Die wilden Pferde von Rydal Hill - Flammendes Tal, Bd. 3 - Theresa Czerny - E-Book

Die wilden Pferde von Rydal Hill - Flammendes Tal, Bd. 3 E-Book

Theresa Czerny

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Beschreibung

Ein tief verborgenes Familiengeheimnis, ein Fluch und wilde Pferde Valerie ist zutiefst erschüttert. Wie konnte Ben sie einfach so verlassen? Seit er ohne ein Wort aufs Internat gegangen ist, kümmert sie sich allein um die Ponys – und gerät dabei oft genug an ihre Grenzen. Bedrohliche Dinge geschehen in den Bergen rund um Rydal Hill, so als würde der Fluch der Aldringhams immer stärker werden. Trotz ihres Liebeskummers weigert sich Val, die Herde ihrem Schicksal zu überlassen. Nach und nach setzen sich die Puzzlestücke der Vergangenheit zusammen, bis Val eine schier unglaubliche Entdeckung macht. Ging es bei dem Fluch von Anfang an um viel mehr als das Schicksal der Aldringhams? Und wie konnten sie übersehen, dass die Ponys der Schlüssel zu allem sind? In einem Wettlauf gegen die Zeit versucht Val, das Geheimnis zu lösen. Doch dafür braucht sie Bens Hilfe. Schaffen sie es gemeinsam, die Katastrophe zu verhindern, die ganz Rosley zu erfassen droht?

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Seitenzahl: 662

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die wilden Pferde von Rydal Hill

Band 1: Leuchtende Hügel

Band 2: Glühende Sterne

Band 3: Flammendes Tal

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

ZWEI MONATE SPÄTER

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

EPILOG

Kapitel 1

1

Der Boden unter meinem rechten Fuß gab nach. Gerade noch rechtzeitig lehnte ich mich nach vorn, bevor mir die Beine wegrutschten und ich der Länge nach im Matsch landete. Es schmatzte, als ich meinen Schuh aus dem Morast zog.

Ganz großartig.

Mit einem dürren Zweig versuchte ich, den graubraunen Schlamm von meinem Wanderstiefel zu kratzen, aber wozu? Darunter befanden sich drei weitere Schichten Schmutz in deprimierenden Farbabstufungen. Es war unwahrscheinlich, dass das ursprüngliche Lila je wieder ans Tageslicht kam.

Schnaufend richtete ich mich auf und pfefferte den Zweig in die Hecke neben mir. Mit dem Handrücken wischte ich mir den Nieselregen aus dem Gesicht und ließ den Blick schweifen. Weit kam er nicht. Hinter und vor mir, rechts und links rollten tief hängende Wolken die Hänge herunter und vermischten sich mit dem Dunst, der aus den Tälern aufstieg. Bei dieser Witterung konnte ich es vergessen, die Ponys zu finden. Da mussten sie mir schon direkt über den Weg laufen.

Ich schloss die Augen und atmete tief aus. Dieser triste Februartag schloss sich nahtlos an die vergangenen an. Und an die dunklen, kalten Januartage zuvor. Es war, als hätte ein riesiger Staubsauger alles Licht aus der Welt gezogen. Im Sommer und Herbst war es nie so mühsam gewesen. Jetzt stolperte ich auf den Fells herum, als wäre ich zum ersten Mal hier. Vielleicht war das das Problem. Vielleicht hatte ich zuvor nie richtig hingesehen.

Diese Überlegungen führten natürlich direkt zu den Erinnerungen, die ich um jeden Preis vermeiden wollte und die sich mir trotzdem jedes Mal aufdrängten, wenn ich in den Bergen war. Also so gut wie jeden zweiten Tag.

Mit ihm war das alles leicht gewesen. Die Ponys hatten ihn wie magisch angezogen und er die Ponys. Es war kaum einmal vorgekommen, dass wir die Herde in den Weiten der Fells nicht gefunden hatten. Damals hatte ich mich blind darauf verlassen, aber jetzt versuchte ich, mich an jede Einzelheit zu erinnern und zu verstehen, was mir zu der Zeit entgangen war. Denn Magie hatte mit der ganzen Sache nicht das Geringste zu tun. Ben kannte die Herde einfach in- und auswendig.

Ben.

Da war der Name, der meinen Körper wie immer unter Strom setzte. Die Emotionen waren so widersprüchlich, dass ich buchstäblich bebte. Aber auch jetzt, nach vier Wochen, gewann ein Gefühl die Oberhand. Nicht die Wut, nicht der Schmerz, nicht die Ratlosigkeit. Nein, wie immer griff die Sehnsucht nach meinem Herzen und quetschte es zusammen, sodass es mir vorkam, als hätte ich ein schwarzes Loch in der Brust, das an mir zerrte und zog, bis ich mich selbst ans Atmen erinnern musste.

Ich schnappte nach Luft und öffnete die Augen.

Wie so oft hatte ich mir eine Hand auf den Bauch gelegt, ohne dass ich es gemerkt hatte. Als könne ich damit die Gefühle im Zaum halten, die mich nur schwächten. Sie lenkten mich ab, obwohl ich meine Kraft für die Ponys brauchte. Bens Herde. Meine Herde.

Nur dass sich die undankbaren Viecher nicht im Geringsten so benahmen.

Ich straffte die Schultern und ging weiter. Das Schlammloch, in dem ich beinahe stecken geblieben war, reihte sich mit vielen weiteren zu einem matschigen Wirtschaftsweg aneinander, dem ich mit Mühe folgte. Ich konnte fühlen, wie tief meine Stirn gerunzelt war, und atmete langsam durch den Mund aus. Wenn die Ponys nicht aus einem halben Kilometer Entfernung Reißaus nehmen sollten, musste ich meine Laune in den Griff bekommen. Aber mir war kalt, meine Socken waren feucht, und der Regen hatte zugenommen, sodass er mir jetzt von der Nasenspitze tropfte. Meine schlechte Stimmung war so hartnäckig wie der Nebel über Whinfell Water.

Eine Stunde später gab ich auf. Ich hatte drei Bäche und vier Hochebenen gequert, war ein Geröllfeld hinuntergeschlittert und hatte an mehreren Stellen, wo die Ponys gern grasten, frische Dunghaufen gefunden, aber sosehr ich auch in den Dunst lauschte, nie hatte ich ein Schnauben oder Prusten gehört. Im Winter schien Gracie die Herde auf anderen, mir unbekannten Pfaden durch die Berge zu führen. Und obwohl die Unruhe, die mich jedes Mal auf die Fells begleitete, bis ich mich davon überzeugt hatte, dass es den Ponys gut ging, immer noch in meinen Fingerspitzen kribbelte, machte ich mich auf den Heimweg. Es dämmerte schon, wie immer viel zu früh in diesem grässlichen englischen Winter, und ich wollte nicht, dass sich Silas und Laini wieder Sorgen machten.

*

Als ich auf den Wirtschaftsweg nach Ellondale abbog, klingelte mein Handy.

»Hallo, Mama.«

»Hallo, mein Schatz. Na, bist du noch in den Bergen?«

Ich wechselte das Telefon zum anderen Ohr. »Gewusst oder geraten?«

»Gewusst. Ich hab’s schon zweimal probiert und du hattest keinen Empfang.«

Ich grinste. Kein Wunder. Die Funklöcher auf den Fells waren groß und zahlreich.

Während ich mich nach Westen wandte, klagte ich ihr mein Leid. »Manchmal sind sie wirklich wie vom Erdboden verschluckt. Das sind fünfzehn Ponys! Die verstecken sich nicht mal eben hinter einem Busch. Nicht dass hier viele Büsche wachsen würden …«

Mama lachte. »Früher hast du dich beschwert, wenn du Peppi vom anderen Ende der Koppel holen musstest.«

Ich schnaufte. Ja, das waren andere Zeiten gewesen. In Deutschland war ich viel geritten und die Pferde in der Reitschule dort waren in Paddockboxen untergebracht gewesen. Von einer Haltung wie hier, wo die Mutterstutenherden beinahe das ganze Jahr durch die Berge streiften, oft wochenlang ohne Kontakt zu Menschen, hatte ich damals noch nicht einmal gehört.

Doch Mama hatte ihr Ziel erreicht: Ich erinnerte mich wieder daran, warum ich diese langen Fußmärsche auf mich nahm. Im vergangenen Sommer hatte ich mit Pferden nichts mehr zu tun haben wollen. Das war eine Strafe gewesen, die ich mir selbst auferlegt hatte, obwohl sie mich unglücklich machte. Und dann war mir diese frei lebende Herde über den Weg gelaufen – Wildpferde, wie ich anfangs dachte, auch wenn das nicht ganz stimmte – und hatte mein Herz im Sturm erobert. Wunderschöne Ponys mit langen, seidigen Mähnen, die meisten von ihnen glänzend schwarz, mit hübschen, kleinen Köpfen und wachen Augen. Und sie durften gehen, wohin sie wollten. Ein besseres Pferdeleben konnte ich mir nicht vorstellen. Genau wie ich wusste Mama, dass mir diese Ponys ein paar Dinge über mein eigenes Leben beigebracht hatten. Und deswegen stellte sie es auch nicht infrage, dass ich überhaupt nach der Herde suchte.

Mama hatte mich nie groß vor Dingen gewarnt, die anderen Eltern gefährlich vorgekommen wären. Je mehr Erfahrungen ich sammelte – und seien es schlechte –, desto mehr lernte ich, davon war sie überzeugt. Und auch wenn ich auf die eine oder andere Erfahrung hätte verzichten können, war ich froh, dass sie mich alles hatte ausprobieren lassen, was ich wollte.

Aber sie hatte mich natürlich nicht angerufen, um sich nach dem Befinden der Ponys zu erkundigen. Denn es gab etwas, wovor sie mich vor nicht allzu langer Zeit doch gewarnt hatte. Und leider hatte sie recht behalten.

»Wie geht es dir?«, lenkte sie das Gespräch in eine andere Richtung. Diesmal lag mehr Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme.

»Gut«, antwortete ich automatisch. Etwas wahrheitsgemäßer schob ich hinterher: »Ich komme schon klar.«

Mama beließ es dabei. Früher hätte sie wahrscheinlich nachgehakt, bis ich die richtigen Worte gefunden hätte, um ihr zu sagen, was mich belastete, aber sie schien zu spüren, dass ich dafür noch nicht bereit war. Sie war meine Mutter, nicht meine beste Freundin, und ich wollte ihr nicht ins Telefon heulen. Dafür hätte ich Jette gebraucht.

Stattdessen erzählte sie, was gerade bei ihr und Kristof los war. Dann kam auch schon Ellonby in Sicht und wir legten auf. Während ich den Ponys ihre Abendration Heu auf die Weide brachte, ging mir das Gespräch – und vor allem das, was wir nicht gesagt hatten – noch im Kopf herum. Denn obwohl ich nicht gelogen hatte, obwohl ich klarkam, konnte ich verstehen, dass sich Mama Sorgen machte. Manchmal erkannte ich mich ja selbst kaum wieder.

Ich hatte nie so sein wollen, mich von Liebeskummer nie so zerstören lassen. Ich hatte die Mädchen nie verstanden, die irgendwelchen Typen rehäugig hinterherschmachteten, noch Wochen nachdem sie abserviert worden waren. Aber das hier war kein Liebeskummer, nicht, wie ich ihn früher gekannt hatte. Es war, als würde ich nicht mehr in mein Leben gehören, als würde eine andere Valerie, eine starke, glückliche, in einer anderen Version der Wirklichkeit mein Leben weiterleben. Und ich stand daneben und sah zu.

*

»Hey, Tillie.« Emmy beugte sich über das Tagesbett und griff nach Tillies ausgestrecktem Händchen. Meine Nichte gluckste und ihre Augen leuchteten. Anscheinend hatte sie nicht vor, bald einzuschlafen.

Laini lächelte Emmy flüchtig zu.

»Milch ist im Kühlschrank«, sagte sie zu mir. »Ich hab das Handy auf lautlos gestellt, aber wenn was ist, meldet euch.« Ihr Blick flog zwischen Emmy und mir hin und her. »Okay?«, hakte sie nach.

Geduldig nickte ich. Ich hatte Tillie schon so oft babygesittet, dass ich es nicht mehr zählen konnte, hatte abgepumpte Milch aufgewärmt, Tillie gefüttert, gewickelt und in den Schlaf geschaukelt. Und trotzdem war Laini nervös wie beim ersten Mal. Millimeterweise verschob sie den Flaschenwärmer, Schachteln, Messbecher, bis ich es nicht mehr mitansehen konnte und sie an den Schultern fasste.

»Laini«, sagte ich und wartete, bis sie mich endlich anschaute. »Ihr seid zehn Minuten entfernt. Es wird nicht nötig sein, aber wenn doch, seid ihr in null Komma nichts zu Hause. Es ist euer erstes Date seit Monaten. Lass dich verwöhnen.«

Laini seufzte.

»Genau. Lasst es krachen.« Emmy wackelte mit den Augenbrauen. »Wir wollen doch nicht, dass du dich umsonst so aufgestylt hast.«

Laini verdrehte die Augen, aber ich schmunzelte und drückte sie kurz an mich. Emmy hatte völlig recht, Laini sah wunderschön aus. Das grüne Wickelkleid ließ ihre Augen strahlen. Ihre dunklen Haare trug sie ausnahmsweise offen, und irgendwie hatte sie es geschafft, sie zwischen der Stallarbeit und dem letzten Stillen in sanfte Wellen zu föhnen. Sogar ihre Haut schien immer noch etwas von der Sommerbräune bewahrt zu haben, obwohl das nach dem Grau der letzten Wochen gar nicht möglich sein durfte. Alles in allem, das ging mir jetzt auf, als ich meine schlabbrige Jogginghose, die schmutzigen Fingernägel und struppigen Haare betrachtete, sahen wir aus wie die zwei Versionen von Aschenputtel. Und ich hatte kein zweieinhalb Monate altes Baby.

Die Tür schwang auf und Silas kam herein. Mit einem Ruck blieb er stehen, und was immer er sagen wollte, es blieb ihm im Hals stecken. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück, als ich den Blick sah, mit dem er Laini musterte. Die Liebe und Bewunderung darin trafen mich wie ein Schlag in den Magen. Es fehlte nicht viel und ich wäre Hals über Kopf aus der Küche gestürzt.

Laini wurde rot und für eine ganze Minute vergaß sie sogar Tillie. Noch vor ein paar Wochen hätte ich die beiden mit einem flapsigen Spruch aus dem Haus befördert, aber jetzt konnte ich nur dem stummen Austausch zwischen ihnen zusehen und mir wünschen, ich wäre auf dem Mond.

Emmy rettete mich schließlich. Mit Tillie auf dem Arm war sie abgelenkt gewesen, doch nun schien sie auf die Stille aufmerksam zu werden. Mit einem Blick erfasste sie die Situation.

Sie trat auf Laini zu und schob sie zur Tür. »So, ihr beiden. Ihr macht euch jetzt mal vom Acker und genießt den Abend. Wir haben hier alles im Griff und wollen bis mindestens Mitternacht ungestört sein.«

Laini und Silas taten plötzlich ganz geschäftig, so als hätten wir sie mit den Fingern in der Keksdose ertappt. Ich winkte ihnen zu, während sie sich wortreich verabschiedeten und mir aus dem Flur letzte Anweisungen zuriefen. Endlich startete der Motor des alten Honda, den Lainis Mutter ihr zu Weihnachten geschenkt hatte, und die Haustür schloss sich.

Emmy erschien auf der Schwelle zur Küche und musterte mich nachdenklich. »Sobald er hier auftaucht, hau ich ihm eine rein.«

Erstickt lachte ich auf. Es genügte, um die Tränen zu vertreiben, die ich versucht hatte wegzublinzeln. Emmy war zwei Köpfe kleiner als Ben.

»Vielleicht versuchst du es mit einem Tritt gegen das Schienbein«, antwortete ich mit belegter Stimme. »Für einen Kinnhaken bräuchtest du eine Leiter.«

»Gut. Du machst Witze.« Sie legte Tillie zurück in das Tagesbett und sah mich an. »Was willst du gucken? Serienkiller oder Monster?«

»Zombieapokalypse.« Ich stieß mich von der Arbeitsplatte ab und ging zu ihr, um sie zu umarmen. »Danke«, flüsterte ich.

»Keine Ursache.« Sie lehnte sich ein Stück von mir weg und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Aber ich erinnere mich, dass ich dich gewarnt habe. Ich hab dir gesagt, dass du dich von ihm fernhalten sollst.«

Trotz meines Elends musste ich lachen. Ich boxte ihr gegen die Schulter. »Hätte ich bloß auf dich gehört.«

Sie zwinkerte mir zu, doch ich wusste natürlich, dass sie nur Spaß machte. Es war ihr genauso klar wie mir: Das zwischen Ben und mir war unausweichlich gewesen. Und vielleicht hätte es für uns sogar ein Happy End geben können, wenn … ja, wenn Bens Familie nicht ein Geheimnis gehütet hätte, gegen das fleischfressende Ungeheuer harmlos wirkten.

Auf den Aldringhams lag ein Fluch. Noch vor Weihnachten hatten wir geglaubt, dass wir dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen und die Schuld getilgt hätten, die einer von Bens Vorfahren auf sich geladen hatte. Aber seit sein Vater Gordon bei einem Unfall mit Bens Ponyherde beinahe gestorben war, stand alles, was wir zu wissen glaubten, wieder auf dem Prüfstand.

Deswegen war Ben aus Rosley weggegangen. Er war überzeugt davon, dass er sich von den Fells fernhalten musste, um seine Familie und die Ponys zu schützen. An guten Tagen konnte ich ihm sogar zugestehen, dass er auch mich hatte schützen wollen. Aber wie er gegangen war, ohne Warnung und ohne ein Wort des Abschieds – der Schmerz darüber saß tiefer, als ich irgendjemandem eingestehen wollte.

Emmy wusste es trotzdem.

Sie verzog den Mund zu einer Schnute und schob sich an mir vorbei. »Wie sieht’s aus? Gibt es in diesem Haushalt noch Junkfood oder seid ihr mit Laini zu Gesundheitsaposteln mutiert?«

Ich grinste, als sie die Tür zur Speisekammer aufzog und einen prüfenden Blick über die Regale gleiten ließ. Es war Zeit, alle Gedanken an Ponys, uralte Flüche und treulose Freunde beiseitezuschieben, zumindest für heute. Emmy verzichtete auf einen Abend mit ihrem Freund, um mir Gesellschaft zu leisten, da war es das Mindeste, dass ich ein bisschen gute Laune verbreitete.

»Beim nächsten Mal bringe ich selber was mit«, murrte sie, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Seit Tillie auf der Welt war, hatte Laini sogar Cola aus dem Haus verbannt. Es hätte mich gewundert, wenn Em etwas Ungesünderes als Zartbitterschokolade gefunden hätte.

Am Ende landeten wir aber doch noch mit einer Wochenration Kohlenhydrate auf dem Sofa. Um mein Gewissen zu beruhigen, stellte ich einen Teller mit Gemüsesticks auf den Couchtisch, was Emmy mit einem Kopfschütteln quittierte. Tillie hatten wir gefüttert und gewickelt, sodass sie mittlerweile friedlich schlief und vermutlich erst wieder gegen Mitternacht aufwachte. Einem erfolgreichen Serienabend stand also nichts mehr im Weg. Außer vielleicht mein jämmerlicher Herzschmerz.

Doch als wir uns einträchtig den Bauch vollschlugen, merkte ich, wie sich meine Schultern entspannten. Tillie schnaufte laut und regelmäßig, Emmy japste immer wieder bei einem Schockmoment und für ein paar Sekunden schloss ich die Augen. Weil ich nach innen lauschte. Es war, als würde zum ersten Mal seit Wochen etwas in mir zur Ruhe kommen. Ich hatte mich gefühlt wie im freien Fall, aber jetzt begriff ich, dass das nicht stimmte. Es gab etwas, was mich auffing, etwas Warmes und Stabiles, und auch wenn wieder dunklere Momente kommen würden, war es etwas, woran ich mich festhalten konnte. Und vielleicht, wenn ich mir Mühe gab, würde es wachsen und schließlich den Abgrund ausfüllen, an dessen Rand ich wochenlang balanciert war.

*

Als ich am Sonntag gegen Mittag in die Berge aufbrach, war meine Laune besser als seit Ewigkeiten. Ich war zu hundert Prozent davon überzeugt, dass ich die Herde heute finden würde. Alles passte: Die Sonne schien und ein leichter Wind trocknete die Schlammpfützen aus. Da ich sowieso keine Ahnung hatte, wo die Ponys die letzten Tage verbracht hatten, ließ ich mich einfach treiben und schlug immer die Richtung ein, die mir gerade am verlockendsten vorkam.

Ich behielt recht. Ich war kaum eine Stunde unterwegs, als ich aus einem kleinen Wäldchen trat und von gespitzten Ponyohren begrüßt wurde. Die Stuten hatten mich längst bemerkt, und dass sie blieben, wo sie waren, brachte mich zum Lächeln. Sie hatten mich nicht vergessen.

Ein paar Meter weiter entdeckte ich einen flachen Felsen, den ich ansteuerte. Seine Oberfläche war trocken und beinahe warm, also setzte ich mich und hielt das Gesicht in die Sonne. Mehr brauchte ich gerade nicht.

Gracie leckte sich die Lippen und begann wieder zu grasen und auch die anderen Stuten beachteten mich nicht mehr. Nur Molly behielt den Kopf oben und witterte in meine Richtung. Dann senkte sie den Hals und kam gemächlich herüber. Ich war so überwältigt, dass ich mich nicht rühren konnte, sondern nur wartete, bis sie dicht vor mir stehen blieb und sanft schnaubte.

»Hallo, meine Süße«, sagte ich, so leise, dass ein Mensch mich nicht verstanden hätte.

Molly und ich waren im Herbst Freundinnen geworden. Nach einer Fehlgeburt hatte sie die Gesellschaft der anderen Stuten eine Weile gemieden, und in dieser Zeit hatte ich ihr Vertrauen gewonnen. Doch seit ich nur noch allein zur Herde kam, hatte sie keinen Kontakt mehr gesucht. Ich konnte es ihr nicht verübeln: Jedes Mal hatte ich meine Unruhe und meinen Kummer mitgebracht.

Heute war es anders.

Sie atmete aus und trat noch einen Schritt vor und das reichte mir schon. Wie von allein hoben sich meine Arme, um sie zu streicheln. Ihr warmes Fell unter meinen Händen wirkte seine Magie: Am liebsten hätte ich mich an sie gelehnt und geschlafen. Doch Molly hatte andere Pläne. Sie wollte ausgiebig gekrault werden. Mit winzigen Bewegungen, einem Kopfnicken oder einem Fellzucken, dirigierte sie meine Finger dahin, wo sie sie haben wollte.

»Du weißt schon, dass dir so viel Aufmerksamkeit gar nicht zusteht, oder?«, murmelte ich, aber natürlich kümmerte sie das nicht. Sie hatte heute mich gewählt, nicht ihre Herde, also durfte sie auch ihren Vorteil daraus schlagen.

Trotzdem musste ich tun, wofür ich hergekommen war. Als Mollys Unterlippe schlapp herunterhing und ihre Lider schwer wurden, klopfte ich ihr sanft den Hals.

»Beim nächsten Mal wieder«, versprach ich ihr und rutschte von meinem Felsen. »Jetzt steht noch Arbeit an.«

Die Herde ließ es zu, dass ich mich bis auf ein paar Meter näherte. Wie ich es bei Ben oft gesehen hatte, blieb ich wie unbeteiligt am Rand stehen. Ich musste schmunzeln, als sich Molly neben mir aufbaute.

Sie hatte recht. Während ich die anderen Ponys betrachtete, konnte ich sie problemlos streicheln. Für jedes Pferd nahm ich mir ein paar Minuten, beobachtete, wie es sich bewegte, suchte nach Kratzern oder Schwellungen. Doch alle kamen mir gesund vor. Sie fraßen und wirkten aufmerksam und zufrieden, keines zeigte Anzeichen von Schmerzen. Nach einer Weile ging ich näher und bewegte mich langsam durch die Herde. Molly blieb an meiner Seite, so als habe sie Angst, sie könne etwas verpassen.

Als wir die Runde beendet hatten, lehnte ich mich an sie und genoss die Ruhe. Das ungemütliche Grau in Grau der letzten Zeit war vergessen, heute strahlten die Berghänge im Sonnenschein. Auf den höchsten Gipfeln lag Schnee. Es war still, aber es war nicht mehr das bedrückende winterliche Schweigen, das mir das Atmen schwer gemacht hatte, sondern eine hoffnungsvolle Erwartung, als sei der Frühling schon ganz nah. Nach den frustrierenden letzten Wochen kam es mir wie ein kleines Wunder vor, dass ich die Ponys heute gefunden hatte und sie meine Anwesenheit wie selbstverständlich hinnahmen. So hatte ich die Fells kennengelernt, frei von Zwängen und Pflichten, und ich war dankbar, dass sie mir wieder ihr freundliches Gesicht zeigten.

»Geht nicht so weit, hörst du?«, flüsterte ich Molly zu, als ich ein letztes Mal die Hand unter ihre Mähne schob und sie streichelte.

Sie senkte den Kopf, wie als Zustimmung, dann atmete sie tief aus. Ich trat einen Schritt von ihr weg und sie trottete zurück zur Herde.

Den ganzen Weg nach Hause konnte ich das Lächeln auf meinem Gesicht fühlen.

2

Hallo, Valerie.«

Mein Kopf fuhr herum. »Hallo, Gordon.« Ich war in Gedanken noch bei unserer Trainingseinheit gewesen, sodass ich gar nicht gemerkt hatte, wie Albie seine Ohren zu Gordon gedreht hatte. Mein Blick glitt zu der Kühlerhaube des Land Rovers, die hinter dem Stall hervorlugte. »Ich hab dich gar nicht kommen hören. Wie geht’s dir?«

»Jeden Tag besser.« Gordon lächelte und ganz kurz musste ich den Blick abwenden. Seine Ähnlichkeit mit Ben war einfach zu groß. Trotzdem war ich froh, ihn zu sehen. Er wirkte immer noch ein wenig blass, aber nach seinem Unfall Anfang des Jahres und den schwierigen ersten Wochen schien es nun endlich aufwärtszugehen.

Er deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Laini hat mir einen Tee angeboten. Ich habe dich auf dem Platz gesehen, da wollte ich nicht stören.«

Langsam nickte ich, während ich Albies Gurt löste. Wie selbstverständlich griff Gordon danach und legte ihn über den Sattel. Ich murmelte ein Dankeschön, zog den Sattel von Albies Rücken und legte ihn auf den Bock neben der Stalltür.

Gordon streckte die Hand aus und klopfte Albies Hals. »Er sieht topfit aus. Guter Rücken, starke Hinterhand. Du machst das toll mit ihm.«

Verblüfft starrte ich ihn an. Gordon hatte sich noch nie für Pferde interessiert. Es stimmte zwar, Albie war das reinste Kraftpaket, aber wie er das beurteilen wollte, wusste ich nicht. Wenn es nicht Gordon gewesen wäre, sondern sonst irgendein Erwachsener, hätte ich vermutet, dass etwas im Busch war.

»Danke«, antwortete ich mit einem Moment Verspätung. »Aber so viel muss ich gar nicht machen. Er hat einfach gute Anlagen.«

Manchmal kam es mir so vor, als hätte Albie geradezu darauf gewartet, dass jemand ernsthaft mit ihm trainierte. Obwohl seine kleine Herde nur ein paar Meter von unserem provisorischen Reitplatz stand und oft genug an die Mauer kam, um uns interessiert zuzugucken, schien er nie genug zu bekommen. Er sprühte vor Energie und Ehrgeiz. Insgeheim bedauerte ich, dass er gelegt worden war, denn als Hengst hätte er sicher eine Menge guter Nachkommen gehabt. Selbst als Wallach hatte er einen muskelbepackten Hals entwickelt und sein Langhaar ließ seinen Kumpel Ray blass aussehen. Ich fühlte, wie sich meine Mundwinkel hoben, und kramte in meiner Hosentasche nach einem Leckerli.

»Braver Junge«, murmelte ich, während ich es ihm hinhielt und dann die Hand unter seine volle Mähne schob, um ihn zu kraulen.

Gordon verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. »Warum ich hier bin …«, begann er.

Es war also doch etwas im Busch. Erwartungsvoll schaute ich ihn an.

Sein Blick wanderte hinauf zu den Hügeln hinter Ellonby, bevor er sich räusperte. »Laini hat erzählt, dass du viel Zeit auf den Fells verbringst.«

Daher wehte also der Wind. Ich konnte mir schon vorstellen, was Laini erzählt hatte. Oder was sie ausgelassen hatte. Sie und Silas sagten meistens nichts, aber oft genug spürte ich ihre Blicke, wenn ich mit Dreckstriemen im Gesicht und schmutzigen Klamotten nach Hause kam.

Möglichst gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. »Ja.«

»Weil du das Gefühl hast, du müsstest dich an Bens Stelle um die Herde kümmern?«

Sein Blick war glasklar und unerbittlich, und obwohl er mich nie zuvor so sehr an Ben erinnert hatte, konnte ich nicht wegsehen. Vielleicht weil in seinen Worten all die Widersprüche mitschwangen, die ich selbst seit Wochen empfand. Es war nicht nur so, dass ich dachte, ich müsste mich um die Herde kümmern, ich wollte es auch. Ben hatte es nicht vorgeschlagen oder gar verlangt, und ich wusste, dass ich ihm nicht das Geringste schuldete. Trotzdem trieb es mich immer wieder in die Berge. Weil ich es den Ponys schuldete. Und weil ich Ben beweisen wollte, dass er nicht der einzige Ponyflüsterer in Rosley war.

Auch wenn es mir immer noch so vorkam, als wäre das nichts weiter als eine Wunschvorstellung.

Albie schnaubte und trat einen Schritt zur Seite. Schleunigst löste ich meine verkrampften Finger von seinem Widerrist und strich ihm entschuldigend über den Rücken.

Meine Frustration hatte ich ja tipptopp im Griff.

Und meinen Gesichtsausdruck anscheinend auch. Gordon atmete tief ein, so als wolle er verhindern, dass ihm irgendein mitleidiger Spruch rausrutschte, und dafür war ich extrem dankbar.

Es war allerhöchste Zeit, etwas zu antworten. »Ich will, dass es den Ponys gut geht«, sagte ich deswegen. »Es ist nicht immer einfach, sie zu finden, aber ich hätte keine Ruhe, wenn ich sie nicht mehr besuchen würde.«

»Sie sind dir ans Herz gewachsen«, stellte er fest.

Ich nickte knapp.

Leise seufzte er. Bestimmt fragte er sich, was diese Pferde an sich hatten, dass Ben und ich und früher auch seine Frau tagelang über die Fells streiften, um sicherzugehen, dass sie gesund waren. Aber jetzt, da Ben im Internat war und nicht mehr jeden Tag Gefahr lief, in eine Felsspalte zu stürzen, hatte er ja, was er wollte.

Zumindest einer von uns.

Statt nachzuhaken, tat er etwas, womit ich nicht gerechnet hatte. Er griff nach meiner Hand, die noch auf Albies Rücken lag, und drückte sie.

»Ich weiß es zu schätzen, was du für ihn tust, Valerie.« Er schüttelte den Kopf, als ich protestieren wollte, dass ich es nicht für Ben tat. Also hielt ich die Klappe. Es wäre ja doch gelogen gewesen. »Aber wenn dir die Verantwortung über den Kopf wächst, sag Bescheid. Wir können die Herde nach Renwick bringen. Es wäre nicht wie auf den Fells, aber wir haben genügend Platz für fünfzehn Ponys. Ich würde sie nicht verkaufen«, versicherte er schnell, als er mein Stirnrunzeln sah.

Meine rationale Seite wusste, dass das ein sinnvoller Vorschlag war, dass es die Ponys gut haben würden und sie zumindest vor den Gefahren sicher gewesen wären, die der Winter in den Bergen mit sich brachte. Aber der größere Teil von mir musste gar nicht überlegen.

»Nein danke. Sie sollen auf den Fells bleiben. Da gehören sie hin.« Ich lächelte vorsichtig, um die Schärfe meiner Worte abzumildern. »Ich komme schon klar.«

Gordon zögerte einen Moment, dann nickte er. »In Ordnung. Aber wann immer du Hilfe brauchst, komm zu mir, ja? Tierarzt, Futter, ganz egal.«

Dieses Versprechen konnte ich ihm gern geben. Er lächelte mir zu und erkundigte sich nach der Schule, dann hob er grüßend die Hand und wandte sich seinem Auto zu.

Nach ein paar Schritten drehte er sich noch einmal um. »Ach, eines noch. Ich soll dich von Charlotte grüßen. Wir würden uns freuen, wenn du mal vorbeikommst.«

Der alten Zeiten wegen? Um gemeinsam in das leere Haus zu lauschen?

Ich verdrängte meine zynischen Gedanken und nickte. Auch wenn die beiden erleichtert waren, Ben in Sicherheit zu wissen, war es ja doch möglich, dass sie ihn vermissten. »Das mache ich. Danke, Gordon.«

*

Mit dem guten Wetter war es vorerst wieder vorbei. Es war windig, und immer wieder regnete es, sodass ich jeden einigermaßen freundlichen Nachmittag nutzte, um auf die Fells zu gehen. Ich hatte mir angewöhnt, nicht mehr stur im Umkreis des Orts zu suchen, wo ich die Ponys zuletzt gesehen hatte, sondern stärker auf meinen Bauch zu hören und mich treiben zu lassen. Dadurch fand ich die Herde nun immer häufiger. Oft standen die Ponys nah beieinander, wie um sich gegenseitig zu wärmen. Weil sie aber gesund wirkten und bei meinen Besuchen neugierig auf mich zukamen, machte ich mir keine Sorgen.

Immerhin wurden die Tage allmählich länger, und das zunehmende Licht nutzte ich, um wieder mit den Fohlen zu arbeiten. Wobei, Fohlen waren sie ja nicht mehr, in drei, vier Monaten würden ihre Geschwister geboren werden und sie wären Jährlinge. Dass sie nicht nur gewachsen waren, sondern auch an Kraft gewonnen hatten, merkte ich ziemlich bald. Im Herbst hatten Ben und ich begonnen, sie Hufe geben und sich führen zu lassen, aber in den letzten Wochen hatte ich anderes im Kopf gehabt, als das Training fortzusetzen. Jetzt kostete es mich eine Menge Durchsetzungsvermögen, sie dazu zu bringen, ihr Gewicht selbst zu tragen und sich nicht bei mir aufzustützen, wenn ich ihren Huf hochhielt. Doch das kannte ich ja schon: Am meisten lernte ich.

An einem Dienstagnachmittag kam endlich wieder die Sonne durch und färbte den Himmel orange und zuckerwatterosa. Auch wenn ich wusste, dass ich mich bald auf den Heimweg machen sollte, konnte ich mich noch nicht losreißen. Molly hatte heute nur wenig Aufmerksamkeit abgekriegt, also ging ich zu ihr hinüber.

Als sie merkte, dass ich sie ansteuerte, kam sie mir entgegen. Ihre Augen blitzten erwartungsvoll, und obwohl sie wahrscheinlich auf Streicheleinheiten hoffte, brachte mich der muntere Ausdruck in ihrem Gesicht auf eine Idee.

»Wie sieht’s aus? Arbeiten wir heute mal?«, fragte ich sie, als sie mir ihren warmen Atem ins Gesicht pustete.

Sie schien nichts dagegen zu haben, also nahm ich die linke Schulter zurück, drehte mich zur Seite und lief los. Molly zögerte kurz, dann schloss sie wieder auf.

Okay, das hatte sie verwirrt. Ich musste klarer sein.

Während ich ausatmete, schob ich die Schultern ein Stück nach vorn, dann blieb ich stehen. Das schien sie besser zu verstehen, denn sie hielt ebenfalls an. Sie drehte das linke Ohr zu mir und kaute.

»Brav«, murmelte ich, streckte den Arm aus und strich ihr über den Hals.

Als ich diesmal loslief, bereitete ich mich besser vor. Ich richtete mich groß auf und atmete ein. Es klappte. Im selben Moment, in dem ich das linke Bein nach vorn setzte, ging auch Molly los. Ebenfalls mit dem linken Bein.

»Du machst das nicht zum ersten Mal, hm?«, fragte ich leise, während ich sie am Widerrist kraulte.

Natürlich nicht. Ben hatte mit all seinen Ponys gearbeitet, zumindest die Grundbegriffe der Bodenarbeit und des Reitens beherrschten sie. Wieder einmal überrollte mich ein Gefühl der Unzulänglichkeit, aber als Mollys Schritte zögerlicher wurden, konzentrierte ich mich auf meine Aufgabe. Ich musste im Moment sein, ohne Erwartungen, ohne Urteil. Also schob ich alles andere weg.

Wir hatten Spaß. So richtig Spaß. Am Anfang lief es nicht ganz ohne Missverständnisse ab, doch nach kurzer Zeit reagierte Molly auf den kleinsten Fingerzeig. Sie prustete eifrig, begierig darauf, noch besser zu begreifen, was ich von ihr wollte. Bald trabte sie neben mir her, ein paar Minuten später sogar um mich herum. Und wie sie sich dabei bemühte! Ihre Haltung wurde immer besser, sie hob den Rücken, schritt raumgreifender aus. Sogar Richtungswechsel klappten, erst im Schritt, dann im Trab.

Als die Schatten den Hang herunterkrochen und Mollys Fell mit den dunklen Fichten hinter ihr zu verschwimmen begann, holte ich sie mit einem Handsignal zu mir. Und dann stand endlich eine Streicheleinheit an.

»Brav«, sagte ich immer wieder und dann noch ein paarmal, als ich merkte, wie weit wir uns von der Herde entfernt hatten. Molly hatte das sicherlich mitbekommen, trotzdem hatte sie mir vertraut und war mir gefolgt.

Wärme breitete sich in mir aus, nicht von der körperlichen Anstrengung, sondern weil ich so dankbar war.

»Wie macht ihr das nur mit eurem Ponyzauber?«, fragte ich sie, während wir Seite an Seite zurück zu den anderen liefen.

Sie schnaubte leise und lehnte sich in meine Berührung an ihrem Hals. Eine andere Antwort brauchte es nicht. Wir waren zwei Lebewesen auf Augenhöhe und wir hatten eine gemeinsame Sprache gefunden.

3

Es war Samstagabend und der Keller des Pack Horse rappelvoll. Die Beats ließen die Getränke in den Gläsern erzittern, und ich hatte gedacht, es wären genug Leute da, dass ich mich unauffällig in eine Ecke drücken könnte, bis es Zeit war zu gehen. Aber weit gefehlt.

Emmy drängte sich durch das Publikum, baute sich vor mir auf und blitzte mich drohend an. »Du bist ein schlechtes Beispiel. Wenn du nicht sofort kommst, trage ich dich auf die Tanzfläche.«

Ich deutete auf Grayson. Er lehnte mit zwei Jungs aus dem Rugby-Team ein paar Meter entfernt an der Wand. »Du hast einen Freund. Wieso versuchst du’s nicht bei ihm?«

Emmy warf Grayson einen bösen Blick zu, den er mit einem entschuldigenden Schulterzucken quittierte. »Weil er keinen ganz so erbärmlichen Eindruck macht wie du.«

»Autsch.« Ich verzog das Gesicht, doch sie redete ungerührt weiter.

»Ich zähle bis drei. Eins … zwei …«

»Ist ja gut!« Kapitulierend hob ich die Hände. »Ich hole mir nur kurz was zu trinken, okay? Siehst du?« Zum Beweis hielt ich ihr mein leeres Glas unter die Nase.

»Aber beeil dich«, murrte sie, dann drehte sie sich um und verschwand wieder in der Menge.

Grayson sah mich mitleidig an, doch als ich eine auffordernde Geste Richtung Tanzfläche machte, schaute er schnell weg. Toller Freund.

Wehmütig verabschiedete ich mich von meiner Ecke und schob mich an der Wand entlang bis zur Treppe. Die Misty Diggers beendeten einen Song, und als die Leute zu toben begannen, musste ich trotz allem lächeln. Ich gönnte Dhani und den anderen aus der Band den Erfolg heute Abend. Sie feierten ihr fünfjähriges Jubiläum, und zu diesem Anlass war nicht nur halb Rosley da, sondern anscheinend auch eine Menge Fans aus der ganzen Gegend.

Johlen und Pfiffe brandeten auf, als sie den nächsten Song anstimmten, und die Lautstärke trug mich praktisch die letzten Stufen ins Erdgeschoss hinauf. Hier war es etwas leiser, aber nur unwesentlich leerer, und während ich mich zur Bar durchkämpfte, sah ich viele bekannte Gesichter.

An der Theke entdeckte ich Ayda und stellte mich hinter sie.

»Hi«, sagte ich.

Sie drehte sich zu mir um und runzelte die Stirn. »Hi.«

Mehrere Sekunden lang fixierte sie mich mit einem ziemlich genervten Blick, bis ich fragte: »Was ist?«

»Ich fände es schon gut, wenn du dich zumindest heute mal zusammenreißen könntest.«

Einen Moment war ich zu perplex, um überhaupt etwas zu sagen. »Was?«, presste ich schließlich hervor.

»Wegen Sarah«, antwortete sie. »Sie hat sowieso schon ein schlechtes Gewissen. Da könntest du wenigstens so tun, als hättest du Spaß.«

Ich blinzelte. »Wieso hat Sarah ein schlechtes Gewissen?«

Aus dem Augenwinkel sah ich Richard, der unsere Bestellungen entgegennehmen wollte, doch ich ignorierte seinen auffordernden Blick.

»Tja, wenn ich das wüsste.« Ayda lächelte schmal. »Aber das will sie mir ja nicht verraten. Irgendwas wegen deiner und Bens Trennung. Als ob sie dafür was könnte.«

Ayda und ich hatten nicht allzu viel miteinander zu tun, deswegen nervte mich ihr schnippischer Tonfall doppelt, aber ich schluckte meinen Ärger hinunter.

»Das wusste ich nicht«, sagte ich stattdessen. »Ich rede mit ihr, okay?«

Ayda betrachtete mich noch einen Moment abwägend, dann nickte sie und wandte sich Richard zu. Ich hätte etwas mitbestellen können, doch ich starrte ins Leere. Zumindest soweit das in einer Menschenmenge möglich war. Da riss mich ein vertrautes Gesicht aus meinen Gedanken.

Sarah war auf uns zugelaufen – oder eher auf Ayda –, aber als sie mich entdeckte, zog sie den Kopf ein und kehrte um.

So nicht. Rücksichtslos quetschte ich mich zwischen den plaudernden Grüppchen hindurch, bis ich sie auf halbem Weg zur Kellertreppe einholte. Am Arm drehte ich sie zu mir herum.

»Versteckst du dich jetzt vor mir?«

Widerstrebend erwiderte sie meinen Blick. »Nein, ich …« Sie räusperte sich. »Hat … hat Ayda was gesagt?«

Sie klang nicht so, als würde ihr die Vorstellung besonders behagen, also seufzte ich und zog sie in eine etwas ruhigere Ecke.

»Hat sie.« Ich atmete tief ein. »Was ist denn los, Sarah? Hab ich was falsch gemacht? Bist du sauer auf mich?«

Sie riss die Augen auf. »Was? Nein! Aber … ich! Wenn ich das mit dem Fluch nicht falsch verstanden hätte, dann wäre das alles nie passiert! Dann wäre Ben noch da und du … du …« Hilflos deutete sie auf mich, und ich war ganz froh, dass sie nicht weiterredete.

»Aber das ist überhaupt nicht deine Schuld!« Der Satz kam ein bisschen schärfer heraus, als ich beabsichtigt hatte, deswegen senkte ich meine Stimme. »Du warst die Einzige, die irgendwas Sinnvolles gefunden hat! Wir wissen doch nicht, woran es am Ende lag, dass wir den Fluch nicht brechen konnten. Dein Plan war die einzige Chance, die wir hatten, und ich weiß, dass Ben dir immer dankbar sein wird, wie sehr du dich in die Sache reingehängt hast.«

»Nur dass es nichts genützt hat …«, murmelte sie. Ihre Unterlippe zitterte.

Ich griff nach ihrer Hand und lächelte sie an. Wenn sie jetzt in Tränen ausbrach, hatte ich es mir mit Ayda endgültig verscherzt.

»Sarah, im Ernst, hör auf damit. Wer sagt denn, dass du nicht recht hattest? Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit, die wir falsch gemacht haben. Und wenn wir herausfinden, was es war, können wir einen neuen Versuch starten!«

Erleichtert erkannte ich, dass Sarahs Augen aufleuchteten, doch als sie weitersprach, verflüchtigte sich mein Hochgefühl sofort wieder. »Heißt das, du recherchierst wieder? Hast du eine neue Spur?« Sie lehnte sich näher zu mir. »Kann ich helfen?«

»Nein … also, ich … Das heißt …«, wand ich mich, dann sah ich ihr fest in die Augen. »Ich hab nichts Neues. Aber wenn ich was finde, dann reden wir drüber.«

»Versprochen?«

Ich nickte. »Klar.«

Sarahs Blick richtete sich auf etwas hinter mir und sie nickte knapp. »Okay. Danke, Val.« Sie beugte sich vor und umarmte mich, und ich war so überrascht, dass ich einen Moment brauchte, um sie ebenfalls zu drücken. »Es tut mir leid. Das mit Ben, meine ich«, sagte sie leise, und da drückte ich sie fester.

Sie ließ mich los und ging an mir vorbei. Ich wandte mich nicht um, ich wusste auch so, dass Ayda dort auf sie wartete. Erst als ich sicher war, dass die beiden verschwunden waren, drehte ich mich so, dass ich mich an die Wand lehnen konnte. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Einerseits war ich – wieder einmal – wütend auf Ben, dass er uns sitzen gelassen hatte. Uns, nicht nur mich. Zumindest hatte ich Sarah diesen Unfug ausreden können, dass sie an irgendetwas schuld sei, was in den letzten Monaten passiert war. Jedenfalls hoffte ich das. Dafür hatte ich jetzt ein schlechtes Gewissen. Sarah wusste, warum Ben ins Internat gegangen war, und anscheinend glaubte sie nicht, dass das die richtige Antwort auf den Fluch gewesen war.

Ich rieb mir über das Gesicht. In den letzten Wochen war ich so mit den Ponys beschäftigt gewesen, dass ich kaum einen Gedanken für etwas anderes übrig gehabt hatte. Aber was, wenn Sarah richtiglag? Was, wenn ich meine Zeit besser anlegte, indem ich weiter nach einer Möglichkeit suchte, den Fluch zu brechen?

Ein trotziges Stimmchen meldete sich in mir, dass es ja wohl nicht meine Aufgabe sei, mich um das Problem zu kümmern, doch ich brachte es zum Schweigen. Ja, vielleicht hatte Ben kapituliert. Aber das hieß nicht, dass ich auf einmal keine Verantwortung mehr trug. Ich konnte dem allen nicht einfach den Rücken kehren und so tun, als ob es mich nichts anging. Ich hatte mich nicht nur ein Mal dafür entschieden, dem Fluch die Stirn zu bieten, sondern immer wieder. Mit jeder Minute, in der ich mich tiefer auf Ben eingelassen hatte. Mit jedem Besuch bei der Herde.

Vielleicht warteten irgendwo Antworten auf uns, die nicht darin bestanden, dass sich Ben sein Leben lang von den Fells fernhielt.

Also musste ich weitersuchen. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, wo.

Ich schloss kurz die Augen.

Vor allem musste ich zurück zum Konzert, wenn ich nicht wollte, dass Emmy mich an den Ohren auf die Tanzfläche zerrte. Ich stieß mich von der Wand ab, ignorierte die neugierigen Blicke, die mir ein paar Jungs von der gegenüberliegenden Seite des Raums zuwarfen, und schlug mich ein weiteres Mal zur Bar durch.

»Nicht dein Tag, was?«, meinte Richard, als er das Eis für mein Ginger Ale in ein Glas füllte.

»Hat noch Luft nach oben«, gab ich zurück und legte ein paar Pfund auf die Theke.

»Lass stecken.« Mit dem Kinn deutete er auf den Geldschein. »Geht aufs Haus.«

Er stellte mir das Glas hin und ich lächelte ihm zu. »Und schon wendet sich das Blatt.«

Er grinste, dann schossen seine Augenbrauen nach oben. »Würdest du das auch behaupten, wenn du wüsstest, dass Emmy gerade auf dich zukommt? Sie sieht nicht fröhlich aus.«

Bevor ich mich wappnen konnte, stand sie neben mir.

»Ich kann es erklären …«, begann ich, doch sie warf Richard nur einen strengen Blick zu, nahm mich an der Hand und zog mich Richtung Treppe.

Als ich über die Schulter zurückschaute, grinste Richard noch immer.

*

Zwei Stunden hielt ich durch, dann entschloss ich mich, Emmys Ärger auf mich zu nehmen. Doch als ich sagte, dass ich am nächsten Tag früh auf die Fells wollte, nickte sie nur.

Möglichst unauffällig schob ich mich Richtung Treppe. Die anderen würden sicher noch eine Weile feiern, da wollte ich nicht die Spielverderberin sein und mich groß verabschieden.

Bevor ich aufbrach, ging ich noch aufs Klo. Als ich aus der Tür trat, war es im Treppenhaus dunkel. Blinzelnd wandte ich mich nach rechts, bevor ich merkte, dass jemand die Stufen heraufkam. Im selben Moment blieb die Person stehen und legte sich eine Hand auf die Brust.

Erst als sie kicherte, erkannte ich Jess. Sie war heute mit Singh da und laut Dhani war es mit den beiden was Ernstes. »Sorry, Valerie.«

Sie streckte den Arm nach oben, sodass endlich der Bewegungsmelder ansprang und das Licht wieder anging.

»Hab ich dich erschreckt?« Ich grinste Jess an, weil ich sie wirklich nicht für jemanden gehalten hatte, der im Dunkeln Angst bekam. Wir hatten im letzten Halbjahr gemeinsam eine Präsentation gehalten und sie war mir immer ziemlich cool vorgekommen.

»Sieht fast so aus.« Wieder lachte sie, dann zeigte sie auf die Wand gegenüber. »Nein, ich dachte nur einen Moment, du wärst direkt aus dem Bild gestiegen. Als würde ich doppelt sehen. War fast ein bisschen unheimlich.«

Überrascht drehte ich den Kopf zu dem Porträt hinter mir. Ich kannte es natürlich, es zeigte Edith Morland, eine bekannte Persönlichkeit aus Rosley, als junge Frau. Aber das Gemälde war Anfang der 1920er entstanden. Es hätte nicht weiter von meiner Wirklichkeit entfernt sein können.

»Eher nicht. Sind alle noch an ihrem Platz.« Wir grinsten uns breit an.

»Tja, das Pack Horse ist eben nicht Hogwarts.« Jess kam die letzten Stufen herauf und lehnte sich gegen das Geländer. »Irgendwie sind wir noch gar nicht zum Quatschen gekommen«, stellte sie fest. »Aber, na ja, ist vielleicht auch nicht der richtige Rahmen heute.«

Wir traten einen Schritt zur Seite, als sich drei jüngere Mädchen tuschelnd an uns vorbeidrängten.

Nachdem hinter mir die Toilettentür ins Schloss gefallen war, schüttelte ich den Kopf. »Nein, dafür haben Dhani und die anderen gesorgt.«

Sie nickte. Ihre hellen Augen musterten mich aufmerksam, und in dem Moment wäre ich gern eine gute Freundin gewesen und hätte sie darüber ausgequetscht, wie sie und Singh zusammengekommen waren. Doch auf einmal wollte ich nur noch nach Hause. Dort konnte ich so müde und traurig sein, wie ich wollte, und niemand interessierte sich dafür.

»Sollen wir das bald mal nachholen?«, fragte ich mit mehr Enthusiasmus, als ich fühlte. »Bei einem Kaffee oder so?«

»Total gern.« Sie lächelte und prompt kam ich mir schäbig vor.

»Super«, antwortete ich deswegen aufrichtiger. »Vielleicht klappt es ja mal nach dem Französischkurs.«

Jess stöhnte. »Das war mein Stichwort.« Sie deutete auf die Klotür. »Vielleicht klappt es ja mal während des Französischkurses.«

Wieder mussten wir lachen und mit einem kleinen Winken ging sie an mir vorbei.

Als ich allein war, seufzte ich leise, dann drehte ich mich zu Ediths Porträt um. Wie immer fand ich, dass sie auf dem Bild irgendwie genervt wirkte. Vielleicht war sie aber auch einfach nur müde gewesen.

Als ich aus dem Treppenhaus in den Eingangsbereich bog, stockte ich. Grayson stand an der Tür und sah mir entgegen.

»Wolltest du dich einfach aus dem Staub machen?« Er deutete auf die Jacke, in die ich gerade schlüpfen wollte.

Schuldbewusst verzog ich das Gesicht. »Ich dachte, ihr bleibt sicher noch ein bisschen. Da wollte ich nicht stören.«

Er presste die Lippen aufeinander, dann wechselte er das Thema. »Emmy meinte, du gehst morgen die Herde suchen. Soll ich dich begleiten?«

Ein kleiner, warmer Freudefunke glomm in meinem Magen auf, doch ich erstickte ihn sofort.

»Das ist echt nett, aber ich komme schon klar«, sagte ich, als wäre das mein neues Mantra. »Du musst dir meinetwegen nicht auch noch den Sonntag auf den Fells um die Ohren schlagen. Du hast genug Arbeit.«

»Es wäre aber keine Arbeit.« Graysons Blick lag ruhig auf meinem Gesicht.

Ein paar Sekunden lang gönnte ich mir den Luxus und stellte mir vor, wie es wäre, nicht allein durch die Wildnis zu stapfen, sondern mit jemandem, mit dem ich Witze reißen konnte darüber, dass ich in jeder freien Minute ein paar störrischen Ponys hinterherjagte. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass das Gespräch wahrscheinlich nicht bei den Witzen enden würde, und schüttelte den Kopf.

»Wirklich, Grayson, alles gut. Verbring den Tag lieber mit Emmy. Sie ist sowieso schon nicht gut auf mich zu sprechen.«

»Woran das wohl liegt …« Er sprach so leise, dass ich mir nicht ganz sicher war, ob ich ihn richtig verstanden hatte. Doch bevor ich nachhaken konnte, schob er den Vorhang zur Seite, der den Innenraum gegen Zugluft abschirmte. »Dann komm gut nach Hause.«

»Ihr auch. Und viel Spaß noch!« Ich schlüpfte aus der Tür, nickte ein paar Leuten zu, die vor dem Eingang in Grüppchen zusammenstanden, und verschwand innerhalb von Augenblicken in der tröstlichen Dunkelheit von Bell Lane.

4

Keuchend wandte ich mich um und blickte den Hang hinunter, den ich gerade hochgeklettert war. Trotz meiner Mütze peitschte mir der Wind die Haare ins Gesicht, und die Wolken hingen so tief, dass ich das Gefühl hatte, mein Kopf würde gleich darin verschwinden. Während ich darauf wartete, dass sich mein Atem beruhigte, drehte ich mich langsam im Kreis und sah mich um.

Nichts.

Kein Pony weit und breit.

War ich doch in die falsche Richtung gelaufen? Hätte ich mich nicht so weit nordöstlich halten sollen? Ich war mir so sicher gewesen, dass Gracie bei diesem Wind irgendein Tal östlich des Dunmallock angesteuert haben musste. Hier wuchsen mehr Bäume, sie hätten bessere Deckung geboten. Aber vielleicht war der Wind für Ponyverhältnisse noch nicht stark genug.

Mir dagegen tränten die Augen.

Entmutigt rieb ich mir über das Gesicht. Die Wahrheit war, dass ich die Herde vor einer Woche zum letzten Mal gesehen hatte und sie seitdem sicher viele Kilometer weitergewandert war. Sie konnte längst wieder südlich von Ellondale sein.

Oder sie graste friedlich hinter dem nächsten Hang, und ich hatte keine Ahnung, dass sie da war.

Es dauerte schon zu lange. Ein paar Tage hielt ich es aus, nicht zu wissen, wie es den Ponys ging, doch mittlerweile wurde ich unruhig. Wahrscheinlich gab es keinen Grund zur Sorge, wahrscheinlich kannte Gracie einfach ein paar Winterweidegründe, von denen ich keine Ahnung hatte, aber auch wenn ich versuchte, mir das einzureden, wurde ich das ungute Gefühl nicht los. Immerhin hatten wir eine Woche Ferien, sodass ich heute schon früh am Morgen aufgebrochen war, um nach der Herde zu suchen.

Mein Blick glitt weiter zu dem Gipfel, der sich hoch über alle anderen in dieser Gegend erhob. Rydal Hill.

Ich wusste, dass er als gefährlich galt, dass die Bergwacht jedes Jahr viele Kletterer von seinen Hängen pflückte, aber ich war längst viel zu frustriert, um solche Überlegungen noch ernst zu nehmen. Ich hatte ja nicht vor, mich eine Felswand hochzuhangeln, ich brauchte einfach nur einen besseren Aussichtspunkt. Und deswegen lief ich los.

*

Der erste Teil des Aufstiegs war nicht besonders anspruchsvoll. Schmale Trampelpfade zogen sich die Flanke des Bergs hinauf und trotz der feuchten Witterung der letzten Zeit waren sie gut begehbar. Noch dazu hatte ich Rückenwind, sodass sich meine Laune mit jedem Schritt hob. Bitte sehr – so ganz sinnlos waren die vergangenen Wochen doch nicht gewesen. Ich war eben keine dahergelaufene Kletterin, sondern kannte die Fells beinahe so gut, als wäre ich hier aufgewachsen. Besser sogar, wenn ich an die meisten anderen in meiner Klasse dachte. Wenn ich es noch ein Stück weiter nach oben schaffte, hatte ich vielleicht wirklich eine Chance, endlich wieder eine Spur der Ponys zu finden.

Nach einer Weile wurde der Untergrund felsiger. Matsch war hier kein Thema mehr, stattdessen musste ich aufpassen, dass meine Füße festen Halt auf dem Geröll fanden. Immer wieder rollten Steine unter meinen Schuhen davon, und ein-, zweimal musste ich mich mit den Händen abstützen, um das Gleichgewicht zu halten.

Kam es mir nur so vor oder wurde es dunkler? Es schien, als würde der kahle Gipfel, der vor mir aufragte, das trübe Vormittagslicht schlucken. Trotzdem lief ich weiter, weil ich durch die Anstrengung zu schwitzen begonnen hatte und der schneidende Wind mir bei jeder Pause in die Glieder fuhr.

Mittlerweile kletterte ich auf allen vieren. Einen Pfad erkannte ich längst nicht mehr, ich war froh, wenn ich eine Route fand, die mich nicht zwischen hohen Felsnadeln hindurchführte. Doch genau das kam immer häufiger vor. Es war wie ein Labyrinth aus grauem Gestein, und wenn ich nicht bald einen Weg hinausfand, musste ich umkehren. An Weitblick war hier nicht einmal zu denken.

Schließlich blieb ich doch stehen, um mich zu orientieren. War ich überhaupt noch in die richtige Richtung unterwegs? Der Gipfel von Rydal Hill ragte jetzt halb links von mir auf – anscheinend war ich zu weit nach Osten gelangt.

Das war nicht gut. Die Ostseite war wohl die gefährlichste, und ich hatte keine Lust, zum zweiten Mal in diesem Halbjahr einen Alarm auszulösen.

Entnervt biss ich die Zähne zusammen und gab mich geschlagen. Es war besser, wenn ich umkehrte. Ächzend zog ich mich an einer Felskante hoch. Dahinter schien sich eine Grasfläche zu erstrecken, vielleicht entdeckte ich dort einen besseren Weg zurück ins Tal als die Geröllpiste eben.

Drei Schritte weit kam ich, dann kippte etwas unter mir. Ich warf mich nach hinten, grub die Finger ins spärliche Gras, aber es war zu spät. Meine Füße rutschten unter mir weg und ich verlor das Gleichgewicht.

Diesmal wusste ich sofort, dass ich in Schwierigkeiten war. Ich landete hart auf der Seite, blieb mit dem Oberarm an etwas hängen und ein scharfer Schmerz biss sich durch meinen Rücken. Doch das war nicht das Schlimmste. Ich schlitterte weiter, mit den Füßen voran den Abhang hinunter, der sich wie aus dem Nichts aufgetan hatte. Er war steil und von Sekunde zu Sekunde wurde es dunkler. Die Rucksackgurte schnitten in meine Schultern, mein Hintern brannte, weil ich immer wieder heftig aufschlug und Geröll und Steine mitriss. Über mir grummelte etwas, und wenn ich bisher trotz des Schrecks noch klar im Kopf gewesen war, versetzte mich dieses Geräusch in Panik.

Hatte ich einen Steinschlag ausgelöst? Würde gleich eine Lawine auf mich niedergehen und mich verschütten?

Das wäre das Ende.

Vielleicht würde irgendjemand in hundert Jahren meine bleichen Knochen finden, vielleicht würde ich auch für immer hier begraben bleiben.

Aber all diese Gedanken verflogen, als meine Füße plötzlich auf Widerstand trafen und mein Schwung mich nach vorn schleuderte, sodass ich auf Händen und Knien landete. Trotz meiner Schmerzen stemmte ich mich innerhalb von Sekunden hoch. Es war reiner Instinkt, der mich dazu brachte, meine Gliedmaßen zu ordnen und mich auf die andere Seite der schmalen Schlucht zu werfen. Dort presste ich mich gegen den bemoosten Felsen und lauschte. Zuerst hörte ich nichts, mein Atem ging zu laut und das Blut rauschte mir in den Ohren, doch dann klackerten einzelne Steine den Hang herunter. Fünf oder sechs zuerst, dann zwei, dann einer.

Schließlich war es still.

Ich atmete auf. Anscheinend war ich noch einmal davongekommen.

Wenn man es so nennen wollte.

Langsam sank ich an der Felswand entlang in die Hocke und schaute mich um. Unebener, steiniger Boden, hier und da ein paar Grasbüschel, mehr konnte ich nicht erkennen, weil sich die Schlucht auf beiden Seiten schon nach der ersten Kurve im Dunkeln verlor. Über mir war nur ein schmaler Streifen Himmel zu sehen, grau und unerbittlich.

Ich griff in meine Jackentasche und zog mein Handy heraus. Zumindest funktionierte es noch, auch wenn ich hier unten keinen Empfang hatte. Doch wenn gar nichts mehr ging, konnte ich zumindest einen Notruf absetzen.

Und mich auf absehbare Zeit von den Fells verabschieden.

Silas und Laini hatten wochenlang mit unbewegter Miene zugesehen, wie ich immer wieder mit durchlöcherten Hosen aus den Bergen zurückgekommen war. Ich hatte so ein Gefühl, dass ein Rettungseinsatz der Bergwacht das Ende ihrer Geduld bedeuten würde.

Also rappelte ich mich hoch. Als ich aufrecht stand, musste ich erst einmal verschnaufen, denn ich hatte erneut zu schwitzen begonnen. Meine Schulter tat höllisch weh. Vorsichtig tastete ich nach meinem Oberarm und zuckte zurück, als ich etwas Warmes unter meinen Fingern spürte. Etwas Rotes, wie ich sofort erkannte.

Die Schulter geprellt und den Arm aufgerissen.

Herzlichen Glückwunsch, Valerie.

Wie ich das verheimlichen wollte, wusste ich noch nicht, aber darüber würde ich mir Gedanken machen, wenn ich einen Weg aus der Felsspalte gefunden hatte.

Nachdem ich die Wunde notdürftig verbunden hatte, wandte ich den Kopf von rechts nach links und wählte die westliche Richtung, einfach nur deswegen, weil es mir dort ein wenig heller vorkam. Den Hang hinaufzuklettern, schied aus, also lief ich los und konnte nur hoffen, dass mich meine Entscheidung nicht tiefer in die Schlucht führen würde.

*

Wie hätte ich gewirkt, wenn mir in diesen ersten Minuten jemand begegnet wäre? Ich redete mir ein, dass ich mich ziemlich gut unter Kontrolle hatte, aber vielleicht war das ein Trugschluss. Zumindest hinderten mich ausgerechnet meine Schmerzen daran, komplett durchzudrehen. Die Panik, lähmende, tödliche Panik, war nur ein paar Schritte entfernt, doch sie holte mich nicht ein. Stattdessen konzentrierte ich mich darauf, gleichmäßig zu atmen, in die Schmerzen hinein, und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen.

Es blieb immerhin hell genug, dass ich die Taschenlampe an meinem Handy nicht verwenden musste, was mich hoffnungsvoll stimmte. Ein bisschen zumindest. Mit der Zeit ließ sogar die Verspannung in meinem Rücken nach, und mein Hintern hörte auf zu pochen, sodass das Gehen leichter wurde.

Aber meine Erleichterung hielt nicht lange an. Denn die Schlucht schien kein Ende zu finden. Über mir ragten drei Felsnadeln auf wie grimmige Wächter. Der Gipfel von Rydal Hill war längst hinter der Felskante verschwunden und noch immer rückten die Wände nicht auseinander. Ich war nicht einmal mehr in die richtige Richtung unterwegs, sondern schien weiter nach Nordosten zu gelangen.

Sollte ich umkehren? Mein Glück auf der anderen Seite versuchen? Doch dazu war ich zu erschöpft. Ständig musste ich Pausen einlegen und mich gegen die Felswand lehnen. Es sah ganz danach aus, dass ich bei der ersten Gelegenheit Hilfe rufen musste.

Und alles nur, weil die Ponys unbedingt Verstecken spielen mussten.

Alles nur, weil Ben der sturste Idiot von allen war.

Mein Ärger hielt nicht lang an, denn endlich, endlich wichen die Wände auseinander. Eine Felsnase warf ihren düsteren Schatten über mich, doch ihr gegenüber breitete sich ein Geröllfeld aus, das in einen Grashang überging. Dahinter öffnete sich ein weites Tal. Ich ging fast in die Knie vor Erleichterung.

Trotzdem wusste ich, dass es eng werden würde. Es war schon Nachmittag, und jetzt, da der Wind nachgelassen hatte, stieg Nebel vom Boden auf. Bald würde ich mich kaum mehr orientieren können.

Im Gehen zog ich mir den Rucksack von den Schultern (und stöhnte auf, als ich damit gegen meine Prellung stieß), nahm einen Nussriegel heraus und riss ihn auf. Die frische Energie half, ich kam besser voran, auch wenn ich mir eingestehen musste, dass ich das ausgedehnte Tal, das sich vor mir auftat, noch nie gesehen hatte. Oder lag das am Nebel? Die silberweißen Schwaden waberten zwischen den Büschen und Felsbrocken und verwandelten sie in Traumgestalten.

Ich schluckte meine Zweifel. Welche Wahl hatte ich denn? Mein nutzloses Handy zeigte noch immer kein Netz an. Aber ich war ja auch noch nicht am Ende. In den Bergen ging es um Disziplin und Durchhaltevermögen und ich würde mich verdammt noch mal durchbeißen.

Diese Überzeugung hielt, bis ich merkte, dass ich im Kreis gelaufen war. Wie war das möglich? Trotz Kompass? Ich hatte geglaubt, mit dem Ding mittlerweile gut umgehen zu können, doch anscheinend hatte ich mich getäuscht.

Fluchend lehnte ich mich an den Felsbrocken, dessen flechtenbewachsene Oberfläche ich eben wiedererkannt hatte. Ein paarmal atmete ich tief durch. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. Ich hatte schon andere Dinge in den Bergen überstanden, so ausweglos die Situation manchmal auch gewirkt hatte. Mit aller Macht schob ich den Gedanken weg, dass damals meistens Ben bei mir gewesen war. Er war nicht hier, Punkt. Ich würde es auch ohne ihn schaffen.

Ein feines Kribbeln überzog meinen Nacken, und wahrscheinlich hätte ich es auf den Nebel geschoben, wenn ich nicht im selben Moment das Gefühl gehabt hätte, dass ich nicht mehr allein war. Hätte ich Angst bekommen sollen? Vielleicht. Aber die Stille, die mich umgab, war nicht feindselig. Sie war friedlich.

Und mit einem Mal wusste ich, wessen Schritte durch den Dunst auf mich zukamen. Wie zufällig blieb er ein paar Meter von mir entfernt stehen. Sein Ohr drehte sich in meine Richtung, nur seine tiefen Atemzüge waren zu hören. Und das genügte schon, damit sich auch mein Puls beruhigte.

Der wilde Hengst hatte mich gefunden. Er hatte Ben und mich schon einmal in den Bergen aufgelesen und nach Hause begleitet. Bestimmt half er mir auch jetzt.

Die Zeit verstrich, während wir still nebeneinanderstanden. Ich konnte nicht anders, als ihm immer wieder verstohlen einen Blick zuzuwerfen.

Er war so schön. Anders als der größere Teil von Gracies Herde war er dunkelbraun. Schon komisch, dass ich das erst jetzt, nach so vielen Monaten, mit Bestimmtheit feststellen konnte. Sein mächtiger Hals und der muskulöse Rücken hätten ihn auf jeder Hengstschau glänzen lassen, doch das war es nicht, was mich an ihm faszinierte. Er hatte Narben, in seiner Mähne hingen Blätter und kleine Zweige, aber trotz dieser Wildheit fühlte ich mich sicher bei ihm.

Obwohl er immer noch ein Stück entfernt stand, spürte ich seine Körperwärme in der kühlen Luft. Und auf einmal kamen mir die Tränen. Weil es ein Geschenk war, dass er hier neben mir blieb. Weil ich nicht mehr allein war.

Er spürte meine Erleichterung und Dankbarkeit, denn er kam näher. Zum ersten Mal verringerte er den Abstand zwischen uns so weit, dass ich ihn hätte berühren können, wenn ich den Arm ausgestreckt hätte.

»Du wirst mich nicht los, was?«, murmelte ich. »Immer wieder tauche ich in deinem Revier auf.«

Seine Ohren zuckten, ansonsten rührte er sich nicht. Kannte er menschliche Stimmen? Oder war er wirklich auf den Fells aufgewachsen, wild und unbemerkt?

Wahrscheinlich würde ich darauf nie eine Antwort erhalten, aber in diesem Moment war es auch nicht wichtig. Denn er überraschte mich wieder.

Leise wie ein Schatten trat er heran, so nah, dass die feinen Tasthaare an seinem Maul über meinen Handrücken strichen. Meine Erstarrung dauerte keine Sekunde. Wärme flutete mich, als Vertrauen und neue Zuversicht den hoffnungslosen Moment von eben vertrieben. Ich atmete aus, und ohne dass ich darüber nachdachte, strich mein Fingerknöchel über die zarte Haut seiner Nase. Ich hörte den Hengst ein- und ausatmen, spürte den Druck, als er die Berührung erwiderte, und dann vergaß ich ganz, wo ich war.

Wie alte Bekannte standen wir da und blickten in das Grau vor uns, er mit hängenden Ohren, ich wie im Traum, während meine Hand vorsichtig weiterglitt und ihn streichelte. Als sich meine Finger unter seine Mähne schlichen, seufzte er leise und reckte den Hals.