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Seitenzahl: 125
Franz Kafka
Die Verwandlung
Lektüreschlüssel XL für Schülerinnen und Schüler
Von Alain Ottiker
Reclam
Dieser Lektüreschlüssel bezieht sich auf folgende Textausgabe:
Franz Kafka: Die Verwandlung. Hrsg. von Ralf Kellermann. Stuttgart: Reclam, 2013 [u. ö.]. (Reclam XL. Text und Kontext, 19125.)
Diese Ausgabe des Werktextes ist seiten- und zeilengleich mit der in Reclams Universal-Bibliothek Nr. 9900.
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Lektüreschlüssel XL | Nr. 15466
2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2017
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961281-2
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-015466-3
www.reclam.de
Von allen Ungeziefern dieser Erde ist Gregor Samsa das menschlichste. Denn ungeheuerlich ist weniger sein Wesen, sondern vielmehr der Versuch, die Verwandlung Gregors zu interpretieren. Es gibt nämlich kaum Texte, die so rätselhaft sind wie diejenigen Franz Kafkas, aber genau darin liegt deren Reiz und Faszination – man steigt ab in eine Art Kafkas Kaninchenbau der Interpretation›Kaninchenbau der Interpretation‹. Dass sich der Autor dieses Umstandes bewusst gewesen ist, scheint er uns in seinem berühmten Roman Der Process (1925) und der darinstehenden Türhüter-Legende anzudeuten. Interessant ist diese Geschichte insbesondere, weil ihr ein längeres Gespräch über deren Auslegung folgt. Dort diskutiert der Protagonist Josef K. mit einem Geistlichen und der Geistliche schließt seine Erklärungen zur Türhüter-Legende mit den merkwürdigen Sätzen:
»Mißverstehe mich nicht, […] ich zeige Dir nur die Meinungen, die darüber bestehen. Du mußt nicht zu viel auf Meinungen achten. Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber« (KKAP, S. 298).1
Es ist auch bezeichnend, dass mittlerweile keine Einführung zu Kafka ohne diese Bemerkungen auskommen kann. Ja, es gehört fast zum guten Ton, anfänglich auf dieDeutungsproblematik Deutungsproblematik aufmerksam zu machen. Gerne folgen danach Zitate berühmter Literaten, um das soeben Gesagte geisteswissenschaftlich abzusichern. Es böte sich hier zum Beispiel Theodor W. Adorno (1903–1969) an, der zu Kafkas Texten schreibt: »Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden.«3
Neben dem Process ist Die Verwandlung der faszinierendste Text Kafkas. Von Ende November bis Anfang Dezember 1912 geschrieben und im Oktober 1915 veröffentlicht, ist sie mit ihren ursprünglich 42 handschriftlichen Blättern zudem Kafkas längste vollendete Geschichte – seine Romane sind allesamt fragmentarisch geblieben. Vollendet ist Die Verwandlung aber nicht nur im wörtlichen Sinne, sondern gleichsam im poetischen, da sich in ihr das zeigt, was Die kafkaeske Verwandlunggemeinhin als ›kafkaesk‹ bezeichnet wird. Der Literaturwissenschaftler Michael Müller meint hierzu und im Einklang zu allem Obenstehenden:
»Die Verwandlung ist wohl die bekannteste Erzählung Franz Kafkas und mit Sicherheit die, die am häufigsten interpretiert worden ist. Sie scheint – wie sonst nur noch der Roman Der Proceß – in reinster Weise den Begriff ›kafkaesk‹ zu definieren, den der Duden mit ›auf rätselvolle Weise unheimlich, bedrohlich‹ erklärt.«4
Einigen Dichtern mag es vergönnt sein, dass Wortableitungen aus ihren Namen im Duden stehen, aber neben dem Marquis de Sade (Sadismus) und Leopold von Sacher-Masoch (Masochismus) ist es nur Franz Kafka (kafkaesk) gelungen, in den Im allgemeinen Wortschatzallgemeinen Wortschatz aufgenommen zu werden. Für Schule und Studium ist diese Tatsache zweifellos ein Glücksfall, denn es »wird dadurch didaktisch gesehen in höherem Maße plausibel, dass sich die Beschäftigung mit diesen Texten lohnt, dass es sich nicht ›bloß‹ um Literatur handelt.«5
Das Rätsel Kafka (be)lohntDas Rätsel Kafka (be)lohnt unendlich, weil sich das Kafkaeske nicht in obiger Definition (›auf rätselvolle Weise unheimlich‹) erschöpft. Es ist daher der Anspruch dieses Bandes aufzuzeigen, inwiefern Die Verwandlung den Begriff ›kafkaesk‹ und damit typische Deutungsmuster repräsentiert, um darzustellen, was Franz Kafka rätselhaft macht und wo der Spaß im Rätseln liegt.
Was ist mit Gregor Samsa geschehen?Aus unruhigen Träumen erwachend … Aus unruhigen Träumen erwachend, findet sich der Handlungsreisende eines Morgens als ungeheures Ungeziefer in seinem Bett wieder. Seine Ausrufe zum himmlischen Vater und sogar die Beschwörung des Teufels gründen indes nicht im Schrecken bezüglich seiner verwandelten Gestalt, vielmehr plagen ihn Profane Sorgen des beruflichen Alltagsdie profanen Sorgen des beruflichen Alltags. Gregor denkt:
»Was für einen anstrengenden Beruf habe ich gewählt! Tag aus, Tag ein auf der Reise. Die geschäftlichen Aufregungen sind viel größer, als im eigentlichen Geschäft zu Hause, und außerdem ist mir noch diese Plage des Reisens auferlegt, die Sorgen um die Zuganschlüsse, das unregelmäßige, schlechte Essen, ein immer wechselnder, nie andauernder, nie herzlich werdender menschlicher Verkehr. Der Teufel soll das alles holen!« (S. 6).
Es durchzuckt Gregor erst, als er bemerkt, dass es bereits halb sieben Uhr ist und er folglich seinen Fünfuhrzug verpasst hat. Dann klopft es plötzlich an die Tür.
Familiäre UmzingelungDer Reihe nach erkundigen sich Mutter Samsa mit sanfter Stimme, Vater Samsa mit schwach klopfender Faust und die Schwester Grete Samsa im Klagelaut nach dem Befinden Gregors. Dieser lobt derweil seine von den Reisen her übernommene Vorsicht, die Türen während der Nacht versperrt zu haben, weil ihm dadurch die Zeit gegeben ist, um seinen Ungezieferkörper spielerisch aus dem Bett zu schaukeln. Als sich Gregor schließlich mit aller Macht rausschwingt und auf den Teppich fällt, vernimmt aber nicht nur die Familie Samsa einen lauten Schlag. Mittlerweile ist der Prokurist, Gregors Vorgesetzter, eingetroffen und steht gleichfalls auf Auf HorchpostenHorchposten in der Wohnung. Während der Vater Gregor zum Aufmachen der Türe animieren will, entschuldigt die Mutter ihren Sohn beim Vorgesetzten und vermutet ein Unwohlsein, aber der Prokurist lässt nicht lange mit sich diskutieren. Er richtet das Wort direkt an den Verwandelten, spricht im Namen der Eltern und des Chefs, hebt die unbefriedigenden Leistungen Gregors hervor und demütigt ihn damit vor den Ohren der Familie. Aus diesem Grund ergreift nun Gregor das Wort, aber die Worte zerfallen in seinem Kiefer wie modrige Pilze; niemand verstehtDas Piepsen des Ungeziefers das Piepsen des Ungeziefers. Einig sind sie sich jedoch darin, nach einem Arzt und Schlosser zu rufen. Gregor beruhigt sich. »Er fühlte sich wieder einbezogen in den menschlichen Kreis und erhoffte von beiden, vom Arzt und vom Schlosser, ohne sie eigentlich genau zu scheiden, großartige und überraschende Leistungen« (S. 16).
Trotzdem schiebt sich Gregor langsam mit dem Sessel zur Tür hin und öffnet diese in akrobatischer Manier selbst, aber das Publikum draußen kann die Vorstellung nicht würdigen. Entsetzt über Gregors Ungeziefergestalt, fällt die Mutter mit dem Gesicht zur Brust gesenkt zu Boden, in die Höhe dagegen ballt der Vater die Faust und der Prokurist flieht ab durch die Mitte. Gregor möchte dies unterbinden, um sich erklären zu können und seine Stellung im Geschäft zu retten. Aber Der Vater als Türhüterder Vater stellt sich dazwischen, drängt und drückt den Sohn unerbittlich in dessen Zimmer zurück und schlägt die Türe mit dem Stock des Prokuristen zu – dann ist es endlich still.
Aus einem schweren ohnmachtsähnlichen Schlaf erwacht, hält Gregor abends seinen Kopf in einen Ungezieferliche GeschmacksurteileNapf süßer Milch, der ihm gewiss von seiner Schwester Grete gebracht worden ist. Zu seiner Enttäuschung kann ihm aber sein ehemaliges Lieblingsgetränk den Hunger nicht stillen, der ihn bereits seit dem Morgen plagt. Als die Schwester dies am nächsten Tag bemerkt, breitet sie auf einer Zeitung eine Auswahl an Essen aus, um den neuen Geschmack des Bruders prüfen zu können. Und es ist ausgerechnet der Käse, den Gregor zwei Tage zuvor für ungenießbar erklärt hat, zu dem es ihn magisch hinzieht und an dem er gierig zu saugen anfängt – die frischen Speisen werden gemieden, so wie außer Grete Samsa alle Menschen das Ungeziefer meiden. »Früh[er], als die Türen versperrt waren, hatten alle zu ihm hereinkommen wollen, jetzt, da er die eine Tür geöffnet hatte und die anderen offenbar während des Tages geöffnet worden waren, kam keiner mehr, und die Schlüssel steckten nun auch von außen« (S. 25).
Unter dem Kanapee, auf dem Sessel vor dem Fenster, aber vor allem vor den Türen lauschend verbringt Gregor fortan seine Zeit. Dabei erfährt der Verwandelte, dass der Vater entgegen aller Befürchtung noch ein ganz kleines Vermögen besitzt, sich gar ein Das Kapitalkleines Kapital angehäuft hat, mit dem die Familie vielleicht für ein oder gar zwei Jahre zu versorgen wäre. »Diese Erklärungen des Vaters waren zum Teil das erste Erfreuliche, was Gregor seit seiner Gefangenschaft zu hören bekam« (S. 30). Trotzdem soll diese Summe nur für den Notfall dienen, so dass die Familie Samsa mit dem Ausfall Gregors, der bis anhin mit seinem Lohn den Haushalt versorgt hat, zur Arbeit gezwungen wird. Wer soll aber das Geld verdienen? Der Vater ist alt, fett und schwerfällig geworden, die Mutter Asthmatikerin und die Schwester wirkt wie ein Kind.
Mit derart trüben Gedanken schaut Gregor des Öfteren aus(K)ein Fenster der Freiheit dem Fenster, weil ihn dieser Blick früher befreit hat. Aber nun sieht er immer undeutlicher eine graue Einöde, wo sich der graue Himmel und die graue Erde zu vereinen scheinen. Zudem macht ihm das Essen nicht die geringste Freude, nur beim Kriechen über die Wände findet Gregor Zerstreuung.
»Besonders oben auf der Decke hing er gern; es war ganz anders, als das Liegen auf dem Fußboden; man atmete freier; ein leichtes Schwingen ging durch den Körper; und in der fast glücklichen Zerstreutheit, in der sich Gregor dort oben befand, konnte es geschehen, dass er zu seiner eigenen Überraschung sich losließ und auf den Boden klatschte« (S. 35).
Diese Krabbeleien werden aufgrund der Kriechspuren von der Schwester bemerkt, die sich daraufhin in den Kopf setzt, Zimmerausräumungdas Zimmer Gregors auszuräumen, um ihrem Bruder mehr Krabbelfreiheit zu bieten. Zwei Monate nach der Verwandlung betritt daher zum ersten Mal die Mutter das Zimmer, äußert indes Bedenken, ob mit der Ausräumung nicht auch die Hoffnung auf Besserung ausgeräumt werde, was Gregor zum Nachdenken bringt:
»Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem, schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit?« (S. 37).
Grete hält dagegen an ihrem Plan fest und provoziert so Gregors Hervorbrechen, der sein Zimmer und insbesondere das Bild von der Die dame im pelzDame im Pelz zu verteidigen versucht, was letztlich in der Ohnmacht der Mutter, einer erhobenen Faust der Schwester und der Aussperrung des Verwandelten endet. In diesem Augenblick kommt der Vater nach Hause. Was ist mit Herrn Samsa geschehen?Was ist mit Herrn Samsa geschehen? Aus dem Alten ist ein gut aufgerichteter, in straffer blauer Uniform gekleideter Mann mit starkem Doppelkinn geworden, der zur Obstschale greift und seinen Sohn anfängt mit Äpfeln zu bombardieren – das letzte Geschoss dringt dabei förmlich in den Rücken Gregors ein, der noch mit brechender Sehkraft die Vereinigung der Eltern wahrnehmen kann, deren Sohn er nicht mehr zu sein scheint.
Was ist mit der Familie geschehen?Tage vergehen, Wochen verstreichen und von der Verwundung, an der Gregor über einen Monat gelitten hat, ist der Apfel als sichtbares Andenken im Fleisch steckengeblieben. Der Beweglichkeit fast gänzlich beraubt, ist an ein Kriechen in der Höhe von nun an nicht mehr zu denken. Dafür bereiten Gregor die Abende neuen Trost, weil dann die Wohnungstür geöffnet wird und das Ungeziefer aus der Dunkelheit seines Zimmers die Familie im Licht betrachten kann. Was ist mit ihr geschehen?
»Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief bald nach dem Nachtessen in seinem Sessel ein; die Mutter und Schwester ermahnten einander zur Stille; die Mutter nähte, weit unter das Licht vorgebeugt, feine Wäsche für ein Modengeschäft; die Schwester, die eine Stellung als Verkäuferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie und Französisch, um vielleicht später einmal einen besseren Posten zu erreichen« (S. 44 f.).
Während die Familie Sorge für ihre Zukunft trägt, wird Gregor eben diese verweigert, weil sich die Schwester nur noch nachlässig um seine Bedürfnisse kümmert und sich das Zimmer allmählich in eine Rumpelkammer Rumpelkammer verwandelt. Alle unnützen, überflüssigen, ja schmutzigen Dinge werden zu Gregor geworfen – insbesondere mit der Ankunft dreier Zimmerherren, die sich einmieten und auf peinlichste Ordnung bedacht sind. Es sind dies vollbärtige Herren, die sich im Haushalt breitmachen, manchmal gar das Abendessen im Wohnzimmer einnehmen und so die Samsas in die Küche verdrängen, während das Geräusch ihrer kauenden Zähne von ihrem guten Appetit zeugt. Gregor selbst isst fast gar nichts mehr. Er hat zwar Appetit, aber »nicht auf diese Dinge« (S. 51).
An einem der Abende ertönt plötzlich die Violine vonDer Weg zur unbekannten Nahrung