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Eine unerwartete Begegnung in der S-Bahn führt zu einer kreativen Suche. Eine bipolare Bibliothekarin verliebt sich ausgerechnet in eine Vampirin. Nach einem ungewöhnlichen Date findet Tamara mehr über sich selbst heraus. Polyamore Liebe in einem dystopischen Norddeutschland in der nahen Zukunft. Ein demisexueller New Yorker Autor findet den Held seiner Träume. Avery lebt in einer unglücklichen Beziehung, aber dann lernt sie die asexuelle Bex kennen ... Diese sechs Kurzgeschichten erzählen unter anderem von Polyamorie, queerer Liebe und heterosexueller Liebe, es geht um BDSM, Asexualität, Demisexualität, eine psychische Erkrankung und Zivilcourage. Die Geschichten spielen in unserer realen Gegenwart und teilweise auch in Phantastikgenres: Urban Fantasy und Hopepunk. Es sind keine expliziten Sexszenen enthalten, stattdessen liegt der Schwerpunkt auf Romantik.
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Titelei
Klappentext
Hinweis zu Inhaltswarnungen
Inhaltswarnungen
Zivilcourage, nachts um halb eins
Kein Allheilmittel
Ein denkwürdiges Date
Gib deinem Glück eine Chance
Der Held meiner Träume
Ace of Hearts
Danksagung
Impressum
Die vielen Farben der Liebe
Kurzgeschichten
Amalia Zeichnerin
Über dieses BuchEine unerwartete Begegnung in der S-Bahn führt zu einer kreativen Suche. Eine bipolare Bibliothekarin verliebt sich ausgerechnet in eine Vampirin. Nach einem ungewöhnlichen Date findet Tamara mehr über sich selbst heraus. Polyamore Liebe in einem dystopischen Norddeutschland in der nahen Zukunft. Ein demisexueller New Yorker Autor findet den Held seiner Träume. Avery lebt in einer unglücklichen Beziehung, aber dann lernt sie die asexuelle Bex kennen ...
Diese sechs Kurzgeschichten erzählen unter anderem von Polyamorie, queerer Liebe und heterosexueller Liebe, es geht um BDSM, Asexualität, Demisexualität, eine psychische Erkrankung und Zivilcourage. Die Geschichten spielen in unserer realen Gegenwart und teilweise auch in Phantastikgenres: Urban Fantasy und Hopepunk. Es sind keine expliziten Sexszenen enthalten, stattdessen liegt der Schwerpunkt auf Romantik.
Zu den Inhaltswarnungen
Inhaltswarnungen überspringen und direkt zur ersten Kurzgeschichte
Inhaltswarnungen
Zivilcourage, nachts um halb eins
verbale Queerfeindlichkeit
Kein Allheilmittel
Depressionen, Manien (bipolare Störung), Erwähnung von suizidalen Gedanken und Suizidversuchen, Blut, Vampirbiss (erwähnt), Sex (erwähnt)
Ein denkwürdiges Date
Sex (erwähnt)
Gib deinem Glück eine Chance
Gewalt (wird nicht gezeigt), Verletzungen, tödliche Erkrankungen (erwähnt)
Der Held meiner Träume
Burnout (erwähnt), Queerfeindlichkeit (wird erwähnt, nicht gezeigt)
Ace of Hearts
einige acefeindliche Äußerungen, Sex (erwähnt)
Zivilcourage, nachts um halb eins
Es war fast halb eins, früh am Sonntag. Ich war mit einem Kommilitonen im Kino am Dammtor gewesen und er war anschließend in die S-Bahn Richtung Berliner Tor gestiegen, während ich mit der S 31 die kurze Strecke nach Altona fahren würde. In der S-Bahn war es relativ voll, wie meistens um diese Uhrzeit am Wochenende, aber ich fand noch einen Sitz in einem Bereich für vier Personen. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich ebenfalls Sitze, die für vier Leute Platz boten, dort saß aber nur eine einzelne Person, die ich kurz musterte. Vermutlich ein Gothic, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Nietenhalsband, blass geschminkt mit sinnlich geschwungenen schwarzen Lippen. Ein Teil ihres asymmetrisch geschnittenen Haares war pechschwarz, mehrere Strähnchen vom Rest in einem dunklen Lila gefärbt. Sie – falls dies das richtige Pronomen war – wirkte anziehend auf mich. Aber bei meinem Pech waren sämtliche Leute, die ich anziehend fand, entweder hetero oder bereits vergeben. Ich wollte schon den Blick abwenden, da fiel mir der kleine Button an ihrem schwarzen Mantel auf: Die Farben des Pride-Regenbogens.
Nun hätte ich fast laut geseufzt. Ich wandte meinen Blick ab; war viel zu schüchtern, um fremde Leute anzusprechen. Auch dann nicht, wenn ich sie anziehend fand. Außerdem, wer machte das schon, ausgerechnet in der S-Bahn? Ich dachte an meinen eigenen Button, der deutlich sichtbar an meiner Jacke hing, mit den Nonbinary-Pride-Farben. Ich wohnte nun seit einem Jahr in Hamburg und noch immer war das Leben hier für mich ein Kulturschock, nicht zu vergleichen mit der schleswig-holsteinischen Provinz. Aber ich war nun mal weder hetero noch cisgender und hatte nicht vor, irgendwo in einem Kuhkaff zu versauern, in dem es niemanden gab, der offen queer war. Stattdessen studierte ich nun Mediendesign an der Hamburger Uni. Nebenbei zeichnete ich Cartoons zu queeren Themen und arbeitete an einer längeren Graphic Novel.
Ich war froh über das Queer-Referat vom Asta der Uni, die viele Veranstaltungen organisierten. Allerdings hatte es eine ganze Weile gedauert, bis ich mich dorthin getraut hatte. Zwei Wochen später hatte ich mich von meinen langen Haaren getrennt und trug sie nun sehr kurz, mit einigen blondierten Strähnchen. Das hatte ich schon lange mal ausprobieren wollen. Und es gefiel mir richtig gut – was für ein angenehmes Gefühl, nicht mehr diese lange Matte ständig im Nacken zu haben! Meine Mutter hingegen war schockiert, wie ich beim nächsten Besuch zu Hause feststellte. Aber ich hatte mich vor meiner Familie nicht geoutet. Noch nicht. Also hatte ich ihr einfach gesagt, dass ich gern eine Veränderung wollte, nach den vielen Jahren mit langen Haaren.
Zum Himmel, warum das nur so schwer mit dem Outen? Aber Antworten hatte ich darauf genug. Ich dachte an ein Erlebnis zurück, das ich erst kürzlich gehabt hatte. In Bergedorf hatte ich eine Kommilitonin besucht, um gemeinsam mit ihr für die Uni zu lernen. Auf der Fahrt nach Hause war ich in der S-Bahn unfreiwillig Zeugin eines Gesprächs geworden, das mich tierisch aufgeregt hatte.
Ein Mann von ungefähr siebzig hatte auf das Display des Fahrgastfernsehens gedeutet. »Was bedeutet das da?«
Seine Begleitung, ein jüngerer Mann, hatte gleichmütig erwidert: »Das ist die Pride-Flagge.«
»Von den Homosexuellen?«
»Ja, genau.«
»Also, das werden ja auch immer mehr! Und dann machen sie jedes Jahr so einen Lärm mit ihrer Parade! Da kannst du ja gar nicht mehr in die Stadt gehen.«
An den Rest des Gesprächs wollte ich lieber nicht mehr denken, aber ich wusste noch ganz genau, wie ich innerlich vor Wut gekocht hatte. Diesem alten weißen hetero Mann hätte ich zu gern mal meine Meinung gesagt. Aber ich bekam den Mund nicht auf. Stattdessen war ich bei der nächsten Station aufgestanden, so als ob ich den Wagen verlassen wollte und hatte mich mehrere Reihen weiter entfernt wieder hingesetzt.
Ich sah nun noch einmal zu der Gothic hinüber. Sie hatte mittlerweile schwarze Kopfhörer im Ohr und sah aus dem Fenster, hinter dem es allerdings komplett dunkel war, abgesehen von einzelnen Lichtern der vorbeiziehenden Häuser. Unsere Blicke trafen sich in der Spiegelung der Scheibe und ich schaute schnell weg. Zu abrupt, bestimmt war ihr das aufgefallen. Mit einem Mal hatte ich verschwitzte Hände und mir wummerte das Herz in der Brust. Himmel, warum brachte mich eine fremde Person so durcheinander? An der Sternschanze standen die beiden Leute auf, die mir gegenüber gesessen hatten. Die Frau mittleren Alters neben mir putzte ihre Brille mit einem Tuch, steckte beides wieder weg und tippte auf ihrem Handy herum. An der nächsten Station, Holstenstraße, stieg sie aus. Nun saßen nur noch die Gothic und ich in diesem Bereich des Wagens.
Eine Bierfahne wehte heran, der schwere Schritte folgten. Ich erstarrte. Das hatte mir gerade noch gefehlt … Es war nicht das erste Mal, dass ich in einer U- oder S-Bahn einem Betrunkenen begegnete. Wenn es sich irgendwie machen ließ, stand ich dann auf und setzte mich woanders hin. Die mittlerweile durchgehenden Wagen der S-Bahnen erleichterten das.
»Na, Süße?«, fragte der Kerl die Gothic. Er trug eine speckige Lederjacke und hatte schon graue Strähnen im dunklen Haar. »Läufst immer so rum, oder ist heute Halloween?« Er lachte dreckig über seinen eigenen Witz und setzte sich ihr gegenüber.
Sie sagte nichts, sah auf ihr Handy. Aber ich konnte sehen, wie sie den Mund verzog.
»Ach nee, du bist eine von denen …«, rief der Kerl und deutete auf den Regenbogenbutton. Ich werde nicht wiederholen, was er ihr danach an Queerfeindlichkeiten an den Kopf warf.
In meinem Magen bildete sich ein schmerzhafter Knoten, als ich seine Tiraden hörte. Plötzlich fiel mir ein Cartoon ein, den ich neulich online gesehen hatte. Er zeigte eine Belästigung und gab Tipps für Zivilcourage. Einen Augenblick lang zögerte ich. Dann nahm ich meinen ganzen Mut zusammen, stand auf und setzte mich direkt neben die Gothic, die mich überrascht anblickte.
»Hallo, Sandra!«, sprach ich sie an, mit dem erstbesten Namen, der mir einfiel. Und dann sprudelten die Worte nur so aus mir hervor. »Ich hab dich eben nicht gleich erkannt, aber wie schön, dich zu treffen. Wie geht es dir?«
Sekundenlang antwortete sie nicht. Ich hatte schon die Befürchtung, dass es eine ganz schlechte Idee gewesen war, mich einzumischen. Auf den Typen achtete ich nicht weiter, auch das war ein Tipp aus jenem Cartoon gewesen, wie man bei einer Belästigung vorgehen konnte.
Aber dann lächelte mich die Gothic an. »Ja, danke, mir gehts gut. Und dir? Bist du auf dem Weg zu einer Party?«
»Nein, ich war gerade im Kino, mit Thomas.«
»Ah, cool. Und welchen Film habt ihr gesehen?«
Das eröffnete nun weiteren Gesprächsstoff, ich berichtete von dem Marvel Film, natürlich ohne zu spoilern.
Der Typ musterte uns mit gerunzelter Stirn, sagte aber nichts mehr. Stattdessen packte er eine Bierflasche aus, öffnete den Bügelverschluss mit einem »Plopp« und trank. Wieder schwappte Bierdunst zu mir herüber. Ich mochte den säuerlichen Geruch nicht. Es war verboten, in den Öffis Alkohol zu trinken, aber darauf würde ich ihn nun gewiss nicht hinweisen. Stattdessen vertiefte ich mich weiter in das Gespräch über den Film und »Sandra« stellte mir einige Fragen.
An der Endstation Altona stand der Kerl auf, murmelte noch irgendetwas und verließ die Bahn. Erleichtert atmete ich auf.
»Danke dir«, sagte sie. »Das hatte mir heute Abend gerade noch gefehlt.«
Ich lächelte sie an und stand auf. »Gern geschehen.«
»Komm gut nach Hause«, wünschte ich ihr, während wir ebenfalls ausstiegen.
»Danke, du auch.«
Ich sah ihr nach, als sie in der Schalterhalle mit den Geschäften auf den Ausgang zum Paul-Nevermann-Platz zustrebte. Ich musste in die entgegengesetzte Richtung. Mist … Warum hatte ich nicht nach ihrem Namen gefragt, oder nach ihrer Handynummer? Weil du zu schüchtern bist, Billie …, ging es mir durch den Kopf. Na, toll! Ich hatte mal wieder eine Chance verpasst, jemanden kennenzulernen. Andererseits – vielleicht wäre ihr nach der Belästigung in der S-Bahn gar nicht danach zumute gewesen, mir, einer fremden Person, ihre Handynummer anzuvertrauen?
Nachdenklich ging ich nach Hause. Mein Mitbewohner Enno hatte es sich mit einem Glas Cider auf der Couch im Wohnzimmer bequem gemacht. Er las eine Graphic Novel.
»Hey, Billie. Wie war der Film?«
»Ich fand ihn gut …«
»Wehe, du spoilerst! Ich will den auch noch sehen«, sagte er mit einem breiten Grinsen.
»Mach ich nicht, keine Sorge.« Ich setzte mich zu ihm auf die Couch und beschrieb ihm ein wenig meinen Eindruck von dem Film. »Aber du glaubst nicht, was mir auf dem Heimweg passiert ist…« Ich erzählte Enno die Begegnung mit der Gothic in allen Einzelheiten. Er lauschte schweigend und trank seinen Cider. »Und nun ärgere ich mich, dass ich diese Person weder nach dem Namen noch der Handynummer gefragt habe«, sagte ich am Ende.
»Wieder das Problem mit der Schüchternheit, hm?«, fragte er mitfühlend. »Und Hamburg ist ja nicht gerade ein Dorf. Du wirst sie vermutlich nie wiedersehen. Außer vielleicht, falls sie auch an der Uni studiert. Und selbst dann wäre es Glückssache.«
»Jep«, erwiderte ich mit einem Seufzen. »Ich habs vermasselt.«
Enno zuckte lässig mit den Schultern. »Mach dir nichts draus. Du lernst bestimmt noch mehr nette Leute kennen.«
Der hatte gut reden. Er hatte einen großen Freundeskreis und war im Gegensatz zu mir ein sehr geselliger Mensch. Mir fiel es schon schwer, fremde Menschen überhaupt anzusprechen. Wenn ich der Gothic nicht wegen der Belästigung hätten helfen wollen, hätte ich es nie gewagt, mich direkt neben sie zu setzen und sie in ein Gespräch zu verwickeln.
Die Gothic-Person mit dem Regenbogenbutton ging mir auch in den nächsten Tagen nicht aus dem Kopf. Also machte ich das, was ich meistens tat, wenn mich Menschen interessierten: Ich fertigte mit meinem Zeichentablet ein Portrait von ihr an, aus dem Gedächtnis. Der Stil war eine Mischung aus dem meiner Graphic Novels und meiner Cartoons, die ich bei Twitter und Instagram teilte. Aber dieses Portrait teilte ich dort nicht. Es war ein wenig stilisiert, wie die meisten meiner Zeichnungen, aber ich fand, dass man die Person gut wiedererkennen konnte – ein blasses Gesicht, dunkelgeschminkte Augen mit langen Wimpern, dazu das schwarz-violette Haar und der einzige Farbtupfer darüber hinaus war der Regenbogenbutton, der sich bunt von der schwarzen Kleidung abhob. Ich musste mich davon abhalten, in den leeren Hintergrund einen pastellfarbenen Regenbogen mit weichen Farbverläufen zu setzen – das wäre wohl doch zu viel des Guten gewesen. Oder zu bunt für eine Gothic.
Ich sprach auch mit meiner Mitbewohnerin Sandy über die nächtliche Begegnung in der S-Bahn. Ich zeigte ihr den Cartoon über Zivilcourage.
Sandy strahlte. »Super Idee! Das merke ich mir. Und freut mich für dich, dass das so gut geklappt hat.«
»Ja, ich war selbst überrascht«, gab ich zu. Ich zeigte Sandy das Portrait von der Unbekannten.
Sie lächelte. »Aww, das ist cute.«
»Ich würde sie echt gern wiedersehen, aber ich habe keine Ahnung, wie.«
»Weißt du, ob sie an der Uni studiert? Dann könntest du dort einen Aushang machen oder so?«
Als ob ich mich das trauen würde … Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, darüber haben wir nicht gesprochen.« Stattdessen hatte ich sie über den Marvel Film zugetextet.
»Ach, schade. Aber mir fällt gerade ein, ich habe neulich was auf Twitter gesehen, da hat jemand aus Berlin eine Person gesucht. Die beiden saßen nebeneinander im Theater oder so. Wäre das nicht eine Möglichkeit?«
Ich stand von meinem Schreibtisch auf und strahlte sie an. »Darf ich dich knuddeln? Das ist ist eine tolle Idee!«
Sandy zog mich lachend in eine Umarmung. »Du könntest das Portrait an den Tweet hängen. Und eines von dir?«
»Ich weiß nicht, ob ich mich das traue«, murmelte ich.
»Wäre aber besser. Dann teilen das bestimmt mehr Leute und die Chancen stehen besser, dass sie den Tweet sieht, oder vielleicht jemand aus ihrem Umfeld. Und du kennst ja das olle Sprichwort - Das Glück ist mit den Mutigen. Trau dich, Billie. Du hast nichts zu verlieren.«
Das war allerdings wahr. »Danke für den Pep-Talk. Okay, ich machs. Es wird eh nichts bringen. Aber dann habe ich es wenigstens versucht.«
»Sehr gut! Ich teile das dann auch. Ich drück dir die Daumen, Billie. Vielleicht hast du ja Glück.«
Die nächste Dreiviertelstunde verbrachte ich damit, mir den Kopf zu zerbrechen, wie ich den Tweet formulieren sollte. Das machte ich lieber an meinem Notebook als am Handy, das Tippen fiel mir dort leichter. Der Tweet sollte weder zu enthusiastisch sein, noch wollte ich darin Komplimente schreiben, die sie vielleicht gar nicht hören wollte. Ich setzte immer wieder an und fluchte. 280 Zeichen waren wirklich nicht viel, und wie sollte ich das schreiben, ohne wie ein Creep zu klingen? Also beschränkte ich mich am Ende auf die sachlichen Details. Den queerfeindlichen Kerl mit der Bierfahne erwähnte ich lieber gar nicht.
Ich möchte dich gern wiedersehen, wenn du magst. Wir haben uns am 27.04. nachts um halb eins in der S31 auf dem Weg nach Altona über den neuen Marvel Film unterhalten. Ich habe ein Portrait von dir gezeichnet, das andere zeigt mich. Schreib mir gern eine DM.
DM war die Abkürzung für Direct Message, dies war mit dem Messengerdienst von Twitter verbunden. Dazu setzte ich den Hashtag #Hamburg und ein »gern retweeten«, also dass Leute meinen Tweet teilen sollten.Von den möglichen 280 Zeichen waren nur noch ein paar übrig, zu wenig, um noch mehr zu schreiben. Also beließ ich es dabei. Dann hängte ich ihr Portrait an und ein Selbstportrait, das ebenfalls in meinem Graphic-Novel Stil gehalten war. Meine Frisur und Haarfarbe passte noch und auf meiner Lieblingsjacke war auch der Nonbinary-Button zu erkennen.
Ich teilte den Tweet mit allen Leuten, denen ich vertraute, auch Sandy und Enno, später mit einigen Bekannten auf Threema und in einer Kommiliton_innen-Whatsapp-Gruppe. Ich versprach mir nicht viel davon; auf Twitter folgte ich rund 250 Leuten und hatte weniger als 300 Follower. Vermutlich würde mein Tweet einfach in den Weiten des Twitterverse untergehen …
Ich war danach echt hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich wissen, was nun mit dem Tweet passierte. Andererseits traute ich mich nicht, ständig nachzusehen. Also setzte ich ihn in meine Lesezeichen und schaltete die Benachrichtigungen für Twitter aus. Zumindest für diesen Abend.
Auch am Montagmorgen schaute ich nicht nach, bevor ich mich auf den Weg zur Uni machte. Webdesign stand heute an. Die Dozentin erklärte uns HTML, Cascading Style Sheets und weitere Dinge rund ums Programmieren von Webseiten. Eigentlich ein spannendes Thema, aber an diesem Tag hörte ich ihr nur mit halben Ohr zu, weil ich wieder an den Tweet und die Gothicperson denken musste. Nach dem Kurs sprach mich eine Kommilitonin an, die auch in unserer studentischen Whatsapp-Gruppe war. »Hey, Billie, ich hab deinen Tweet gesehen. Ich kenne die Person nicht, aber ich wünsche dir viel Glück, dass sie sich meldet!«
»Danke, Feyza, lieb von dir.«
»Hey, sag mal, nimmst du auch Aufträge entgegen, für Portraits? Ich mag deinen Stil. Und würde meiner Schwester gern ein Portrait von ihr schenken.«
»Oh. Ach so.« Ich war ein wenig überrumpelt, denn ich hatte bisher nicht nach Auftrag gezeichnet. Aber warum eigentlich nicht? »Ja, ist gut … Lass uns nachher schreiben, okay?«
»Prima.« Feyza strahlte mich an. »Bis dann.«
Ich aß mein Mittagessen in der Mensa, setzte mich in eine der Nischen, weil ich allein sein wollte. Dort klappte ich meinen Laptop auf, um einige Bilder zu sortieren. Nach wenigen Minuten schaute ich doch bei Twitter nach und starrte verblüfft auf das Display. Der Tweet war über tausend Mal geteilt worden und es gab sehr viele Kommentare, viele davon mit Emojis – Herzen in unterschiedlichen Farben, Sterne, die Rainbow Pride Flagge und noch andere.
Aww, ist das süß!
Viel Glück bei der Suche!
Hach, das ist so romantisch!
Yeah, Nonbinary Pride!
#QueerGoths! Alles Gute für euch!
Ihr seht beide cute aus, alles Liebe!
Aber ich entdeckte auch mehrere queerfeindliche Reaktionen und es waren auch einige Trolle dabei, die entweder queere Menschen oder den Gothic-Style beleidigten. Mir wurde flau im Magen. Mit einem Mal war mir der Appetit vergangen. Ich blockierte die Troll-Profile.
Danach trank ich einen Schluck und schaute in meine Twitter-Nachrichten. Wow … Ich hatte 22 Anfragen. Bei einigen davon sah ich schon an den ersten Worten, dass es sich garantiert um Trolle handelte, die mich queerfeindlich beleidigen wollten. Auch die blockierte ich.
Eine Person schrieb: Moin! Ich kenne die gesuchte Person leider nicht, aber nimmst du Aufträge für Portraits an? Dein Stil ist mega. Genau das, was ich suche.
Fünf weitere Leute fragten ebenfalls nach Portraits von mir, manche auch mit einigen speziellen Wünschen, wie sie gern abgebildet werden wollten. Ich war sprachlos. Erst Feyza und nun diese Twitter-Nutzer_innen. Meine ersten Aufträge überhaupt, wie geil war das denn bitte?
Aber die von mir ersehnte Nachricht von der einen Person, die ich suchte, war nicht dabei. Die übrigen, die mir geschrieben hatten, beglückwünschten mich zu meinem Mut und drückte mir die Daumen, dass meine Suche erfolgreich sein würde.
Einer dieser Menschen machte mir Hoffnung, fragte: Darf ich dein Gesuch in der Facebook-Gruppe »Schwarzes Hamburg« teilen? Das ist eine große Hamburger Gruppe für Gothics. Vielleicht ist sie auch in der Gruppe, wer weiß?
Ich musste nicht lange überlegen. Ja, mach das gern, vielen Dank!, schrieb ich zurück. Als Antwort kam Daumen sind gedrückt! und ein Smiley.
Als nächstes antwortete ich allen, die nach einem Portrait gefragt hatten, dass ich sehr gern etwas für sie zeichnen würde. Daraus ergab sich im Laufe des Tages einiges an Austausch mit Textnachrichten.
Schon am Abend begann ich mit dem ersten Portrait. Zwischendurch sah ich nach neuen Reaktionen auf mein Gesuch. Noch mehr Trolle mit Beleidigungen, noch mehr Queerfeindlichkeit. Sollte ich den Tweet lieber löschen? Mein Finger schwebte schon über dem entsprechenden Button. Aber weitere liebe Kommentare hielten mich letztendlich davon ab; sie machten mir Mut.
Am folgenden Tag erreichten mich weitere Nachrichtenanfragen, doch die gesuchte Person war nicht darunter. Stattdessen bekundeten weitere Leute Interesse an einem Portrait. Ich bedankte mich und vertröstete sie auf später.
Zwei Tage später klickte ich wieder auf meine Nachrichtenanfragen, obwohl ich die Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatte.
Eine Sonja96 schrieb mir: Hallo, ich habe dein Gesuch in der Facebookgruppe »Schwarzes Hamburg« gesehen. Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher, aber eine Freundin von mir ist in der Gothic Szene und sie sieht deinem Portrait ähnlich. Sie ist aber weder auf Facebook noch auf Twitter. Wenn du magst, frage ich sie, ob ich dir ein Foto von ihr zeigen darf.
Mein Herz klopfte mit einem Mal schneller. Ja, mach das gern, schrieb ich ihr zurück. Danach hieß es warten. Die Minuten tropften zäh dahin. Ich versuchte mich mit einer Aufgabe aus meinem Studium abzulenken, die ich am Rechner erstellte, konnte mich aber kaum konzentrieren. Stattdessen schaute ich alle paar Minuten bei Twitter nach, ob Sonja96 mir wieder geschrieben hatte.
Ihre nächste Nachricht kam rund eine Stunde später. Elena ist einverstanden. So sieht sie aus …
Nun folgte ein Foto. Elena war blass geschminkt, mit dunklen Smoky Eyes und einem schwarzen Lippenstift. Sie lachte dem Betrachter entgegen und ich erkannte sie auf Anhieb.
In meinem Magen kribbelte es und meine Finger zitterten, als ich Sonja96 zurückschrieb. Das ist sie. Ich freue mich sehr. Danke dir.
Nicht dafür. Elena ist übrigens auch einverstanden, dass ich dir ihre Handynummer schreibe. Wenn du das möchtest?
Das bejahte ich. Zehn Minuten später kam die erste Textnachricht von Elena. Als erstes nannten wir uns gegenseitig unsere Pronomen – Elena nutzte sie, ich xier oder das englische they.
Ich freue mich, dass du nach mir gesucht hast, schrieb sie mir. Ich hätte mich das nicht getraut. Sonja sagt mir immer, ich bin so schüchtern. Und sie hat recht. Das Portrait finde ich übrigens klasse. Ich meine beide.
Aww, danke. Ich nahm allen meinen Mut zusammen. Wollen wir uns mal treffen?
Sehr gern. Ein Smiley-Emoji folgte. Kennst du das »Würfeln wir«?
Diese Kneipe befand sich im Univiertel. Sie war ein beliebter Treffpunkt für Studierende, Rollenspielende, Gothics und Geeks. Manche von ihnen bezeichneten das Würfeln Wir liebevoll als zweites Wohnzimmer und kürzten es gern ab mit »WW«.
Na klar, schrieb ich zurück. Lass uns gern dort treffen.
Wir einigten uns auf den Freitag der folgenden Woche.
Jetzt kann ich mein Gesuch wieder löschen, schrieb ich. Ich habe eine ganze Menge Nachrichten bekommen. Sogar Portraitaufträge.
Von dem queerfeindlichen Mist und den Trollen erzählte ich lieber nicht. Wenn Elena weder auf Twitter noch Facebook war, bekam sie davon vielleicht nicht so viel mit.
Ein breit grinsender Smiley kam als Antwort. Das ist ja klasse. Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, mich wie eine Freundin anzusprechen, als mich dieser Kerl in der S-Bahn belästigt hat?
Die Idee stammt nicht von mir, gab ich zu. Warte mal kurz.
Ich suchte den Cartoon heraus, der mich dazu inspiriert hatte, und schickte ihr den Link.
Ihre Antwort kam kurz darauf. Ah, ich verstehe. Sehr gut!
Wir schrieben noch eine Weile hin und her, dann verabschiedete sie sich und schlug vor, dass wir uns am folgenden Tag wieder schreiben könnten.
Sehr gern, ich freue mich, antwortete ich.
Ich löschte mein Gesuch auf Twitter und schrieb einen neuen Tweet: »Vielen Dank an alle, die mein Gesuch mit den beiden Portraits geteilt haben. Ich habe die gesuchte Person nun tatsächlich gefunden.«
Auch daraufhin bekam ich einige liebe Kommentare und die Trolle blieben glücklicherweise still.
Am Abend unserer Verabredung setzte ich mich am ZOB in Altona in Bus 15. Der war recht voll, wie zu erwarten an einem Freitagabend. Ein kräftig gebauter Mann setzte sich neben mich. Mittlerweile war es längst dunkel und Regentropfen perlten von den Fensterscheiben des Fahrzeugs, während erleuchtete Fenster und Straßenlaternen etwas Licht in die Dunkelheit warfen.