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Irland, im 9. Jh.: Während sich viele seiner Männer mit dem Leben in der Fremde angefreundet haben, zieht es Thorgrim Nachtwolf zurück nach Norwegen. Doch sein Schiff ist zerstört, und Thorgrim hat keine andere Wahl, als bei einem fremden Herrn anzuheuern. Bald merkt er: Die Nordmänner sind tief verstrickt in die Machtkämpfe der irischen Regionalmächte. Ehe er sich's versieht, stecken er und sein Sohn mitten im Kampf um den Thron von Tara. In einem Kampf, der sie auf die Probe stellen wird wie keiner zuvor ...
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Seitenzahl: 700
Cover
Über den Autor
Titel
Impressum
Vorwort
Widmung
Zitat
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
Epilog
Glossar
Dank
Bevor er begann, über das Segeln zu schreiben, lebte und arbeitete James L. Nelson sechs Jahre lang an Bord traditioneller Segelschiffe. Seine zahlreichen Sachbücher und Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit Preisen der American Library Association. Nelson liest in ganz Amerika aus seinen Büchern und tritt regelmäßig im Fernsehen auf. Er lebt mit seiner Frau Lisa und den gemeinsamen Kindern in Harpswell, Maine.
James L. Nelson
DIE WIKINGER –DER THRONVON TARA
Historischer Roman
Aus dem amerikanischen Englisch vonAlexander Lohmann
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:Copyright © 2013 by James L. NelsonTitel der amerikanischen Originalausgabe: »Dubh-Linn«Originalverlag: Fore Topsail Press
Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Dr. Frank Weinreich, BochumTitelillustration: © Arcangel/Collaboration JSUmschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-3978-9
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für meine wunderschöne Elizabeth,meine Wikingerprinzessin,
Dubh-Linn – ein gälischer Ausdruck, der »schwarzer Teich« bedeutet, Ursprung des modernen Dublin.
DIE SAGAVON THORGRIM ULFSSON
Einst lebte ein Mann mit Namen Thorgrim Ulfsson, den man auch Thorgrim Nachtwolf nannte.
Er war nicht besonders groß, aber sehr stark. Als Krieger war er geschickt und genoss hohes Ansehen, auch wurde er geschätzt für seine Dichtkunst. In seinen jüngeren Jahren ging er auf Wikingerfahrt mit seinem Jarl, einem wohlhabenden Mann, der als Ornolf der Rastlose bekannt war.
Durch seine Raubzüge erwarb Thorgrim einigen Reichtum, und er heiratete Ornolfs Tochter, Hallbera, die schön war und von sanftem Gemüt. Sie gebar ihm zwei kräftige Söhne und zwei Töchter. Thorgrim beschloss, auf seinem Bauernhof in Vik im Lande Norwegen zu bleiben und nicht länger auf Wikingerfahrt zu gehen.
Thorgrim Ulfsson war als Gutsbesitzer erfolgreich. Er war beliebt, und obwohl er ein ruhiger und besonnener Mann war, der nicht viele Worte machte und nicht zu Ausschweifungen neigte, so galt er doch als ein guter Gastgeber, der nie einen Fremden von seiner Tür wies und keinem Menschen einen Platz an seiner Tafel verwehrte. Bei Tage war Thorgrim freundlich und gutmütig gegenüber all seinen Männern und Knechten, aber wenn der Abend kam, wurde er oft reizbar, und die Leute vermieden es, ihm zu nahe zu kommen. Viele hielten Thorgrim für einen Gestaltwandler, und wenngleich niemand je gesehen hatte, wie Thorgrim sich von einem Menschen in etwas anderes verwandelte, so wurde er doch als der Nachtwolf bekannt.
Die Jahre vergingen, und Ornolf der Rastlose wurde alt und fett und blieb dennoch ein Mann von großer Tatkraft. Nachdem Thorgrims Frau, die er sehr geliebt hatte, bei der Geburt ihrer zweiten Tochter starb, überzeugte Ornolf Thorgrim, ein weiteres Mal mit ihm auf Fahrt zu gehen. Thorgrims ältester Sohn, Odd, war inzwischen zu einem Mann herangewachsen und besaß einen eigenen Hof samt Familie, und obwohl Odd schlau und kräftig war, nahm Thorgrim ihn nicht auf den Raubzug mit. Er glaubte, dass Odds Familie besser gedient wäre, wenn er zu Hause blieb.
Thorgrims jüngerer Sohn hieß Harald. Er war längst nicht so schlau wie Odd, doch er war treu und tüchtig und mit fünfzehn Jahren bereits so stark, dass man ihn Harald Starkarm nannte. Als Thorgrim mit Ornolf dem Rastlosen auf Wikingerfahrt ging, nahm er Harald mit, damit der sich als Mann und Wikinger bewähren konnte. Dies geschah im Jahr 852 nach dem christlichen Kalender, ein Jahr nach der Geburt von Harald Halfdansson, der als Harald Schönhaar der erste König von Norwegen werden sollte.
In diesen Tagen hatten die Norweger einen Longphort an der Ostküste von Irland errichtet, an einem Ort, den die Iren Dubh-Linn nannten: Das war der Ort, zu dem Ornolf mit seinem Langschiff, dem Roten Drachen, segeln wollte. Er wusste nicht, dass die Dänen inzwischen den Ort eingenommen und die Norweger vertrieben hatten. Auf dem Weg nach Dubh-Linn plünderten die Wikinger mehrere Schiffe, darunter eines, das eine Krone beförderte, die unter den Iren als die Krone der Drei Königreiche bekannt war. Es war der Brauch, dass derjenige König, dem die Krone der Drei Königreiche anvertraut wurde, die Vorherrschaft über alle anderen haben sollte. Diese Krone war nun jenem König bestimmt, der an einem Ort namens Tara herrschte. Er wollte die Macht der Krone benutzen, um die Nordmänner aus Dubh-Linn zu vertreiben. Seine Pläne wurden jedoch gestört, als Ornolf und seine Männer das Schiff plünderten und die Krone raubten.
Der Verlust der Krone sorgte für Aufruhr unter den Iren, und der König von Tara verkündete seinen Männern: »Wir müssen alles tun, damit ich die Krone gewinne und wir diese Dubh Gall aus unserem Land vertreiben können.« Dubh Gall, »Schwarze Fremde«, war das Wort, mit dem die Iren die Dänen bezeichneten, während sie die Norweger Fin Gall nannten, »Weiße Fremde«. Der König und seine Männer versuchten, die Krone wiederzuerlangen, und das verwickelte die Wikinger in viele Abenteuer und Kämpfe.
Ungefähr zur selben Zeit vertrieb der Norweger Olaf der Weise die Dänen aus Dubh-Linn. Ornolf, Thorgrim und diejenigen ihrer Männer, die die Kämpfe überlebt hatten, schlossen sich diesem Kriegszug an und fanden danach gastliche Aufnahme in dem Longphort. Tatsächlich fühlte Ornolf sich dort derart willkommen, dass er gar keine Lust mehr hatte, Dubh-Linn wieder zu verlassen oder zu seiner Frau zurückzukehren, die bekannt war für ihre scharfe Zunge und ihr zänkisches Gemüt.
Thorgrim jedoch war Irland längst leid und wünschte sich nichts sehnlicher, als seinen Hof in Vik wiederzusehen. Aber das Langschiff, mit dem sie nach Irland gekommen waren – der Rote Drache – war gesunken, und Thorgrim musste für sich und Harald eine andere Möglichkeit finden, um wieder heimzukehren.
Davon erzählt die folgende Geschichte …
Wörter bringen mich nicht zu Fall.Ich, der Schlachterprobte,Tod vieler Männer,ließ mein Schwert für mich sprechen.
Gisli Surssons Saga
In den dunklen Stunden vor dem Morgengrauen ruhten die Langschiffe wie schlafende Raubvögel – dunkel, still, mit gefalteten Flügeln.
Ein halbes Dutzend von ihnen hob und senkte sich in der vom Meer hereinkommenden Dünung. Davon abgesehen verweilten sie reglos, die Segel eingerollt und die Rahen längs gestellt. An jeder Reling hingen runde Schilde aufgereiht. Eine Meile vor ihrem Bug, vor den anmutig gebogenen Steven, deren hartes Eichenholz mit Drachen- und Vogelschnitzereien verziert war, erstreckte sich die Südküste von Irland, der Einschnitt in der Küstenlinie, wo das Wasser dem Kloster von Cloyne am nächsten kam. Das Festland war so gerade eben zu erkennen, ein dunkel aufragender Umriss, der sich im Licht des Halbmonds über ihnen abzeichnete.
Die Flotte war von Dubh-Linn gekommen, unter Segeln und Rudern erst südwärts gefahren, dann nach Westen entlang der Küste. In der letzten Nacht hatten die Mannschaften ihre Schiffe auf einen sandigen Strand ein paar Meilen entfernt gezogen. Einige Stunden vor der Morgendämmerung hatten die Männer, schlaftrunken und missgelaunt, die Schiffe wieder ins Meer geschoben. Es war eine windstille Nacht, also legten sie das letzte Wegstück längs der Küste mit den Rudern zurück, bis sie an die Flussmündung kamen – die Stelle, wo sie an Land gehen und das Rath, die Stadt sowie das Kloster dort überrollen wollten. In einer Stunde wollten sie jeden Mann, jede Frau und jedes Kind innerhalb von drei Meilen in ihrer Gewalt haben, Menschen, die – wie sie hofften! – im Augenblick nicht einmal ahnten, dass die Wikinger vor ihren Toren standen.
Die Schiffe waren unterschiedlich groß. Die kleineren bargen zwanzig oder dreißig Krieger in ihrem Inneren und waren damit schon überfüllt. Die größeren Langschiffe boten Ruderbänke für vierzig Mann, während ihre Rümpfe mit Leichtigkeit die doppelte Menge aufnehmen konnten. Insgesamt warteten beinahe dreihundert Wikinger nervös in der Morgenkühle.
Es war nicht der bevorstehende Kampf, der ihnen Sorgen bereitete. Ganz im Gegenteil: Die Aussicht auf eine blutige Schlacht munterte sie auf. Darum waren sie hier! Viele der Männer standen in Gedanken bereits im Schildwall, während sie dumpf in der Finsternis brüteten. Sie malten sich ihre Schwertstöße aus und das Gefühl einer Streitaxt, wie sie ihr Ziel traf. Diese Vorstellung tröstete sie.
Es war die Dunkelheit, die sie nicht mochten. Die Nordmänner hassten die Dunkelheit. Auch wenn kein lebender Mensch ihnen Furcht einflößen konnte, so fürchteten sie doch jene dräuenden Dinge im Schatten, die nicht von dieser Welt waren, die in verborgenen Winkeln an Land lauerten oder, schlimmer noch, im schwarzen Wasser unter dem Kiel. So saßen sie also auf ihren Ruderbänken und richteten ihre Rüstung und die Waffen, diese Männer aus dem Norden, und sie warteten auf die Wiederkehr der Sonne und den Befehl, die Ruder aufzunehmen und auf die ferne Küste zuzuhalten.
Von dem Heck des Langschiffs, das als Schwarzer Rabe bekannt war, schaute Thorgrim Nachtwolf zum Land. Eine Hand ruhte auf dem Griff seines Schwertes. Mit der anderen zupfte er an der Fibel, die den Fellmantel um seinen Hals hielt, und löste seine Barthaare aus dem fein gearbeiteten Metall. Sein Gesichtshaar war nicht mehr so kohlrabenschwarz wie in jüngeren Tagen. Wenige Wochen zuvor hatte er sein Spiegelbild in einem Silberkelch erblickt und feststellen müssen, dass sein Bart jetzt von Weiß durchsetzt war und dem letzten Winterschnee glich, der sich an schattigen Plätzen hielt und einfach nicht schmelzen wollte.
Er spürte, wie das Schiff im Wellengang leicht eindrehte. Schon wandte er sich um und wollte den Rudergänger anweisen, den Rumpf in Position zu halten. Doch gerade rechtzeitig erinnerte er sich daran – nicht zum ersten Mal! –, dass er nur als Gast an Bord war und keine Befehlsgewalt besaß, selbst wenn man ihm einen Ehrenplatz achtern eingeräumt hatte.
Der Mann, dem das Schiff gehörte, der Mann, der den Nordmännern auf den Ruderbänken befahl, hieß Arinbjorn Thoruson, und sein makelloses Lächeln hatte ihm den Namen Arinbjorn Weißzahn eingebracht. Thorgrim konnte ihn an der gegenüberliegenden Reling gerade noch ausmachen. Er überlegte, ob er die Bewegung des Schiffes ansprechen sollte. Doch noch sah es nicht so aus, als würden sie gegen eines der anderen Boote stoßen, also behielt Thorgrim seine Meinung für sich. Er war kein Mann, der das Wort ergriff, wenn eine Sache ihn nichts anging, und oft genug schwieg er selbst dann lieber.
Als hätte er gespürt, dass Thorgrim ihn anblickte, überquerte Arinbjorn das schmale Deck und stellte sich neben ihn. Er nickte in Richtung der Küste. »Was meinst du, Thorgrim?«, fragte er, mit einer beiläufigen Note in seiner Stimme, einer Lässigkeit, die an Thorgrims Nerven zerrte. »Diese Iren, werden sie uns was entgegensetzen?«
»Das ist schwer zu sagen, bei den Iren.« Thorgrim wählte seine Worte mit Bedacht. Er hielt sich nun schon seit fast einem halben Jahr in Irland auf, hatte viel über das Land und die Bevölkerung gelernt, und im Großen und Ganzen verachtete er beides. Die meisten der Männer, die mit ihm und Ornolf dem Rastlosen aus Norwegen gekommen waren, hatten den Tod gefunden bei all den Gewalttätigkeiten, die der Krone der Drei Königreiche zu folgen schienen wie ein Schwarm wütender Bienen. Jene, die überlebt hatten, waren am Ende in einem aus Holz und Fellen gefertigten irischen Boot auf die hohe See hinausgetrieben, bis die große Flotte von Olaf dem Weißen sie auf ihrem Weg nach Dubh-Linn aufgelesen hatte.
»Schwer zu sagen«, wiederholte Thorgrim. Arinbjorn stand nur wenige Fuß entfernt, eine dunkle Gestalt in Schwarz und Grau, die im Mondlicht und unter dem Fellumhang massig wirkte. Seine Zähne schimmerten in der Dunkelheit. Thorgrim wandte den Blick ab und schaute in Richtung der Küstenlinie. Er hatte das Gefühl, dass die Dämmerung näher rückte und das Land schon viel besser zu sehen war. »Manchmal laufen sie beim Anblick eines Langschiffs gleich davon«, führte er aus. »Manchmal halten sie stand und kämpfen. Oft hängt das von ihren Nachbarn ab. Jeder dritte Ire ist König über irgendeine Kuhweide. Wenn sie miteinander im Krieg stehen, fehlen ihnen die Männer oder der Mumm für den Kampf mit uns. Wenn sie sich allerdings gegen uns zusammentun, können sie eine anständige Streitmacht zu Felde führen und uns ernsthaft zusetzen.«
Arinbjorn schwieg eine Weile. »Ich verstehe«, sagte er schließlich. »Nun, bald genug werden wir sehen, wie die Dinge hier liegen.«
Thorgrims Geist wanderte zu dem Tag zurück, da er zuletzt in Erwartung eines Kampfes auf dem Deck eines Wikingerboots gestanden hatte. Das war bei der Eroberung Dubh-Linns gewesen, und am Ende hatte es keine große Anstrengung erfordert. Olafs Streitmacht war überwältigend und Dubh-Linn inzwischen kein Vorposten mehr, der sich mit Müh und Not an der irischen Küste hielt. Es war eine echte Ansiedlung mit Händlern und Braumeistern und Schmieden und Zimmerleuten, mit allen Arten von Kaufleuten und Handwerkern, die sich keinen Deut darum scherten, wer die Stadt regierte, solange man sie nur in Ruhe ihren Lebensunterhalt verdienen ließ. Die paar Dänen, die bereit waren, für die Verteidigung Dubh-Linns ihr Leben zu lassen, starben schnell, und der Rest hieß die Neuankömmlinge mit einem Achselzucken willkommen.
Ornolf der Rastlose und Olaf der Weiße kannten sich seit Jahren und waren gute Freunde. Beide liebten Speis und Trank und Frauen, und all das bot der aufblühende Longphort im Überfluss. Bald verkündete Ornolf, dass dieses neue Dubh-Linn ein Ort war, der es vermutlich sogar mit Walhalla aufnehmen könne, nur ohne die Mühe, Tag für Tag zu Felde ziehen und seine Festgenossen erschlagen zu müssen. Ornolf hatte zunächst bei Odin geschworen, dass er so schnell wie möglich nach Norwegen zurückkehren werde. Aber die Schwüre wurden immer seltener mit jeder Nacht, die er in der Festhalle verbrachte. Schließlich, als ohnehin niemand mehr seinen Beteuerungen glaubte, hörte er auch damit auf, sich selbst etwas einzureden.
Thorgrim war mittlerweile überzeugt, dass es heller wurde, und überall auf dem Schiff bewegten sich die Männer, wie vom ersten Grau der Morgendämmerung zum Leben erweckt. Thorgrim konnte seinen Sohn Harald erkennen, auf der vierten Ruderbank von hinten, Backbordseite. Der Junge war gewachsen, seit sie mit Ornolf, Haralds Großvater, von Vik losgesegelt waren. In vielerlei Hinsicht gewachsen. Körperlich war er nun zweimal der Jüngling, der er damals gewesen war. Er war inzwischen mindestens so groß wie Thorgrim, vielleicht größer. Thorgrim wollte nicht darüber nachdenken.
Auch an den Armen und am Brustkorb hatte Harald zugelegt. Er gehörte zu der Art Mann, die nie müßig herumstehen konnte. Wenn es etwas zu tun gab, war er als Erster zur Stelle, und wenn es keine Arbeit gab, dann fand er welche.
In Dubh-Linn waren sie bei einem Grobschmied aus Trondheim untergekommen, einem Mann namens Jokul, und bei seiner schönen irischen Frau. Unter den Handwerkern, die nach Dubh-Linn gekommen und geblieben waren, all den Zimmerleuten und Kammmachern, Gerbern und Goldschmieden, wurden die Schmiede am häufigsten nachgefragt, und unter ihnen galt Jokul als der Beste. Sein Haus und seine Werkstatt waren größer und besser ausgestattet als die meisten anderen.
Dennoch hatte der Schmied den beiden Männern aus Vik zuerst nur widerwillig einen Platz in seinem Haus vermietet. Tatsächlich war es seine Frau Almaith gewesen, die ihn am Ende umstimmte. Das wiederum hatte Thorgrim beunruhigt, weil er nicht sicher war, warum sie so eifrig darauf bedacht war, dass sie blieben. Er hatte befürchtet, dass nicht nur lautere Motive dahintersteckten, und das konnte zu Ärger führen, wie er nur zu genau wusste. Im Laufe seines Lebens hatte er so ziemlich alles erlebt, was zwischen Männern und Frauen passieren konnte, und oft genug hatte er selbst dabei die führende Rolle gespielt.
Am Ende bestätigte sich keine seiner Sorgen. Thorgrim nahm an, dass Almaith einfach nur auf den Mietzins aus war, und vielleicht noch eine Ablenkung von Jokul suchte, der keine angenehme Gesellschaft darstellte. Harald war aus unerfindlichen Gründen ganz begierig darauf, die irische Sprache zu lernen, und Almaith, die Irin, erwies sich als geduldige Lehrerin, die ihm gern die Grundzüge vermittelte. Der Junge war von Natur aus eifrig und neugierig. Er folgte dem Schmied überall hin und suchte nach Gelegenheiten, um mit anzufassen, und bald teilte Jokul ihm reichlich Arbeit zu.
Nachdem der junge Mann monatelang Holz gespalten und gestapelt, das aus Holzrahmen und Flechtwerk gefertigte Haus ausgebessert, den Blasebalg an der Esse bedient und sogar ein wenig schmieden gelernt hatte, trat auch Jokul etwas gastfreundlicher auf. Thorgrim wusste, dass ihr Gastgeber es bedauern würde, wenn sie wieder abreisten. Tatsächlich hatte er bereits versucht, ihnen die Teilnahme an dem Raubzug auszureden, zu dem sie nun unterwegs waren.
Haralds unkrautartiges Wachstum und die fast ununterbrochene Arbeit gingen mit einem Appetit einher, der einem Bären zur Ehre gereicht hätte. Aber auch das war in Dubh-Linn kein Problem. Die Iren verabscheuten die Fin Gall vielleicht, genau wie die Dubh Gall vor ihnen, doch der Longphort war ein einträglicher Markt, der von geplündertem Gold und Silber förmlich überschwemmt wurde. Tag für Tag schoben die Bauern ihre Karren durch die hohen Tore im Palisadenwall, trieben die Schäfer, die Schweinehüter und Kuhhirten ihre Tiere über die schlammigen Bohlenwege zum Marktplatz. All das schien in Haralds Magen zu landen und fügte seiner Gestalt ein Pfund Muskeln nach dem anderen hinzu. Einer von Ornolfs Männern hatte ihn vor Kurzem Harald Starkarm genannt, und dieser Name blieb hängen.
Thorgrim sah zu, wie sein Sohn ein paar zusätzliche Muskeln an den Armen zulegte, die jetzt schon der Last des Ruderns mehr als gewachsen waren. Er fragte sich, wer von ihnen beiden wohl gewann, sollten sie je aneinandergeraten. Nicht, dass so etwas jemals geschehen konnte. Thorgrim liebte Harald mehr als alles andere, und er würde eher sein Leben für den Jungen geben, als dass er die Hand gegen ihn erhob. Dennoch stellte er sich diese Frage …
Ich habe die Erfahrung und die List auf meiner Seite, dachte er, selbst wenn die Jugend und die Schnelligkeit für Harald sprechen. Aber natürlich hatte er Harald seit dessen fünftem Lebensjahr ausgebildet, bei gemeinsamen Übungen mit Schild und Schwert, Streitaxt und Speer. Er hatte viel von seinem beträchtlichen Geschick im Umgang mit den Waffen an seinen Sohn weitergegeben.
Ein schwaches Licht teilte im Osten den Horizont, das Wasser und den Himmel, als die Sonne schließlich ohne viel Kraft dort emporstieg. Eine Stimme hallte über die Wogen. »Nehmt die Ruder auf!« Es war Hoskuld Feilan, der als Hoskuld Eisenschädel bekannt war – der Jarl, dem die Donnergott gehörte, das größte Langschiff der Flotte, der Mann, der diesen Überfall an die irische Küste anführte. Bei dem Befehl hob sich die lange Reihe von Rudern an der Seite der Donnergott wie ein einziges und bewegte sich in vollkommenem Einklang nach vorne. Da die Ruderer hinter den hell bemalten Schilden verborgen blieben, hatte der Anblick etwas Überirdisches, als wäre das Schiff selbst zum Leben erwacht.
»An die Ruder! Nehmt die Ruder auf!«, schrie Arinbjorn Weißzahn. Auf den Ruderbänken des Schwarzen Raben, Backbord und Steuerbord, vorn sowie achtern, drückten die Männer die schweren Riemenstangen nach unten und nach hinten. »Uuunnd ziiieht!«, rief Arinbjorn als Nächstes, und die Ruder senkten sich wie eines, als die Männer sich zurücklehnten, und der Schwarze Rabe Fahrt aufnahm. Von einem trägen, schlafenden Ding wandelte das Schiff sich zu etwas Lebendigem, und das Wasser rauschte an seinen Flanken. Die Planken ächzten, als die Kraft der Ruder gegen die Ruderlöcher drückte, die Bewegung veränderte sich von einem behäbigen Schlingern zu einem entschlossenen Schub nach vorne. Thorgrim fühlte, wie sich seine Stimmung mit dem Schiff unter seinen Füßen hob.
Er schaute nach Osten und nach Westen, wo sich in rascher Folge der Rest der Flotte in Bewegung setzte und auf die Küste zuhielt, hinter der Donnergott aufgefächert wie Krieger in einer Keilformation. Während er den Blick schweifen ließ, sah er auch Harald an und hoffte, dass der Junge es nicht bemerkte – er sollte nicht denken, dass Thorgrim ihn ihm Auge behielt. Aber Harald war ganz auf seine Tätigkeit konzentriert und behielt den Mann heckwärts von ihm im Auge, das Meer und die Takelage über ihm. Ein guter Seemann mit dem Blick fürs Wesentliche.
Thorgrim spähte Richtung Küste. Steuerbord und backbord fiel das Land schroff bis zum Wasser ab, aber gleich vor ihnen schien es sich zu öffnen und sie willkommen zu heißen. Durch diese Lücke würden sie rudern, dann einige Meilen einen Fluss hinauf bis zu ihrer Landungsstelle. Thorgrim konnte keinerlei Bewegung an Land ausmachen. Dort war niemand.
Der Sommer war fast vorbei gewesen, als sie den Roten Drachen zum ersten Mal den Liffey hinauf bis zum Longphort von Dubh-Linn gelenkt hatten, und es war spät im Herbst, als sie mit der Flotte von Olaf dem Weißen zurückkehrten. Selbst wenn Ornolf ernsthaft versucht hätte, ein Schiff zu besorgen und seine Männer nach Norwegen zurückzuführen, wäre es vermutlich Winter geworden, ehe sie hätten in See stechen können. Aber Ornolf hatte überhaupt keinen Versuch unternommen, und so verbrachten seine Männer die Wintermonate in Dubh-Linn, den ganzen erbärmlichen grauen, nassen Winter in der überfüllten, übelriechenden und im Schlamm versinkenden Stadt.
Sobald Thorgrim klar wurde, dass Ornolf kaum ein Interesse daran hatte, sich oder die Männer nach Hause zu bringen, bat er um Erlaubnis, allein für seine Reise zu sorgen, und erhielt sie auch. Ornolf wollte nicht, dass er zurückkehrte, und noch viel weniger wollte er seinen Enkel gehen sehen. Doch bei aller trunkenen Großspurigkeit hatte Ornolf durchaus ein Gefühl dafür, wie andere Männer die Welt sahen. Er, Ornolf, hatte Thorgrim zu dieser Wikingerfahrt überredet, größtenteils gegen Thorgrims Willen. Er wusste, dass Thorgrim in der Hoffnung mitgekommen war, den Schmerz über Hallberas Tod damit zu betäuben. Wenn er darüber nachdachte, was er so selten wie möglich tat, dann vermutete Ornolf, dass er selbst aus dem gleichen Grund ausgezogen war. Ornolf wusste aber auch, dass Thorgrim jetzt darauf brannte, wieder heimzukehren.
Wie er aber nach Hause gelangen sollte, das war eine andere Angelegenheit. Als Thorgrim die Anlegestellen und die Festhalle durchstreifte und Wikinger und Jarls kennenlernte, da merkte er bald, dass keiner von ihnen nach Norwegen zurückkehren wollte, ehe ihre Schiffe nicht bis zur Oberkante gefüllt waren mit den legendären Reichtümern Irlands. Es würde weitere Raubzüge und Plünderungen geben, bevor auch nur die geringste Aussicht bestand, dass sie wieder ostwärts segelten. Thorgrim hatte nichts gegen Raubzüge und Plünderungen. Er hatte vermutlich mehr davon mitgemacht, als drei beliebige andere Männer zeit ihres Lebens zuwege brachten. Doch er war nicht länger der junge Mann, der er einmal gewesen war, und er sehnte sich nach seinem Zuhause.
Zu diesem Zeitpunkt war Thorgrim Nachtwolf schon eine Berühmtheit in Dubh-Linn, sein Ruf als Krieger eilte ihm voraus. Geschichten über seine letzten Taten hatten sich in der Festhalle verbreitet – wie er die Männer unter seiner Führung aus den Händen der Dänen in Dubh-Linn befreit hatte, und wie er gegen die Truppen des irischen Königs bei Tara angetreten war. Verstohlen flüsterten die Wikinger über die Gestaltwandlung, die man ihm nachsagte – wenn Thorgrim nicht dabei war.
Eines Nachts, ungefähr einen Monat nach seiner Rückkehr nach Dubh-Linn, hatten drei kräftige, betrunkene und gut bewaffnete Krieger Thorgrim aufgelauert, als er die Festhalle verließ. Sie wollten sich einen Namen machen und waren trunken von den Geschichten über den Nachtwolf. Der Kampf dauerte nicht lange, und für die drei Männer nahm er ein schlechtes Ende. Tatsächlich blieb jeder Einzelne von ihnen schließlich übel zugerichtet im Schlamm liegen. Danach begegnete man Thorgrim durchweg mit höflichem Respekt.
All dieser Umstände war er sich wohl bewusst, und er ging davon aus, dass sein Ruf ihm half, einen Platz auf einem Schiff zu finden. Doch das Gegenteil war der Fall. Natürlich behandelte man ihn gut, und die Männer luden ihn gern zum Essen oder Trinken ein. Wenn er in guter Stimmung war, suchten viele seine Gesellschaft. Aber wenn es darum ging, ihn in die Mannschaft zu holen, dann schien es jedes Mal gerade keinen Platz auf dem Schiff zu geben. Es dauerte ungefähr einen Monat, bis Thorgrim schließlich verstand, dass kein Schiffsführer einen weiteren befehlsgewohnten Mann an Bord haben wollte, einen erfahrenen Kämpfer, der Entscheidungen infrage stellen oder zum Unruhestifter werden mochte. Er brauchte gar nicht erst zu versuchen, jemanden davon zu überzeugen, dass er nur seinen Platz im Schildwall einnehmen und seine Arbeit tun wollte, um nach Hause zu kommen.
Gerechterweise musste Thorgrim zugeben, dass er selbst einen Mann wie sich nicht an Bord gelassen hätte.
Er spielte bereits mit dem Gedanken, selbst ein Boot zu bauen, das ihn und Harald zurück nach Vik bringen konnte, als Arinbjorn Weißzahn ihn am Kai ansprach.
»Thorgrim Ulfsson«, sagte er. »Wie ich höre, suchst du einen Platz auf einem Schiff.«
Thorgrim musterte ihn von oben bis unten. Gut gekleidet, silberne Einlegearbeiten am Griff seines Schwertes, eine Fibel aus Silber und Gold hielt den Umhang aus Bärenfell zusammen. Er war ein wohlgebauter Mann und sah mehr wie ein Jarl aus als wie ein Bauer oder Fischer. Nein, nicht wie ein Jarl. Wie der Sohn eines Jarls.
»Da hörst du richtig«, antwortete Thorgrim. Seine Stimmung, die nie besonders heiter war, war zu diesem Zeitpunkt infolge der steten Enttäuschungen und des unaufhörlichen, quälenden irischen Regens an einem Tiefpunkt angelangt. Wäre es später am Tag gewesen, hätte man ihn gar nicht mehr ansprechen dürfen. Andererseits – wäre es später am Tag gewesen, hätte er sich längst an einen Ort zurückgezogen gehabt, wo man ihn nicht so leicht aufgefunden hätte.
»Ich brauche einen Mann wie dich«, sagte Arinbjorn.
»Tatsächlich? Niemand sonst braucht so einen, wie es scheint.«
»Die anderen fürchten sich vielleicht vor dem Nachtwolf. Ich nicht. Ich heiße jeden an Bord meines Schiffes willkommen, der ein Schwert oder eine Streitaxt zu führen versteht.«
Thorgrim hatte nur eine einzige Bedingung: dass Harald gleichfalls einen Platz erhielt. Arinbjorn stimmte begeistert zu. So kam es, dass Thorgrim Nachtwolf zwei Wochen später auf die irische Küste zuhielt, sich bereit machte, über die niedrige Reling ins seichte Wasser zu springen, einen schmalen Pfad hinaufzustürmen und über die ahnungslosen Bewohner des Raths und des Klosters herzufallen, die gleich hinter dem hohen Küstenstreifen liegen sollten.
Das Heck des Schwarzen Raben hob sich ein wenig, als die Dünung vom Meer unter dem Kiel hindurchlief. Es senkte sich wieder, als stattdessen der Bug nach oben stieg. Sie liefen in die breite Mündung ein und hatten das Land nun zu beiden Seiten, die schweren Wellen des Ozeans verliefen sich im flacheren Wasser. Die Sonne war inzwischen aufgegangen, der Himmel blieb grau, doch es fiel kein Regen. Mit der ihnen eigenen Eleganz glitten die Wikingerboote zunehmend schwungvoller auf den Uferstreifen zu, der sich in mattem Grün und Braun vor ihnen abzeichnete.
»Schau!«, rief Arinbjorn. Er zeigte über den Bug hinweg nach Steuerbord. Thorgrims Blick folgte der Geste. Da standen Männer auf dem niedrigen Hügelkamm, der sich am Ufer hinzog. Vor dem grauen Himmel waren sie gerade noch auszumachen, vier oder fünf Gestalten.
»Schäfer? Was meinst du?«, fragte Arinbjorn. »Fischer, vielleicht?«
»Vielleicht …«, sagte Thorgrim ohne große Überzeugung. Und kaum hatte er das Wort ausgesprochen, erschienen drei weitere Männer. Sie saßen auf den mitleiderregenden kleinen Kleppern, die die Iren als Pferde bezeichneten. Sie schienen die herankommenden Schiffe zu beobachten – was hätten sie auch sonst ansehen sollen? Dann machten sie kehrt und verschwanden außer Sicht.
Nun gut, dachte Thorgrim. Wir haben noch eine Menge anderer Vorteile auf unserer Seite. Das Überraschungsmoment war nur einer davon.
Schwer zu finden ist einer,dem man trauen kann,unter allen Männern dieser Welt,denn der ruchlose Verderber der Sippevergisst den Tod des Brudersim Glanz des Goldes.
Egils Saga
Die Kirche im Inneren des Raths, des kreisrunden Schutzwalls, der Tara umgab, wo der Hochkönig von Brega und, wie mancher sagte, von ganz Irland residierte, war nicht sonderlich aufsehenerregend. Was auch nicht allzu bemerkenswert war, lagen Tara und Irland doch am Rande der zivilisierten Welt. Das von Balken getragene Gebäude war rechteckig und nicht besonders groß. Das hohe, spitze Dach war jedoch mit frischem Stroh gedeckt, die langen, getrockneten Halme kunstvoll um den First und um das Dachgesims herum geflochten und gebogen. Die Wände bestanden aus Flechtwerk, waren frisch geweißt und so glatt verputzt, dass sie an den wenigen und bemerkenswerten Sonnentagen glänzten wie die Glasscheiben in den Fenstern.
Das Innere war aufgeräumt und sauber geschrubbt und gefegt, vom Tabernakel bis zur Vorhalle. Die Kirche sah so gut aus, wie sie nur aussehen konnte. Aber das war auch nur angemessen. An diesem Tag, an demselben Tag, an dem Thorgrim Nachtwolf und Harald Thorgrimson sich auf einen blutigen Kampf auf irischer Erde vorbereiteten, sollte hier nämlich eine königliche Hochzeit stattfinden.
Im Sommer hätte man die Dachsparren, die Balken und den Altar ganz hinten prachtvoll mit farbenfrohen Feldblumen geschmückt – mit Ackerwinde, rosa Weidenröschen, gelbem Wasserkreuzkraut und Purpurstorchschnabel. Vielleicht hätte draußen sogar aus einem strahlend blauen Himmel die Sonne geschienen, sodass man die Fenster und Türen hätte offen stehen lassen, damit die süße, warme Luft hineinwehte.
Doch es war nicht Sommer. Der Frühling hatte noch kaum begonnen, und der Himmel war so tiefgrau, dass er beinahe schwarz wirkte, dazu goss es in Strömen. Bunte Stoffbahnen hingen überall in der Kirche, aber das war nur ein ärmlicher Ersatz für die Blumen. Die Fenster und Türen blieben bei Regen geschlossen. In regelmäßigen Abständen standen Fackeln und Kerzen und drängten das Zwielicht zurück, das die Kirche erfüllte, und immer noch waren weite Teile des Raums von tiefen Schatten verhüllt, obwohl es gerade Mittag schlug. Der Schlamm ließ den Steinboden schlüpfrig werden, dabei waren bislang nur der Abt und die Frauen des Hofes eingetreten, um den Ort für den freudigen Anlass vorzubereiten.
Morrigan nic Conaing überwachte die Vorbereitungen für das Fest wie ein König, der seine Armee anführt. Sie sauste durch die Kirche und gab gut acht, auf dem glitschigen Grund nicht auszurutschen. Vor dem Altar hielt sie inne und blickte den Mittelgang entlang. Sie runzelte die Stirn. Wenn alle Gäste eingetreten waren, würde der Schlamm den Boden erst recht tückisch machen. Die Braut konnte ausrutschen und auf die Steine stürzen.
Hmm … Morrigan dachte über diese Möglichkeit nach. Wäre das ein Unglück? So mancher Umstand ließ einen derartigen Unfall durchaus als wünschenswert erscheinen. Doch es war ihr Bruder, Flann mac Conaing, der die Braut hereinführen und sie den Gang entlang begleiten würde. Wenn die Braut fiel, könnte sie ihn mitreißen. Es würde seine Stellung auf Tara gewiss nicht stärken, wenn er gemeinsam mit dieser armseligen Schnepfe hilflos auf dem dreckigen Boden zappelte.
»Du da, Brendan«, fuhr sie einen Sklaven an, der Wachstropfen von den Fliesen kratzte.
»Herrin?«, fragte Brendan in angemessen unterwürfigem Tonfall.
»Sieh zu, dass frische Binsen für den Gang bereitliegen. Achte darauf, dass sie ausgestreut werden, kurz bevor die Gäste eintreten.«
»Ja, Herrin.«
Das war alles, was Morrigan hören wollte.
Die Braut war Brigit nic Máel Sechnaill, Tochter von Máel Sechnaill mac Ruanaid, dem verstorbenen Hochkönig von Tara, der in einem der vielen kleinen Scharmützel gefallen war, wie sie die zahlreichen Könige von Irland andauernd führten. Trotz all der Trauer, die nach Máels Tod gezeigt worden war, bei allem Wehgeschrei und Zähneknirschen, wusste Morrigan nur zu gut, was für ein bösartiger und brutaler Mann er in Wahrheit gewesen war. Sie war überzeugt davon, dass seine Verderbtheit der Aufmerksamkeit des Herrn nicht entgangen war, und dass Gott Máels Seele in die Tiefen der Hölle gestürzt hatte, noch bevor sein toter Körper auf dem Boden aufgekommen war.
Sein Feind auf dem Schlachtfeld war an diesem Tage Cormac ua Ruairc gewesen, der König von Gailenga und der Bruder von Brigits verstorbenem Gemahl. Die Bündnisse, die Feindschaften, die Intrigen in Irland glichen den Schnitzereien der Nordmänner, in denen allerhand Fabelwesen in einem endlosen Muster ineinander verdreht und verwoben waren.
Cormac hatte die Schlacht verloren, und für seinen Versuch, die Macht des Hochkönigs und Herrn von Brega an sich zu reißen, hatte man ihn vor den Resten seiner Streitmacht an einen Pfahl gebunden und ihm die Eingeweide herausgeschnitten. Das Gute daran war, dass es Cormacs überlebende Gefolgsleute dazu brachte, die Sklaverei zu begrüßen, die sie nun erwartete.
Keiner wusste, wie Máel Sechnaill gestorben war. In der Hitze des Gefechts hatte niemand ihn fallen sehen. Erst als die Männer von Gailenga aufgegeben hatten, als sie ihre Waffen niederwarfen, da hatte man auch den Hochkönig aufgefunden: gestürzt, mit Schlamm bespritzt, weit aufgerissene Augen und eine tiefe Schwertwunde im Hals.
Morrigan ließ noch mal einen kritischen Blick durch die Kirche schweifen. Sie runzelte die Stirn beim Anblick der hohen Kerzen, die auf jeder Seite des Altars brannten. Die eine war zehn Zoll kürzer als die andere. Gewiss würde es besser aussehen, wenn beide dieselbe Größe hatten. Aber war das die zusätzlichen Kosten für zwei neue Kerzen wert? Wenn sie es so beließ, würde es dann den Eindruck machen, als ob Brigit und ihre Hochzeit sie nicht interessierten? Tatsächlich interessierte sie sich sogar sehr dafür. Im Augenblick dachte sie an kaum etwas anderes als an Brigit und an das, was in Folge dieser Ehe geschehen mochte. Sie machte sich so viele Gedanken darüber, dass es sie regelrecht rasend machte. Sie fühlte sich wie ein Weinschlauch, der bis zum Bersten gefüllt war mit Ärger, aber sie unterdrückte dieses Gefühl und ließ es nicht heraus.
Die Kerzen waren gut genug, wie sie waren!
Morrigan hörte, wie eine Tür aufschwang. All die Kerzenflammen in der Halle flackerten und tropften und beruhigten sich wieder, sobald die Tür sich schloss. Donnel rannte in die Halle hinein, der Mantel hing ihm nass und tropfend von den Schultern, seine Schuhe und Beinkleider waren braunverschmiert vor Schlamm und glitzerten feucht.
Donnel und sein Bruder Patrick waren Schäfer gewesen, bis sie über einen jungen Edelmann stolperten, der die Krone der Drei Königreiche nach Tara hatte bringen sollen und von den Nordmännern beraubt worden war. Die Schäfer hatten den Mann zu Máel Sechnaill geschafft, und ihnen gefiel, was sie in Tara sahen. Und Morrigan gefielen die beiden Burschen: jung, stark, gewitzt, und sie waren so begierig darauf, nie wieder Schafe hüten zu müssen, dass sie alles taten, was man von ihnen verlangte.
»Donnel«, sagte Morrigan. »Bist du gerade erst zurückgekommen?«
»Ja, Herrin«, erwiderte Donnel und deutete eine Verneigung an, als wäre er ein wohlhabender Bischof, der das Knie beugte. »Ich bin direkt zu Euch gekommen, Herrin.«
Morrigan nickte beifällig. »Cloyne?«
»Wurde diese Woche oder früher angemessen vorgewarnt.«
»Clondalkin?«, fragte Morrigan.
»Clondalkin genauso, wenn man Euren Männern in Dubh-Linn vertrauen darf.«
»Vertraust du ihnen?«
»Das tue ich, Herrin. Sie haben zu viel zu verlieren und gar nichts zu gewinnen. Patrick sieht das ebenso.«
Morrigan nickte. Die jungen Männer begriffen allmählich die Regeln des Spiels, lernten sogar schnell. Informationen. Wissen. Deren Bedeutung war es, was auch sie von diesem Hundesohn Máel Sechnaill gelernt hatte. Der frühere Hochkönig hatte stets darauf geachtet, dass er alles mitbekam, was in seinem Königreich vorging.
Nun gut, fast alles.
»Du hast gute Arbeit geleistet, Donnel. Jetzt geh und trockne dich, dann iss etwas und ruh dich aus. Ich brauche dich noch und will nicht, dass du krank wirst.«
Morrigan brauchte Donnel wirklich. Und Patrick. Und all die Männer, die im Verborgenen für sie arbeiteten. Morrigans Bruder, Flann mac Conaing, hatte nach dem Tod von Máel Sechnaill mac Ruanaid auf Tara die Herrschaft übernommen. Flann besaß Gefolgsleute unter den geringeren Königen, den Rí Túaithe, die dem Hochkönig auf Tara ihre Treue schuldeten. Flann gehörte zu Máel Sechnaills Derbfine, zu den letzten vier Generationen seiner Familie. Tatsächlich waren sie Cousins zweiten Grades, und das reichte nach irischem Recht aus, um ihm einen legitimen Anspruch auf den Thron zu verschaffen.
Aber nur, weil Flann einen Anspruch auf den Thron hatte und jetzt darauf saß, hieß das noch lange nicht, dass es seiner war. Er war nicht der Tánaise Ríg, der offensichtliche Erbe. Wenn Brigit einen Sohn gebar, einen Enkel von Máel Sechnaill, dann sprach einiges dafür, dass man diesen kleinen Bastard als Tánaise Ríg ansehen würde, und Flann – und mit ihm Morrigan! – wären aus dem Spiel, sobald Brigit das arrangieren konnte. So weit durfte es nicht kommen.
Obwohl von königlichem Geblüt, war Morrigan vor Jahren von den Dubh Gall verschleppt worden und als Leibeigene in Dubh-Linn gelandet. Sie hatte eine Zeit voller Demütigung durchlitten; vergewaltigt, geschlagen, hungernd. Und als sie endlich hätte entkommen können, da hatte Máel Sechnaill ihr die Botschaft überbringen lassen, dass sie dort bleiben sollte, damit sie die Nordmänner in Dubh-Linn im Auge behalten und Tara alles berichten konnte, was dort vor sich ging. Das hatte ihr weitere Jahre des Leidens eingebracht, Jahre des Grauens und der Erniedrigung, bis sie schließlich Thorgrim Nachtwolf und seinem Trupp zur Flucht vor den Dänen verholfen hatte und mit ihnen aus der Stadt entkommen war.
Nein. Nach alldem, und nachdem ihr Bruder mit ihrer Unterstützung den Thron von Tara und die Krone der Drei Königreiche gewonnen hatte, nachdem sie also nun die hohe Stellung genießen durfte, die seine Position ihr verschaffte, würde sie sich nicht von einer hohlköpfigen kleinen Hure beiseitedrängen lassen. Und von ihrem Platz in Tara aus wollte Morrigan den rot glühenden Funken löschen, der in ihr brannte: den Hass auf all diese Heidenschweine, die in ihren Wikingerbooten übers Meer kamen und ihr geliebtes Irland schändeten! Denn wenn sie eines von diesem Hurensohn Máel Sechnaill gelernt hatte, dann, wie man Macht gewann und sie behielt. Und sie war nicht müßig, in keinster Weise.
»Vielen Dank, Herrin«, sagte Donnel. Er deutete eine weitere ungeschickte Verbeugung an, eine Nachahmung des höfischen Gebarens, das ihm vor weniger als einem Jahr noch zutiefst fremd gewesen war. Danach wandte er sich um und war fort.
»Also gut!« Morrigan klatschte laut in die Hände und gewann die Aufmerksamkeit der Diener und Sklaven, die mit ihren unterschiedlichen Aufgaben beschäftigt waren. »Es ist fast an der Zeit. Kommt zum Ende und beeilt euch dabei.« Es war zumindest eine halbe Stunde her, dass die Angelusglocken geläutet hatten, und die Mönche, die im Kloster im Schutze des Raths von Tara lebten, würden bald ihre Gebete vollendet haben und ihre Aufmerksamkeit der Hochzeitszeremonie zuwenden.
Der Regen klang plötzlich lauter, und ein nasser, kalter Lufthauch hüllte Morrigan ein, als das Hauptportal der Kirche aufschwang und Pater Finnian hereinkam. Eine Wolke von getrockneten Binsen hob sich im Wind und verteilte sich überall auf dem Boden des Längsschiffs. Gegen die Kraft des Sturms drückte er die Tür wieder zu.
»Pater Finnian.« Morrigan neigte respektvoll das Haupt.
»Morrigan.« Finnian hob die Hand und schlug das Kreuz in ihre Richtung. Morrigan verbeugte sich tiefer und bekreuzigte sich als Dank für den Segen.
Natürlich hat sie ihn darum gebeten, diese Scheußlichkeit zu leiten, dachte Morrigan. Morrigan war unerschütterlich in ihrem Glauben. Der allein hatte sie in den Jahren der Gefangenschaft aufrecht gehalten. Stundenlang hatte sie über die Leiden Christi und des hochverehrten heiligen Patrick nachgesonnen, der gleichfalls ein Sklave gewesen war. Das war eines der wenigen Dinge gewesen, die ihr die Qualen ihrer Prüfung erleichterten.
Sie liebte die Priester und Brüder des Klosters. Es waren brave Männer, einfache Männer, trotz all ihrer Gelehrsamkeit, fromm und zuverlässig. Aber Pater Finnian war anders. Er gab ihr Rätsel auf. Er redete nicht viel, das war die eine Sache. Es unterschied ihn von all den anderen, die unablässig zu plaudern schienen, als müssten sie jeden Tag ihre Dankbarkeit dafür zeigen, dass sie kein Schweigegelübde hatten ablegen müssen. Außerdem zeigte Finnian wenig Ehrerbietung vor Morrigans neuem Rang. Die Übrigen waren unsicher, wie der Machtkampf ausgehen würde, und sie versuchten, sich jeden gewogen zu machen. Nur Finnian wählte einen anderen Kurs und schien sich um niemandes Gunst zu scheren.
Das bedeutete nicht, dass er in irgendeiner Weise respektlos war. Ganz und gar nicht. Zurückhaltend. Dieses Wort beschrieb ihn am besten. Er war zurückhaltend. Finnian war kein alter Mann, vielleicht in den Dreißigern, und selbst die Tonsur konnte nicht von seinem bemerkenswert gut aussehenden Gesicht ablenken, so wenig wie die weite braune Kutte seines Berufsstandes den kräftigen und athletischen Körperbau ganz verbarg. Irland war ein Land des Überflusses, die Mönche aßen zu gut, und bei manchen sah man es. Aber nicht bei Pater Finnian.
Morrigan konnte nichts dagegen tun, sie fand ihn attraktiv. Sie träumte von ihm, ungebetene nächtliche Heimsuchungen, und das verstörte sie zutiefst. Bei der Beichte brachte sie es nicht über sich, darüber zu sprechen, wie sie sich zu ihm hingezogen fühlte – das Wort Lust war ihr in den Sinn gekommen. Sie schreckte zurück vor diesem Gedanken, und ihre Unfähigkeit, sich zu offenbaren, bewirkte, dass diese Sünde ohne Vergebung weiter auf ihr lastete.
»Kann ich noch irgendetwas tun, Pater Finnian?«, fragte sie. Der Mönch blickte sich in der Kirche um, seine blauen Augen betrachteten die frischen Binsen auf dem Boden, die hellen und farbenfrohen Stoffbahnen, die Kerzen, die den Altar schmückten. Er nickte, und seine Lippen hoben sich zur bloßen Andeutung eines Lächelns.
»Nein, mein Kind, wie es scheint, hast du für alles gesorgt. Weißt du, diese Kirche und ganz Tara würden auseinanderfallen, wenn du nicht hier wärst und dich darum kümmertest.« Die Worte waren schmeichelhaft, aber der Tonfall klang nicht unterwürfiger als eine Bemerkung über das Wetter.
»Nun«, stellte Morrigan fest, »sie scheinen all die Jahre, die ich als Sklavin bei den Dubh Gall verbringen musste, recht gut überstanden zu haben.« Die Worte strömten weit bitterer aus ihr heraus, als sie es beabsichtigt hatte. Sie fühlte, wie sie errötete, aber Pater Finnian nickte nur mit ruhigem, verständnisvollem Ausdruck auf dem Gesicht.
»Diese Kirche und Tara blieben bestehen, mein Kind, doch sie waren nicht stark.«
Finnian trug heute seinen weißen Ornat, nicht die grobe braune Kutte, in der man ihn am häufigsten sah. Der Saum seiner Gewänder war nass und mit Schlamm verschmiert, und Morrigan unterdrückte den Drang, sie an sich zu reißen und sauber zu reiben. Von all den vielen Männern in seinem Orden (und es war einer der größten in Irland, nicht zuletzt wegen des Schutzes, den das Rath von Tara gegen die unablässigen Verwüstungen durch die Nordmänner bot) war Pater Finnian einer der wenigen, der die Priesterweihen empfangen hatte, und so auch einer der wenigen, der das Sakrament der Ehe stiften konnte.
Dann erklangen über ihren Köpfen die Kirchenglocken und riefen jene, die gewartet hatten – das Gefolge von Tara, die Rí Túaithe und jeden von Rang und Namen innerhalb von zwanzig Meilen –, zu der Hochzeit von Brigit nic Máel Sechnaill, der Tochter des verblichenen und zutiefst betrauerten Máel Sechnaill mac Ruanaid.
Pater Finnian wandte sich Morrigan zu. »Es ist so weit«, sagte er.
Allerdings, dachte Morrigan.
Es gibt Beilalter, Schwertalter,entzweigehauene Schilde,Windzeit, Wolfszeit,bis dass die Welt zugrunde geht.
Gylfis Täuschung
Thorgrim Nachtwolf war müde.
Er war des Reisens müde, war ermattet von den tausend Sorgen, die das Schicksal eines jeden Anführers sind. Er war es müde, alles abwägen zu müssen. Trotzdem konnte er die Erregung nicht leugnen, die in ihm aufstieg, als der Bug der Donnergott den anderen Schiffen voraus knirschend auf den Strand fuhr.
An Steuerbord und Backbord zogen die Männer des Schwarzen Raben ein letztes Mal die Ruder durch, und während der Schwung das Schiff die verbliebenen fünfzig Fuß bis zum Ufer trug, brüllte Arinbjorn: »Ruder einziehen!« Im Einklang glitten die Riemen an Bord, und die Ruderer hielten sie senkrecht nach oben. Thorgrim versuchte vergebens, nicht in Haralds Richtung zu schauen, aber der Junge führte sein Ruder genauso gut wie die erfahreneren Männer.
Ein Raubzug! So müde, wie Thorgrim war, er liebte es dennoch. Es erinnerte ihn daran, dass er noch am Leben war. Und er wusste, wenn das in einer Stunde nicht mehr der Fall sein sollte, war er zumindest so gestorben, wie ein Mann sterben sollte.
»Was ist das für ein Bursche?«, fragte er Arinbjorn, als der Schwarze Rabe auf den Strand zuglitt. Ein Mitglied der Besatzung wirbelte am Bug umher, drehte sich regelrecht auf der Stelle. Er trug nur Beinlinge, keine Rüstung, kein Hemd, keinen Helm, der den wilden Haarschopf verhüllt hätte. Sein Bart stand in alle Richtungen ab wie unbeschnittenes Gestrüpp. Der dünne Bursche hielt ein Kurzschwert in der Linken und eine Streitaxt in der Rechten, und hätte er seinen mageren Leib unter der Kleidung verborgen, hätte man ihn für schwach oder ausgemergelt halten können. Aber nackt bis zur Taille, wie er war, sah man die Muskeln hervortreten wie die knorrigen Wurzeln eines Baumes.
»Starri der Unsterbliche«, sagte Arinbjorn. »Er ist ein Berserker. Führt einen Trupp von Berserkern an.«
Thorgrim nickte. Er glaubte sofort, dass Starri ein Berserker war, ein Angehöriger jenes Kriegerkults, dessen Anhänger vor einer Schlacht in Raserei verfielen. Sie stürzten sich mit einer Wildheit in den Kampf, die von den Göttern selbst gesandt war. Berserker verfielen einem Blutrausch, der sogar unter Wikingern als nicht mehr normal galt. Thorgrim hatte früher schon neben Berserkern bekämpft und erkannte die Anzeichen: die Geringschätzung einer Rüstung, die überschäumende Tatkraft in den Augenblicken vor dem Kampf.
»Ich habe ihn bis jetzt gar nicht bemerkt«, stellte Thorgrim fest.
»Er bleibt meist für sich. In einem Kampf ist er allerdings schwer zu übersehen.«
Nun lief der Schwarze Rabe auf Sand, und Thorgrim taumelte ein wenig, als sie abrupt zum Stehen kamen. Die Männer sprangen auf, nahmen die Ruder mit und stapelten sie mittschiffs. Thorgrim fühlte sein Herz schneller schlagen. Er schwelgte im Klappern der Schilde, als diese von ihrem Platz an der Seitenwand genommen wurden, im eigentümlichen metallischen Zischen der Kettenhemden, als die Männer über die niedrige Reling sprangen. Sie landeten platschend in der Brandung, fassten die Seiten des flachen Schiffes und zogen mit aller Kraft. Der Rumpf glitt weiter den Sand hinauf. Lange Halteleinen wurden über den Strand gespannt.
Harald sah Thorgrim an. Er war sich nicht sicher, ob er sich in seinem Alter ohne die Zustimmung des Vaters den anderen anschließen durfte. Thorgrim nickte kaum merklich, und Harald schoss davon wie ein Pfeil. Er rannte los und schwang sich über den Bootsrand ins seichte Wasser. Er trug einen eisernen Helm und ein Kettenhemd, einen Schild am linken Arm und eine Streitaxt in der Rechten. Für Thorgrim sah er immer noch wie der kleine Junge aus, der er einmal gewesen war und der mit Spielrüstung und Holzbeil auf dem Bauernhof in Vik herumlief.
Helm, Rüstung und Waffen hatte Harald sich von Arinbjorn geliehen, bevor sie in See gestochen waren, genau wie Thorgrim. So viel Vieh und Land, so viele Gebäude und Sklaven Thorgrim daheim in Vik auch besitzen mochte, hier in Irland war er fast mittellos, nachdem er alles bei seinen Kämpfen gegen die Iren und Dänen verloren hatte. Der einzige Besitz, der ihm geblieben war, war zum Glück sein wichtigster: sein Schwert, Eisenzahn, das ihm die Dänen genommen hatten und das die Leibeigene Morrigan ihm (und er wusste noch immer nicht, wie) zurückgebracht hatte.
Schließlich waren er und Arinbjorn allein an Bord, und sie gingen nach vorn bis zu einer Stelle, wo das Schiff bereits auf trockenem Sand lag. Thorgrim setzte einen Fuß auf die Bordwand und sprang auf den Strand, Arinbjorn folgte ihm. Der Rest der Wikingerflotte kam an Land. Der schmale Streifen Sand, mit dem Meer an der einen Seite und hohen, zerklüfteten Klippen auf der anderen, füllte sich mit kampfbereiten Männern.
Thorgrim richtete sich auf und stellte fest, dass er neben Starri dem Unsterblichen stand, der immer noch herumwirbelte. Thorgrim musste schnell zurücktreten, damit er nicht Starris Streitaxt gegen den Kiefer bekam. Und in eben diesem Augenblick kreuzten sich ihre Blicke, und Starri erstarrte. Der Berserker hielt einfach inne, als wäre er versteinert, und musterte Thorgrim unverwandt. Er kniff die Augen zusammen und legte den Kopf schräg, als versuchte er, etwas genauer zu erkennen. Thorgrim erwiderte den Blick. Er wusste nicht, was er von alldem halten sollte, doch er wollte sich auch nicht niederstarren lassen, nicht einmal von einem Berserker. Ganz besonders nicht von einem Berserker, die – wenn man sie nicht gerade für einen Kampf brauchte – außerhalb der Gemeinschaft standen.
Aber der Ausdruck in Starris Augen enthielt keine Drohung, keine Herausforderung, keine Spur von Feindseligkeit. Thorgrim konnte sich nicht vorstellen, was gerade im Verstand dieses Mannes vorging. Dann sprach Starri, und seine Stimme klang ruhig. »Verzeih, wie ist dein Name?«
»Thorgrim. Thorgrim Ulfsson aus Vik.«
»Aber sie nennen dich anders, nicht wahr?«
»Sie nennen mich Thorgrim Nachtwolf.«
»Ja, ja. Der Nachtwolf. Du bist der Nachtwolf, und du bist von den Göttern begünstigt.« Dann nickte Starri, wandte sich ab und schlenderte davon, als hätte Thorgrim den Wahnsinn von ihm genommen.
»Komischer Vogel«, meinte Arinbjorn.
»Das sind sie alle«, entgegnete Thorgrim.
»Da!« Arinbjorn nickte den Strand hinauf. »Hoskuld Eisenschädel ruft die Anführer zusammen. Begleite mich.«
Thorgrim zögerte. »Ich bin kein Jarl, auch nicht Eigentümer eines Schiffes. Ich führe keine Männer. Ich habe auf so einer Versammlung nichts verloren.«
»Unsinn! Ein Mann wie Thorgrim Nachtwolf? Dein Rat ist stets willkommen. Komm mit.« Also folgte Thorgrim Arinbjorn Weißzahn den Strand empor bis zu dem Ort, wo die Männer, die die Schiffe der Flotte befehligten, sich um Hoskuld Eisenschädel herum versammelt hatten.
»Ihr habt sicher die Reiter auf dem Kamm gesehen«, sagte Eisenschädel, als sie sich dem Kreis zugesellten. »Die Iren werden vorbereitet sein und auf uns warten. Und wir wissen nicht, wie viele es sind.« Hoskuld war ein großer Mann, der mit dem Alter immer fülliger geworden war, doch seine Haltung und Stimme strahlten weiterhin Kraft aus. Sein Kettenhemd war fein geflochten, sein Helm hätte geschimmert, wenn die Sonne geschienen hätte, und ein edler Pelzmantel lag um seine Schultern. Hermelin, möglicherweise. Er war ein reicher und mächtiger Jarl, und alles an ihm kündete davon.
»Cloyne hat einen Turm«, warf einer der anderen Jarls ein, »vielleicht hoch genug, dass sie uns bei Tagesanbruch entdecken konnten.«
»Ein Turm?«, sagte Arinbjorn. »Mir hat niemand etwas von einem Turm erzählt.«
Hrolleif der Stämmige, dem das Schiff Seeschlange gehörte und dessen Gesicht unter dem Bart kaum zu erkennen war, zuckte gleichgültig die Achseln, und Thorgrim schloss sich der Geste im Stillen an. Es war nicht von Bedeutung.
Aber die Jarls wollten reden, und jeder würde angehört werden, also ging das Gespräch einige Minuten lang hin und her. Bolli Thorvaldsson, ein unbedeutender Jarl aus Südnorwegen und Eigentümer der Odinsauge, des kleinsten Schiffs der Flotte, sprach sich dafür aus, so schnell wie möglich vorzurücken. Arinbjorn hatte einen eigenen Vorschlag: »Lassen wir ein Drittel unserer Männer einen Bogen nach Süden schlagen. Wenn sie in großer Zahl auf uns warten, soll der Anführer unserer Hauptstreitmacht sie angreifen. Sobald wir sie in die Schlacht verwickelt haben, fällt das Drittel ihnen in die Flanken.«
Stille folgte auf diesen Rat. Einige nickten, wenn auch ohne Begeisterung. Hrolleif spuckte auf den Sand und wischte dann den Teil ab, der in seinem Bart geblieben war. »Zu ausgeklügelt. Viel zu kompliziert, sag ich. Gleich auf sie drauf, so ist’s richtig!«
»Thorgrim Nachtwolf?«, fragte Hoskuld Eisenschädel und überrumpelte Thorgrim. »Du hast jetzt schon einige Zeit in diesem verfluchten Land verbracht. Was meinst du?«
Thorgrim überlegte einen Augenblick. Er dachte dasselbe wie Hrolleif, doch er verdankte seinen Platz bei diesem Zug Arinbjorn Weißzahn. Arinbjorn war kein Dummkopf, und seine Idee war nicht unbedingt falsch. Es war keine Schande, wenn man sorgfältig plante oder versuchte, den Feind zu überlisten. Dennoch …
»Die Iren werden keine Kettenhemden tragen, zumindest nicht viele von ihnen«, sagte Thorgrim schließlich. »Und sie haben keine Streitäxte. Einige sitzen auf Kreaturen, die sie als Pferde bezeichnen, aber wenn der eine oder andere von euch sie mit Schweinen verwechselte, würde mich das nicht wundern.« Ein paar der Wikinger grinsten bei diesen Worten, oder sie nickten. »Mir gefällt Arinbjorns Vorschlag. Dennoch glaube ich, dass die Iren uns allein durch Überzahl gefährlich werden können. Und darum würde ich unsere Streitmacht nicht teilen.«
Es folgte eine kurze, ungeordnete Beratung, bei der fast alle durcheinandersprachen, aber es war klar, dass eine große Mehrheit Thorgrim zustimmte und sie diesem Kurs folgen würden. »Um diese Anhöhe müssen wir uns am meisten sorgen«, sagte einer der Männer, den Thorgrim nicht kannte. Er nickte in Richtung des Hanges, der den Strand abschloss, und auf den schmalen Pfad, der durch das Gestrüpp hinaufführte. »Da können allenfalls zwei oder drei von uns nebeneinander gehen. Wenn diese Iren nur eine Spur von Verstand haben, werden sie uns dort auflauern und uns einen nach dem anderen abschlachten, sobald wir raufkommen.«
Hoskuld Eisenschädel beendete die Diskussion. »Und das ist der Grund, warum die Götter uns Berserker schenken«, sagte er.
Wir segelten zu jeder Küste,die uns die beste Beute versprach;wir fürchteten niemanden auf Erden;stark waren wir, wir kämpftenauf den streitbaren Schiffen.
Örvar-Odds Saga
Trotz des Kinnriemens rutschte Harald Thorgrimsons Helm beim Laufen nach vorne. Einen Moment lang hing ihm das verfluchte Ding vor den Augen, ehe er es zurück an die richtige Stelle schob. Jetzt rann stattdessen der Schweiß unter dem Helmpolster hervor, und trübte ihm ungeachtet des kühlen, feuchten Wetters die Sicht. Dennoch behielt er den Helm auf dem Kopf. Er wusste, sein Vater wäre ungehalten, wenn er ihn fortwarf, und irgendein entlegener Winkel seines Verstands sagte ihm auch, dass er noch dankbar für den Schutz sein würde, wenn er sich in die Schlacht stürzte.
Unmittelbar vor ihm auf dem schmalen Pfad, der zwischen dem Buschwerk die sandigen Dünen vom Strand hinaufführte, rannte Starri und sein Trupp von Berserkern. Hinter Starri lief der Mann, der den zweiten Rang in dieser Schar innehatte, wenn Berserker so etwas überhaupt kannten: ein Schwede namens Nordwall der Kurze. Starri und Nordwall warenso verschieden voneinander, wie zwei Männer nur sein konnten. Während Starri hochgewachsen und drahtig und ständig in Bewegung war, war Nordwall klein und breit, ein kräftig gebauter Mann, der am liebsten reglos verharrte und nur seine Augen beständig umherwandern ließ. Er bewegte sich bloß, wenn er einen guten Grund dafür hatte, dann aber mit ungeheurem Tatendrang.
Man konnte nicht sagen, dass Starri den Angriff anführte, denn die Männer hinter sich nahm er kaum wahr. Er stürmte vielmehr den Pfad hinauf und dachte dabei an nichts anderes, als so schnell wie möglich den Feind zu erreichen.
Harald war nicht besonders erfreut darüber, dass er hinter den Berserkern vorrücken musste. Viel lieber hätte er den Angriff selbst geführt. Aber Hoskuld Eisenschädel hatte das abgelehnt. Die Berserker sollten als Erste den Pfad entlangstürmen, und das war das Ende der Diskussion. Harald ärgerte sich immer noch darüber. Dass er vermutlich der unerfahrenste Krieger in den Reihen der Nordmänner war, kam ihm dabei nicht einmal in den Sinn.
Berserker … Verdammte Verrückte … dachte er und kämpfte sich so schnell die Düne hinauf, wie er nur konnte. Er verfügte vielleicht nicht über die gleiche wilde Kraft wie Starri, Nordwall und das restliche halbe Dutzend der Vorhut. Aber er war der Jüngste in der Flotte, seine Beine waren flink, und er hatte mehr Ausdauer als jeder andere. Wenn er also schon hinter den Berserkern herlaufen musste, dann wollte er wenigstens der Erste unter all jenen sein, die nicht vollkommen wahnsinnig waren.
Vater … Der ringt bestimmt jetzt schon nach Luft, dachte Harald, und der Gedanke erfüllte ihn mit einiger Befriedigung. Aber da schwirrte ein Pfeil an ihm vorbei und riss ihn aus seinen Grübeleien. Er stieß wieder den Helm nach hinten und blickte im Laufen hangaufwärts, gerade rechtzeitig, um einen Bogenschützen auf dem Hügelkamm einhundert Fuß entfernt auszumachen. Der Mann trug eine grobe grüne Tunika, einen Lederhelm, und er hatte seinen Pfeil aufgelegt und den Bogen vollständig gespannt.
Haralds erster Impuls war, sich zu ducken, aus der Reihe auszubrechen. Tatsächlich machte er einen Schritt nach rechts, bevor er sich mit einem Fluch eines Besseren besann und gerade nach vorn hetzte. Der Bogenschütze ließ den Pfeil von der Sehne – Harald sah das Geschoss den Hügel hinab auf sich zurasen! Wie oft hatte er selbst einen Pfeil fliegen lassen und beobachtet, wie er davonflog? Und nun kam einer auf ihn zu. Ihm blieb eben genug Zeit, um die aufsteigende Panik zu spüren. Er konnte an gar nichts mehr denken, und ihm fiel nichts anderes ein, als weiterzulaufen. Dann sprang der Mann rechts vor ihm zur Seite, um einem Gestrüpp auszuweichen, und diese Bewegung brachte ihn direkt in die Flugbahn des drei Fuß langen Schafts.
Der Aufprall des Pfeils stoppte den Berserker und ließ ihn zurücktaumeln. Mit einem Schwall von Blut trat die hässliche Pfeilspitze am Rücken des Mannes aus, und ein warmer Sprühnebel spritzte bis zu Harald. Der hechtete beiseite und wich dem Stürzenden aus. Er war verschont geblieben, für den Augenblick, und schon fühlte er, wie seine Panik in Scham umschlug. Verschwommene Gedanken wirbelten durch seinen Geist: an Thorgrim und daran, was er denken mochte. Sie ballten sich zu Ärger und Entschlossenheit, und er blickte auf, ohne innezuhalten, richtete den Helm, hob die Streitaxt und stieß einen wilden Schlachtruf aus.
Da waren noch mehr Bogenschützen auf der Anhöhe, ein halbes Dutzend, und sie ließen ihre Pfeile auf die anstürmenden Nordmänner herabregnen. Harald hörte das Zischen, das in dem anschwellenden Gebrüll, den Schreien und im bestialischen Geheule der Berserker unterging, als sie die letzten fünfzig Fuß des Weges hinter sich brachten. Starri der Unsterbliche hatte einen Pfeil durch seinen Oberarm bekommen. Die Spitze war glatt durchgegangen, der Schaft steckte in seinem Muskel wie eine Art Verzierung. Starri ließ nicht erkennen, dass er das Geschoss überhaupt bemerkte. Er heulte wie ein Wolf, schwang Beil und Kurzschwert und reckte die bloße Brust vor, als wolle er sie den Bogenschützen als Ziel anbieten. Aber anstatt zu schießen, wichen diese vor den Berserkern zurück.
Und dann war Starri über die Kuppe und außer Sicht, Nordwall und die übrigen folgten ihm in einem dichten Haufen auf dem Fuße. Harald gab sich alle Mühe mitzuhalten. Doch auch seine Jugend und Stärke reichten nicht aus, um mit der übermenschlichen Kraft der kampfeswütigen Berserker mitzuhalten. Er schob den Helm zurecht und blickte über die Schulter. Der nächste Mann war noch vier oder fünf Schritte hinter ihm, ein weiterer gleich dahinter, und dann folgte der Rest der Wikinger über den Pfad verteilt, eine lange Reihe von strahlend bunten Schilden und schimmernden Waffen über Beinen, die hart gegen den sandigen Grund ankämpften. Seinen Vater sah er nirgendwo, doch er wusste, dass Thorgrim so schnell nachkommen würde, wie seine alten Beine ihn trugen. Harald erinnerte sich nicht genau daran, wie alt sein Vater eigentlich war, aber er musste in den Vierzigern sein, und allmählich merkte man ihm die Jahre an.
Und dann war Harald selbst über der Anhöhe, seine weichen Lederschuhe gruben sich in den Boden und stießen ihn voran, auf ebenen Grund und in eine Szene des Wahnsinns. Die Iren hatten eine Art Schildwall errichtet, und die Bogenschützen zogen sich dahinter zurück. Sie schossen, während sie gingen, und die Berserker warfen sich ungeordnet gegen die feindliche Linie. Harald wurde für einen Augenblick langsamer und nahm die Einzelheiten auf. Er suchte nach der besten Stelle, um in das Gemenge einzugreifen. Hinter den Kämpfenden, zweihundert Schritt entfernt, verschwand das Land in einer Senke, die hinter dem Hügel, auf dem sie standen, verborgen war. Dann stieg es wieder an und ging in ausgedehnte Felder über, die unter dem bedeckten Himmel mattgrün wirkten, durchschnitten von einer braunen Straße, die ohne Zweifel zur Stadt Cloyne führte.