Die Wandlung des Günther N. - Bettina Stein - E-Book

Die Wandlung des Günther N. E-Book

Bettina Stein

4,7

Beschreibung

Günther Natschke wünscht sich vor allem eins: Ruhe und Frieden. Als ungeliebter Sohn einer strengen und gefühlskalten Mutter ist er nicht in der Lage, Bindungen zu echten Menschen aufzubauen. Da er wie jeder andere Mann auch ein Bedürfnis nach Liebe hat, beschließt er, sich eine lebensechte Silikonfrau zuzulegen und mit ihr sein Leben zu teilen. Leider währt das Glück nicht lange....

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Das Buch

Günther Natschke wünscht sich vor allem eins: Ruhe und Frieden. Als ungeliebter Sohn einer strengen und gefühlskalten Mutter ist er nicht in der Lage, Bindungen zu echten Menschen aufzubauen. Da er, wie jeder andere Mann auch, ein Bedürfnis nach Liebe hat, beschließt er, sich eine lebensechte Silikonfrau zuzulegen und mit ihr sein Leben zu teilen. Leider währt das Glück nicht lange...

Die Autorin

Bettina Stein, 1961 geboren und studierte Sozialarbeiterin, Musikerin und Gärtnerin aus Leidenschaft schreibt vor allem Kurzgeschichten und Songtexte. Dieses ist ihr erster Roman.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

1

Ich arbeitete in der Buchhaltung. Ich hatte mit meiner Mutter zusammengelebt, bis sie starb. Meine Mutter war eine strenge Frau, sie trug Zeit ihres Lebens einen Knoten und ein Kostüm. Sie war Finanzbuchhalterin in einer großen Firma und ihr einziger Ausrutscher war eine kurze Liaison mit dem Abteilungsleiter. Daraus war ich entstanden. Sie hatte mir das nie verziehen und war entsprechend kühl. Ich hatte nicht viel zu lachen in meiner Kindheit, alles ging immer nach Plan und es gab niemals die geringste Abweichung. Unsere Wohnung war klein, ich schlief in der Küche. Viel lieber hätte ich bei meiner Mutter geschlafen, doch das ließ sie nicht zu. Nie. Ihr Schlafzimmer war ungeheizt und roch muffig. Dennoch, immer wenn ich diesen muffigen Schlafzimmergeruch irgendwo rieche, durchströmt mich eine große Sehnsucht nach meiner Mutter. Sie schickte mich im Anzug in die Schule, braune Stoffhose, Hemd, Krawatte. Andere Kinder trugen Jeans, ich war schon damals alt.

Als auf meiner Oberlippe ein Flaum zu sprießen begann und die Akne blühte, band sie mir nachts die Hände fest. Aus mir solle ein anständiger Mann werden, der seine Triebe unter Kontrolle habe, sagte sie. Wenn morgens meine Schlafanzughose doch einen klebrigen Fleck hatte, schlug sie mir mit einem Lineal auf den nackten Hintern.

Kurz nach dem Tod meiner Mutter zog eine Dame in die Nachbarwohnung. Sie sah sehr streng aus, trug ihr Haar zum Knoten gebunden und hatte immer ein schwarzes Kostüm an. Ihre Pumps waren ein kleines bisschen zu hoch, um seriös zu wirken, aber sonst war alles tipptopp. Sie bekam Herrenbesuch. Einmal klingelte ein Herr bei mir an der Tür und schaute, als ich ihm öffnete, sehr verwirrt, stammelte etwas und verschwand ganz schnell.

Manchmal konnte ich Wispern auf der Treppe hören und manchmal auch Schreie aus der Wohnung, aber es waren tiefe Schreie, Schreie von Männern.

Mir machte diese Dame Angst und wenn ich sie auf der Treppe traf, schaute ich schnell weg. Nachts allerdings träumte ich von ihr. Ich träumte, von ihr gefesselt und bestraft zu werden und wachte in klebrigen Laken auf. Schuldbewusst wartete ich innerlich auf die Schläge mit dem Lineal, bis mir klar wurde, diese Schläge würden niemals wieder kommen. Meine Mutter war tot. Punkt.

Seit ihrem Tod schlief ich in Mutters Schlafzimmer. Ich hatte alles unverändert gelassen, nur das Schlafsofa aus der Küche hatte ich dem Sperrmüll übereignet. Einen Teil ihrer Kleidung gab ich an das Rote Kreuz. Die Unterwäsche behielt ich und manchmal zog ich sie an. Es war erregend und abgrundtief peinlich zugleich. Einmal klingelte es an der Tür, als ich in ihrer Wäsche vor dem Spiegel stand. Ich stellte mir vor, es wäre die Dame aus der Nachbarwohnung und starb fast vor Angst. Ich fühlte mich erwischt und bloßgestellt und musste mir immer wieder sagen, dass mich ja in Wirklichkeit niemand gesehen hatte.

Danach putzte ich die Wohnung auf den Knien mit der Zahnbürste, um zu büßen.

Meine Arbeitskollegen hielt ich auf Abstand. Sie wunderten sich nicht, denn sie kannten mich nicht anders. Ich habe meine Mutter mit ihrer Stelle beerbt und alle anderen Kollegen kamen nach mir. Ich galt als korrekt, humorlos und langweilig, eben ein typischer Buchhalter. Mir machte es nichts, diesem Klischee zu entsprechen. Ich wollte nichts von anderen Menschen, sie waren mir suspekt, ich hatte Angst. Meine Mutter hatte schon ganz Recht, sie hat mir diese Angst vor anderen Menschen schließlich meine ganze Kindheit und Jugend lang eingeimpft. Nähe konnte ich nicht empfinden. Es war und ist für mich ein abstrakter Begriff.

Und doch, manchmal, ganz im Geheimen hatte ich Wünsche, die ich mir selbst nicht erfüllen konnte.

Eines Tages klingelte es an meiner Tür. Die Post war schon lange durch und sonst klingelte nie jemand an meiner Tür. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich ging trotzdem öffnen und vor mir stand meine strenge Nachbarin.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung, würden Sie so freundlich sein und mir den Keller aufschließen?“, fragte sie mich.

„Ja natürlich, Moment.“ Ich nahm den Schlüssel vom Haken und ging voraus die Treppe hinunter in den Keller. Sie folgte mir.

„Ich habe mich ausgeschlossen. Aber ich habe einen Reserveschlüssel im Keller und den Schlüssel zu meinem Kellerabteil trage ich immer an einer Kette im Ausschnitt.“ Das „Aus“ von Ausschnitt hauchte sie mehr, als dass sie sprach.

Ich schloss die Kellertür auf und wandte mich zum Gehen.

„Vielen Dank“, sagte sie. „Ich werde mich revanchieren.“

Dabei strich sie zart mit ihrer Hand über meinen Arm. Ich erstarrte innerlich. So hatte mich noch niemand berührt.

Ich hatte Angst. Ich wollte mehr. Die Angst überwog. Schnell ging ich die Treppe hinauf in meine Wohnung und machte die Tür hinter mir zu.

Ausgerechnet diese Frau. Diese abgrundtief verwerfliche Frau. Oh, ich wusste, was sie tat. Sie ließ sich bezahlen von Männern, die gequält werden wollten. Ich hatte von diesen jämmerlichen Kreaturen gehört. Und ich hörte sie schreien. Es war abstoßend!

Alles in mir war in Aufruhr. Ich schwitzte, meine Haut juckte und mein Hintern tat weh wie nach den Lineal-Attacken meiner Mutter. Ich nahm das Lineal aus der Küchenschublade, in der es immer noch verwahrt war. Ich ließ meine Hose herunter und schlug mich damit, dreimal, viermal, immer fester. Ich rannte ins Bad und wusch mir die Arme. Dann wurde ich ruhiger.

In der Nacht träumte ich von meiner Mutter. Sie schaute auf mich herab und lächelte. Dann wurde ihr Gesicht zum Gesicht der Nachbarin. Sie streichelte meine Wange und verschwand. Ich war sehr erregt, als ich aufwachte. Ich konnte das nicht ignorieren, es tat weh. Ich nahm einen Nylonstrumpf aus der Schublade und zog ihn über meinen Kopf. Einen anderen Nylonstrumpf zog ich über mein Glied und kam im selben Augenblick. Danach brauchte ich wieder das Lineal. Ich war schmutzig und böse.

Als ich eines Abends von der Arbeit kam, stand die Tür der Dame offen. Mit Herzklopfen warf ich einen Blick hinein. Eine ganz normale Wohnung. Zumindest der Flur, denn mehr konnte ich nicht sehen. Eine Flurgarderobe, ein Schlüsselbord, eine gemusterte Tapete. Alles war so altbacken, wie in meiner Wohnung. Ich stellte mir ein plüschig rotes Zimmer vor, doch es war alles ganz normal. Ich trat einen Schritt näher. Warum wohl war die Tür geöffnet?

„Hallo“, rief ich zaghaft. „Hallo, ist jemand zu Hause?“ Keine Antwort. Ich ging langsam in den Flur auf die Tür zu, hinter der in meiner Wohnung das Wohnzimmer wäre. Ich klopfte an die Tür, nichts. Ich trat ein und dort sah ich die Dame auf dem Boden liegen. Ihr Bein war ganz verdreht und neben dem Fenster stand eine Trittleiter. Ich sprang zu der Frau auf dem Boden, tätschelte vorsichtig ihre Wange und sprach sie an. Sie öffnete mühsam die Augen und hauchte:

„Ich muss ohnmächtig geworden sein. Au! Bitte rufen Sie einen Arzt, ich glaube, ich habe mir den Fuß gebrochen.“

Ich fand das Telefon und wählte den Notruf. Ein Notarzt würde gleich da sein, sagte man mir.

„Ich habe es gerade noch geschafft, zur Tür zu humpeln und sie zu öffnen, da ich ja weiß, dass Sie von der Arbeit kommen.“

„Schscht“, machte ich. „Ganz ruhig“

Da klingelte es auch schon an der Tür und der Notarzt war da.

Meine Nachbarin wurde auf eine Trage gelegt und mit dem Krankenwagen in die Klinik gefahren.

„Bitte gießen Sie meine Blumen“, sagte sie noch im Flur zu mir und wies auf den Wohnungsschlüssel am Bord.

Zurück in meiner Wohnung atmete ich tief durch. Ich zitterte immer noch ein wenig und war verwirrt. Noch nie hatte ich einem Menschen, der nicht meine Mutter war, geholfen. Ich tat das ganz selbstverständlich, obwohl es das erste Mal war.

Ich hatte ihren Wohnungsschlüssel. Ich durfte ausdrücklich die Wohnung betreten, ich musste schließlich die Blumen gießen. Sie würde doch sicher auch Sachen im Krankenhaus brauchen, Kleidung, Zahnputzzeug und so. Das konnte ich zusammen packen, das hatte ich für Mama auch getan. Also ging ich in ihre Wohnung zurück und betrat ihr Schlafzimmer. Ein ganz normales Bett. Ein ganz normaler Schrank. Ich fand im Schrank eine Tasche und packte ein wenig Wäsche ein, ein Nachthemd, Morgenmantel, Hausschuhe. Alles lag oder hing ordentlich im Schrank und war leicht zu finden. Dann ging ich ins Badezimmer. Auch alles ganz normal. Ich nahm Zahnputzzeug, Waschzeug und Bürste, packte sie in die Tasche. Ich konnte mir gar nicht mehr vorstellen, dass meine Nachbarin eine Domina war. Domina, das hatte ich gelesen, so nennt man diese Damen.

Am nächsten Morgen fuhr ich noch vor der Arbeit ins Krankenhaus und brachte ihr die Tasche. Sie lag mit zwei anderen Damen im Zimmer, ihr Fuß war an einem Band hochgezogen und eingegipst.

„Mein Retter“, sagte sie, als sie mich in der Tür sah. Ich stellte schüchtern die Tasche auf ihr Bett.

„Ich muss eine Weile hierbleiben, der Bruch ist kompliziert. Wie geht es meinen Blumen?“

„Äh...“, stammelte ich. „Ja, ich kümmere mich darum. Ich muss wieder los, ich muss zur Arbeit.“ Und war schon aus der Tür.

Draußen vor dem Krankenhaus bekam ich eine Panikattacke. Ich rang nach Luft, zitterte am ganzen Körper, schwitzte. Mir war so schwindelig, dass ich mich setzen musste. Als mich eine vorbeikommende Schwester ansprach und an der Schulter berührte, begann ich zu schreien und wurde kurze Zeit später ohnmächtig. In der Ambulanz erwachte ich. Ein Arzt fragte nach meinem Befinden. Ich wollte sofort aufstehen, doch er hielt mich zurück. „Ich habe Ihnen eine Spritze gegeben, damit Sie sich beruhigen. In einer Stunde dürfen Sie aufstehen, aber jetzt müssen Sie noch liegen bleiben, da Sie sonst stürzen könnten. Ich bin Doktor Hundskötter.“

Ich atmete tief durch. „Ich muss zur Arbeit. Ich habe dort noch nie gefehlt.“

„Ich schreibe Sie ein paar Tage krank“, sagte der Doktor. „Haben Sie diese Panikattacken öfter?“

Ich mochte es nicht, wenn man mir Fragen stellte und ich hätte am liebsten nicht geantwortet. Aber meine Mutter hatte immer darauf bestanden, Respektspersonen zu folgen. Und ein Doktor war eine Respektsperson. Also gab ich ihm einsilbig Auskunft über meinen Zustand und versicherte, das sei das erste Mal, dass mir das passierte.

Ich lag noch eine Weile, zwischendurch brachte mir eine Schwester einen Kaffee, dann durfte ich nach Hause.

Dort putzte ich meine ganze Wohnung und ging dann zur Nachbarwohnung, um die Blumen zu gießen.

Wirklich seltsam, diese Wohnung war meiner eigenen sehr ähnlich. Einfach der gleiche Stil. Und nichts, wirklich nichts deutete darauf hin, dass hier in dieser Wohnung eine Frau damit Geld verdiente, Männern ihre masochistischen Wünsche zu erfüllen. Konnte das denn sein, konnte ich mich so geirrt haben? Ich hatte sie doch gehört, diese Männer. Nicht nur einmal. Konnte ich meinen eigenen Sinnen nicht trauen? Diese Wohnung war mir so vertraut, dass ich mich darin überhaupt nicht fremd fühlte. Ich goss die Blumen, knipste ein paar vertrocknete Blätter aus und warf sie in der Küche in den Abfallkübel. Dann öffnete ich den Kühlschrank und nahm all das heraus, was in den nächsten Tagen verderben würde. Ich spülte ein paar Teller ab, lüftete noch einmal und ging dann in meine Wohnung, nachdem ich den Müll heruntergebracht hatte und alles wieder abgeschlossen war. Meine Angst war verflogen. Ich hatte plötzlich eine Nachbarin, die mir vertraut war. Ivana Kosic hieß sie, das hatte ich an der Klingel gelesen. Das klang nach Balkan. Kroatien, tippte ich. An ihrer Sprache hörte man das nicht und auch ihr Aussehen war ziemlich deutsch.

Es war nachmittags mitten in der Woche, ich war ja nicht zur Arbeit gegangen und fühlte mich auf einmal sehr seltsam und deplatziert in meiner Wohnung. Um diese Zeit saß ich normalerweise in meinem Büro und addierte lange Zahlenkolonnen. Der Arzt im Krankenhaus hatte mich noch drei Tage krankgeschrieben und ich wusste schon jetzt nichts mit meiner Zeit anzufangen. Es ging mir gut, von der Panikattacke am Morgen war nichts mehr übrig. Aus lauter Langeweile öffnete ich meinen Wohnzimmerschrank. Ich begann in alten Papieren zu blättern, in Büchern, Zeitschriften. Und auf einmal kam mir das ganze Zeug so nutzlos vor. Es lag dort unverändert, seit meine Mutter gestorben war. Das ist jetzt drei Jahre her. Ich holte einen Karton aus der Abstellkammer und sortierte den alten Papierkram hinein. Am Ende des Nachmittags war der Karton voll und so schwer, dass ich ihn kaum heben konnte. Ich schleppte ihn die Treppen hinunter zum Papiercontainer. Hinein damit! Es tat gut.

Als ich wieder hoch kam, stand vor Frau Ivana Kosics Tür ein Mann. „Frau Kosic ist im Krankenhaus“, sagte ich zu ihm und wollte in meine Wohnung.

„Warum denn im Krankenhaus - aber das geht doch nicht, ich... ich...“, stammelte er, wurde rot und verschwand.

Ich machte mir mein Abendbrot und aß es vor dem Fernsehen. Dem Fernsehprogramm zu folgen, fiel mir schwer. Es ließ mir keine Ruhe, Frau Kosic bekam Herrenbesuch, daran war kein Zweifel. Und speziell dieser Herr schien Frau Kosic wirklich zu brauchen. Auf mich wirkte er wie ein Junkie unter Entzugserscheinungen. Ich bezeichnete mich bestimmt nicht als der große Menschenkenner, aber das war offensichtlich. Ich wollte mehr erfahren über diese Menschen. In meinem Brockhaus stand nichts darüber. In meinem Büro hatte ich Internetanschluss, aber zu Hause nicht. Ich konnte aber schlecht im Büro „Masochismus“ googeln. Das war undenkbar. In ein Internetcafé zu gehen, konnte ich mir auch nicht vorstellen. Ich brauchte ein Laptop. Und eine Verbindung zum Internet. Meine Mutter hatte mir das immer verboten. Sie wolle so neumodisches Zeugs nicht haben, wie sie sagte. Ich empfand es auch als reichlich übertrieben, nur wegen einer Frage gleich einen Computer zu kaufen, aber es ging nicht anders. Also Mama, entschuldige bitte, aber das musste jetzt sein.

Am nächsten Morgen fuhr ich mit dem Bus in die Stadt. Ich sagte mir, falls ich jemanden aus dem Büro treffen würde, könnte ich sagen, dass ich zum Arzt müsse.

In einem Elektronik-Laden kaufte ich einen Laptop. Ich ging nach Hause und legte los. Ich war überrascht, wie schnell ich im Internet war und googelte „Masochismus“. Gleich der erste Eintrag war von Wikipedia:

„Unter Masochismus versteht man die Tatsache, dass ein Mensch (oftmals sexuelle) Lust oder Befriedigung dadurch erlebt, dass ihm Schmerzen zugefügt werden oder er gedemütigt wird.

Das Gegenstück zum Masochismus ist der Sadismus; Theodor Reik fasst den Masochismus implizit als passiven Sadismus auf...“

So war das also. Beim Lesen begann ich zu schwitzen, mein

Hals juckte und ich musste meine Krawatte lockern.

Ich googelte „Domina“ und kam auf ein paar Bilder. Ich konnte mir immer weniger vorstellen, dass das alles in meiner Nachbarwohnung stattfinden sollte. Wenn ja, wo? Ich hatte doch die Wohnung gesehen. Ich hatte sogar unter das Bett geschaut. Es hätte doch irgendeinen Hinweis geben müssen.

Ich suchte weiter, las und schaute, bis ich erst spät nachts ins Bett ging.

In dieser Nacht träumte ich wieder. Ich stand in Ivana Kosics Wohnzimmertür. Sie hatte mich an Füßen und Händen in den Türrahmen gebunden. Ich trug nichts als meine Krawatte. Ivana saß damenhaft auf dem Sofa und trug ein schwarzes Lederkorsett und trank einen Kaffee. Sie schaute unablässig auf meinen Penis und redete mit ihm. Mein Penis fing auch an zu sprechen und plauderte lauter peinliche Dinge aus, die ich niemals jemandem erzählen würde. Ich stand dabei und konnte mich nicht rühren. Dann stand Ivana auf, zog sich schwarze Lederhandschuhe an und begann meine Eier zu massieren. Sie griff hinein, dass es schmerzte und mit einem Stöhnen wachte ich auf.

Natürlich war meine Hose nass und natürlich musste ich mich bestrafen. Ich verfluchte den Tag, an dem Frau Kosic in die Nachbarwohnung gezogen war.

Nachdem ich mir die Hände gewaschen und das Klo mit einer alten Zahnbürste geputzt hatte, ging ich in die Nachbarwohnung. Ich musste Beweise finden. Ich hielt es sonst nicht aus. Ich kontrollierte die Türrahmen, ob irgendwo Ösen eingeschraubt waren - nichts. Ich untersuchte ihren Schlafzimmerschrank nach Wäsche. Es war, wie bei meiner Mutter, alles ganz normale unerotische Frauenwäsche. Es hingen Kostüme im Schrank, schwarze und graue, ein staubgrauer Mantel und ein kariertes Kleid. Dazu Faltenröcke und eine Hose.

Frau Kosic trug sehr konservative Kleidung wie ich auch. Wie alt sie wohl sein mochte. Ich war jetzt 35, sah aber älter aus. Frau Kosic musste mindestens 50 Jahre alt sein. In einer Sockenschublade fand ich einen Stapel Briefe, die mit einem rosa Band zusammengebunden waren. Absender und Adresse waren in kyrillischer Schrift geschrieben, die ich nicht lesen konnte. Damals in der Schule wurde mal ein Russisch-Kurs angeboten, nun bereute ich, nicht daran teilgenommen zu haben. Briefe konnte jede Frau im Schlafzimmer haben, auch Briefe deuteten nicht auf einen besonderen Beruf hin.

Beruf - war es denn ein Beruf? Konnte „Domina“ eine Berufsbezeichnung sein? Ich wusste einfach zu wenig über solche Dinge. Meine Neugier wurde von Kindheit an im Keim erstickt. Und nun war sie geweckt, diese Neugier und drängte an die Oberfläche. Vielleicht hatte ich ja etwas nachzuholen.

Ich hatte noch nie Sex mit einer Frau. Mama hätte das niemals erlaubt. Und als sie tot war, dachte ich nicht daran. Aber nun, da ich mich mit meiner Nachbarin beschäftigte, fiel es mir als Mangel auf, noch nie Sex gehabt zu haben. Ich versuchte meist, solche Gedanken zu verdrängen, aber in meiner Körpermitte tat sich etwas, immer öfter. Ich wachte mit Bedürfnissen auf, vor denen ich Angst hatte. Meine Mutter hatte immer dafür gesorgt, dass ich mich als schmutzig empfand. Ich habe es gehasst, ans Bett gefesselt zu werden. „Männer sind böse, Männer wollen nur das eine. Werde niemals so ein Mann“, das waren die Sätze, die meine Mutter mir eintrichterte. Aber auch für Frauen hatte sie nicht viel übrig. „Nimm dich vor Frauen in Acht, Frauen wollen nur dein Geld, die schieben dir ein Kind unter, das nicht von dir ist, Frauen sind lüstern und gefährlich, sie wollen dich nur verschlingen. Sex ist schmutzig“. Als Junge stellte ich mir dann Frauen vor mit einem riesigen Mund und großen weißen Zähnen, die mich festbinden, beißen und verspeisen. Da las ich lieber Abenteuerbücher, in denen keine Frauen vorkamen und erzählte meiner Mutter nichts von meinen Gedanken.

Mittlerweile hatte ich wirklich die ganze Wohnung abgesucht und nichts, aber auch gar nichts gefunden, was Frau Kosic kompromittiert hätte. Nebenbei wischte ich bei ihr Staub und sortierte ihre Bücher nach der Größe neu im Schrank ein. Übrigens ganz normale Bücher, Romane von Simmel und Konsalik, Reader's digest und Lexika. In einem Buch las ich etwas länger, es war ein medizinischer Ratgeber für den Hausgebrauch und ich nahm mir die Zeit, die Anatomieseiten genau zu studieren. Ganz hinten im Buch gab es ein Faltblatt mit einer zeitlos schönen Frau. Aufgeklappt sah man die Adern, die Muskeln und Knochen. Hinter den Muskeln konnte man sogar die Organe aufklappen, erst Lunge, Magen und Darm und dahinter eine Gebärmutter mit einem Baby darin, das schon vollständig entwickelt war. So von innen betrachtet hatte eine Frau nichts Sexuelles an sich, es war einfach nur spannend anzuschauen. Leider gab es keinen Mann in diesem Buch. Ich hätte mir gerne noch meine eigenen Organe von innen angeschaut.

Dann goss ich die Blumen, ging zurück in meine Wohnung, machte mir etwas zu essen, sank endlich erschöpft auf mein Sofa und schlief ein paar Stunden. Als ich erwachte, war es Abend geworden.

Ich schaltete mein Laptop an und googelte unanständige Wörter. Alles, was mir einfiel und was ich nie zu fragen wagte. Ich landete bei schoenerwichsen.de und wunderte mich, dass man so eine Seite überhaupt haben darf. Um alles zu sehen, musste man sich anmelden. Davor hatte ich Hemmungen, also las ich nur ein paar Geschichten. Ich war erstaunt. Da breiteten Menschen offen und ohne Hemmungen ihre Sexualität aus.

Meine Mutter hätte so etwas nie geduldet, ich durfte solche Gedanken nicht haben. Das hatte sie zwar nie so gesagt, aber ich wusste das ganz genau. Sie kontrollierte mein Bett bis zu ihrem Tod nach Flecken. Es gab keinen Schlüssel für das Badezimmer. Baden war verpönt, alles im Bad musste schnell gehen. Wenn ich mich darin zu lange aufhielt, stand sie vor der Tür. Sie hatte immer alles unter Kontrolle.

Einmal sind wir zusammen in den Urlaub gefahren. Mit der Bahn in den Schwarzwald. In einer kleinen Pension kamen wir unter, Mutter hatte zwei Einzelzimmer gebucht. Alles war sehr einfach, aber es gefiel mir. Die Wirtin war eine rundliche, lebenslustige Frau und kochte gut. Ich durfte den Kuhstall erkunden, nachdem die Wirtin Mama gut zugeredet hatte. Das erste Mal in meinem Leben tat ich etwas ohne ihre Aufsicht. Ich stromerte den ganzen Tag auf dem Bauernhof herum und fühlte mich wohl. Mutter ließ sich nicht anmerken, dass ihr so viel Freiheit für ihren Sohn missfiel. Nach einer Woche reisten wir ab und fuhren nach Hause. Einen nächsten Urlaub hatte es nie gegeben.

Wieder zurück in der Schule hatten meine Mitschüler mich eines Morgens zu viert geschnappt und in den Papierkorb gesetzt. Ich wurde so tief hineingedrückt, dass ich von selbst nicht mehr herauskam. Sie stellten mich in die Ecke neben den Schrank.

Erst zeterte ich, dann heulte ich und als der Lehrer kam, musste ich mich übergeben. Es war entsetzlich peinlich, ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken. Niemand meldete sich freiwillig als Übeltäter und ich traute mich nicht zu petzen und so musste die ganze Klasse, einschließlich meiner Wenigkeit nachsitzen.

Weil meine Mutter mich nie raus ließ, war ich teigig und unsportlich. Essen war meine einzige Freude und so war ich mit Ende der Pubertät ziemlich dick und schwerfällig. Als ich gemustert wurde, erklärte man mich für untauglich, so brauchte ich nicht zur Bundeswehr. Heute war ich froh darüber, aber damals schämte ich mich.

2

Am nächsten Morgen ging ich wieder zur Arbeit. Ich fühlte mich gesund. Da meine Kollegen es nicht gewohnt waren, dass ich jemals fehlte, kamen sie im Laufe des Tages alle in mein Büro und erkundigten sich nach meinem Befinden. Mir war der Rummel um meine Person sehr unangenehm und ich gab einsilbig Auskunft. Ich tat meine Arbeit und ließ mich nicht ablenken. Wenn ich arbeitete, schaltete sich alles andere aus, ich hörte noch nicht einmal das Telefon klingeln. Es gab Menschen, die mich darum beneideten, das hatte jedenfalls Fräulein Reuter aus dem Einkauf mal zu mir gesagt. „Herr Natschke“, sagte sie, „einfach so abtauchen, das möchte ich auch mal können!“ Ich war ganz erstaunt darüber, denn ich hatte mir bisher noch nie Gedanken darüber gemacht, dass es etwas Besonderes sei, konzentriert zu arbeiten.

Nach Feierabend machte ich mich auf den Weg ins Krankenhaus. Es war eine spontane Entscheidung, Frau Kosic zu besuchen und noch kurz vor ihrer Tür kamen mir Bedenken. Ich klopfte zaghaft und betrat das Zimmer. Frau Kosic war allein, sie schaute fern und als sie die Tür hörte, sah sie zu mir.

„Ach, mein Nachbar, das ist aber schön“, sagte sie.

„Guten Tag, wie geht es Ihnen“, stammelte ich brav. „Ich hätte Ihnen Blumen mitbringen müssen, wie unaufmerksam.“

„Das macht doch nichts. Hauptsache, meinen Blumen zu Hause geht es gut.“

„Ja, und ich habe auch ein bisschen Ordnung gemacht. Es war jemand an Ihrer Tür, aber er ist sehr schnell wieder verschwunden.“

„Das macht nichts. Danke für alles. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie anfangen sollte.“

Mir fiel nichts mehr zu reden ein. Ich schaute eine Weile aus dem Fenster, knetete dabei meine Finger vor Verlegenheit und stand dann auf.

„Ich muss“, sagte ich. „Leider.“

„Ich bleibe liegen, ich kann Sie nicht zur Tür begleiten“, sagte Frau Kosic mit einem Lächeln.

Zu Hause angekommen, machte ich mir Abendbrot und nahm das Essen mit ins Wohnzimmer. Mein Laptop hatte ich schon gestartet, denn ich wollte weiter forschen. Ja, ich nannte meine Recherchen im Internet Forschung und gefiel mir in der Rolle des Sexualforschers. Ich wollte plötzlich alles wissen. Ich hatte Filme entdeckt. Filme von Männern, die auf Knien einer Domina die Stiefel ableckten. Das war abstoßend und faszinierend zugleich. Und Filme, die meinen Träumen sehr ähnlich waren, schwarz behandschuhte Damen, die Männern die Hoden kneteten und ihnen verboten zu kommen. Damen, die Männern den Hintern mit einem Lineal versohlten. Dieses Video schaute ich mir immer wieder an. Es irritierte mich sehr, meine eigene Realität im Film zu sehen. Diese Männer wollten es. Es erregte sie. Für mich war es mein persönlicher Horror, meine Erinnerung an meine missglückte Kindheit und Jugend. Es war real. Im Video hatte es alles Grausame verloren und war eher lächerlich. Dieses Winseln der Männer, dieses Stöhnen. Was wussten sie denn? Sie machten sich ja keine Vorstellung, was es bedeutete, von der eigenen Mutter mit dem Lineal verprügelt zu werden, nur weil man einen feuchten Traum hatte. Für etwas, das nicht einmal unter der eigenen Kontrolle lag, das unbeherrschbar war. Ich hatte mir einmal heimlich einen Gummiring um die Vorhaut gewickelt, um zu verhindern, nachts einen Samenerguss zu haben. Mitten in der Nacht wurde ich von wahnsinnigen Schmerzen wach und mein Penis war schon ganz blau. Zum Glück war ich nicht gefesselt und konnte mich befreien. Doch heute dachte ich manchmal, wäre er doch nur abgefallen, dann hätte ich keine Probleme mehr gehabt.

Meiner Mutter wäre es sicher recht gewesen, einen Eunuchen als Sohn zu haben, am liebsten hätte sie mich kastrieren lassen, beim Tierarzt wie einen Kater, da war ich mir sicher!

Sehr spät abends ging ich ins Schlafzimmer. Ich nahm den Nylonstrumpf aus der Schublade und band mir damit die Eier ab. Mein Penis wurde steif, zuckte und Sperma lief heraus. Gleichzeitig ging ein Schauer durch meinen Körper und ich wurde schamrot. Ich atmete heftig und begann zu zittern. Schnell band ich den Nylonstrumpf los und wischte die Flecken weg. Ich nahm das Lineal und schlug damit auf meinen Hintern. Dann duschte ich kalt und ging schlafen.

Noch im Einschlafen konnte ich ganz deutlich die Fesseln an meinen Handgelenken fühlen, die meine Mutter mir immer angelegt hatte.

Am nächsten Morgen sagte ich mir, dass ich aufhören musste mit diesen Handlungen. Es war pervers. Es regte mich auf. Ich hörte innerlich die Stimme meiner Mutter, die es mir ganz klar verbot.

Ich ging zur Arbeit und war das erste Mal im Leben unkonzentriert. So durfte ich eine ganze Seite Zahlen noch einmal zusammen rechnen. Das war mir vorher noch nie passiert. Außerdem hatte ich in der Früh vergessen, mir ein Brot zu machen und musste nun in der Frühstückspause ohne Essen auskommen. So konnte es nicht weiter gehen. Ich gab meiner Nachbarin die Schuld an meiner Misere und verfluchte wieder einmal den Tag, an dem sie in die Wohnung nebenan gezogen war. Ich würde ihr heute Nachmittag den Schlüssel ins Krankenhaus bringen und ihr sagen, sie solle sich jemand anderen für ihre Blumen suchen. Ich war zwar nicht glücklich, aber mein Leben war bisher ruhig verlaufen. Diese Art Aufregung konnte ich nicht gebrauchen.

Nach der Arbeit fuhr ich nicht ins Krankenhaus, sondern ging direkt in die Wohnung der Frau Kosic. Ich stellte noch einmal alles auf den Kopf und schaute auch in die Schubladen, die ich vorher ausgelassen hatte. Ich durchsuchte die Speisekammer und klappte das Schlafsofa auf. Ich fand nichts. Meine Hoffnung einen Beweis für ihre schändliche Tätigkeit zu finden, löste sich auf wie Zucker in einer Teetasse.

Frustriert ging ich in meine Wohnung und schaute fern. Gegen halb neun klingelte es an der Tür. Ich ging öffnen und vor der Tür stand wieder ein Mann. Er sah gut situiert aus und war offensichtlich betrunken. „Wo ist Mistress Ivana“, lallte er.

„Im Krankenhaus“, sagte ich und wollte ihn aus der Tür schieben, aber er hielt sich am Rahmen fest. „Kann ich mal telefonieren?“, fragte er und drückte sich an mir vorbei in meine Wohnung. Er torkelte in mein Wohnzimmer und ließ sich im Sessel fallen.

„Ich kann nicht leben ohne Mistress Ivana. Ich habe jede Woche einen Termin bei ihr. Ich lebe nur für diese Termine. Was soll ich nun tun?“

Er heulte fast. „Keine macht es wie sie. Sie ist meine strenge Mistress und ich tue alles was sie will. Das letzte Mal hat sie mich komplett in schwarze Folie gewickelt und mich in der Ecke stehen lassen. Nur mein Willy guckte raus. Nach zwei Stunden hat sie mich ausgewickelt und ich musste ihren Boden putzen. Noch nie durfte ich sie anfassen. Noch nie! Aber eines Tages wird sie mich erhören...“, schluchzte er.

Dieser Mann sagte Dinge, die ich nicht hören wollte und doch hungerte ich nach genau diesen Informationen. Er goss Öl auf mein Feuer. Es war also doch wahr. Aber wie und wo? Ich war allerdings so abgestoßen von dieser betrunkenen Kreatur, dass ich es mir verkniff zu fragen. Ich wollte ihn nur so schnell wie möglich loswerden.

Ich rief ihm ein Taxi und komplimentierte ihn zur Tür. Es ekelte mich. Ich musste mir eine viertel Stunde lang die Hände waschen, anschließend die Wohnung lüften, den Teppich saugen und den Sessel feucht abwischen. Dann erst wurde ich ruhiger.

Ich fiel ins Bett und schlief traumlos bis zum nächsten Morgen. Nach der Arbeit rührte ich das Internet nicht an. Ich vertrieb mir die Zeit mit Tetris spielen. Ich konzentrierte mich so auf das Spiel, dass es in mir keinen anderen Gedanken gab und das über Stunden. Dann ging ich ins Bett.

Am nächsten Morgen entschied ich ganz spontan, meine Wohnung komplett zu renovieren. Von den Möbeln war das Neue noch nicht runter, aber alles, wirklich alles erinnerte mich an meine Mutter. Das konnte so nicht weiter gehen. Ich hatte ein bisschen Geld gespart und der alte Plunder sollte nun weg. Vor allem wollte ich ein neues Schlafzimmer. Auf dem Weg zur Arbeit ging ich am Kiosk vorbei und kaufte mir zwei Einrichtungszeitschriften, die ich in der Mittagspause anschaute. Auch abends zu Hause beschäftigte ich mich mit der Wohnung. Ich überlegte, was wohl passen könnte und was mir gefallen würde. Darüber hatte ich bisher nie nachgedacht. An den Wänden klebte Mustertapete. Die ganze Wohnung war mit Teppich ausgelegt, der mir eigentlich nie gefallen hatte. Mir war noch nicht ganz klar, wie ich das alles bewältigen sollte, denn meine Mutter hatte immer gesagt, ich hätte zwei linke Hände. Aber ich wollte es unbedingt. Ich machte mir eine Liste der Möbel, die ich ersetzen wollte. Ich maß die Zimmer aus und berechnete die Quadratmeter. Ich machte mir Gedanken über die Wandfarbe und den Fußbodenbelag. Kurz, ich war so beschäftigt, dass ich keine Sekunde an meine Nachbarin denken musste.

In den nächsten Tagen lief ich hundert Mal die Treppe rauf und runter, um die persönlichen Dinge meiner Mutter zu entsorgen. Vor allem ihre Wäsche musste verschwinden. Ich würde sie nie wieder anziehen. Ein bisschen war es, als würde ich meine Mutter erneut beerdigen. Aber mit jedem Teil, welches aus der Wohnung verschwand, wurde ich ruhiger. Zwischendurch kam mir sogar der Gedanke, ich könnte mir eine neue Wohnung nehmen, eine die frisch renoviert war. Aber diesen Gedanken verwarf ich wieder. Ich nahm die Herausforderung, mein Zuhause zu verändern, an.

Im Internet schaute ich mir Möbel an. Man konnte sich ja alles schicken lassen, stellte ich erstaunt fest. Ich brauchte nicht mal aus dem Haus, um Möbel zu kaufen. Das war nämlich bisher mein größtes Problem. Ich ging wirklich ungern unter Menschen. Und Einkaufen gehörte nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Dass ich Lebensmittel regelmäßig kaufen musste, war schon schlimm genug. Aber die Vorstellung, dass ein Verkäufer auf mich zu kam und mich beraten wollte, gefiel mir gar nicht. Ich konnte doch so schlecht nein sagen. Und dann diese Nähe. Verkäufer kamen einem immer so nah, rochen aufdringlich nach Rasierwasser und hatten das Frühstück noch zwischen den Zähnen kleben. Jedenfalls die Verkäufer, die ich bisher kennen gelernt hatte. Nein, ich würde mir alles nach Hause schicken lassen. Aber zuerst einmal musste das Alte raus. Das stellte mich wieder vor logistische Probleme. Am besten renovierte ich Raum für Raum. Also trug ich meine Matratze vorübergehend ins Wohnzimmer und machte mich ans Werk.

Ich holte eine Axt aus dem Keller und begann das Bett meiner Mutter zu zerlegen. Die aufgestaute Wut und der Hass auf diese Frau halfen mir, die nötige Kraft aufzubringen. Die Scham darüber ließ mich wieder abkühlen und zwischendurch eine Pause machen. Ich zerschlug alle Möbel aus dem Zimmer, bis sie nur mehr Kleinholz waren. Ich hinterließ einen einzigen Trümmerhaufen und begann noch, die Tapeten in Fetzen herunterzureißen. Ich hatte das Schlafzimmer meiner Mutter ermordet. Dieses Zimmer, das immer muffig roch und ungeheizt war und das ich zu ihren Lebzeiten nicht betreten durfte. Dieses Bett, in das sie mich nicht ließ, mir alle mütterlichen Zärtlichkeiten vorenthielt, nach denen ich mich sehnte.

Es war drei Uhr morgens, als ich endlich fertig war.

Mein Herz schlug, ich hatte mich mehrfach an den Händen verletzt, mein Rücken schmerzte und ich atmete nur noch stoßweise. Bitte, jetzt keine Panikattacke, betete ich und stellte mich unter die kalte Dusche. Ich wusch mich sehr gründlich überall und in jeder Ritze und ließ auch die Körperöffnungen nicht aus. Um richtig sauber zu werden müsse man sich auch den Mund mit Seife spülen, das hatte mir meine Mutter eingebläut. Es war zwar unangenehm, aber es hatte mir noch nie geschadet. Es läuterte mich. Nach dem Duschen war die Panik auf ein Minimum reduziert und ich machte mir ein Nachtlager im Wohnzimmer. Ich hatte noch zwei Stunden Schlaf bis zum Weckerklingeln.

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