühmtester Schnulze.

Während der Kellner meinen Tisch von dem Krümelmeer befreit, das ihn überflutet hat, klopfe ich mir rasch die letzten Reste von meinem Pulli. „Man sollte nicht meinen, wie alt du bist!“, höre ich die Stimme meiner Mutter schimpfen.

„Ich hab Sie vorher noch nie hier gesehen, sind Sie neu?“, frage ich, um meine Befangenheit zu überspielen.

Der Kellner fegt mit einem letzten Schwung die übrigen Essensreste vom Tisch, ehe er zu einer Antwort anhebt: „Ja, ich habe letzte Woche hier angefangen.“ Sein Lächeln verrät, dass er sehr wohl um meine Scham weiß. „Ich bin Noah.“

Er streckt mir selbstsicher seine Hand entgegen.

„Hannah“, gebe ich zurück und beeile mich, seine Geste zu erwidern. Oh Gott, flirtet der Kerl etwa mit mir?

Mit seinem selbstbewussten, verspielten Auftreten, dem Hippsterlook und seiner braunen Sturmfrisur hätte er so einige Models in den Schatten gestellt, die ich schon vor der Linse hatte.

„Hast du einen Freund?“, will er wissen. Damit hätte sich die Frage dann wohl geklärt.

„Ähm …“

Das genügt ihm offenbar als Antwort.

„Jutta, ich nehm meine Pause!“, ruft er der Bedienung hinter dem Tresen zu. Die nickt kurz und macht sich wieder daran, das Geschirr zu spülen.

Noah entledigt sich rasch seiner Schürze und setzt sich. Bei so viel Abgebrühtheit kann ich ihn nur sprachlos anstarren.

„Also, Hannah, was machst du beruflich?“

„Fotografieren. Hat dir eigentlich schon mal jemand gesagt, dass du erschreckend direkt bist?“

„Ist das denn was Schlechtes?“

„Nein, nur … ungewöhnlich“, suche ich nach dem richtigen Wort.

„Ich nehme das jetzt einfach als Kompliment“, gibt er gut gelaunt zurück.

„Und was machst du noch außer Kellnern?“, will ich von ihm wissen.

„Wer sagt denn, dass ich noch etwas anderes mache?“

Ich spüre förmlich, wie mir die Röte in die Wangen schießt.

„A-also nicht, dass Kellner kein ehrenwerter Beruf wäre! Ich dachte nur …“, lasse ich den Satz unvollendet.

„Ich studiere BWL in Mannheim“, erlöst er mich schließlich mit einem verschmitzten Grinsen von meinem Leid. Dann wird er plötzlich ernst.

„Läuft es mit der Fotografie zurzeit nicht so gut?“

Erschrocken starre ich ihn an.

„Woher …?“

Er tippt sich an die Nase.

„Sagen wir ich habe ein Gespür für so was. Wo liegt das Problem? Keine Inspiration?“

„Wenn es nur das wäre … Du hast nicht vielleicht zufällig einmal etwas von einem Julian Markov gehört, oder?“

Für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, einen eigenartigen Glanz in Noahs Augen aufblitzen zu sehen, doch er ist so schnell wieder verschwunden, dass ich mir sicher bin, es mir nur eingebildet zu haben.

„Sollte ich?“, entgegnet er.

Ich schüttle den Kopf.

„Vergiss es, ist nicht so wichtig …“

„Muss ich etwa eifersüchtig werden?“, hakt er nach.

„Jetzt, wo ich damit angefangen habe, muss ich die Geschichte auch zu Ende bringen, oder?“

Toll gemacht, Hannah, danach hält er dich für eine durchgeknallte Psychopathin! Warum konnte ich nicht meine vorlaute Klappe halten?

„Na schön“, seufze ich ergeben. „Also die Sache ist die: Ich habe mir eingebildet, ihn fotografiert zu haben. Hast du von diesem Börsencrash der SAB gehört?“

„Am Rande.“

„Ich war als Fotografin zu der Pressekonferenz geladen, in der sie den Manager geehrt haben, der das sinkende Schiff wieder auf Kurs gebracht hat.“

„Julian Markov“, schlussfolgert Noah.

„Hundert Punkte. Jedenfalls haben sie mein Foto dann tatsächlich in der Zeitung abgedruckt, aber am nächsten Tag … naja, einen Tag später war ein anderer Mann auf dem Bild, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Aber niemandem außer mir ist das aufgefallen. Das klingt verrückt, oder?“

Noah zuckt nachlässig die Schultern.

„Es gibt Schlimmeres, als sich jemanden einzubilden“, nimmt er das Ganze gelassen.

„Trotzdem lässt es mir keine Ruhe mehr. Ich muss während der Arbeit ständig daran denken! So etwas ist mir noch nie passiert. Ich konnte eigentlich schon immer ziemlich gut mit Stress umgehen und ich liebe meinem Beruf über alles, aber die letzten Monate waren wohl doch einen Tick zu viel. Ich bin vor einem halben Jahr aus New York zurückgekommen und habe angefangen, hier als Freiberuflerin Fuß zu fassen, weißt du?“

„Deshalb hast du dir einen Nachmittag frei genommen, verstehe.“

„So sieht’s aus.“

„Aber ausgerechnet Jane Austen …“

Noah schüttelt angewidert den Kopf.

„Sag mal hast du was gegen die arme Frau?“

Ich nehme den Themenwechsel dankbar an und bin erleichtert, dass er so entspannt auf diese eigenartige Geschichte reagiert hat.

„Ich bin in England geboren und aufgewachsen, da kommt man um die Gute nicht drum herum. Meine Mutter hat ihre Bücher rauf und runter gelesen, und in der Schule war es das Lieblingsthema der Mädchen im Englischunterricht.“

Sein gespielt gequälter Gesichtsausdruck lässt mich auflachen.

„Klingt echt nach einer harten Kindheit!“

„Du hast ja keine Ahnung!“, gibt er zurück, ohne eine Miene zu verziehen.

„Wann bist du hergekommen? Dein Deutsch ist ziemlich perfekt, ich hätte nie herausgehört, dass es nicht deine Muttersprache ist!“

„Ich wurde zweisprachig erzogen. Meine Mutter ist Deutsche“, erzählt er. „Wie steht es mit dir? Bist du hier geboren?“

Im Laufe meines Lebens habe ich gelernt, mit dieser Frage umzugehen, obwohl sie mir jedes Mal aufs Neue einen kleinen Stich versetzt – wer wird schon gerne ständig daran erinnert, dass er strenggenommen nicht dazugehört? Aber man kann den Menschen keinen Vorwurf aus ihrer Neugier machen, und mein typisch asiatisches Aussehen hebt mich nun einmal aus der breiten Masse hervor.

„Nein, geboren wurde ich in Südkorea. Ich wurde adoptiert, als ich vier war“, gestehe ich. „Aber in meinem Herzen und meinem Pass bin ich Deutsche durch und durch. Und meine Eltern sind toll, ich kann mich wirklich glücklich schätzen!“

Noah sieht mich verständnisvoll an.

„Ist bestimmt nicht leicht, immer wieder darüber reden zu müssen …“

Ich nehme einen Schluck von meinem Cappuccino.

„Wir haben alle unser Päckchen zu tragen, oder?“

Ein eigenartiger Schatten huscht über Noahs Züge, den ich nicht recht einzuordnen vermag. Traurige Zustimmung? Aber beim nächsten Blinzeln hat sich der Schatten bereits verflüchtigt.

„Warum bist du nach Deutschland gekommen?“, frage ich, um wieder auf ein angenehmeres Thema zu sprechen zu kommen.

„Als ich mit der Schule fertig war, bin ich hierher zu meiner Großmutter gezogen. Sie hat sich schon immer gewünscht, dass ich später einige Jahre bei ihr wohne, und meine Eltern hielten es für eine wertvolle Erfahrung“, erzählt er lächelnd und man spürt, wie sehr er seine Großmutter liebt.

„Hinter dem Lippenpiercing und den Tunneln versteckt sich also ein fürsorglicher Softie, interessant …“, necke ich ihn.

„Harte Schale, weicher Kern – steht ihr Mädels nicht auf so was? …“

„Ihr habt euch also unterhalten, bis seine Pause zu Ende war, und wie ging es dann weiter?“, will Tamara wissen, während sie eines meiner Models für das bevorstehende Shooting zurechtmacht.

Mein Equipment steht bereits, also habe ich kurzerhand beschlossen, der Maske einen Besuch abzustatten. Ich habe schon öfter mit der Visagistin zusammengearbeitet, die wie ich Berufsanfängerin ist. Tamara ist einer dieser Menschen, die immer ein fröhliches, warmes Lächeln auf den Lippen haben. Außerdem teilt sie als Kind afrikanischer Einwanderer viele meiner Erfahrungen, und so haben wir uns schnell angefreundet.

„Er hat mich auf ein Date eingeladen – und ich hab zugesagt!“

„Gratuliere! Der Typ muss dich ja echt umgehauen haben, wenn ich an die Armee von Kerlen denke, die du schon mit deiner Ich-bin-mit-meiner-Arbeit-verheiratet-Tour vergrault hast!“

„Das ist keine Tour, sondern die Wahrheit, und wenn einer nicht Manns genug ist, mit einer Karrierefrau fertig zu werden, ist das sein Pech!“, verteidige ich mich.

„Was habt ihr beiden vor an eurem großen Tag?“

„Noah hat vorgeschlagen, dass wir uns morgens am Neckar treffen und uns zusammen den Sonnenaufgang ansehen“, schwärme ich vor mich hin.

„Und du bist dir sicher, dass du dir nicht schon wieder einen Typen eingebildet hast? Das klingt beinahe zu kitschig, um wahr zu sein!“

„Du bist ja nur neidisch! Und Noah ist sehr real!“, gebe ich beleidigt zurück.

„Vielleicht ein bisschen“, gibt sie zu. „Ich weiß schon gar nicht mehr, wann mein Freund das letzte Mal überhaupt den Versuch unternommen hat, romantisch zu sein …“

Sie legt ihren Pinsel auf die Seite und betrachtet kritisch ihr Werk. Schließlich klatscht sie zufrieden in die Hände.

„So, fertig, du kannst in die Garderobe gehen.“

Schon ist das Model davongerauscht.

„Wenn wir uns das nächste Mal sehen, musst du mir unbedingt erzählen, wie dein Date gelaufen ist, okay?“

„Mach ich.“

Mist! Mist! Mist!

Verzweifelt sprinte ich über die Brücke Richtung Neckarwiese. Ich bin gute zwanzig Minuten zu spät.

Scheiß auf den Umweltschutz, das nächste Mal nehme ich das Auto!

Es hat irgendwo auf der Linie einen Unfall gegeben, was meine Straßenbahn zum Stehen und mich zu unfreiwilligem Frühsport gezwungen hat. Vielleicht schickt mir der Himmel ein Zeichen, dass ich noch nicht bereit bin für einen neuen Mann in meinem Leben …

Schnell wimmle ich den Gedanken wieder ab.

Versau es dir nicht, bevor es überhaupt begonnen hat!, ermahne ich mich. Vergiss diesen Scheißkerl Daniel endlich, es wird Zeit, nach vorne zu schauen!

„Autsch!“

Ein stechender Schmerz brandet über meinen Schädel hinweg und lässt mich laut aufheulen. Vor Schreck wäre ich um ein Haar hintenübergekippt, doch zwei kräftige Arme umfassen mich und halten mich aufrecht. Ich muss wohl in einen Fußgänger gekracht sein.

„Bitte entschuldigen Sie!“, stoße ich hechelnd hervor.

Beschämt hebe ich meinen hochroten Kopf – und sehe direkt in die eisblauen Augen von Julian Markov.

Kapitel 2

Du?!“

Erschrocken weiche ich zurück und sehe ihn fassungslos an. Ich habe ihn mir also doch nicht nur eingebildet! Da steht er vor mir in einen dunkelblauen Sportsweater gehüllt, live und in Farbe!

„Sie … Sie sind Julian Markov, oder?“

Er schaut so finster und despotisch drein, dass ich automatisch dazu übergehe, ihn zu siezen. Bei meinen Worten versteift er sich merklich, als habe ihn jemand auf frischer Tat ertappt.

„Sie müssen mich mit jemandem verwechseln“, entgegnet er. Sein Ton duldete keinen Widerspruch. „Machen Sie das nächste Mal die Augen auf, wenn Sie sich fortbewegen. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.“

Er wendet sich ab und joggt weiter, als sei nichts gewesen. Einen Moment lang bleibe ich wie angewurzelt stehen, baff von so viel Dreistigkeit, bis ich wieder einen klaren Gedanken fassen kann.

Oh nein, so leicht kommst du mir nicht davon!

„Hey, bleib gefälligst stehen!“, schreie ich ihm hinter her, während ich die Verfolgung aufnehme, doch er ignoriert mich geflissentlich.

Als ich ihn schließlich eingeholt habe, greife ich nach seinem nackten Unterarm, um ihn gewaltsam zum Anhalten zu zwingen. Bist du taub?, will ich ihn wütend anschnauzen, doch die Worte schaffen es nicht mehr über meine Lippen. Kaum, dass meine Finger seine Haut berühren, setzt mein Herz wortwörtlich einen Schlag aus, ehe eine wahre Flut an Bildern und Geräuschen mein Gehirn überschwemmt, die alle parallel zueinander auf mich einströmen.

Zwei kleine Mädchen, die auf einem Spielplatz lachend fangen spielen, bis eine der beiden stolpert. Ein Geschäftsmann, der in einem Porsche über die Autobahn brettert, als gäbe es kein Morgen mehr. Der gleiche Mann in einem heruntergekommenen Krankenhaus im Ausland – Indien vielleicht? – wo er mit einem Arzt spricht. Eine Friseuse beim Haareschneiden. Die Friseuse zu Hause beim Schreiben vor ihrem PC. Ein Mann und eine Frau, die sich streiten. Das gleiche Paar, wie es an der Wiege eines Säuglings steht. Eine… – Nein, stopp, aufhören! Es ist zu viel! Mein Kopf! Ich halte das nicht aus! – … Schulklasse im Zoo. Ein brüllender Löwe, der auf ein offenes Gitter zuläuft. Ein Notarztwagen …

Ich halte mir meinen pochenden Schädel, während die Filme unbarmherzig weiterlaufen. Ich kann nicht einmal die Hälfte dessen, was sich da vor meinem geistigen Auge abspielt, überhaupt erfassen. Ich fühle mich plötzlich eigenartig fremd in meinem Körper, als hätte sich etwas an ihm verändert. Als würde er nicht mehr zu mir gehören. Ein stechender Schmerz fährt durch meine Glieder, nistet sich auf jedem Winkel meiner Haut ein, als wolle er mich vollkommen verschlingen. Ich will diese unvorstellbaren Qualen herausschreien, doch meine Stimme will mir nicht gehorchen. Ich spüre, wie meine Energie mich verlässt und ich immer weniger um mich herum wahrnehme. Fühlt sich so das Streben an?

Dankbar ergebe ich mich dem herannahenden Schwarz, dass meinen Geist schließlich einhüllt und mich von den erdrückenden Einströmungen befreit.

Ich fühle mich träge und ausgelaugt, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir. Langsam und stöhnend öffne ich die Augen. Ich liege in einem großen Bett, eine Infusion in meiner linken Hand. Es fällt mir schwer, mein Denken auf etwas zu fokussieren. Noch immer rauschen unzählige Bilder und Geräusche durch meinen Kopf, und ich habe höllische Kopfschmerzen.

Das Fließband einer Fabrik, an dem Angestellte in Schutzanzügen Metallteile aussortieren. Eine Grillparty in einem hübsch geschmückten Garten. Ein Feuer. Ein Operationssaal – oh mein Gott, ich kann genau sehen, was die Ärzte tun, als stünde ich direkt daneben! – in dem geschäftiges Treiben herrscht. Ein Basketballspiel …

Aber etwas ist anders, als beim letzten Mal. Die Filmausschnitte sind etwas unscharf. Das habe ich wohl diesem eigenartigen Nebel zu verdanken, der mein Gehirn zu umhüllen scheint. Hat man mich unter Drogen gesetzt?

Reflexartig fasse ich mir an die Schläfen, als könnte ich so endlich wieder einen klaren Gedanken fassen, und wippe mit meinem Oberkörper vor und zurück.

Warum könnt ihr nicht endlich weggehen? Bitte, verschwindet, es ist zu viel! Zu viel! Mach, dass es aufhört! Oh bitte, lieber Gott, mach, dass es aufhört!

„Bitte beruhigen sie sich, junges Fräulein! Sie werden sich noch verletzen!“

Eine Krankenschwester ist neben mir aufgetaucht, packt mich grob an den Händen und versucht verzweifelt, mich ruhig zu bekommen.

„Viel … es ist zu viel … es tut so weh …“, wimmere ich und wippe eisern weiter.

Die Schwester lässt von mir ab, eilt zum Nachttisch und greift nach etwas, das wie eine Fernbedienung aussieht. Sie drückt einige Male heftig auf einen großen, roten Knopf, dann versucht sie erneut, mich still zu bekommen.

„Bitte, so beruhigen sie sich doch!“, fleht sie.

In der nächsten Sekunde kommt ein Arzt in das Zimmer gestürmt, gefolgt von zwei weiteren Schwestern – und Julian Markov. Ich höre auf zu wippen und sehe ihn voller Entsetzen an. Er ist schuld. Er hat mir das angetan. Er hat irgendetwas mit mir gemacht. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen.

Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich nicht in einem Krankenhaus befinde. Das Zimmer ist vornehm eingerichtet mit einem alten Holzschrank und einer Kommode, auf der ein hübscher Strauß Blumen vor sich hin blüht. Die Decke ist mit Stuck verziert, und durch das Fenster, an dem sich lange, cremefarbene Vorhängen befinden, sehe ich in einen vornehmen Garten hinaus. Wo zur Hölle hat man mich hingebracht? Und warum?

„Wo … wo bin ich?“, presse ich zwischen den Zähnen hervor.

„Ihr seid zu Hause, wo ihr …“, setzt die Schwester neben mir an, doch ich lasse sie nicht ausreden.

„Nein! Das … das ist nicht mein zu Hause!“, widerspreche ich rasch, bevor der Gedanke wieder von den Bildern überdeckt werden kann. Wieso fällt es mir so furchtbar schwer, mich auf eine simple Sache zu konzentrieren? Das ist so verdammt frustrierend!

„Sagen sie mir, wo ich bin! … Wo bin ich?“, schreie ich verzweifelt, als könnte ich der Qual so ein Ende setzen und wieder Ordnung in meinen Kopf zwingen.

Die Schwester sieht mich nur ratlos an, mein Ausbruch hat sie nun endlich zum Schweigen gebracht. Mein Blick wandert von der verstummten Frau hin zu der Gruppe Neuankömmlinge, denen es ebenfalls die Sprache zu verschlagen haben scheint, und bleibt schließlich an Markov hängen, der ihn gelangweilt, beinahe genervt erwidert. Die sollte sich mal zusammenreißen, das ist ja peinlich!, scheint er zu denken. Er lässt meine Furcht, meine Verwirrung und meine Reaktion auf die Kopfschmerzen wie das trotzige, übertriebene Verhalten eines Kleinkindes wirken. Seine Haltung drückt pure Überlegenheit aus. Kühl mustert er mich. In seinen eiskalten, blauen Augen steht die pure Verachtung. Das ist der Tropfen, der das Fass endgültig zum Überlaufen bringt. Brüllend erwacht mein Kampfgeist zum Leben, bleckt außer sich vor Wut die Zähne und schafft es zu meiner Verblüffung sogar, die Bilderflut und die Kopfschmerzen in den Hintergrund zu drängen.

Nur zu, wälz dich in deiner Selbstsicherheit, solange du noch kannst, Markov! Wir werden ja sehen, wer am Ende den Kürzeren zieht!

Was auch immer er für ein krankes Spielchen mit mir getrieben haben mag, hier und jetzt ist es vorbei! Dieser arrogante Arsch hat sich mit der Falschen angelegt!

Noch ehe ich bewusst darüber nachdenken kann, reiße ich mir mit einem kurzen Ruck die Infusionsnadel aus dem Arm und zeige damit drohend auf die Umstehenden. Die Schwester neben mir hat zwar in ihrer Bewegung innegehalten, weicht jedoch nicht vor mir zurück. Ein diabolisches Grinsen schleicht sich auf meine Lippen.

„Wenn Sie nicht sofort zurücktreten, steche ich das Ding in ihr Herz!“, drohe ich und meine es ernst – naja, zumindest den Teil mit dem Zustechen.

Das zeigt Wirkung. Die Augen der Frau weiten sich merklich und sie hebt abwehrend die Hände vor ihren Körper. Auch die anderen Schwestern und der Arzt wirken zutiefst schockiert und sehen mich ehrfurchtsvoll an. Markov ist der einzige, den die Situation völlig kalt lässt. An seiner Haltung hat sich nichts geändert.

Spiel ruhig weiter den Coolen, dir wird das Lachen schon noch vergehen, verlass dich drauf!

„Okay, okay, ganz ruhig! Ich bin schon weg!“, erklärt die Schwester kleinlaut. Sie tritt zwei große Schritte zurück und ich atme erleichtert aus. Mir war gar nicht bewusst gewesen, dass ich die Luft angehalten hatte. Die Nadel noch immer in Angriffsstellung, schäle ich mich etwas umständlich aus der Bettdecke. Am Rande bemerke ich, wie ein dünnes, rotes Rinnsal meinen Handrücken hinunterläuft. Ich steige aus dem Bett – und lande um ein Haar bäuchlings auf dem Boden, da meine Füße den Dienst verweigern.

Verdammt!

Ich wanke in Richtung Fenster und kann mich gerade noch in einem der großen, dicken Vorhänge festkrallen. Zum Glück haben sie mich nicht in einen dieser peinlichen Po-frei Patientenkittel gesteckt, sondern in ein geschlossenes, kimonoähnliches Model. Der Arzt und die Schwestern wollen sofort zu mir eilen, aber ich richte wieder energisch die Nadel auf sie, sobald ich mit meiner anderen Hand in dem festen Stoff Halt gefunden habe.

„Kein Schritt näher!“, knurre ich. Leute, lasst mich jetzt nicht im Stich!, flehe ich meine Füße an.

Ich atme ein paar Mal tief ein und aus, ehe ich all meinen Mut zusammennehme und den Vorhang loslasse. Ein fester Stand sieht eindeutig anders aus, aber immerhin kann ich mich überhaupt auf den Beinen halten. Mit aller Kraft versuche ich, die Oberhand über meinen erschöpften Körper zu behalten, obwohl ich am liebsten wieder zurück ins Bett geklettert wäre und eine ordentliche Runde geschlafen hätte.

Ich nehme noch einmal einen tiefen Atemzug, umfasse auch mit meiner anderen Hand die Nadel und wackle vorsichtig in Richtung Tür.

„Treten Sie zurück! Aus dem Weg!“, befehle ich dem Pflegepersonal.

Die drei Frauen tun, was ich ihnen sage, und treten behutsam einen Schritt zurück. Der Arzt sieht zuerst zu mir, dann zu Markov, als sei er noch unentschlossen, tut es dann jedoch seinen Kolleginnen gleich.

„Ich kann ihre Angst und Unsicherheit verstehen, glauben Sie mir, aber …“, versucht der Arzt es auf die vernünftige Tour.

„Halten Sie den Mund! Das können Sie später alles der Polizei erklären!“, unterbreche ich ihn ungerührt.

Wieder schaut der Arzt hilfesuchend zu Markov, dessen eisige Augen noch immer eindringlich auf mir ruhen, ehe auch er endlich einen Schritt zurücktritt. Trotzdem habe ich das eigenartige Gefühl, dass immer noch er die Situation kontrolliert, und nicht ich.

Ich schüttle den Kopf. Du solltest dich lieber darauf konzentrieren, hier raus zu kommen, anstatt dir Sorgen wegen dieses Kerls zu machen!, schimpft mich mein Unterbewusstsein, und es hat recht. Nichts wie weg von hier!

Ohne die fünf aus den Augen zu lassen, arbeite ich mich zur Tür vor. Mit einem Ruck reiße ich sie auf, trete hinaus in den Flur und beginne, zu rennen. Ich spüre förmlich, wie das Adrenalin durch meinen Körper jagt und ihm die notwendige Energie zur Verfügung stellt, die er so dringend braucht.

Das Haus ist riesig und überaus geschmackvoll eingerichtet. Auf dem Gang begegne ich mehreren Männern und Frauen. Ihrer Kleidung zu urteilen sind die meisten von ihnen Hauspersonal, die mir eilige aus dem Weg springen, sobald sie mich und meine Nadel sehen. Zu meiner Überraschung versucht niemand, mich aufzuhalten, im Gegenteil. Ich habe das Gefühl, man legt es geradezu darauf an, mich entkommen zu lassen. Irgendetwas stinkt hier ganz gewaltig!

Was ist eigentlich dein Problem? Willst du etwa, dass sie dich zurückzerren und weiß der Geier was mit dir anstellen? Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, also nichts wie weg hier!, meldet sich mein Unterbewusstsein zurück.

Die Sache gefällt mir einfach nicht, ist das einzige, das ich darauf zu antworten weiß.

Als ich die Eingangshalle im Erdgeschoß erreiche, bin ich vollkommen alleine, und auch, als ich hinaus in die Auffahrt stürme, ist keine Menschenseele mehr zu sehen. Die Sonne ist hinter einer dicken, grauen Wolkenschicht verborgen. Dabei war für heute eigentlich gutes Wetter angesagt, erinnere ich mich düster an die Zeitung vom morgen. Der einzige Weg vom Grundstück scheint ein massives Eisentor zu sein, das am Ende der Auffahrt steht, eingerahmt von zwei dicken Steinsäulen, also halte ich direkt darauf zu. Auf halbem Weg zwischen Haus und Tor schaue ich gehetzt hinter mich, um sicherzustellen, dass mir auch wirklich niemand auf den Fersen ist. Ich spüre ein eigenartiges Kribbeln in meinem Nacken und mein Blick wandert wie von selbst zu einem der Fenster in zweiten Stock. Markov steht, die Arme vor der Brust verschränkt, neben dem Vorhang. Seine Augen, die nichts von ihrer Arroganz verloren haben, bohren sich in meine, versengen mich geradezu. Ich kann es beinahe körperlich spüren, seinen Zugriff auf mich, als wäre ich nicht mehr wie eine hilflose Marionette, die nach seinen Wünschen tanzt. Als würde alles exakt nach seinem Plan laufen. Dabei laufe ich ihm doch gerade davon! Was soll das alles? Ich verstehe es einfach nicht!

Du wirst ihm nie entkommen, egal, wie schnell oder weit du auch rennst. Er ist dein Schicksal.

Ich kann mir nicht erklären, woher diese Eingebung kommt, aber ich weiß plötzlich mit einer geradezu unheimlichen Sicherheit, dass er auf irgendeiner Art und Weise mit mir verbunden ist. Einer der Filme, die ich in den hintersten Winkel meines Denkens verbannt habe, tritt für den Bruchteil einer Sekunde gestochen scharf in den Vordergrund, und mit ihm der Kopfschmerz. Er ist so überwältigend, dass ich gezwungen bin, anzuhalten, bis es vorbei ist. Verzweifelt raufe ich mir die Haare, als könnte ich es so aufhalten, aber ich habe keine Chance.

Julian, der über mir ist und meine Hände brutal neben meinem Kopf in die Kissen drückt. Er küsst mich voller Leidenschaft und ich spüre, wie er sich rhythmisch in mir bewegt.

Die Szene tritt wieder in den Hintergrund und mir entfährt ein entsetztes Keuchen. Es fühlte sich so echt an, so real. War das etwa eine Erinnerung? Nein, unmöglich! Das kann nicht passiert sein … oder?

Mein Kampfgeist weicht nackter Angst. Ich wende mich von dem unheimlichen Blau ab, das noch immer unverändert auf mir ruht, und renne wieder los. Geht es etwa darum? Irgendwelche kranken Sexspiele eines reichen Perversen? Hat er mich unter Drogen setzen lassen, damit ich vergesse, was er mit mir angestellt hat? Der Geschmack von Galle macht sich in meinem Mund bemerkbar.

Oh lieber Gott, bitte lass das alles nur ein furchtbarer Albtraum sein!

Aber warum unternehmen all die Menschen in dem Haus nichts dagegen? Zumindest der Arzt muss doch wissen, was Markov da treibt, offensichtlich hat er ja Untersuchungen bei mir durchgeführt. Das Klemmbrett, das eine der Schwestern in der Hand hatte, war mit diversen Notizen versehen gewesen. Könnte er etwas gegen sie in der Hand haben – gegen sie alle? Eine unheimliche Vorstellung. Andererseits würde das zu diesem arroganten Kerl passen …

Am Tor angekommen muss ich ernüchtert feststellen, dass es versperrt ist. Verzweifelt rüttle ich am Knauf, doch ich weiß, dass es hoffnungslos ist. Ich kämpfe die Tränen zurück, die in meinen Augenwinkeln lauern. Nein, du musst stark bleiben! Du wirst einen Weg finden!, meldet sich mein Kampfgeist zurück.

Er hat Recht, du schaffst das schon irgendwie!, versuche ich, mir Mut zuzusprechen. Bloß nicht die Nerven verlieren!

Die Straße auf der anderen Seite des Gitters ist verlassen, die benachbarten Häuser hinter meterhohen Hecken und ellenlangen Auffahrten verborgen. Um Hilfe zu schreien, würde vermutlich nichts bringen, mal ganz davon abgesehen, dass Markov seine Nachbarn wahrscheinlich ebenfalls unter seinen Fittichen hat, wie ich ihn einschätze.

Der Pate reloaded, schießt es mir durch den Kopf.

Ich trete einen Schritt zurück und betrachte das Eisen vor mir abschätzend. Unvermittelt läuft ein warmer Schauer über meinen Körper. Tatendrang. Vorfreude.

Noch ehe ich mich über diese eigenartige Reaktion wundern kann, greifen meine Arme wie von selbst an die Eisenstäbe und stemmen mein Gewicht mit unglaublicher Leichtigkeit nach oben – dabei ist das der erste erfolgreiche Klimmzug meines Lebens! Meine Füße legen nach und krallen sich wie die Extremitäten eines Affen am kalten Gitter fest, wobei mir völlig unbegreiflich ist, wie sie es schaffen, einen Halt zu finden. Innerhalb weniger Sekunden klettere ich behände über das Tor und stehe schließlich völlig entspannt auf der anderen Seite. Verwundert schaue ich auf meine Hände herab.

Wie zum Teufel …?

Ich erinnere mich an eine Dokumentation, die ich vor nicht allzu langer Zeit im Fernsehen gesehen habe: der menschliche Körper, das achte Weltwunder oder so ähnlich. In einem Beitrag ging es um körperliche Höchstleistungen, zu denen Menschen unter extremen Bedingungen fähig sind – und entführt zu werden ist ziemlich extrem, würde ich sagen! Obwohl ich so einige missratenen Sportstunden in der Schule in Erinnerung behalten habe, die man auch als extrem hätte charakterisieren können …

Ich schüttle den Kopf, lasse die Arme sinken und nehme meine Umgebung genauer in Augenschein. Mir fällt auf, dass alle Häuser hier an einen Hang gebaut sind und ich auf den Neckar hinuntersehen kann. Das muss eine der Villengegenden am Heiligenberg sein.

Gar nicht so weit weg von zu Hause, wie ich befürchtet habe, denke ich erleichtert.

Noch ein letztes Mal sehe ich durch das Tor zurück zum Haus. Gut, mir ist noch immer niemand auf den Fersen!

Ich sprinte Straße abwärts und fühle, wie mir mit jedem Schritt leichter ums Herz wird. Ich bin schon fast am Ende der Straße angelangt, als mich das Geräusch eines Motors erschrocken herumfahren lässt. Zum Glück ist es nur das Firmenfahrzeug eines Elektrikers. Der ältere Herr hinterm Steuer wirft mir einen skeptischen Blick zu und kommt neben mir zum Stehen.

„Geht es Ihnen gut, junge Dame?“, fragt er besorgt.

Man hat mich entführt, in eine Villa verschleppt und irgendwelche Doktorspielchen mit mir getrieben – es geht mir verdammt noch mal alles andere als gut!

„Können Sie mich vielleicht ein Stückchen mitnehmen?“, entgegne ich stattdessen. Den armen Mann grundlos anzufauchen, würde die Sache schließlich auch nicht besser machen. Ich nenne ihm meine Adresse und er nickt freundlich.

„Kein Problem, springen Sie rein. Die Straße kenne ich.“

Er macht mir die Beifahrertür auf und ich klettere dankbar neben ihn in den Sitz. Obwohl er meinen ungewöhnlichen Aufzug argwöhnisch beäugt, schweigt er.

„Ich hab eine Wette verloren“, lüge ich, um ihn zu beruhigen.

„Die Jugend von heute …“, brummt er amüsiert in seinen Bart. Sein Lächeln verrät, dass er mir glaubt. Wenn ich ihm die Wahrheit sagte, würde er mich vermutlich für eine entflohene Irre halten, und wer könnte es ihm schon verdenken? Wäre ich an seiner Stelle, würde ich das Gleiche tun!

Zehn Minuten später halten wir vor dem gotisch anmutenden Mehrfamilienhaus, in dem sich meine Wohnung befindet.

„Nochmal tausend Dank für ihre Hilfe!“, sage ich, nachdem ich ausgestiegen bin.

„Keine Ursache“, winkt er verlegen ab.

Ich knalle die Tür zu und er fährt weiter zu seinem nächsten Einsatz. Wirklich ein netter Kerl.

Ich seufze resignierend. Auch wenn ich nicht gerade scharf darauf bin, mich meinen Nachbarn in diesem Aufzug zu präsentieren, bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Irgendwie muss ich schließlich ins Haus kommen. Wenigstens habe ich immer einen Ersatzschlüssel unter dem Blumentopf vor der Haustüre versteckt, da ich die nervige Angewohnheit besitze, regelmäßig die Hälfte meiner Tasche im Studio zu vergessen. Bis ich meinen Kopf wieder von der Arbeit frei habe und bemerke, dass etwas fehlt, bin ich meistens schon halb zu Hause – typisch zerstreute Künstlerin eben.

„Ja, wer ist da?“, krächzt die alte Frau Schäfer in die Freisprechanlage.

„Hier ist Hannah von gegenüber. Ich habe meinen Schlüssel vergessen, können Sie mir bitte aufmachen?“, entgegne ich.

„Ich kenne keine Anna!“, gibt sie unwirsch zurück.

„Hannah, ich bin Hannah“, korrigiere ich sie. Warum muss die alte Dame ausgerechnet heute einen ihrer schlechten Tage haben? „Hannah Ahrens von gegenüber!“

„In unserem Haus gibt es keine Hannah Ahrens!“, beharrt sie.

„Ich bin ihre Nachbarin von gegenüber, die junge Fotografin, erinnern Sie sich nicht? Sie haben mich schon ein paar Mal zum Tee eingeladen!“, versuche ich es wieder.

„Hören Sie, junges Fräulein, ich mag alt sein, aber ich bin noch lange nicht senil!“, empört sie sich. „Ich kenne keine Hannah Ahrens, und auch keine Fotografin! Wenn Sie sich für die Wohnung interessieren, wenden Sie sich an das zuständige Maklerbüro!“

Für die Wohnung gegenüber interessieren? Offenbar steht es schlimmer um ihren Geisteszustand, als ich angenommen hatte – ich wohne immerhin schon ein halbes Jahr dort!

„Ähm … Ich bin eigentlich mit einem Makler hier verabredet, aber er hat mich wissen lassen, dass er sich verspäten wird. Es ist ein wenig zugig hier draußen, deswegen soll ich drinnen auf ihn warten!“, ändere ich meine Taktik, damit sie mir nur endlich die Tür aufmacht.

„Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, anstatt mir hier so einen Unsinn aufzutischen?“, schimpft sie und lässt mich schließlich doch hinein.

Ich atme erleichtert aus. Was für ein Kraftakt!

Immer zwei Stufen auf einmal nehmend sprinte ich in den dritten Stock hinauf, wo die mürrisch dreinblickende Frau Schäfer mich bereits auf ihren Gehstock gestützt erwartet. Bei meinem Anblick verdüstert sich ihr Blick noch.

„Ist das bei jungen Leuten heute in Mode?“, fragt sie missbilligend und sieht mein Oberteil an, als würde sie es am liebsten mit ihren Augen in Brand stecken. „Sieht furchtbar aus, da können Sie sich ja gleich einen Krankenhauskittel überwerfen!“

Nichts an ihrem Verhalten deutet darauf hin, dass sie mich kennt, und mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Kann sie mich wirklich vergessen haben?

Ich schenke ihr ein mitfühlendes Lächeln, bevor ich mich meiner Wohnung zuwende – und mich zum ersten Mal frage, ob vielleicht tatsächlich ich diejenige bin, mit der etwas nicht stimmt: Die Tür ist vollkommen kahl! Kein bunter Blumenkranz. Kein Blumentopf. Kein Name auf der Klingel. Kein niedlicher Katzenfußabtreter. Alles ist wie vor meinem Einzug.

Mir kommt ein entsetzlicher Gedanke und ich renne wieder ins Erdgeschoss, um meinen Namen auf der Klingel zu suchen. Auch hier strahlt mir lediglich blankes Weiß entgegen. Meine Knie geben unter mir nach und ich sinke auf den Boden. Was um alles in der Welt ist hier los?

Hinter mir hat sich inzwischen das halbe Haus versammelt, angeführt von Frau Schäfer. Was ich in den Gesichtern meiner Nachbarn lese, gefällt mit ganz und gar nicht. Skepsis. Angst. Neugier. Auch sie scheinen mich nicht wieder zu erkennen.

Da trifft es mich wie ein Schlag. Ja, dieser Markov war auch von allen vergessen worden! Das ist immerhin der Grund, warum ich nun überhaupt in diesem Schlammassel stecke, oder? Wieso habe ich nicht gleich daran gedacht?

Die Erkenntnis jagt mir einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ob er mich mit irgendetwas angesteckt hat? Einer Krankheit, die einen vergessen werden lässt? Oder hat der Kerl womöglich sogar selbst seine Finger im Spiel und ist eine Art Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, die es ihm erlauben, mich aus dem Gedächtnis anderer zu löschen? Ist so etwas möglich?

Ein Mutant mit außergewöhnlichen Fähigkeiten? Jetzt komm mal wieder runter, sicher gibt es für alles eine logische Erklärung!, schimpft mich mein gesunder Menschenverstand. Vielleicht spielen sie dir einen Streich, Verstehen sie Spaß oder so was …

Ich werfe ihm innerlich einen skeptischen Blick zu.

Oh, oder vielleicht hat dieser Markov sie irgendwie bestochen, damit du nicht wieder zurückkannst – die Aussicht auf ein nettes Sümmchen ist der Schauspielerei wohl extrem zuträglich. Vermutlich ist er schon auf dem Weg hierher, um dich zu holen!

Woher soll er wissen, wo ich wohne?, kontere ich.

Dein Ausweis. Er hat deine Handtasche, schon vergessen? Mein Menschenverstand lächelt siegesssicher.

Aber was will er von mir?

Dieser Markov muss in irgendwelche krummen Sachen verstrickt sein! Womöglich hat er auf der Pressekonferenz einen Fehler gemacht, der ihn verraten könnte, und jetzt will er die Sache aus der Welt schaffen. Du bist für ihn ein Risikofaktor, weil er glaubt, du könntest etwas wissen!, hat mein Verstand sofort eine Antwort à la Hollywood parat.

Klingt extrem abenteuerlich, findest du nicht? Und was ist mit den ganzen anderen Fotografen, die dort waren? Er kann sie doch unmöglich alle einzeln … naja, du weißt schon … bearbeiten!, wende ich ein.

Womöglich war dieser Fehltritt nur auf einem deiner Bilder zu sehen!, lässt sich mein Verstand nicht beirren.

Das erklärt aber immer noch nicht, wie sein Bild plötzlich aus der Zeitung verschwinden konnte!

Dieses Argument bringt ihn kurz aus dem Konzept.

Den Teil hast du dir vielleicht wirklich nur eingebildet! Wahrscheinlich war dein Foto nie zu sehen …

Und die Kopfschmerzen und die Visionen?, lasse ich nicht locker.

Drogen.

Diese Theorie klingt zumindest besser als die X-Men-Variante von zuvor, wie ich finde, also beschließe ich, mich in Ermanglung einer alternativen Erklärung für den Moment damit zu Frieden zu geben.

Und was mache ich jetzt?

Zu den einzigen Personen gehen, die dieser Markov niemals kaufen könnte!

Eine halbe Stunde später stehe ich vor der Konditorei meiner Eltern im beschaulichen Eppelheim. Ich habe mir vom Bismarckplatz aus ein Taxi genommen und immer noch knallrote Wangen vor Scham. All die Leute, die mich dort in dieser Aufmachung gesehen haben …

Über dem Wasserturm, der nur wenige Meter vom Laden entfernt in den Himmel aufragt, türmen sich dunkle Wolken. Das Wetter wird immer schlechter.

Entschlossen öffne ich die Ladentüre und trete ein. Meine Mutter stellt gerade eine neue Torte in die Auslage, eine Schwarzwälder Kirsch. Als sie mich bemerkt, vollendet sie rasch ihr Werk und sieht mich fragend an. Die Ereignisse der letzten Stunden krachen mit voller Wucht über mir zusammen wie ein Tsunami, und ich breche in Tränen aus. Ich renne um die Theke herum und werfe mich schniefend meiner Mutter um den Hals.

„Bitte sag mir, dass du dich an mich erinnerst und ich nicht wahnsinnig geworden bin!“, flehe ich und klammere mich verzweifelt an sie, sehne mich nach ihren aufbauenden Worten und ihrer tröstenden Hand wie ein verlorenes Kind.

Anstatt meine Umarmung jedoch zu erwidern versteift sie sich, ehe sie zaghaft versucht, mich von sich wegzuschieben.

Oh Nein!

„Es … es tut mir leid, aber ich kenne Sie nicht.“

Kapitel 3

In den Augen meiner Mutter liegt Furcht. Komme ich etwa zu spät?

„War dieser Markov hier? Hat er dich und Papa irgendwie bedroht?“, will ich entsetzt wissen.

Ihre Sorgenfalten vertiefen sich. Ich trete ein paar Schritte von ihr zurück und hebe herausfordernd meine Arme.

„Ich bin es doch, die du willst, oder? Lass meine Eltern da raus, sie haben mit der Sache nichts zu tun!“, appelliere ich wütend in den Raum hinein. Glaubt er im Ernst, dass er damit durchkommt?

Die Klingel ertönt und eine Kundin betritt schüchtern den kleinen Laden. Sie schaut verwirrt zwischen mir und meiner Mutter hin und her, unschlüssig, wie sie sich verhalten soll. Meine Mutter wirft der Kundin einen ebenso ratlosen Blick zu, ehe sie sich wieder mir zuwendet und ihre Hände hebt, wie um mich zu beruhigen.

„Hören Sie, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon Sie da sprechen! Ich habe keine Kinder, und ich kenne auch keinen Markov!“, erklärt meine Mutter bemüht ruhig.

Da trifft es mich wie ein Schlag ins Gesicht. Sie hat keine Angst vor irgendeiner Gefahr, die im Hinterzimmer lauert – sie hat tatsächlich Angst vor mir!

„Du … du erinnerst dich tatsächlich nicht, oder?“, frage ich mit brüchiger Stimme. „Wie … Wie kann sich eine Mutter nicht mehr an ihre Tochter erinnern?“

Meine Mutter nickt mit ihrem Kopf in Richtung des Wandschranks in ihrem Rücken.

„Sehen Sie das Bild dort hinten in der Mitte des Regals? Das bin ich mit meinem Mann. Daneben stehen Fotos von unseren Angestellten und Verwandten. Sehen Sie genau hin.“

Mir gefriert buchstäblich das Blut in den Adern, als ich ihrem Befehl nachkomme.

„Sie sind auf keinem dieser Fotos abgebildet. Verstehen Sie, was das bedeutet?“

Ich kann kaum glauben, was ich da sehe. Es ist, als habe jemand die Bilder mit Photoshop bearbeitet und mich herausgeschnitten. Überall dort, wo ich eigentlich hätte sein sollen, bin ich entweder einfach ausradiert worden, oder durch eine andere Person wie eine Cousine ersetzt. Es ist genau wie damals mit dem Zeitungsfoto.

„Das … das darf einfach alles nicht wahr sein!“

Ich halte mir den Kopf, als könnte ich so diesen ganzen Irrsinn irgendwie geraderücken, und sinke zum zweiten Mal an diesem Tag auf meine Knie. „Das ist nicht real! Das kann nicht real sein!“

„… Krankenwagen …“, höre ich die Kundin hinter mir sagen, während mein Vater besorgt aus seiner Backstube tritt.

„Was ist hier los?“, verlangt er zu wissen.

„Diese junge Frau behauptet felsenfest, sie sei unsere Tochter! Hast du sie schon einmal gesehen?“, will meine Mutter von ihm wissen.

Mein Vater wirft mir einen kurzen, prüfenden Blick zu, runzelt die Stirn und schüttelt dann verwirrt den Kopf.

„Nein. Ist sie verletzt?“

„Ich glaube nicht …“, erwidert meine Mutter.

Ich hole tief Luft und zwinge meine Beine zurück in eine aufrechte Position. Ich würde mich nicht kampflos geschlagen geben!

„Ihr wart vor einundzwanzig Jahren in Korea, oder?“, versuche ich es nun anders.

„Woher wissen Sie das?“

Die Augen meines Vaters verengen sich.

„Weil ihr mich damals adoptiert habt! Mich, eure kleine Hannah!“

Unwillkürlich trete ich einige Schritte näher.

„Bleiben Sie, wo Sie sind!“, warnt mein Vater mich.

Bevor ich es verhindern kann, entfährt mir ein hysterisches Lachen. So etwas Ähnliches habe ich zuvor zu dem zwielichtigen Pflegepersonal meines Entführers gesagt.

„Hilfe ist unterwegs, alles wird …!“, kommt es fürsorglich von meiner Mutter, doch ich lasse sie nicht ausreden.

„Ihr habt vor vier Jahren eure silberne Hochzeit gefeiert. Ihr habt diese Konditorei schon in zweiter Generation. Ihr wollt euch bald ein neues Auto kaufen. Ihr fahrt in eurem Urlaub am liebsten in exotische Länder. Papa hat fünf Geschwister und Mama drei.“ An dieser Stelle unterbreche ich mich, um kurz Luft zu holen, ehe ich fortfahre. „Mama hat ihren Beruf als Krankenschwester aufgegeben und eine Lehre zur Konditorin gemacht, damit ihr zusammenarbeiten könnt. Ihr geht in jeden James-Bond-Film und euer größter Traum ist ein Ferienhaus irgendwo am Meer – muss ich noch was sagen?“

Meine Mutter wirft meinem Vater einen verstörten Blick zu.

„Über das Internet kann so was heutzutage doch jeder rausfinden!“, will er meine Worte klein machen, doch ich spüre, dass seine Schale Risse bekommt.

Beinahe von einer Sekunde auf die nächste öffnet der Himmel seine Pforten und es regnet in Strömen. Das laute Prasseln trägt nicht gerade dazu bei, die ohnehin gedrückte Stimmung aufzuhellen. Als ich zu einer erneuten Anekdotentirade ansetzen will, klingelt es und zwei durchnässte Sanitäter kommen herein. Wer hätte gedacht, dass eine Feuerwehrstation direkt um die Ecke zu haben sich einmal als unpraktisch herausstellen würde?

„Was ist hier los?“, erkundigt sich der ältere der beiden uniformierten Männer.

„Diese junge Frau leidet offenbar an Wahnvorstellungen! Sie ist in diesem Aufzug vollkommen aufgelöst in unser Geschäft gestürmt und behauptet, wir seien ihre Eltern!“, erklärt mein Vater, sichtlich erleichtert über das Auftreten der Sanitäter.

„Weil ihr meine Eltern seid!“, schreie ich verzweifelt.

„Vermutlich ist sie aus einer Einrichtung geflohen“, lässt sich mein Vater von dem Zwischenruf nicht beirren und fährt bemüht ruhig fort, um seinen Standpunkt zu unterstreichen.

„Wie ist ihr Name?“, fragt der jüngere Sanitäter an mich gerichtet.

„Hannah. Hannah Ahrens“, gebe ich zurück und habe alle Mühe, meine Stimme ebenmäßig klingen zu lassen. „Und das sind Heike und Bernhard Ahrens, meine Adoptiveltern.“

Noch nie habe ich diesen Umstand so sehr bedauert, wie in diesem Moment. Hätte ich Ähnlichkeit mit einem der beiden, wäre es kaum möglich, unser Verwandtschaftsverhältnis zu leugnen, aber so ...

„Warum tragen Sie einen Kittel, Hannah?“

Na toll, das musste ja kommen!

„Hören Sie, ich weiß, was ich ihnen gleich erzähle klingt wie aus einem schlechten Drama, aber es ist die Wahrheit, das müssen Sie mir glauben!“, leite ich meine unfassbare Geschichte ein. „Ich bin Fotografin und sollte vor ein paar Tagen Fotos von einem Manager machen. So wie es aussieht habe ich ihn bei etwas erwischt, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte, und jetzt ist er hinter mir her! Zuerst hat er sein Bild aus der Zeitung entfernen lassen, und jetzt will er offenbar mich entfernen. Er hat mich entführt und mir diesen Kittel angezogen, aber ich konnte fliehen. Als ich bei meiner Wohnung ankam, hatte er sie bereits leerräumen lassen, und jetzt können sich sogar meine eigenen Eltern nicht mehr an mich erinnern! Ich weiß nicht, wie er es anstellt, aber er … er …“

Sein Kollege kommt behutsam auf mich zugelaufen. In seinen Augen leuchten Bedauern und Mitleid.

„Ich verstehe, dass das alles bestimmt sehr verwirrend für Sie sein muss!“, will er mich auf seine Seite bringen, aber ich weiß, dass er nichts versteht. Sie alle verstehen nicht. „Wir können Sie an einen Ort bringen, wo man ihnen helfen kann! Glauben Sie mir, wir wollen nur ihr Bestes!“

„Sie halten mich für irre, das würde ich an ihrer Stelle auch, aber das bin ich nicht! Ich weiß alles über die beiden, fragen Sie mich, was Sie wollen!“, biete ich an, obwohl ich ahne, dass sie mir keine Gelegenheit dazu geben werden.

Nur Sekunden später bestätigt sich meine Vermutung, als sich ein kräftiger Arm von hinten um meine Hüfte legt und mich sanft in Richtung Tür drängen möchte. Während mich der eine abgelenkt hat, ist der andere Sanitäter unbemerkt hinter mich geschlichen.

„Mama, Papa, bitte, ihr müsst euch an mich erinnern! Sagt ihnen, dass ich nicht verrückt bin! Sagt es ihnen!“, flehe ich, doch meine Eltern wenden sich nur betreten ab.

„Bitte!“, wimmere ich und will mich aus dem Griff des Sanitäters winden, doch der packt plötzlich fester zu und macht nun keinen Hehl mehr daraus, dass er mich aus dem Laden schaffen will – notfalls mit Gewalt. Je mehr ich mich wehre, desto unbarmherziger graben sich seine starken Finger in mein Fleisch.

„Lassen Sie mich…!“, beginne ich aufgebracht, doch ich bringe den Satz nicht zu Ende, denn es klingelt zum dritten Mal. Der Taxifahrer kommt hereingestürmt, offensichtlich ist ihm das Warten auf seine Bezahlung zu lange geworden.

„Hey, bevor Sie das Mädchen mitnehmen will ich mein Geld!“, beschwert er sich.

Mein Vater lächelt entschuldigend, als wüsste er insgeheim um seine Schuld dem Fremden gegenüber.

„Ich kümmere mich darum!“, lässt er die Sanitäter wissen, die ihm dankend zunicken und ihrer Arbeit wieder die volle Aufmerksamkeit schenken.

„Lassen Sie mich los! Ich bin nicht verrückt! Ich bin nicht verrückt!“, schreie ich und wehre mich nach Leibeskräften, aber mittlerweile sind beide Männer an mir zu Gange und zerren mich mit vereinten Kräften hinaus in den Regen. Sofort bin ich durchnässt bis auf die Knochen, zumal der dünne Stofffetzen, den ich am Leib trage, kaum Schutz vor dem kühlen Nass bietet.

„Meinst du, du kannst sie kurz halten, während ich was zur Beruhigung hole?“, meint der Ältere.

Der Jüngere nickt grimmig und verstärkt seinen Griff noch.

„Aua, Sie tun mir weh! Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich endlich los!“, brülle ich.

Bitte lieber Gott, lass das alles ein furchtbarer Albtraum sein! Lass mich endlich aufwachen!

Schon kommt sein Kollege mit einer Spritze in der Hand aus dem Wagen geeilt, aber ich habe Mühe, ihn klar zu erkennen. Wasser läuft mir in die Augen und lässt alles zu einer schwammigen Masse verschwimmen. Vermutlich ist das die Absicht der beiden Männer, um mich gefügiger zu machen.

„Nein! Bleiben Sie weg von mir! Bitte tun Sie das nicht! Nein!“, kreische ich, mobilisiere meine letzten Kräfte. Meine Tränen vermischen sich mit dem Regen, mein Schluchzen geht in panisches Schreien über.

„Alles wird gut!“, flüstert er sanft, ehe er die Spritze ansetzt.

Ich sende ein verzweifeltes Stoßgebet gen Himmel und hoffe auf ein Wunder.

„Warten Sie, das ist meine Frau!“, ruft jemand aus einiger Entfernung.

Nicht unbedingt eines der Wunder, die mir vorgeschwebt waren, aber ich will nicht wählerisch sein. Die Stimme kommt mir vage bekannt vor …

Der Sanitäter hält mitten in der Bewegung inne und sieht die dunkle Männergestalt unter dem Regenschirm fragend an, die in unsere Richtung gerannt kommt. Die Gestalt bleibt vor mir stehen und hebt den Regenschirm etwas an, sodass ich sehen kann, wer sich darunter verbirgt. Julian Markov. Irgendwie überrascht mich das nicht.

„Meine Frau leidet unter Schizophrenie“, beginnt er entschuldigend und ich werfe ihm einen finsteren Blick zu. Schizophrenie, ja? Dem würde ich Schizophrenie geben! „Die Schwester, die sich um sie kümmern sollte, war einen Moment lang unachtsam, und sie ist uns davongelaufen. Gott sei Dank ist ihr nichts zugestoßen!“

Er beugt sich zu mir vor und streichelt mir mit einer Hand sanft über die Wange.

„Was machst du denn für Sachen, Schatz? Suchst du wieder deine Eltern? Wir haben uns doch erst neulich darüber unterhalten, erinnerst du dich? Deine Eltern sind tot, du musst dich endlich damit abfinden!“

Der Sanitäter hält mich immer noch mit eisernem Griff, was mich daran hindert, Markovs verlogene Hand wegzuschlagen, also kann ich nur angewidert meinen Kopf wegdrehen.

„Sie können sie loslassen, ich übernehme ab hier!“, bittet er die Männer.

„Sind Sie sicher?“, fragt der Ältere skeptisch.

Markov sieht mich wieder mit diesem überheblichen Ausdruck in den Augen an.

„Glauben Sie mir, sie wird nicht noch einmal weglaufen“, sagt er voller Überzeugung.

Zögerlich lockert sich der Griff um mich. Sofort trete ich ein Stück nach vorne und werfe dem Mann hinter mir einen giftigen Blick zu.

„Könnten Sie uns für den Heimweg vielleicht eine Decke leihen? Ich möchte nicht, dass meine Frau sich erkältet.“

„Selbstverständlich.“

Der Sanitäter tauscht die Spritze gegen eine braune Wolldecke und reicht sie meinem „Mann“, der sie mir fürsorglich über die Schultern wirft, ehe er mich ungeniert an sich drückt. Für Außenstehende mochte es nach einer zärtlichen Geste ausgesehen haben, aber Markovs Bewegungen sind harsch und mechanisch. Er zieht eine Show ab, und zwar eine verdammt Gute. Aber ich lasse ihn vorerst gewähren. Ich will wissen, wo das ganze Theater hinführen soll. Außerdem hat mich die Auseinandersetzung mit den Sanitätern Kraft gekostet. Abwarten lautet also die Devise.

„Bitte entschuldigen Sie die Mühen, ich werde selbstverständlich für diesen Einsatz aufkommen!“, säuselt Markov, dann, an mich gewandt: „Komm, Schatz. Gehen wir nach Hause.“

Er schenkt den Sanitätern ein süßliches Lächeln, dann wendet er sich ab und führt mich zu seinem Auto, das hinter dem Krankenwagen geparkt ist – ein schwarzer Mercedes. Der Fahrer erwartet uns bereits und hält galant die Tür auf. Markov bedeutet mir, zuerst einzusteigen. Erwarten die etwa, dass ich da einfach so mitspiele?

Ich mache mich von ihm los und verschränke störrisch die Arme vor der Brust.

„Nennen Sie mir nur einen Grund, warum ich in diesen Wagen steigen sollte!“

Markovs Augen verdunkeln sich. Er stößt einen ungeduldigen Laut aus, und plötzlich kehrt die Bilderflut mit aller Heftigkeit zurück.

Eine Familie im Schwimmbad. Ein ertrinkendes Kleinkind. Die Familie auf einer Beerdigung. Die Familie auf einem Abiball.

Ein Koch am Herd. Er würzt seine Suppe. Ein enttäuschter Restaurantkritiker.

Ein Mädchen, das die Leiche seiner Oma im Bett findet. Eine junge Schauspielerin auf dem roten Teppich.

Auf einen Schlag ist alles wieder vorbei und ich halte mir keuchend den Kopf.

„Ist das Grund genug für dich? Oder soll ich die Visionen zurückholen?“, fragt Markov selbstgefällig. „Nun steig endlich ein!“