Die verschollene Karte - Ruth Saberton - E-Book
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Die verschollene Karte E-Book

Ruth Saberton

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Beschreibung

Kann es für eine zweite Chance jemals zu spät sein?

Fünfundsiebzig Jahre sind vergangen, seit Lily Nancarrow ihr Herz an den gutaussehenden amerikanischen Offizier verloren hat, der während der Vorbereitungen der Alliierten auf den D-Day in Cornwall stationiert war. Lily konnte Casey nie vergessen. Auch wenn sie mittlerweile mit dem Leben in ihrem kleinen Fischerdorf zufrieden ist, lässt eine lange vermisste Weihnachtskarte ihr Herz doch höher schlagen ...

Eine herzerwärmende Novella über Familiengeheimnisse und eine verlorene Liebe vor dem Hintergrund der atemberaubenden Landschaft Cornwalls.

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Über das Buch

Kann es für eine zweite Chance jemals zu spät sein?

Fünfundsiebzig Jahre sind vergangen, seit Lily Nancarrow ihr Herz an den gutaussehenden amerikanischen Offizier verloren hat, der während der Vorbereitungen der Alliierten auf den D-Day in Cornwall stationiert war. Lily konnte Casey nie vergessen. Auch wenn sie mittlerweile mit dem Leben in ihrem kleinen Fischerdorf zufrieden ist, lässt eine lange vermisste Weihnachtskarte ihr Herz doch höher schlagen …

Eine herzerwärmende Novella über Familiengeheimnisse und eine verlorene Liebe vor dem Hintergrund der atemberaubenden Landschaft Cornwalls.

Über Ruth Saberton

Ruth Saberton wurde in London geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Cornwall. Obwohl sie weit gereist ist, gibt es für sie keinen Ort, der sich mit der rauen Schönheit dieser Küstenlandschaft messen kann. Hier findet sie immer wieder neue Inspiration für ihre Romane. In England gilt sie als absolute Bestsellerautorin.

Uta Hege lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Saarbrücken. Mit dem Übersetzen englischer Titel hat sie ihre Reiseleidenschaft und ihre Liebe zu Büchern perfekt miteinander verbunden und ihren Traumberuf gefunden.

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Ruth Saberton

Die verschollene Karte

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Impressum

Macabe Ridge

Larchville, NC

1. Dezember 1946

Geliebte Lily,

Beste Weihnachtsgrüße aus North Carolina, das in dieser Zeit des Jahres unter meterdickem Schnee begraben ist. Ich hoffe sehr, es geht dir gut, wenn diese Karte dich erreicht.

Habt ihr dieses Jahr auch Schnee? Ich werde meinen Winter bei euch in Cornwall nie vergessen – es kommt mir vor, als taute ich erst ganz allmählich wieder auf! Natürlich können sich euer Frost und eure Schneegestöber nicht mit unseren Schneestürmen und Schneeverwehungen messen, doch die Kälte und Feuchtigkeit in Großbritannien gehen einem wirklich durch Mark und Bein! Wir armen, heimwehkranken Amis haben pausenlos gehustet und geniest. Aber ich würde freiwillig tausend Jahre husten, wenn ich noch einmal dein Gesicht sehen dürfte, Lil.

Seit meinem letzten Brief an dich hatte ich alle Hände voll zu tun. Wahrscheinlich wärst du überrascht, wie viel ich schaffe, wenn ich etwas wirklich will! Und das mit einem Bein! Es war viel Arbeit, bis ein richtiges Gehöft aus meinem Grundstück geworden ist, aber jetzt im Winter kann ich den Fuß vom Gas nehmen, bis das Wetter wieder besser wird. Deswegen habe ich auch die Zeit für einen weihnachtlichen Gruß. Dies ist die letzte Karte, die du von mir bekommst, geliebte Lily, und ich nehme an, du weißt, warum. Du fehlst mir so unglaublich, und an dich zu schreiben ist ein Trost, weil ich auf diese Weise zu dir sprechen kann. Allerdings wird es für mich immer schwerer, da du andersherum niemals etwas von dir hast hören lassen. Wobei vielleicht keine Antwort auch eine Antwort ist …

Die Jahreszeiten sind ins Land gegangen, und auch unser Leben bleibt nicht einfach stehen. Verzeih mir diesen letzten, hoffentlich nicht allzu kitschigen Erguss, aber du sollst wissen, dass ich immer wollte, dass du glücklich bist – selbst wenn dein Glück darin bestanden haben sollte, dir ohne mich ein neues Leben aufzubauen. Ich habe dir in meinen ersten Briefen ausführlich von meinen Verletzungen geschrieben. Womöglich hat dir das ja Angst gemacht. Das könnte ich verstehen. Ich bin wirklich nicht mehr ganz der Mann, den du mal kanntest. Aber ich liebe dich noch immer bis zum Mond, darum herum und wieder zurück.

Ich habe diese Weihnachten ein kleines Bäumchen aufgestellt und es mit Popcorn und mit bunten Stoffbändern geschmückt, wie damals diesen Baum, den du bei der Feier für die Kinder im Gemeindehaus so bewundert hast. Deine Augen haben gefunkelt und du hast völlig verzaubert ausgesehen. Ich glaube, dass dir auch mein kleiner Baum gefallen würde, aber wie mir selber könntest du ihm ruhig ein wenig zusätzlichen Glanz verleihen. Erinnerst du dich noch an die Papierengel, die von den Kindern für den Baum bei euch in der Pfarrei gebastelt worden sind? Sie waren so stolz darauf.! Oh, Lil, ich war nie wieder so glücklich wie an diesem einen Weihnachten mit dir. Ich denke öfter daran zurück, als du dir vorstellen kannst.

Wie dem auch sei, jetzt ist das Grundstück endlich eingezäunt, das Feuerholz gehackt, und auch die Hütte würde dir gefallen. Sie sieht genau wie auf den Skizzen aus, die ich für dich gezeichnet habe. Ich habe auch die Details nicht vergessen, die ein richtiges Zuhause deiner Meinung nach auf alle Fälle braucht. Ich habe sogar Vorhangstoff gekauft und in einem Trödelladen eine Patchworkdecke aufgetrieben, denn du hattest dir so sehr einen Quilt gewünscht, und leider kann ich ja nicht nähen. Aber die Veranda, die habe ich selbst gebaut, und nach der Arbeit sitze ich dort oft mit einem Glas Eistee und beobachte die Sonne, wie sie wie ein Feuerball hinter dem Berg versinkt. Das ist die Zeit, in der du mir am meisten fehlst, denn diesen Anblick hättest du geliebt. Dann taste ich nach deiner Hand und zucke jedes Mal zusammen, wenn sie ins Leere greift. Ich habe dieses Heim für dich geschaffen, Lil. Ich habe sogar die zwei Schaukelstühle aufgetrieben, die wir erst als alte Leute hätten haben wollen. Und wenn ich einmal alt bin, werde ich mit einem Lächeln daran denken, dass wir zwei hier hätten sitzen können. Vielleicht ist ja die Freude über diese glückliche Erinnerung dann stärker als der Schmerz, der mir das Herz zerreißt, weil du mir fehlst.

Ach, Liebes, manchmal kommt es mir so vor, als hätte ich schon hundert Leben hinter mir. Ich musste Dinge sehen, die ich nicht ungesehen machen kann, und Sachen tun, die vorher unvorstellbar für mich waren. Der Krieg hat mich zu jemand anderem gemacht. Den Casey Macabe, der sich voller Ideale hat rekrutieren lassen, gibt es nicht mehr. Und trotzdem bereue ich die Entscheidung nicht, denn sie hat mich zu dir geführt, und dafür werde ich bis an mein Lebensende dankbar sein. Meine Gedanken fliegen über den Atlantik zu dir, und es macht mich von Herzen froh mir vorzustellen, dass derselbe Mond, der über meiner Hütte aufgeht, auch auf Cornwall scheint und dich von oben anlächelt. Wenn du ihn siehst, denkst du dann auch manchmal, dass er auf mich herunterlächelt, Lil? Falls du mich nicht vergessen hast und überhaupt noch an mich denkst.

Von dem Blick auf die Blue Mountains, hinter denen man die violetten Rauchschwaden der Abenddämmerung und morgens rosafarbene Sonnenstrahlen am Himmel sieht, habe ich dir erzählt. Ich habe dieses Heim für dich gebaut, mein Herz, so, wie ich es versprochen habe, damit du den Sonnenuntergang betrachten kannst. Jeder eingeschlagene Nagel, jedes zersägte Brett und jeder auf das Dach gehievte Balken waren ausschließlich für dich. Ich hätte nicht gedacht, dass die Arbeit so anstrengend für mich sein würde. Seit meiner Kriegsverletzung werde ich viel schneller müde, aber trotzdem habe ich dies Haus errichtet, damit du hier bei mir einziehen kannst. Ich sehne mich so sehr danach, dich bei der Hand zu nehmen und hineinzuführen. Dann sitzen wir zusammen vor dem Feuer, Lil, ich halte dich im Arm und wir sehen zusammen dem Tanz der Schnellflocken durchs Fenster zu. Dann wird mein Glück vollkommen sein.

Wie sehr hast du mir dieses Jahr gefehlt, mein Herz. Sogar noch mehr als letztes Jahr, auch wenn ich niemals gedacht hätte, dass das überhaupt möglich ist. Wie kann es sein, dass seit der letzten Weihnachtskarte, die ich dir geschrieben habe, wieder zwölf Monate vergangen sind? Es kommt mir einerseits wie gestern vor, dass ich die Karte in den Briefkasten geworfen habe und anderseits wie ein ganzes Leben. Denn jeder Tag, an dem es keine Nachricht von dir gibt, erscheint mir wie ein Jahr. Die Zeit meint es nicht gut mit mir. Die Monate mit dir sind wie im Flug vergangen, und selbst, wenn uns zusammen eine Ewigkeit vergönnt gewesen wäre, hätte die mir nicht gereicht.

Geliebte Lily, ich weiß nicht, ob du diese Karte jemals lesen wirst, doch der Gedanke, dass ich sie ins Pfarrhaus schicke, tröstet mich. Ich bin sogar ein wenig eifersüchtig auf den Umschlag, weil du ihn vielleicht statt meiner berühren wirst. Ich weiß, das klingt total verrückt, aber du fehlst mir entsetzlich, seit ich an dem Vormittag im Juni Richtung Kontinent gesegelt bin. Ich habe alles ernst gemeint, was ich gesagt habe, und das tue ich immer noch. Die Monate mit dir sind lebendiger als alles, was seither geschehen ist. Es kommt mir unwirklich vor, dass ich in Carolina bin, denn mein Herz ist noch immer Tausende von Meilen entfernt bei dir in Cornwall. Ich sehe immer noch die Möwen, die am sturmumtosten Himmel segeln, und ich rieche immer noch den Moder, das Salz und den Tang der Luft. Ich lebe nur ein halbes Leben, wenn du nicht an meiner Seite bist.

Mitunter frage ich mich, ob wir die gewünschten Kinder irgendwann bekommen hätten, Lil. Wir hätten sie auf jeden Fall geliebt. Kleine Mädchen mit grünen Augen und rotem, wild gelockten Haar wie deines, und weizenblonde Jungen, die genauso schlaksig und sommersprossig wären wie ich. Was für ein munterer Haufen sie gewesen wären! Ich stelle sie mir manchmal vor, wie sie über die Felder rennen oder Äpfel aus den Nachbarsgärten klauen, wie dein Harry, als er klein war. Und auch wenn ich weiß, dass das verrückt klingt, fehlen sie mir sehr. Genau wie mir unsere anderen Träume fehlen. Hast du inzwischen neue Träume? Hoffentlich sind sie dann glücklich, und vor allem hoffe ich, du wirst geliebt. Das wünsche ich dir mehr als alles andere.

Es ist immer noch ein seltsamer Gedanke, dass die Zeit, die wir zusammen hatten, jetzt vorüber ist. Wobei es noch seltsamer ist, dass wir inzwischen vor mehr als zwei Jahren in der Normandie gelandet sind. Die meisten Dinge waren so schrecklich, dass ich sie noch immer nicht in Worte fassen kann, auch wenn wir gleichzeitig erleichtert waren, weil endlich was geschah. Wir haben die Zeit in Cornwall hauptsächlich mit Warten zugebracht. Wir wussten, dass was Dunkles, Grauenhaftes vor uns liegt, und waren fast froh, als es dann endlich so weit war. Ich war zu allem bereit, denn schließlich hatten wir ein Ziel und würden das Richtige tun. Es ging darum, dass dieser Krieg zum Ende kommt.

Ich habe damals oft an dich gedacht, Lily. Vor allem habe ich gebetet, dass ich überleben würde, damit ich dich glücklich machen könnte. Ich werde nie verstehen, warum so viele andere starben und ich selbst überlebte, auch wenn ich danach nicht mehr derselbe war und bin. In meinen kühnsten Träumen hätte ich mir so ein Grauen wie dort an den Stränden niemals vorstellen können. Aber ich wollte überleben, Liebes, und zurückkommen zu dir. Es waren die Versprechen unserer Zukunft, die mich haben überleben lassen. Dafür stehe ich für alle Zeit in deiner Schuld.

Ich werde niemals aufhören, dich zu lieben, und ich wünsche dir in diesem und in allen anderen Jahren frohe Weihnachten.

Für immer

Casey

Kapitel 1

heute Ellen

Um acht Uhr in der Früh an diesem eisigen Dezembertag lag das gesamte Dorf wie ausgestorben da. Im Sommer schoben sich Scharen von Besucher durch die schmalen Gassen von Pencallyn, doch im Winter blieben die Bewohner unter sich. In dieser Jahreszeit, in der die bunte Farbenpracht des Herbstes klammem Nieselregen und einem grauen Himmel gewichen war, stahl sich vielleicht das eine oder andere frisch verliebte Paar nachts in einen der Schäferwagen, die dort in der Gegend standen, und der eine oder andere beherzte Wanderer marschierte hartnäckig über den Klippenpfad, doch davon abgesehen waren die hübschen Fischerdörfer menschenleer. Der Winter bot den Menschen, die es brauchten, eine Chance, ganz für sich zu sein. Die Sonne brach nur selten durch die graue Wolkenwand hindurch, und nur die hartgesottensten Naturliebhaber setzten sich freiwillig Kälte, Wind und nadelspitzen Regentropfen aus.

Zu dieser Zeit des Jahres überzog die morgendliche Dämmerung den Himmel zwar mit Bahnen rosafarbenen und zitronengelben Lichts, doch die Versprechen, die die feinen, mit dünnen Fäden goldenen Sonnenlichts verwobenen, aufsteigenden Nebelschwaden gaben, waren falsch.

Im mandarinengelben Glanz der aufgehenden Sonne paddelten die Austernfischer durch das seichte Wasser, und die ersten Vorhänge hinter den Fenstern der aufgrund der steten salzhaltigen Brise immer etwas feuchten Häuser gingen auf. Ein paar Bewohner zogen Wachsjacken und Gummistiefel an und gingen mit ihren Hunden an den Strand, andere wagten sich in kleinen Fischerbooten auf das Meer und wieder andere lagen noch in ihren warmen Betten und ergingen sich in sommerlichen Träumereien, während ihre Partner oder Eltern sich vor Kälte zitternd aus dem Bett in die Küche quälten, weil es dort den Ofen einzuheizen und den morgendlichen Tee zu kochen galt. Der Winter offenbarte die Persönlichkeiten der verschiedenen Dorfbewohner mehr als jede andere Jahreszeit. Entweder man trotzte Wind und Wetter oder man verfiel in eine Art von Winterschlaf. Man war begeistert von der rauen Schönheit tiefhängender Himmel und des wild wogenden Meeres oder wartete am warmen Feuer hinter zugezogenen Vorhängen das Winterende ab. Die Landschaft und das Wetter stellten alle auf die Probe. Die Entscheidung, ob man kämpfen oder sich zurückziehen wollte, traf jede Person für sich ganz allein.

Auch Ellen Thomas wusste, dass sie selbst entschieden hatte, morgens in aller Frühe ihre Runde auf dem Klippenpfad zu drehen. Inzwischen aber schmerzte jeder Atemzug, und während sie den Krallen des Ginsters und den moosbewachsenen Steinen auf dem schmalen Weg so gut wie möglich auswich, konnte sie selbst kaum glauben, dass sie aus freien Stücken losgelaufen war. Zumal eine strenge Stimme durch den Knopf in ihrem Ohr ihr erklärte, dass es noch fünf Minuten durchzuhalten galt. Sonst hätte sie versagt, und Ellen hatte in der letzten Zeit zu oft versagt, als dass sie sich von einer App auf ihrem Handy würde in die Knie zwingen lassen. Das hätte ihr tatsächlich gerade noch gefehlt.

Inzwischen war sie völlig verschwitzt, die rötlich braunen Haare klebten ihr am Kopf, sie atmete laut keuchend ein und aus und hatte ihre Fäuste derart fest geballt, als klammerte sie sich mit letzter Kraft an einen unsichtbaren Felsvorsprung. Dann fiel der Weg steil ab. Sie rannte weiter und bemühte sich, den Schlamm, der gegen ihre nackten rosafarbenen Waden spritzte, und den beißend kalten Wind, der von der Landspitze herüberwehte und ihr Tränen in die Augen trieb, zu ignorieren. Sie würde ihre Runde jetzt bestimmt nicht abbrechen!

Obwohl sie ihre Augen bereits aufgeschlagen hatte, als die ersten gold- und pfirsichfarbenen Strahlen durch die Wolkenwand gebrochen waren, hatte sie es nicht geschafft, sich unbemerkt von Grilly aus dem Haus zu schleichen.

Grilly war wie viele alte Leute schon in aller Herrgottsfrühe auf den Beinen gewesen. Bis Ellen sich in Hoody und Shorts ins Erdgeschoss geschlichen hatte, um dort ihre Joggingschuhe anzuziehen, hatte ihre Gran schon in der Küche über die geladenen Politiker im Frühstücksfernsehen geschimpft, während sie in einem großen Topf auf dem Ofen rührte. Durch das ganze Haus war ein verführerischer Duft nach Weihnachten geweht, ein köstliches Gemisch aus Zimt, Muskatnuss, Apfelsine und dem Brandy, der in einer Flasche auf dem Esstisch stand.

»Ist es dafür nicht noch ein bisschen früh?«, hatte Ellen ihre Großmutter geneckt.

»Ich war durchaus versucht, ein kleines Schlückchen zu probieren. Aber es fällt mir mittlerweile schon schwer genug, das Gleichgewicht zu halten, ohne dass ich was getrunken habe, Liebes«, hatte Grilly lachend zugegeben und sich eine Strähne ihres langen, weißen und mit zweiundneunzig Jahren noch dichten, wild gelockten Haars, das sie mit einem Stäbchen auf dem Kopf zusammenhielt, aus dem Gesicht gewischt. »Ich fange heute schon mit den Weihnachtspuddings an. Reich mir mal die Schüssel mit der Früchtemischung, Schatz. Ich will sie in den Topf kippen, aber die Schüssel ist ziemlich schwer.«

Das war kein Scherz gewesen, denn die riesige Keramikschüssel, die Ellen ihrer Granny Lily – oder Grilly, wie sie immer zu ihr sagte – reichen sollte, war ein altmodisches Ding und böte sich durchaus als Hexenkessel oder Requisite eines Dramas aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs an. Gebrechlich, wie die Großmutter inzwischen war, bestünde die Gefahr, dass sie mitsamt dem tonnenschweren Teil vornüberfiele und sich wie von Ellens Mutter so oft prophezeit die Hüfte brach.

»Ich dachte, dass du dieses Jahr die Weihnachtspuddings kaufen wolltest, Grilly?«, hatte Ellen sanft gefragt und dann die mit Johannisbeeren, Rosinen, Kirschen und Orangenschalen gefüllte Schale Richtung Herd gehievt. Sie war noch schwerer gewesen, als sie aussah, deshalb hatte Ellen voller Sorge überlegt, wie die Großmutter sie hätte bis zum Herd bugsiert hätte, wenn sie selbst nicht so früh zum Joggen aufgestanden wäre.

»Ich höre ganz bestimmt nicht auf, den Weihnachtspudding selbst zu machen, nur weil ich am Umrührsonntag nicht dazu gekommen bin!«

Normalerweise wurde Weihnachtspudding schon am ersten Sonntag im Dezember angesetzt, doch Grilly hatte diesen Tag im Krankenhaus verbracht. Sie war mit einer heftigen Bronchitis eingeliefert worden, und sie alle konnten froh sein, dass die drohende Lungenentzündung gerade noch im letzten Augenblick verhindert worden war. Auch deshalb wohnte Ellen momentan bei ihr. Sie sollte sich um Grilly kümmern, auch wenn das nicht einfach war, weil Lily Stephens selbst mit ihren über neunzig Jahren den Gedanken hasste, dass sie auf die Hilfe anderer angewiesen war. Und auch wenn sie vor Kurzem noch im Krankenhaus gelegen hatte, war sie fest entschlossen, dieses Jahr die Feiertage in Gesellschaft ihrer Lieben zu verbringen und sie alle selbst zu bekochen wie geplant. Was einerseits bewundernswert und andererseits erschreckend war.

»Das schafft sie nicht. Schließlich ist sie noch nicht wieder ganz gesund!«, regte sich Ellens Mutter während ihres letzten Anrufs auf. »Warum lässt sie nicht wenigstens das Essen kommen, damit sie nicht zusätzliche Arbeit hat?«

»Ich werde Grilly helfen«, wollte Ellen sie beruhigen. »Mach dir keine Gedanken, Mum. Ich werde darauf achten, dass sie es nicht übertreibt.«

Bei diesen Worten lachte ihre Mutter düster auf. »Na, dann viel Glück, Liebes.«

Entschlossen kippte Ellen die Früchte in den Topf zu Zucker, Butter und ein paar Geheimzutaten ihrer Gran. Grilly tauchte einen Holzlöffel in das Gemisch und rührte alles gründlich um. Mitunter unterbrach sie ein leises Husten und sie holte so rasselnd Luft, dass Ellen überlegte, ob es nicht besser wäre, noch einmal mit ihr zum Arzt zu fahren. Natürlich würde Grilly protestieren und ihr erklären, sie hätten damals auch kein solches Aufheben gemacht. Im Krieg waren Menschen umgekommen und die Nahrungsmittel waren knapp gewesen. Doch es hatte geheißen Augen zu und durch.

Im Angesichte eines solchen Gleichmuts kam sich Ellen, die nach ihrer Scheidung völlig die Balance verloren und sich in Antidepressiva, Therapien und Wellness-Apps geflüchtet hatte, wie ein Weichei vor.

Bei dem Gedanken holte sie tief Luft und versuchte dann noch mal ihr Glück. »Die Puddings, die es bei Waitrose gibt, sind wirklich gut, Grilly. Mum hat gesagt, sie kann einen mitbringen, wenn sie nach Cornwall kommt. Sie kauft ihre Weihnachtspuddings immer dort.«

Mit einem müden Lächeln erklärte ihre Großmutter: »Das hätte ich mir denken können. Den Spaß am Selbermachen hat sie ganz eindeutig nicht von mir geerbt. Wobei das bisschen Kochen wirklich keine Arbeit ist. Ich habe im Verlauf der Jahre Tausende von Weihnachtspuddings selbst gemacht und höre jetzt nicht einfach damit auf. In meinem Alter weiß man nicht, wie viele Weihnachten man noch erleben darf, deswegen esse ich ganz sicher keinen Plumpudding aus dem Geschäft.«

Ellen wusste, wann sie sich geschlagen geben musste. Nach über dreißig Jahren an der Schule wusste ihre Gran sich durchzusetzen, und auch ihre Kinder David und Amanda waren gegenüber ihrem Starrsinn chancenlos. Sie hatten bisher jede Schlacht verloren, sei es die um eine Haushaltshilfe, um einen Umzug in die Nähe der Familie oder um einen Wechsel aus dem viel zu großen, alten Pfarrhaus in ein kleines Haus im Ort. Von allen diesen Dingen wollte Grilly nichts hören, und es würde alles bleiben, wie es immer schon gewesen war.

»Für sie allein ist dieses Haus viel zu groß«, hatte Amanda ein ums andere Mal erklärt. »Und ich ertrage den Gedanken nicht, dass sie sich ganz allein die Treppen rauf- und runterquält, vor allem, nachdem May gestorben ist und sie nicht mehr im Auge hat. Ich bin mir sicher, dass es irgendwann in einer Katastrophe enden wird.«

Normalerweise fügte David als Bruder und Anwalt dann hinzu: »Ich mache mir vor allem Sorgen wegen der verfluchten Erbschaftssteuer. Mum muss diese Dinge endlich regeln, damit wir nicht irgendwann die Dummen sind.« Es klang, als wäre er besessen von juristischen Details. Wenn man Grilly fragte, ging es ihm vor allem um ihr Geld. Zwar dachte Ellen, dass sich Grilly einen Scherz erlaubte, aber sicher war sie nicht. Die alte Dame hatte einen trockenen Humor und Davids Qualifikationen und Wichtigtuerei beeindruckten sie nicht. Für sie würde er stets der ungezogene, kleine Junge bleiben, den es im Zaum zu halten galt.

Je älter Grilly wurde, desto mehr fand Ellen, dass die anderen sie machen lassen sollten. Wenn sie im alten Pfarrhaus bleiben wollte, warum nicht? Natürlich war es riesengroß, aber es bot eine wunderbare Aussicht auf die Bucht von Calmouth, und seit Ellen denken konnte, hatten sie und Grillys anderen Enkelkinder endlos lange, wundervolle Sommer in Pencallyn zugebracht. Sie hatten stundenlang am Strand zugebracht und dann den Sand ins Haus geschleppt, hatten Fangen und Verstecken gespielt und waren auf den alten Apfelbäumen, die im Garten standen, rumgeturnt. Auch Grilly selber hatte ihre Kindheit in dem alten Pfarrhaus zugebracht und war nach Grandpas Pensionierung, als es zum Verkauf gestanden hatte, abermals dorthin zurückgekehrt. Und dann, nach Grandpas Tod, war Tante May von London hergezogen, damit Grilly nicht allein war. Im Grunde war sie keine echte Tante gewesen, aber Grilly hatte sie seit einer Ewigkeit gekannt und sie deswegen als Familie angesehen.

»Sie ist für mich so was wie eine kleine Schwester, denn ich habe in den Kriegsjahren auf sie aufgepasst. Natürlich haben damals wir auch noch andere Kinder aufgenommen, aber die waren alle nicht so lange da wie sie.«

Der Tod der Tante vor zwei Jahren hatte ihr das Herz gebrochen, und noch einmal hatten ihre Kinder sie zum Umzug überreden wollen. Natürlich hätte die Vernunft geboten, dass sie nun in die Nähe der Familie gezogen wäre – aber Grilly wäre nicht im Traum auf die Idee gekommen, noch einmal woanders hinzugehen. »Ich habe nun mal all meine Erinnerungen hier. Ich bin Miss Lily aus dem Pfarrhaus von Pencallyn, und die werde ich bis an mein Lebensende sein.«

Bei diesen Worten hatten ihre Enkelkinder früher laut gekichert, weil der Name einfach seltsam für sie klang. In ihrer Welt war Grilly Grilly, und sie hatten sich nicht vorstellen können, dass sie jemals jemand anderes als ihre Großmutter gewesen war.

An Regentagen aber, wenn die Tropfen tränengleich das Fensterglas herabgeronnen waren und die fernseh- und computerspielgewöhnten Kinder sich gelangweilt und gestritten hatten, hatte Grilly das Familienfotoalbum vorgeholt und sie mit den Erzählungen aus ihrer eigenen Kindheit abgelenkt.

Die an den Rändern leicht gewellten Aufnahmen in Schwarz-Weiß und Sepiatönen hatten aus der Sicherheit des dicken Albums in die ihnen fremde, neue Welt hinausgeblickt, und die in Tinte festgehaltenen kurzen Texte, die darunter standen, waren zu verblasst gewesen, um sie noch zu lesen. Aber Grilly hatte alle Unterschriften auswendig gekannt und ihre aufsässigen Enkelinnen und Enkel durch den Zauber dieser Worte in den Bann der ihnen völlig fremden Welt gezogen, die mit der von heute nicht zu vergleichen war.

»Das hier bin ich.«

Das kleine Mädchen mit der Schürze hatte so entschlossen in die Kamera geblickt, als hätte es den Fotografen davor warnen wollen, dass ihm auch nur der allerkleinste Fehler unterlief. Dann hatte Ellen sich an ihre Großmutter geschmiegt und zustimmend genickt, denn wenn die Kinder hatten schlafen oder sich benehmen sollen, hatte Grilly immer noch denselben strengen Blick und dasselbe vorgereckte Kinn gehabt wie auf dem Bild.

»Und hier bin ich noch mal, auch wenn ich auf den Aufnahmen schon etwas älter bin.«

Sie hatte umgeblättert und die Kinder hatten sich die Fotos eines schlanken Mädchens angesehen, dem die Locken fast bis auf die Hüfte des hübschen Kleides fielen. Neben ihm stand ein attraktiver, junger Mann in der Uniform der Army. »Das ist mein großer Bruder Harry. Er sieht wirklich elegant aus, findet ihr nicht auch? Wahrscheinlich war das kurz, nachdem er zur Armee gegangen ist. Ich weiß noch, wie wir an dem Tag ins Fotostudio sind. Ich war vorher am Strand spazieren, deshalb waren meine Haare fürchterlich zerzaust, und meine Mutter hat mit ihrer Bürste so daran herumgerissen, dass ich dachte, sie würde mir den ganzen Kopf abreißen.«

Die Worte hatten Ellen jedes Mal zusammenfahren lassen, denn sie hatte Grillys wild gelocktes Haar geerbt, und ihre Mutter zerrte ebenfalls wie wild mit einer Bürste an den Strähnen, wenn sie wieder mal verknotet waren.

»Dein Bruder, der im Krieg gestorben ist? Der, von dem ich meinen Namen habe, und der als Soldat so tapfer war?« Es hatte Ellen immer aufgeregt, dass sich ihr Bruder, der schon weinte, wenn er sich das Knie aufschlug, und der Angst vor Wespen hatte, unverdient im Glanz des Heldenmutes seines Namensgebers hatten sonnen wollen.

Doch Grilly hatte dann das sepiafarbene Gesicht mit ihrem Zeigefinger nachgezogen und erklärt: »Genau, mein Schatz. Er starb, kaum, dass der Krieg begonnen hatte. Das ist inzwischen über fünfzig Jahre her. Der gute Harry. Meine Mutter hat ihn mehr als jeden anderen geliebt, und es hat ihr das Herz gebrochen, als sie ihn verloren hat. Von diesem Schock hat sie sich nie wieder erholt. Wobei es uns wahrscheinlich nicht anders ging.«

An dieser Stelle der Geschichte hatte Grillys Stimme immer einen seltsam rauen Klang bekommen und sie hatte eine kurze Pause eingelegt. Mitunter hatte sie sich auch die Nase putzen müssen, und dann hatte Ellen ihren Bruder angesehen und einen Kloß im Hals gehabt. Zwar ging ihr Harry manchmal furchtbar auf die Nerven, doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie es wäre, wenn er urplötzlich nicht mehr da wäre.

Als Nächstes waren die Bilder von Pencallyn und den Soldaten dran gewesen, und dann hatte Grilly von der Zeit erzählt, in der die Amerikaner in der Gegend stationiert gewesen waren. Der Teil war immer lustig, und es hatte Ellen Spaß gemacht, sich all die lächelnden Soldaten, die in ihren Jeeps oder mit Zigaretten in der Hand posierten, anzusehen. Sie alle sahen flott und glücklich und im Grunde noch wie Kinder aus.

»Die Amerikaner waren unglaublich lustig. Wir haben sie geliebt«, hatte die Großmutter erzählt. »Sie hatten Schokolade, Kaugummi und Coca-Cola. All die Sachen, die wir Kinder mochten und die eigentlich für uns verboten waren. Und einmal haben sie eine wundervolle Weihnachtsfeier für die Kinder aus dem Ort organisiert, mit Kuchen, Schinken und verschiedenen anderen Leckereien, von denen man seit Jahren nur noch hatte träumen können. Wir Mädchen bekamen Seidenstrümpfe, auf die wir damals total versessen waren. Und ihre Tanzveranstaltungen waren einfach wunderbar.«