Die Wege des Labyrinths - Maz Bour - E-Book

Die Wege des Labyrinths E-Book

Maz Bour

4,8

Beschreibung

"Die Wege des Labyrinths" beinhaltet 21 Kurzgeschichten quer durch die Fantasiewelten. Diese laden nicht nur zum Träumen, sondern auch zum Nachdenken ein.

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Seitenzahl: 466

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INDEX

Vorwort

Die Meisterin

Die Heilerin

Das Kind

Der Weise

Eine Handvoll Reis

Der Magier

Die Brüder

Der Seher

Die Engel

Der Bogenschütze

Die Dürre

Der Baum

Die Lehren der leuchtenden Gärten

Die Zukunft der Vergangenheit

Das Ende der Masken

Die Versammlung der Raupen

Das Grab des Kriegers

Der Schattenwächter

Es ist wie es ist

Die Wandlung der Raben

Die Stille des Vergessens

Nachwort

Bemerkung

Vorwort

Michael Ende erklärte zur Unendlichen Geschichte, dass er anfangs nicht wusste ob Bastian aus Phantásien zurückkehren würde oder nicht. Er musste Bastian mit jedem Satz und jedem Wort folgen um herauszufinden, wie dessen Weg enden würde, so als schriebe er nicht irgendeine Geschichte, sondern als würde der Protagonist sein Leben führen und ihm, Michael Ende, bliebe nichts anderes übrig als den Jungen zu begleiten und niederzuschreiben was passiert.

Die Geschichten, die du auf den folgenden Seiten finden wirst, wurden auf dieselbe Weise erschaffen, nicht in Gedanken vorgefertigt, nicht geplant, sondern so, als hätte mir Ariadne einen roten Faden in die Hände gegeben, dem es zu folgen galt. Allerdings führte der rote Faden mich nicht – wie Jason – aus dem Labyrinth heraus, sondern immer tiefer in ihn hinein.

Somit lade ich dich ein, mir, beziehungsweise dem roten Faden zu folgen und in den Labyrinth der Erzählungen einzutreten. Vielleicht vermagst du den Weg vor Augen haben, vielleicht aber wird dich überraschen, was du findest, wenn du um die nächste Ecke trittst.

Tritt ein, den Faden in der Hand, und verliere ihn nicht... verliere dich nicht...

Die Meisterin

Ich stand vor dem Eingang des Hauses… der Höhle… eines hohlen Baumstammes…

Ich hatte mich entschlossen. Mir waren Leute begegnet, Menschen mit alten, lächelnden Gesichtern, die mir von der Meisterin erzählt hatten, und von ihren Lehren. Und die Zufriedenheit, die jene Menschen ausstrahlten, ließen mich die Entscheidung treffen, denselben Weg zu gehen und die Meisterin zu bitten, auch mir diese Lehren weiterzugeben, die Lehren der Magie.

Ich trat ein, in einen Raum voller Licht, obwohl keine Fenster zu sehen waren, einen Raum voller Wärme obwohl kein Feuer brannte. Keine Möbel waren zu sehen, keinen Schrank, keinen Tisch und auch keinen Stuhl, auf den ich mich hätte setzen können. Nur ein grüner Teppich auf dem ich mich niederlassen konnte, ein Teppich aus Samt… aus Moos…

Ich wartete, und so wie die Zeit verstrich, entschloss ich mich zur Meditation, bis die Meisterin erscheinen würde. Ich war mir sicher, dass dies ganz im Sinne dieser Lehre sei, Meditation, in sich gehen und Geduld üben. Als ich die Augen öffnete, stand eine Frau vor mir. Ihre langen Haare waren blond… kastanienbraun… rot… oder etwa doch schwarz? Ich konnte mich nicht entscheiden und war mir genauso unsicher wie beim Eingang, der sich mit jedem Schlag der Augenlider in etwas anderes zu verwandeln schien.

„Nichts von alldem ist falsch,” sprach die Meisterin, „und nichts von alldem ist richtig. An sich spielt es keine Rolle.”

Sie lächelte und sah sehr jung aus, obwohl sie wahrscheinlich uralt hätte sein müssen.

„Wie wird die Lehre beginnen?” fragte ich und sah die Meisterin an.

Diese aber schüttelte nur ihr Haupt.

„Sie hat schon begonnen, als Du die Entscheidung trafst sie anzunehmen.“

Sie bewegte sich auf den Ausgang zu und lud mich mit einer Handbewegung ein, ihr zu folgen.

„Die Lehre wird schwierig sein und doch scheint sie leicht gewesen zu sein, wenn die Arbeit vollbracht ist”, fuhr sie fort, „Du wirst dich mit Kleinigkeiten abgeben müssen und auch Dinge tun, die Dir zuwider sind. Aber das wichtigste an allem ist, das Gleichgewicht zu finden, das Gleichgewicht Deiner Arbeiten, Deiner Lehren und Deiner selbst.“

Die Meisterin schwieg und trat hinaus in den Wald.

„Und noch etwas”, fügte sie hinzu, „Vertrauen. Das Ziel Deiner Lehre soll das Vertrauen sein”

„Vertrauen”, wunderte ich mich, „Worin?”

Die Meisterin lächelte mich an.

„In Dich natürlich, aber auch in mich”.

Die Lehre war hart und langwierig. Ich wurde durch dunkle Wälder getrieben… über den regennassen grauen Asphalt. Aber so wie die Meisterin es mir erklärt hatte, schien auch die Sonne und dies nach jeder getanen Arbeit heller und wärmender. Ich musste genauso gut den Boden kehren, wie ich mich in Meditation übte, keine Arbeit blieb mir erspart. Ich nahm ihre Lehren hin und doch fiel es mir des öfteren schwer. Als ich eines Tages auf einem Feld stand, der Regen in dichten Strömen mich nur mich selbst sehen ließ und die Blitze um mich herumzuckten und meine Haut zu verbrennen schien, schrie ich auf. Diese Ungerechtigkeit frustrierte mich, ließ mich wütend werden gegen die Welt, die Lehren, die Meisterin, doch auch gegen mich selbst. Doch neben mir stand meine Lehrerin und sprach mich an.

„Vertrauen”, flüsterte sie und trotz des Unwetters war ihre Stimme hell und klar, „Vertrauen in Dich und in mich”.

Und als das Unwetter nachließ, erschien die Sonne wiederum um so strahlender und ließ das Grün des Grases um so klarer und kräftiger wirken.

Bei einem der endlos scheinenden Spaziergängen, nachdem wir beide stillschweigend nebeneinander hergegangen waren und es mir von Moment zu Moment… von Schritt zu Schritt… schwerer fiel meine Gedanken für mich zu behalten, sprach schließlich die Meisterin.

„Wenn Du nicht fragst, kannst Du keine Antworten erhalten.”

Ich zögerte noch einen Augenblick.

„Ist dies Magie?” fragte ich, „sind all diese Arbeiten, das Putzen von Fenstern, das Spazierengehen, ist all dies Magie?”

Die Meisterin nickte.

„Überall ist Magie enthalten, wenn Du nur weisst, das Gleichgewicht zu halten. Dann ist es gute Magie.“

Ich überlegte mir meine nächste Frage.

„Gute Magie”, spach ich dann, „also weiße Magie.”

Die Meisterin seufzte. Sie ging auf einen Stein zu… eine Treppe… setzte sich hin und wartete darauf, dass ich mich neben ihr niederliess. Die Meisterin griff in ihre Tasche und holte ein Amulett heraus, ein Zeichen, das mir inzwischen sehr bekannt war.

„Sieh Dir dieses Zeichen genau an”, forderte sie mich auf, „die Art und Weise wie das Weiße in das Schwarze verläuft und doch jedesmal ein Punkt übrigbleibt - schwarz in weiß und weiß in schwarz.”

Ich nickte.

„So verhält es sich auch mit der Magie”, erklärte die Meisterin.

„Aber wenn man jemandem hilft, dann ist das doch gut”, erwiderte ich, „dann ist das doch weisse Magie.”

Aber die Meisterin schüttelte den Kopf.

„Nicht unbedingt”, gab sie zu bedenken, „wenn Du jemanden angreifst oder jemandem schaden möchtest und dieser lernt daraus eine neue Art, sich zu verteidigen, dann war nicht alles schlecht. Und je nachdem wieviel der andere gelernt hat, ginge Dein eigener Zweck dieses schlechten Handelns im guten Resultat unter.”

Ich nickte.

„Aber wenn man was Gutes tut…” wollte ich wiederholen, doch die Meisterin hob nur die Hand.

„Wenn Du jedem bei allem hilfst und ihm so seine Entwicklungsmöglichkeiten nimmst, ist auch dies nicht nur gut”, sie lächelte mich an, „auch die weißeste Wolke wirft einen schwarzen Schatten und jeder noch so dunkle Tunnel lässt das Licht am Ende um so klarer erscheinen”, schloss sie ab.

„Das mit der Entwicklung des anderen”, fügte ich hinzu, da ich dieses Gespräch nicht abbrechen lassen wollte, „erinnert mich an einen Spruch: ‚Man kann den Esel zum Wasser führen, aber trinken muss er selbst’.”

Die Meisterin lachte, doch dann wurde sie ernst.

„Du kannst das Wasser auch trinken, aber damit hat der Esel seinen Durst noch immer nicht gelöscht!”

Während die Jahre der Lehre vergingen, fragte ich mich hin und wieder, wann diese zu Ende sein würde und ob ich ein Ende überhaupt noch erwarten wollte. Ich mochte meine Meisterin und war ihr dankbar für all die Zeit, die sie mir opferte. Auf meine Frage hin, wieviele Jahre ich noch von ihr lernen würde, kam eine prompte Antwort.

„Das liegt an Dir, aber ich bezweifle, dass Du diese Lehre beenden möchtest oder überhaupt noch kannst.”

Mich verwirrte ihr Satz, denn die Meisterin hatte mir eigentlich nur das wiederholt, was ich in meinem Inneren doch schon irgendwie wusste. Und als hätte sie meine Gedanken erraten, lächelte sie geheimnisvoll, während sie sich umdrehte, um ihre eigene Arbeit wieder aufzugreifen.

Und nun habe ich all diese Jahre mit meiner Meisterin verbracht und ich bin alt und doch fühle ich mich jung, so wie ich mich während der härtesten Jahre meiner Lehre alt gefühlt habe, als ich noch jung war. Ich bin alleine unterwegs, als wüsste ich, dass ich heute jemandem begegnen werde, dem ich alleine entgegentreten muss, ohne die Meisterin an meiner Seite zu haben. Er wartet schon auf mich, in einer alten Kutte, und obwohl er mir jung erscheint, ist sein Gesicht von Falten zerfurcht.

„Es war schön”, sage ich in die Stille hinein, um ein Gespräch in Gang zu setzen. Ich liebe die Lautlosigkeit, aber manchmal bin ich doch Mensch und muss ich doch reden.

„Mochtest Du sie?” fragt mich der Mann und ich nicke.

Und erst jetzt fällt mir auf, dass ich meine Meisterin nie nach ihrem Namen gefragt habe. Jetzt scheint es mir unendlich wichtig, sie noch einmal zu sehen und zu wissen, wie man sie nennt, wie sie sich nennt. Doch der alte… junge… Mann legt seine Hand auf meine Schulter und flüstert mir ins Ohr.

„Ihr Name ist Leben!”

Die Heilerin

In einer grossen Stadt wohnte eine Frau namens Hamira. Sie hatte sechs Kinder großgezogen, die nun alle verheiratet und weggezogen waren. Auch ihr Mann war gestorben und so lebte sie nun alleine in ihrem Haus, welches sich in einer Strasse befand, in der seit jeher reger Verkehr herrschte. Und jeden Morgen machte sich Hamira auf, um zu Fuß bis zum Wald zu gehen, der sich hinter der Stadt bis in den fernen Horizont auszubreiten schien.

Hamira wurde in der Stadt als Heilerin geachtet, denn sie sammelte Kräuter und Wurzeln, deren Heilkräfte sie auswendig kannte, und sie schien für jeden Schmerz und jede Krankheit immer etwas zur Hand zu haben, um so ihre Patienten in wundersamer Weise heilen zu lassen. Und genau, um diese Pfanzen zu sammeln, die schon vielen Leuten geholfen hatten, machte sie sich jeden Tag zu diesem beschwerlichen Weg auf; beschwerlich, denn Hamira war auch nicht mehr die Jüngste. Doch wusste sie, dass die anderen Einwohner ihre Hilfe benötigten, und genau dies gab ihr die Kraft, diesen Weg tagtäglich auf sich zu nehmen.

Die anderen Einwohner nannten Hamira liebvoll die “alte Karte”, denn es schien, als würde sie jeden Weg, der zur Stadt führte, jede Strasse und jedes Haus kennen; und fragte ein Fremder sie nach dem Weg, wurde er mit einer genauen Beschreibung überrascht. Aber Hamira kannte nicht nur die Stadt in- und auswendig, sondern natürlich auch den Wald, der für sie kein Geheimnis mehr war. Jeder noch so kleine Pfad, jeder Abhang und natürlich jede Stelle, an der wichtige Pflanzen wuchsen, jeder wichtige Ort in diesem großen Wald schien ihr bekannt, was natürlich kein Wunder war, da sie ihr Leben dort verbracht hatte.

Als sie eines Tages in eine kleine Lichtung inmitten des Waldes hinaustrat, auf der sie am Mittag des öfteren eine Rast einlegte, saß dort ein Mann auf einem umgefallenen Baum und schien auf sie zu warten. Hamira war überrascht, denn hier im Wald war sie noch nie einem Menschen begegnet, denn sie war normalerweise die einzige, die sich so tief hineinwagte. Der Mann trug einen alten, zerfledderten, grauen Regenmantel und einen Hut, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Diesen lupfte er und begrüßte Hamira freundlich. Die alte Frau grüsste nickend zurück und näherte sich dem Mann. Er sah noch sehr jung aus und Hamira wunderte sich deshalb über den Zustand seiner Kleidung.

„Du bist Hamira”, sprach sie der Mann an und es schien keine Frage zu sein. Hamira nickte.

„Und Ihr Name?” erkundigte sie sich.

„Ich bin Hadrumal”, erwiderte der Mann lächelnd, „ich wollte eigentlich zu Dir, aber da ich ja wusste, dass Du hierher kommen würdest, beschloss ich, einfach zu warten.”

Hamira nickte wieder, es schien als wüsste sie nicht, was sie dazu sagen sollte, also wartete sie geduldig, den Begehr des Mannes zu erfahren.

„Weißt Du, wer ich bin,” fragte Hadrumal und Hamira schüttelte verneinend den Kopf.

Hadrumal schwieg, als müsste er mit einer schweren Entscheidung ringen.

„Ich war beim alten Izamar, als Du beschlossen hattest, dass Deine Kräuter nicht mehr helfen würden.”

Hamira erbleichte.

„Bist Du der Tod?” fragte sie mit zitternder Stimme, „ist es schon soweit für mich?”

„Ich habe Dir auch zugeschaut, als Du die kleine Riaga zur Welt gebracht hast,” fuhr Hadrumal fort.

Und da die alte Frau ihn noch immer mit erschrockenen Augen ansah, beantwortete er schliesslich ihre Frage.

„Nein, der Tod bin ich nicht, aber viele nennen mich das Schicksal”.

Lange saßen Hamira und Hadrumal zusammen auf dem Stein, ohne das eigentliche Problem anzusprechen, dann plötzlich gab der Mann zu bedenken.

„Du weißt, dass Du doch schon alt bist…”

Er wartete und sah Hamira an. Diese nickte nur, doch drehte sie nicht nach Hadrumal um, sondern schien ihren Blick in die Ferne schweifen zu lassen.

„Aber ich entschied mich, Dich noch leben zu lassen…”, fuhr der Mann fort.

Hamira wagte es nicht, aufzuatmen. Sie war sich bewusst, dass er sie nicht hatte treffen wollen, um ihr eine gute Nachricht mitzuteilen.

„Aber etwas wird mit Dir geschehen”, sprach Hadrumal sanft, “doch da Du so vielen Menschen geholfen hast, möchte ich Dir die Entscheidung überlassen.”

Hamira nickte.

„Was?” fragte sie dann, “was wird mit mir passieren? Worin kann ich mich entscheiden?”

Der Mann zögerte.

„Alte Menschen”, sprach er schließlich, “manche alte Menschen werden wirr im Kopf.”

Wieder liess er einige Zeit verstreichen, doch die alte Frau wartete nur schweigend auf Hadrumals Worte.

„Andere wiederum verlieren ihre Sicht… und weitere werden schwach und können ihr Haus nicht mehr verlassen” schloss er schließlich.

Eine weitere Stille trat ein, dann stand Hamira auf und sah Hadrumal zum ersten Mal an, seitdem er über ihr Schicksal gesprochen hatte.

„Und es ist meine Entscheidung, welches dieser Schicksale mich treffen soll,” fragte sie schliesslich.

Hadrumal nickte.

„Eine Woche hast du Zeit, dann wirst Du Dich entscheiden müssen.”

Und nun stand auch Hadrumal auf und anstatt eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und verschwand im Wald.

Als Hamira nach Hause kam, dachte sie zuerst daran, sich bei ihren Kindern zu melden und diesen von ihrem Erlebnis zu berichten. Aber dann entschied sie sich dagegen, denn sie wollte verhindern, dass die Kinder sich zuviele Sorgen um sie machten. Also versuchte sie zuerst, die Entscheidung selbst zu treffen. Ein Entschluss stand für sie schon fest, sie wollte ihren Verstand behalten, denn auch wenn sie auf diese Weise in einem vernebelten Sinn ihren Lebensabend hätte glücklich verbringen können, war ihr der Gedanke nicht recht, anderen zur Last zu fallen. Und da sie unbedingt ihr Wissen behalten und weiterhin Leute heilen wollte, stand dieses Schicksal außer Frage. Nur bei den beiden restlichen Möglichkeiten wusste sie noch nicht, welche denn nun das kleinere Übel sein würde.

Ihre beiden Nachbarn Olan und Armil sahen den sorgenvollen Blick in Hamiras Augen und sprachen sie darauf an. Da sie den beiden vertraute, bat Hamira sie in ihre Wohnung und erzählte ihnen von ihrer Begegnung mit dem Schicksal und von ihrer Entscheidung, die sie zu treffen hatte. Nachdem beide Hamira schweigend zugehört hatten, sprach Olan zuerst.

„Es ist wichtig, dass Du die Krankheiten sehen kannst”, meinte er, “so kannst Du erkennen, was der Patient benötigt, also wäre es wichtiger Dein Augenlicht zu behalten, als die Möglichkeit, Deine Beine zu benutzen.”

Doch Armil schwieg und erst nachdem Hamira und Olan ihn eindringlich ansahen, lächelte er.

„Du kennst doch eigentlich deine Entscheidung schon, nicht wahr?”

Er sah Hamira an.

„Du kennst jeden Weg, Du kennst jeden wichtigen Ort und würdest ihn blind finden. Wenn Du wirklich weißt, dann ist Deine Sehkraft Dir nicht mehr von Nutzen”.

Und am Ende ihrer Frist trat Hamila lächelnd in die Lichtung, um Hadrumal zu begrüßen.

Das Kind

Arkazan wollte gerade Wasser für seinen allmorgendlichen Tee kochen, als er es klopften hörte. Behutsam setzte er den Kessel nieder und ging zur Tür, um diese zu öffnen. In seinem kleinen Garten standen ein Mann und eine Frau, welche ihn mit ängstlichen Augen ansahen.

„Bist Du der Findende," fragte der Mann.

Arkazan lächelte.

„Ich bin eher der Suchende", erwiderte er, "denn das ist mein Name."

Die Frau trat etwas schüchtern vor.

„Dies ist mein Mann Yehundi und ich bin Jalindra", erklärte sie, "wir suchen unsere Tochter, Onissa ist verschwunden".

Nachdem Arkazan die beiden in seine Hütte gebeten hatte, fuhr er fort, sich um seinen Tee zu kümmern, ohne jedoch zu vergessen, auch seinen beiden Gästen welchen anzubieten. Arkazan war bekannt dafür, Menschen, die vermisst wurden, zu finden. Er war mit der Gabe geboren worden, eine Verbindung zwischen anderen Personen und sich aufzusetzen. Somit sah und hörte er, was die Vermissten sahen und hörten und konnte somit herausfinden, wo sich diese befanden. So hatten auch Yehundi und Jalindra von seiner Fähigkeit gehört und sahen in Arkazan die letzte Hoffnung

„Habt Ihr ein Bild von Onissa?" erkundigte sich Arkazan, während er den Tee in die Tassen schüttete.

Jalindra nickte, man hatte ihr erklärt, dass es für Arkazan leichter war, sich mit einer Person in Verbindung zu setzen, wenn er ein Bild von ihr vor Augen hatte. Onissas Eltern hatten erst vor kurzer Zeit vom Maler des Dorfes ein Bild von ihrer Tochter anfertigen lassen, und so hatte Jalindra eben dieses Bild mitgebracht. Arkazan betrachtete es kritisch und legte dabei nachdenklich den Kopf zur Seite.

„Sie ist noch sehr jung", gab er zu bedenken, "wenn sie zu jung sind, kann ich nur sehr schlecht die Verbindung aufnehmen."

Die Eltern nickten, auch dies hatte man erwähnt.

„Aber Sie werden es doch versuchen," fragte Jalindra zögernd.

„Einen Versuch ist es immer wert", erwiderte Arkazan, "nichts sollte unversucht bleiben, um ein so junges Ding wiederzufinden."

Er stand auf und begleitete die Eltern nach draussen.

„Geht nach Hause und ruft Eure Familien zusammen," schlug Arkazan vor, "bittet Eure Brüder und Schwestern, nach Onissa zu suchen. Ihr aber bleibt zu Hause und denkt ganz fest an sie. Ich werde mich in den Tempel begeben und meine Arbeit tun, um sie auf meine Weise zu finden."

Einen Augenblick lang schwieg Arkazan.

„Ich kann euch nichts versprechen,“ fügte er hinzu, „sie ist wahrscheinlich noch zu jung, um meinem Ruf zur Verbindung überhaupt antworten zu können."

Schon auf dem Weg zum Tempel rief Arkazan in aller Stille die Götter auf, ihm bei seiner schwierigen Aufgabe zu helfen. Es war ein wunderschöner Tag, die Blumen, die er auf seinem Wege sah, blühten in voller Pracht, und obwohl Arkazan bei dieser Arbeit an seinen Fähigkeiten zweifelte, wusste er doch in seinem tiefsten Inneren, dass die kleine Onissa gefunden werden würde. Und so betrat er den Tempel, in dessen Innenhof er die benötigte Stille finden würde, um sich auf seine Suche konzentrieren zu können.

Der Tag verstrich nur langsam, während die Eltern in ihrer Hütte warteten und bangten, und ihre Familien im Dorf und auf den Feldern suchte und nach Onissa rief. Doch ihre Rufe blieben ebenso unbeantwortet wie Arkazans stille Suche nach dem Kind. Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, und noch immer hatte niemand das kleine Mädchen gefunden. Die Nacht brach herein, und Yehundis und Jalindras Familien kehrten mit leeren Händen zurück zur Hütte. Nur Arkazan blieb im Tempel, noch immer auf seine Arbeit konzentriert, obwohl auch er dem Aufgeben nahe war.

Eine junge Frau kehrte mit ihren Schafen von einer Weide zurück und trug ein Kind auf dem Arm. Die Kleine quiekte vergnügt vor sich hin, offensichtlich in bester Laune und unversehrt. Die Dorfbewohner, die sich um Yehundis Hütte versammelt hatten um den Eltern Mut zuzusprechen, stellten erstaunt fest, dass es sich bei dem Kind, das die Frau auf dem Arm trug, um Onissa handelte. Rasch rief man die Eltern heraus, welche die Tochter überglücklich in ihre Arme schlossen. Die Schäferin hatte das Kind auf der Suche nach einem ihrer Schafe gefunden. Es war Janissa morgens davongekrabbelt, als diese vom Brunnen Wasser holte, und hatte im Schutz einer Hecke unbehelligt geschlafen, bis das Schaf es wegschubste, um besser von der Hecke weiden zu können. Zwei Familien hatten den ganzen Tag vergeblich nach der Kleinen gesucht und nun war sie durch einen Zufall wiedergefunden worden. Jalindra sah von ihrer Tochter auf.

„Arkazan", murmelte sie, "man muss ihm Bescheid sagen, dass er nicht mehr weitersuchen muss".

Yehundi machte sich auf den Weg zum Tempel, in dem er Arkazan noch immer in seiner stillen Suche vorfand.

„Onissa ist zurück", Yehundi berührte sanft Arkazans Schulter, „ich weiß, dass Du umsonst gesucht hast, aber dennoch danken wir Dir von ganzem Herzen dafür, dass Du versucht hast, die Kleine mit Deiner Gabe zu erreichen."

Arkazan sah auf und lächelte Yehundi an.

„Dann ist ja alles in Ordnung", sprach er leise und erhob sich, um den Tempel zu verlassen.

Als Arkazan gutgelaunt zu seiner Hütte gelangte, hatte sich Onissas Geschichte schon im ganzen Dorf herumgesprochen. Er wollte soeben die Tür öffnen, als sein Nachbar ihn ansprach.

„So wurde die Kleine ohne Deine Hilfe gefunden," fragte er.

Arkazan nickte.

„Ja, sie ist wieder da", sagte er schlicht.

Doch der Nachbar gab nicht nach.

„Aber Du hast sie nicht gefunden, obwohl dies Deine Gabe ist. Sogar Yehundis Familie ärgert sich, dass diese Schäferin Onissa zufällig gefunden hat. Und nicht einmal Du hast etwas damit zu tun, dass sie wieder da ist. Findest Du das in Ordnung? Was hast Du denn dazu zu sagen?"

Arkazan drehte sich zu seinem Nachbarn um und lächelte ihn an.

„Sie ist wieder da", wiederholte er, dann schloss er die Tür hinter sich.

Der Weise

Ridall war fünfundzwanzig Jahre alt. Er lebte mit seiner Frau in einem Dorf, das von Bergen umgeben war, und obwohl es doch ziemlich klein war, war dieser Ort bekannt dafür, dass für die Einwohner Namen von großer Bedeutung waren.

Und nun endlich sollte sich Ridalls Name bewahrheiten, denn in seiner Sprache hieß Ridall "Vater". Denn die Hebamme streckte soeben den Kopf zur Tür heraus, blies sich eine Haarstähne aus dem Gesicht und lächelte Ridall an.

„Es ist ein Mädchen", erklärte sie ihm.

Überglücklich folgte Ridall der Hebamme in seine Hütte, wo seine Frau Astira ihre kleine schlafende Tochter im Arm hielt. Lange hatte er über den Namen nachgedacht, den er diesem kleinen Wesen geben wollte, denn er wusste ja von der Bedeutsamkeit der Namen. Schließlich hatte er sich für Mirana entschieden, was Glück hieß, denn natürlich wünschte er seiner Tochter als ihr Vater alles Glück dieser Erde. Doch bevor er seiner Frau seinen Beschluss mitteilen konnte, sah diese ihn an und sprach.

„Ich möchte sie Idira nennen, denn Klugheit ist besonders für Frauen wichtig, um ihr Leben gut einteilen und leben zu können".

Die folgenden Tage werden in diesem Dorf wohl unvergessen bleiben. Kein Mensch hätte sich vorstellen können, dass eine Familie, die bisher doch immer so glücklich schien und deren Glück mit einem Kind doch hätte zunehmen müssen, in einem Streit auseinanderzubrechen drohte. Auch am anderen Ende des Ortes hörte man die Eltern zanken und jeder wusste, dass es den Namen des Kindes betraf; und jeder fragte sich, ob das kleine Mädchen nun auch weinte, weil sich keiner um sie kümmerte oder weil sie auch nach Wochen noch immer keinen Namen besaß.

Da sich nun viele Einwohner wegen des Lärmes und der Unzufriedenheit, die sich langsam über das ganze Dorf ausbreitete, beschwerten, beschloss die Dorfälteste, mit dem zankenden Paar zu sprechen.

„Könnt Ihr euch denn gar nicht entscheiden," fragte sie leise, doch die beiden schüttelten den Kopf, denn keiner wollte nachgeben.

„Nun denn", sprach die Älteste, "wenn Ihr Euch wirklich nicht entscheiden wollt, vielleicht hört Ihr dann auf den Weisen Mann Gumaran, der hoch in den Bergen lebt und auf alles eine Antwort weiß.“

Das Elternpaar horchte auf.

„Er kann uns bestimmt die richtige Antwort geben", erwiderte Ridall, "ich werde sofort aufbrechen, um ihm so schnell wie möglich diese Frage zu stellen, die unsere Familie doch so betrübt."

Die Dorfälteste hob die Hand und schüttelte den Kopf.

„Wisse", flüsterte sie dann, "es kann Wochen und Monate dauern, ja sogar Jahre, bis Du ihn finden wirst. Der Weg dorthin ist gefährlich und langwierig und Du wirst dich oft fragen, wieso du diesen Weg für Deine Frage auf Dich genommen hast.“

Doch Ridall war nicht mehr zu bremsen. Er stand schon in der Tür, als er sich noch einmal umdrehte, Astira ansah.

„Du wirst sehen, ich werde ihn finden und er wird mir erklären, dass meine Wahl am besten ist,“ sprach er. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Drei Jahre dauerte Ridalls Reise, bevor er Gumaran schließlich traf. Am Anfang trieb die Wut ihn an - die Wut, dass er diesen Weg eigentlich nur wegen seiner törichten Frau auf sich nehmen musste, um ihr zu beweisen, dass er doch recht hatte. In seinen einsamen Nächten träumte er davon, wie er den alten Mann treffen würde und dieser den Namen Mirana erwähnen würde. Obwohl die Wege, die er ging, steinig und schwierig zu begehen waren, schritt er mutig voran, seines Sieges sicher und auch neugierig darauf, Gumaran zu treffen.

Doch nach etwa einem Jahr schien Ridall seinem Ziel noch immer keinen Schritt näher gekommen zu sein. Er fing an daran zu zweifeln, dem Weisen Mann je zu begegnen und mit seiner schwindenden Hoffnung schien auch der Weg vor ihm zu schwinden. Der Pfad, der bisher noch immer klar und deutlich vor ihm gelegen hatte, verlor sich inmitten von Wiesen oder steinigen Anhöhen und Ridall brauchte manchmal Tage, um ihn wieder ausfindig zu machen. Und trotzdem trieb ihn sein Wunsch die Wahrheit zu erfahren voran. Doch mit der Zeit hatte sich sein Gefühl der Sicherheit verwandelt und anstatt nun zu denken, dass er recht hatte, nagten Zweifel an ihm. Es könnte doch gut sein, dass seine Frau den richtigen Namen gewählt hatte. Und nun, da er an Astira dachte, merkte er erst, wie sehr er sie vermisste und wie sehr es ihn verlangte, doch zu ihr und seinem Kind zurückzukehren. Er würde ihren Namen akzeptieren, nur um wieder bei seiner Familie sein zu können. Im Inneren verfluchte er sich nun selbst für seinen Starrsinn.

Doch setzte er seinen Weg fort. Er war nun solange abwesend gewesen und wollte nicht mit leeren Händen heimkehren. Das Mindeste, das er nun tun konnte, war seine Suche nach dem Weisen Mann fortzusetzen, um mit der Antwort auf die Frage zurückzukommen, welches der Grund war, wieso er vor so langer Zeit wegging und seine Familie alleine ließ. Genauso sicher wie er vorher war, dass seine Entscheidung die Richtige gewesen war, wurde er nun mit jedem Schritt, dass Astira den besseren Namen gewählt hatte.

Während seiner Reise dachte er viel über seine Familie nach und über das Unrecht, das er ihr zugefügt hatte. Er hätte bei seiner Frau bleiben und sich um sie und das Kind kümmern sollen, anstatt dem ganzen Dorf beweisen zu wollen, dass er doch immer Recht hatte. Und während er diesem Gedanken folgte, wurde er sich bewusst, dass man bestimmt einen Ausweg hätte finden können, wenn man sich nur gemeinsam hinter das Problem gesetzt hätte. Und als er abends seine Raststatt am Fuße eines Hügels errichtete, stand ihm die Lösung klar vor Augen. In seiner Einsamkeit schüttelte er den Kopf und sprach zu sich selbst.

„Wieso sind wir nicht eher draufgekommen! Wir hätten dem armen Kind doch beide Namen geben können und es so mit Glück und Verstand beschert. Und ich musste drei Jahre lang wandern, um meine törichte Denkweise zu erkennen."

Und als er am nächsten Tag den Hügel erklomm, erwartete ihn Gumaran. Doch anstatt Ridall die Antwort auf seine Frage zu geben oder zu bestätigen, fragte er nur:

"War Dein Problem diese Reise wert?"

Drei Jahre benötigte Ridall nun auch wieder, um zu seinem Ort zurückzukehren. Zum einen war er erleichtert, dass er nun die Antwort besaß. Auch war er stolz darauf, sie selbst gefunden zu haben. Und doch schüttelte er den Kopf über sich selbst, dass er dafür einen solchen Weg auf sich genommen hatte. Er hätte zu Hause in aller Ruhe überlegen sollen, anstatt sich zu streiten und sich daraufhin in ein solch törichtes Abenteuer zu werfen, nur weil er sich vorstellte, dass eine solch überaus wichtige Frage nur von einem weisen Mann beantwortet werden könnte.

Als er endlich sein Dorf erreichte, kam ihm seine Frau mit seiner Tochter entgegen. Diese sah ihn nur verwundert an und fragte, wer der Mann sei, der aussah, als hätte er seit Wochen kein Bad mehr genommen… und auch so roch. Astira erklärte ihr, dies sei ihr Vater und erzählte wie dieser fortging, um einen Namen für seine Tochter zu erfragen.

„Aber wieso denn," fragte das Mädchen erstaunt, "ich habe doch einen Namen. Ich heiße Utamil.“

Und Ridall nickte, als hätte er dies doch schon erwartet, denn Utamil hieß "die Namenlose".

Eine Handvoll Reis

Hon Yin war Bauer und besaß ein paar kleine Felder, die es ihm ermöglichten, nicht zu arm und auch nicht zu reich zu leben. Eine Familie hatte er nicht, er hatte diese Felder und die kleine bescheidene Hütte von seinen Eltern geerbt, und nachdem diese gestorben waren, lebte er allein und das Glück zu einer Frau schien nicht das seine zu sein. Trotzdem war er ein zufriedener Mensch, der regelmäßig mit seiner kleinen Ernte zum Markt ging um sich von dem Erlös die Dinge zu kaufen, die er selbst nicht herstellen konnte.

Eines Tages erschien ein Bettler an seiner Tür. Hon Yin sah dem zerlumpten Mann seinen Hunger an, und dieser bat ihn auch um etwas Essen. Der Bauer brachte ihm etwas Reis, und da er Mitleid mit diesem ärmlichen Mann in seinen Lumpen hatte, gab er ihm auch noch einen Mantel, damit er sich etwas wärmer bekleiden könnte.

„Mehr kann ich dir jedoch nicht geben," erklärte Hon Yin, „denn auch ich bin nicht reich und muss mir meine Zukunft etwas sichern.“

Der Bettler nickte, nahm jedoch eine Schüssel aus seinem spärlichen Gepäck hervor und entfachte etwas weiter entfernt von der Hütte ein Feuer. Nachdem er den Reis zubereitet hatte, lud er den Bauern ein, sich zu seinem Mahl zu gesellen, und so seinen Dank für die Gaben anzunehmen. Der Reis schmeckte vorzüglich auf diese einfache Art in ein Mahl verwandelt und Hon Yin bedankte sich nun auch herzlichst für diese Einladung. Das Feuer wurde gelöscht und der Bettler ging gesättigt von dannen, während der Bauer zurück zu seiner Hütte schritt.

„Ein guter Mensch," dachte er, „der das wenige, das ich ihm gab, auch noch mit mir teilte."

Einige Jahre gingen ins Land, und Hon Yin arbeitete weiterhin alleine auf seinem Feld, bis eines Tages wiederum ein Bettler vor seiner Tür stand. Auch diesem Bettler brachte er Mitleid entgegen und bot ihm Kleidung und Essen an. Der zerlumpte Mann nahm die Geschenke gerne an, doch fühlte auch er sich zum Dank verpflichtet.

„Ich sehe, dass du gerade dabei bist, von deinem Feld zu ernten," sprach er, „wenn du möchtest, werde ich dir gerne dabei helfen, damit du mit deiner Arbeit schneller vorankommst.“

Hon Yin, der immerhin schon etwas älter war, kam diese Hilfe sehr gelegen und er nahm sie deswegen dankbar an. Da somit die Ernte schneller eingesammelt war, war kaum ein Verlust zu beklagen. Auch auf dem Markt konnte er mit seinem Reis dieses Jahr einen größeren Gewinn erzielen, und so bezahlte er den Bettler, der ihm auch noch geholfen hatte, den Reis bis zur Dorfmitte zu tragen, wo die geernteten Früchte regelmäßig zum Verkauf angeboten wurden. Hier verabschiedete sich der Bettler, und auch Hon Yin machte sich allein auf den Nachhauseweg.

„Ein guter Mensch," murmelte er lächelnd vor sich hin, „der mir auf meinem Feld half, und so seinen Dank zeigte".

Wiederum gingen einige Jahre ins Land und wiederum stand eines Tages ein Bettler vor seiner Tür. Auch dieser bat um etwas Essen, und wie gewohnt gab ihm Hon Yin etwas Reis und wiederum einen Mantel, mit dem sich der zerlumpte Mann bekleiden konnte. Dieser bedankte sich höflich und ging gleich seines Weges. Hon Yin war erstaunt. Obwohl er nie um Dank gebeten hatte, hatte er ihn doch jedesmal von den Bettlern auf ihre Art erhalten. Auch dieses Mal wäre es schön gewesen, mit einem anderen Menschen ein Mahl zu teilen, und auch dieses Mal hätte er eine Hilfe auf seinem Feld wohl kaum abgelehnt. Etwas ärgerlich drehte er sich zu seiner Hütte um, aber kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, schüttelte er schon den Kopf über sich selbst.

„Du hast nie einen Dank verlangt, du Narr," sprach er laut, „dann kannst du jetzt auch nicht wütend sein, wenn man ihn dir verwehrt".

Und so gingen wiederum einige Jahre ins Land, bevor wiederum zu später Stunde ein Mann vor Hon Yins Hütte stand. Der Bauer war inzwischen sehr alt, und konnte kaum seine Felder bestellen. Und doch öffnete er die Tür, um wie gewohnt Reis und Kleidung dem vermeintlichen Bettler anzubieten. Nur stand kein Bettler vor der Tür, sondern ein einfacher, jedoch gut gekleideter Mann mittleren Alters. Dieser lächelte den Bauern freundlich an.

„Mein Name ist Yo Hu,“ stellte er sich vor, dann bat den alten Mann, ihn zu begleiten. Hon Yin wurde nun doch etwas ängstlich.

„Bist du der Tod,“ fragte er, „ist nun meine Zeit gekommen?"

Yo Hu lachte laut, und sprach dann, nachdem er sich beruhigt hatte.

„Ich bin ein Mensch aus Fleisch und Blut, und ich kann nur hoffen, dass deine Zeit noch nicht gekommen ist. Trotzdem möchte ich, dass du mich begleitest."

So legte Hon Yin den Reis zurück und zog sich den Mantel selbst über, um Yo Hu zu dessen Hütte zu begleiten. Obwohl auch dies nur eine bescheidene Bleibe war, war sie doch etwas grösser als diejenige, die Hon Yin's Eltern vor langer Zeit gebaut hatten. Um die Hütte herum konnte er Reisfelder sehen, die kurz davor waren, eine reiche Ernte abzugeben. In der Hütte saß noch ein älterer Mann, den Hon Yin als den Vater von Yo Hu wähnte. Doch dieser erhob sich etwas zitternd von seinem Sitz.

„Ich bin Han Li,“ stellte er sich vor, „vor Jahren hat mich ein Bettler um ein Feld von mir gebeten. Nachdem ich ihm dieses Land überlassen hatte, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Wie ich sehe, ist er nun auch zu dem zurückgekehrt, der ihm eine Handvoll Reis gab, den er hier anpflanzen konnte. Er hat mich gebeten, meine alten Jahre hier zu verbringen, da ich nun zu schwach bin, um meine Felder alleine bestellen zu können."

Hon Yin lächelte vor sich hin, ließ sich neben Han Li nieder.

„Ich hätte es mir denken können, dass alles Gute zurückkommt,“ sagte er leise, „wenn auch nicht immer in der Form, die man sich erwartet. Und nur Zeit und Geduld konnten mich das lehren, was ich nun empfangen kann“.

Der Magier

Wenn immer Alepsias in einen Raum trat, verstummte jedes Gespräch. Man schwieg, schaute ihn an, mit Bewunderung oder sogar mit Angst in den Augen. Alepsias war der Zauberer des Dorfes, der, der Rat gab, Kranke heilte oder aber die bestrafte, die sich nicht an die Gesetze der Gesellschaft hielten.

Eigentlich verstand Alepsias die Reaktion der Leute nicht. Er tat nur seine Arbeit, indem er Leuten half wo er konnte. Besonders die Angst, die ihm entgegengebracht wurde, war ihm unverständlich. Natürlich waren die Strafen, die er austeilte, hart, aber sie waren gerecht. Immerhin hatten die Einwohner die Wahl, sich an die Gesetze zu halten, oder aber die Konsequenzen zu tragen. Zum anderen war es ihm aber recht, dass die Leute ihn respektierten, denn so war er sich sicher, dass seine Anweisungen befolgt wurden.

Eines Tages kam jedoch ein Mann in das Dorf, und bat darum, hier leben zu dürfen. Ein Rat von Dorfältesten wurde zusammengerufen und natürlich wurde auch Alepsias hinzugezogen, weil er ja als Zauberer als sehr weise galt. Dieser riet den Bewohnern, dem Fremden Obdach für eine Nacht zu gewähren. Er würde sich dann mit ihm treffen, um ihn näher kennenzulernen, und besser entscheiden zu können, ob der Fremde hierbleiben könne oder nicht.

Am Abend also traf sich Alepsias mit dem Fremden. Er hatte seinen Federschmuck aufgesetzt, um der Wichtigkeit seiner Position Ausdruck zu verleihen und auch sein Stab hielt er in der Hand. Der Fremde bat ihn in sein Zimmer und wartete darauf, dass sich Alepsias setzte. Der Zauberer sah sich den Mann an. Er schien mittleren Alters zu sein, hatte lange dunkelblonde Haare, in denen sich das erste Grau abzeichnete. Doch am meisten betrachtete Alepsias die Augen des Fremden, die von einem so dunklen Braun waren, dass sie fast schwarz schienen.

„Mein Name ist Gumaran“, stellte sich der Fremde vor, „ich wohnte vorher in den Bergen, aber für mich ist es nun an der Zeit, wieder mit Leuten zusammenzuleben.“

Alepsias nickte.

„Was kannst du tun“, fragte er nach einer kleinen Pause, „es ist dir sicher klar, dass du zum Wohl unserer Gemeinschaft beitragen musst, wenn du hier leben möchtest.“

Gumaran lächelte.

„Welche Arbeit muss denn getan werden, für die es bisher keinen gab, der sich dazu bereit erklärt hat?“ fragte er dann.

Alepsias schwieg. Er wusste von einer Arbeit, die bisher jedem zuwider war, war sich aber nicht sicher, ob er gerade dies dem Fremden vorschlagen sollte.

„Es gibt wohl eine Arbeit, die bisher keiner verrichten will,“ sprach er dann nach einigem Zögern, „und ich würde es dir auch nicht verübeln, wenn du desgleichen tun würdest. Es gibt welche die sich um die kümmern, die geboren werden oder geboren wurden, und es gibt solche, die sich um die Kranken und die Verletzten kümmern. Aber die Verstorbenen müssten auch ihre Ruhe finden. Ich kann mich als Zauberer zwar um ihre Seelen kümmern, aber ihre Körper wollen auch bestattet werden und uns fehlt leider jemanden, der sich ihrer annimmt. Würdest du die Arbeit übernehmen, ihre Körper zu verbrennen und ihre Asche in die vier Winde zu verstreuen?“

Gumaran schloss die Augen, und trotzdem hatte Alepsias das Gefühl, als würde der Fremde ihn noch immer betrachten. Als er die Augen wieder öffnete, antwortete der Mann aus den Bergen mit nur einem Wort.

„Ja!“

Und während Gumaran sich in dem Dorf einlebte kehrte auch der normale Alltag mit ein. Bald kannte jeder seinen Namen und nannte ihn nicht mehr den Fremden aus den Bergen. Gumaran hatte eine Hütte am Rande des Dorfes bezogen um so seine Arbeit durchführen zu können, ohne mit dem Gestank der verbrennenden Körper die Einwohner zuviel zu stören. Da glücklicherweise nicht jeder Tag jemand starb, hatte er immer noch genügend Zeit, mit den Leuten zu reden oder die Gegend auszukundschaften. Es dauerte nicht lange, bis Gumaran als Dorfbewohner akzeptiert wurde, als hätte er nie woanders gelebt.

Als Gumaran eines Morgens aufstand und sein Frühstück zubereitete, klopfte es an seiner Tür. Missiannáh stand vor seiner Hütte, ein Taschentuch in ihren Händen und Tränen in ihren Augen. Gumaran bat sie herein, aber sie schüttelte nur den Kopf.

„Könntest du dich um eine Verbrennung kümmern“, fragte sie schluchzend.

Gumaran legte sanft seine Hand auf Missiannáhs Schulter und führte sie in seine Hütte.

„Wer ist denn gestorben“, erkundigte er sich mit ruhiger Stimme.

Die Frau sah zu ihm hinauf. Missiannáh wurde nicht umsonst auch „die Kleine“ im Dorf genannt, aber nun wirkte sie noch winziger, noch schächer neben Gumaran.

„Mein Mann“, ihre Stimme bebte, „mein Mann ist krank.

Gumaran kannte Hiorap, ihm war seine schlechte Gesundheit schon seit langem bewusst gewesen, aber nun war er über diesen Zustand doch erstaunt.

„Und was ist mit Alepsias“, fragte er, „was sagt der Zauberer denn?“

Lange schwieg Missiannáh, während sie mit den Tränen kämpfte, dann flüsterte sie.

„Er sagte nur, dass Hiorap sterben wird, dann hat er unsere Hütte verlassen.“

Gumaran legte seinen Umhang und öffnete die Tür.

„Ich möchte deinen Mann sehen“, sagte er, „vielleicht kann ich noch irgendetwas für ihn tun.“

Gumaran wusste, dass Alepsias recht hatte, gleich nachdem er in die Hütte eingetreten war. Der Geruch des Todes war ihm bekannt und auch wenn Missiannáh ihn nicht bemerken konnte, war er für einen Zauberer wie Alepsias unverkennbar. Gumaran liess sich bei Hiorap nieder und betrachtete ihn schweigsam, bis dieser müde seine Augen öffnete.

„Hast du noch einen Wunsch“, fragte Gumaran.

Das Nicken war kaum merkbar. Gumaran drehte sich um, und bat Missiannáh, die Hütte zu verlassen.

Als Gumaran nach scheinbar endloser Zeit die Hütte wieder verliess, warteten neben Missiannáh auch ihre Kinder und auch andere Bewohner auf ihn. Es hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass Gumaran sich an die Seite eines Sterbenden gesetzt hatte, um ihn auf seinem letzten Weg zu begleiten. Eigentlich hatte er erwartet, dass auch Alepsias die Nachricht schon erhalten hätte, aber von dem Zauberer war nichts zu sehen. Gumaran nahm Missiannáh zur Seite und erklärte ihr die letzten Wünsche ihres verstorbenen Mannes. Dann machte er sich zu seiner Hütte auf, um die Verbrennung des Leichnams vorzubereiten und auf dem Weg dorthin schien ihn das Gemurmel der Dorfbewohner zu begleiten.

Mehrere Tage später, Gumaran war schon früh zu einem Waldspaziergang aufgebrochen und rastete nun an einem kleinen Bach, traf Alepsias auf ihn. Erstaunt, den Zauberer im Wald zu begegnen, stand er von seinem Platz auf, um ihn zu begrüssen.

„Nun denn“, sprach Alepsias, „hast du dich denn gut eingelebt?“

Gumaran nickte, vorsichtig, da er sich nicht sicher war ob und worauf der Zauberer hinaus wollte. Aber Alepsias liess ihn nicht lange warten.

„Ich habe gehört, du nimmst deine Arbeit sehr ernst“, sagte er leise, „nimm dich in Acht, dass du sie nicht zu ernst nimmst!“

Gumaran liess sich nicht beirren.

„Denkst du an Hiorap“, fragte er den Zauberer und als dieser nickte, fuhr er fort, „ist es nicht deine Aufgabe, den Sterbenden auf seiner letzten Reise zu begleiten?“

Aber Alepsias zuckte nur die Schultern.

„Wieso denn“, fragte er, „der Mann starb, was gibt es da noch zu tun. Ich kann ihn nicht heilen und kann nur hilflos danebenstehen und zusehen, wie alte Menschen dahinsiechen. Ich wäre völlig machtlos und wenn die Einwohner das sehen, werden sie mir kein Vertrauen mehr entgegenbringen, da sie dann denken, ich könne sie nicht mehr beschützen.“

Der Zauberer wandte sich ab und blickte sich suchend um. Gumaran konnte sich seine Ironie nicht verbeissen.

„Was suchst du“, fragte er spöttisch, „dein verlorenes Selbstvertrauen?“

Alepsias wirbelte herum und blickte ihn an, seine Augen schienen vor Ärger fast Funken zu sprühen.

„Man merkt“, sagte er, kaum mehr fähig seine Stimme in seinem Zorn ruhig zu halten, „kaum hast du dich bei den Dorfeinwohnern eingeschlichen, denkst du, du könntest mir gegenüber ungehobelt und frech werden? Bist du so von dir überzeugt, dass du gar daran denkst, meine Stelle einzunehmen? Wisse, dass nur, weil du die Geduld besitzt, dich neben einen Sterbenden zu setzen und auf seinen Tod zu warten, dies nicht beweist, dass du für ein Dorf sorgen kannst!“

Gumaran schüttelte den Kopf.

„Es liegt mir fern, dich ersetzen zu wollen“, sprach er schliesslich, „und es lag mir fern, dich so töricht anzugreifen. Aber sage mir, was suchst du wirklich?“

Alepsias seufzte

„Mein Zauberstab ist zerbrochen und ich suche nun nach einem jungen Baum, der mir das Holz für einen neuen bringen könnte, aber kein Baum scheint gut genug und gerade genug. Möchtest du mir nicht dabei helfen. Ohne Stab wird keiner mehr erkennen können, dass ich ein Zauberer bin.“

Doch als sich Alepsias nach Gumaran umdrehte, war dieser nirgends mehr zu sehen.

An diesem Abend kehrte der Zauberer nicht in das Dorf zurück und Gumaran nahm stillschweigend seine Arbeit wieder auf. Auch in den folgenden Tagen blieb der Zauberer spurlos verschwunden und die ersten Dorfbewohner machten sich auf, nach ihm zu suchen. Auch fragten sie Gumaran, sich bei der Suche zu beteiligen, aber dieser lehnte ab. Als Alepsias auch nach einer Woche nicht zurückgekehrt war, sprachen die ersten Einwohner die Ängste aus, die bisher jeder in seinem Inneren in sich trug. Was wäre, wenn jemand krank wurde, was wäre, wenn Gefahr über das Dorf drohte. Sie hatten nun keinen Zauberer mehr der sie schützen und heilen würde, und das nur, weil er in den Wald ging, um einen Stab zu finden der sein mangelndes Selbstvertrauen stützen sollte, dachte Gumaran bitter.

Und so wie die Einwohner es befürchtet hatten, wurde dann auch der erste krank. Es war Missiannáhs Tochter Ulieh. Diese ging in ihrer Angst auch gleich zu Gumaran, um ihm bescheid zu geben, eine Verbrennung vorzubereiten. Doch Gumaran beruhigte die Frau und begleitete sie mit nach Hause, um nach Ulieh zu sehen. Dort stellte er fest, dass sie nur leicht erkrankt war und mit Kräutern die in jedem Wald zu finden waren, wieder geheilt werden konnte. Also bat er Missiannáh, ihn zu begleiten, so dass er ihr beibringen konnte, mit welchen Pflanzen sie ihre Tochter heilen konnte. Wie schon bei Hioraps Tod, sprach sich auch diese Nachricht schnell herum, und so fingen die Dorfbewohner an, Gumaran um Rat zu fragen, welcher dieser ihnen auch gerne gab. Ulieh, die inzwischen geheilt war, verwunderte sich jedoch eines Tages über ihn

„Er weiss eigentlich genauso viel wie Alepsias“, sagte sie, „und doch ist er kein Zauberer.“

„Wieso denn nicht“, erkundigte sich Gumaran, der hinter ihr gestanden hatte, als das Mädchen sich über ihn äusserte.

Ertappt errötete Ulieh.

„Aber du bist nicht wie ein Zauberer gekleidet,“ erwiderte sie dann.

Als Nikaroth, ein junger Mann, der desöfteren mit Gumaran in den Wald gegangen war, um über die heilsamen Wirkungen der Pflanzen und Steine zu lernen, eines Tages dann die Hütte betrat, sah er Gumaran, der dabei war, ein paar Habseligkeiten zusammenzupacken.

„Wohin gehst du“, fragte ihn Nikaroth, „und kann ich mitkommen?“

Aber Gumaran schüttelte nur den Kopf.

„Mein Weg und der deine waren lange Zeit derselbe, aber nun werden sie sich trennen“, erwiderte er.

„Aber du kannst uns nicht alleine lassen“, flüsterte Nikaroth, „was wird denn aus uns werden, wenn du nicht mehr da bist um uns zu helfen und zu schützen.“

Doch der Mann der aus den Bergen gekommen war, lächelte nur.

„Ich habe euch alles beigebracht und mein Wissen nicht nur für mich behalten. So könnt ihr für euch selbst sorgen und seid nicht auf mich angewiesen.“

Doch Nikaroths Augen waren angsterfüllt.

„Aber der Zauberer, die Magie…“, stotterte er, doch Gumaran legte sein Hand beruhigend auf des Jungen Schulter.

„Die Magie“, sprach er dann sanft, „ist in euch drin und jeder von euch hat sie. Und ihr werdet sie an eure Kinder weitergeben und an eure Kindeskinder. Denn Magie ist nur dann wirksam, wenn man sie teilt und weitergibt. Wenn ihr das in euren Herzen tragt und es euch jeden Tag aufs neue ins Gedächtnis ruft, dann braucht ihr keinen Zauberer mehr.“

Er trat aus seiner Hütte und lächelte die Dorfbewohner an. Sie alle begleiteten ihn bis zum Wald, von wo aus er seinen Weg in die Berge wieder aufnahm, wo er ihn vor Jahren verlassen hatte.

Die Brüder

Er begegnete ihnen im Wald. Nicht auf einer Lichtung, sondern irgendwo zwischen den Bäumen, wo jeglicher Pfad aufgehört hatte zu existieren. Es sah aus wie ein geheimes Treffen, dort wo niemand sie finden konnte, ein Treffen, zu dem auch er eingeladen worden war, ohne etwas davon zu wissen.

Seine Wunden schmerzten immer noch. Die Hände und Füße durchstochen, die Handgelenke von den Fesseln, die erst vor kurzer Zeit abgenommen worden waren, wundgescheuert. Und den Schnitt an seiner Seite, von einem Speer, der durch sein Gewand in sein Fleisch hineingerammt worden war, um auch sicher zu sein, dass er tot war. Und trotzdem wandelte er hier auf Erden, in diesem Wald und war sich alleine schon durch den Schmerz seiner Lebendigkeit bewusst.

Sie waren zu zweit, und obwohl sie ihn mit mürrischen Gesichtern ansahen, empfand er keine Furcht vor ihnen. Er lächelte sie an.

„So, das ist also der Jüngste,“ murmelte einer von ihnen.

Er hatte lange, schwarze Haare und trug ein ebenso schwarzes Gewand, das seine Statur umhüllte, ja scheinbar versteckte. Seine Augen, deren Pupillen an eine sternlose Nacht erinnerten, blickten ihn unter halb geschossenen Lidern an, beobachteten ihn, sahen und erkannten seine Wunden. Die harten, geschlossenen Lippen bekamen einen weichen Zug.

„Ja, er ist es,“ sagte er schließlich.

Er sah den Zweiten an, auf eine Äußerung wartend. Dieser hatte kurze blonde Haare, welche frischgewaschen aussahen, seine Augen hatten einen müden Ausdruck. Er trug eine weiße Toga, die an den Rändern mit alten, griechischen Zeichen verziert war. Und auf der rechten Seite tauchte langsam ein rotes Mal auf, das Blut einer Wunde, die nicht verheilen wollte.

„Wer seid Ihr?“

Die Stimme klang laut in die Stille hinein.

Beide traten an ihn heran und der erste stellte sich vor.

„Mein Name ist Luzifer,“ sagte er freundlich, „wir haben nur noch auf dich gewartet.“

Nun hatte der junge Mann die Gelegenheit, die Gesichter etwas besser zu sehen. Beide sahen ausgemergelt aus, die Wangen eingefallen, und doch spiegelte sich eine gewisse Ruhe in ihnen, eine Zufriedenheit… nein, ein Frieden strahlte von ihnen aus.

„Auf mich? Wieso denn auf mich? Was hat das zu bedeuten?“

Er war doch etwas unsicher. Der Blonde sah Luzifer an und nickte ihm zu.

„Erklär du es ihm.“

In der Nähe lagen einige größere Steine und Luzifer zeigte auf diese mit dem Vorschlag, sich doch zu setzen. Bei jedem Schritt wurde sich der junge Mann seiner Wunden wieder bewusst, doch stellte er fest, dass auch der Blonde sich seine blutende Seite hielt und auch Luzifer sich nur mühsam vorwärtsbewegte.

„Soviel Schmerz als Dank", seufzte er.

Der junge Mann sah auf seine Wunden und nickte.

„Was hast Du denn in deinem Leben getan?" fragte Luzifer ihn schließlich.

Nun seufzte der junge Mann.

„Ach, eigentlich wollte ich den Menschen zeigen, sie lehren, was wahre Liebe wirklich ist,“ flüsterte er.

„Und warum," erkundigte sich Luzifer.

Der junge Mann lächelte und schwieg eine Weile.

„Ich wollte ihnen doch nur einen Lichtblick in ihr trostloses Leben hineinbringen,“ antwortete er.

Die beiden anderen lachten laut auf.

„Licht,“ stieß der Blonde dann hervor, „Licht ist wahrlich etwas Gefährliches".

Nachdem der junge Mann ihn einige Momente lang verwirrt angestarrt hatte, sprach nun auch der Blonde.

„Ich bin Prometheus,“ stellte er sich vor, „auch ich hatte den Menschen Licht versprochen. Sie sollten sehen und erkennen können wie die Götter, denen ich diente. Und deswegen wurde ich bestraft“

Er schob seine Toga etwas zur Seite und ein länglicher Schnitt war zu erkennen. Der junge Mann starrte fassungslos auf die Wunde, die ihn an seine eigene erinnerte.

„Aber wieso denn,“ fragte er, „wieso kann jemand dagegen sein, dass jemand den Menschen Licht in ihr Leben bringt? Es nimmt ja nicht ab, wenn man teilt. Im Gegenteil, es vermehrt sich doch dadurch.“

Er war immer noch erschüttert.

„Wenn der Einäugige unter den Blinden als König verehrt wird,“ erklärte Prometheus, „dann ist der Sehende wahrlich ein Gott. Und Könige sowie Götter wollen etwas nicht verlieren, und das ist ihre Macht. Würde nun jemand die Blinden sehend machen, könnten diese erkennen, dass ihre Könige oder Götter auch nur Menschen sind, die eben einfach etwas mehr wussten als sie selbst. Sie würden anfangen, für ihre Gleichheit zu kämpfen und würden die Götter und Könige nicht mehr auf ihren bequemen Thronen verehren.“

Prometheus machte eine kleine Pause.

„Was sich die Wesen einfallen lassen, um von ihrer bequemen Position nicht weichen zu müssen,“ sagte er nachdenklich, „und wenn deswegen die Menschen als törichte, blinde Tiere durch die Gegend laufen müssen…"

Er schwieg.

Der junge Mann schüttelte empört den Kopf.

„Wie kann man nur solch brutalen Göttern dienen," sprach er schließlich zu Prometheus gewandt, „und wie kann man dich bestrafen, da du etwas dagegen unternehmen wolltest? Ich wurde immerhin dazu erschaffen, um das Leid der Menschen zu erleichtern! Mein Vater…"

Weiter kam er nicht.

„Dein Vater???" unterbrach ihn Luzifer und funkelte ihn böse an, „auch ich bin ein Lichtbringer, so wie es mein Name schon sagt,“ erklärte er wütend, „auch ich wollte der Menschheit die Augen öffnen, und der Gott, dem ich diente hat mich deswegen aus seinem Reich gestoßen. Ich muss Dir wohl nicht erklären, dass dieser Gott Dein Vater ist! Nur hat Herkules, der Sohn von Zeus, also ein Halbgott wie Du, Prometheus wenigstens von seinem Leiden erlöst.“

Luzifer schwieg einen kurzen Augenblick, dann bellte er.

„Sieh dich doch einmal an. Und gerade du, der fast dieselben Wunden wie Prometheus trägt, wolltest genau wie er auch nur der Menschheit ihre Göttlichkeit näher bringen. Und so wurdest auch du bestraft, weil du dir vorgenommen hast, den Menschen das Licht und die Liebe zu lehren. Du bist nicht der erste Sohn, der nicht das wird und macht, was der Vater von ihm verlangt.“

Der junge Mann ballte die Hände zu Fäusten.

„Wie wagst du es, meinen Vater anzugreifen,“ spie er Luzifer entgegen, „willst du behaupten, er hätte seinen eigenen Sohn geopfert?"

Luzifer schüttelte sanft den Kopf und flüsterte schließlich kaum hörbar.

„Er hat es auch von seinen Untertanen verlangt. Wieso sollte er dann bei dir eine Ausnahme machen, wenn er mit - sozusagen guten - Beispiel vorangehen will?"

Eine bedrückende Stille trat ein.

Prometheus griff nach der Hand des jungen Mannes. Die Wunde schien sich zu schließen und er konnte auch keine Schmerzen mehr fühlen. Der Fleck auf Prometheus Toga verdunkelte sich, was anzeigte, dass auch seine Wunde zu bluten aufgehört hatte.

„Hört auf euch zu streiten", sprach Prometheus schließlich, „es bringt uns nicht weiter, wenn wir selbst mit Licht und Liebe so wenig Erfahrung haben, um sie wenigstens bei uns richtig einsetzen zu können. Vergessen wir unsere Wunden und gehen wir, denn wir sind ja schließlich doch zu Hause angekommen.“

Er klopfte Luzifer freundschaftlich auf die Schulter und trat in den Wald, gefolgt von dem jungen Mann. Und der Lichtbringer ließ seinen schwarzen Umhang fallen und breitete seine weißen Flügel aus. Dann war auch er zwischen den Bäumen verschwunden.

Der Seher

Joreg arbeitete in einem Forschungsinstitut. Jeden Tag stand er um dieselbe Zeit auf, trank Kaffee, nahm seine Aktentasche und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Er nahm keine Zeitung und auch kein Buch mit zum Lesen, auch wenn die Zeit dazu gereicht hätte, doch manchen Artikel zu überfliegen. Manchmal ergatterte er noch einen Sitzplatz, auf dem er sich niederliess, einer Frau gegenüber, hinter deren Strümpfen er die ersten Krampfadern versteckt vermutete. Er starrte dann auf seine Aktentasche, die er auf dem Schoß hielt, bedacht, diese nicht zu verlieren, da sich darin Notizen zu seiner derzeitigen Arbeit befanden. An anderen Tagen jedoch musste er sich neben andere Menschen stellen, die Tasche zwischen den Beinen eingeklemmt. Auch dann beobachtete er sie, ließ den Blick jedoch auch auf seine Schuhe schweifen, und auf die des Nachbarn… waren dessen Schnürsenkel regelmäßiger gebunden… und wieder glitt der Blick zurück zur Aktentasche.

Seine Arbeit bestand größtenteils darin, Buchstaben und Ziffern zu notieren, welche zusammen für sein geschultes Auge und sein trainiertes Gehirn, Atome ergaben, dessen Aufbau er bestens verstand, für die Menschen jedoch, denen er zum Beispiel im Bus begegnete… welche dort neben ihm standen oder gegenüber saßen… absolut keinen Sinn ergeben würden. In Reihen neben Reihen, Tabellen unter Tabellen füllte er diese Zeichen ein, die sich auf den Blättern ergossen, wie der Regen, der dort an die Fenster tropfte, daran herunterlief und sich im Abfluss sammelte… Regen… H20… und … und… und… Am Ende des Tages ordnete er seine Tabellen ein und einen Teil davon verstaute er wiederum in der Aktentasche, verließ sein Büro und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle… würde er heute wieder einen Sitzplatz finden?

Eines Tages wurde er zu einer Ausstellung eingeladen. Interessiert und gebildet, wollte er sich erkundigen, worum es ging, doch keiner seiner Freunde und Bekannten wussten so recht, was es über den Künstler zu erzählen gab. Machte er Bilder oder Skulpturen oder waren es doch eher Fotografien? Nun, da die Ausstellung auch Samstags geöffnet war, schien es ihm doch eine gute Idee, sich diese doch einmal anzusehen. An jenem Freitag nahm er sich keine Arbeit mit nach Hause, seine leere Aktentasche unter dem Arm haltend, mit dem sich nicht festhielt um krampfhaft zu versuchen, nicht gegen die Leute zu stoßen, wenn der Busfahrer besonders stürmisch um die Straßenecken fuhr.