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Auch das Schicksal ist eine Zelle, aus der ein Ausbrechen nicht möglich ist! Das resümiert die Ehefrau des Gynäkologen Dr. B. nach einer Fülle eigentümlicher Ereignisse. Die beginnen damit, dass ihr Mann in der Zelle eines Gefängnisses landet - als Mörder aus Eifersucht. Von den Begehrlichkeiten hin- und hergerissen, entstehen beiderseits Liebesverhältnisse, die nicht ohne Folgen bleiben. Als schließlich die herangewachsenen, sich zunächst fremden Kinder zueinander finden, scheinen sich die verhängnisvollen Leidenschaften bitter zu rächen ... Mit diesem Werk erzählt der Autor erneut ein Stück Alltagsgeschichte unserer Tage. Das Buch erschien erstmals 2009 im Tauchaer Verlag. LESEPROBE: Morten war wenig später von einem Schwurgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Wegen Mordes an Thorvid Häeggerforth. Es war ein Indizienprozess gewesen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Morten den Fotografen hinterrücks erstochen habe. Mortens Verteidiger hatte ihm noch vor der Verhandlung dringend geraten, sich schuldig zu bekennen. Und sei es nur der Form halber. Er würde mit Sicherheit verurteilt werden. Mit einem Geständnis könne er seine Lage verbessern. Gestehe er nicht, hätte er jedes Recht auf Privilegien verspielt. Gewichtige Gründe für die Verurteilung waren, wie der Richter ausführte, die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, die Blutspuren an seiner Kleidung, dass er nach der Tat versucht habe, in das Innere des Waldes zu flüchten, vor allem natürlich die Tatsache, dass der Tote der Liebhaber seiner Frau gewesen war. Letzteres dank der Aussage und vor allem des Verhaltens der Ehefrau, als die Ermittler ihr den Namen des Getöteten genannt hätten. Diese Tatsache bleibe bestehen, auch wenn die Zeugin heute bei der Verhandlung ihr Recht auf Aussageverweigerung wahrgenommen habe. Der Angeklagte habe, um sich ein Alibi zu verschaffen, in Hainsberg übernachtet, sich am Tage seiner Abreise Fahrpläne des regionalen Bus- und Bahnverkehrs vom Wirt bringen lassen, habe offenbar eine solche Verbindung benutzt, um in die Stadt Ostran zu kommen, habe dann am Abend im Foyer des Hotels »Zur Sonne« seinem Opfer aufgelauert. Nach Aussage des Portiers, der an diesem Abend an der Rezeption gesessen hatte, sei er, nachdem der Fotograf mit seiner Fotoausrüstung das Hotel verlassen hatte, diesem gefolgt. Zwar könne der Zeuge nicht mit Sicherheit angeben, ob jener Verfolger der Angeklagte gewesen sei, mit Sicherheit aber sei es kein Gast gewesen.
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Seitenzahl: 406
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Wolfgang Licht
Die Zelle
Die Leidenschaften der Familie B.
ISBN 978-3-86394-041-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 2009 im Tauchaer Verlag.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Die Oktobersonne stand jetzt so tief, dass sie Morten blendete. Er hielt die Hand vor die Augen und blieb stehen. Vor ihm war dichter Wald. Durch die Zweige der Bäume drangen Sonnenstrahlen, die ihn wie Nadelspitzen in die Augen stachen.
In seinen Beinen fühlte er eine unangenehme Schwere. Er wollte sich hinsetzen, ausruhen. Aber die drohende Dunkelheit zwang ihn, weiter zu gehen. Der Pfad, der anfangs deutlich zu erkennen war, hatte sich im Gras und Unterholz verloren.
Er holte den Zettel aus seiner Jackentasche, auf dem er die Orte notiert hatte, die er passieren musste, bis er sein endgültiges Ziel, Langenhagen an der Ostsee, erreicht hätte. Margret würde ihm dorthin mit den Kindern in acht Tagen folgen. Er hatte dieses Ortsverzeichnis angefertigt, um nicht jedes Mal die Landkarte aus dem Rucksack holen zu müssen. Von einem Ort zum anderen zu gelangen, war einfach, wie ihm schien. Die Himmelsrichtung bestimmte er nach dem Stand der Sonne, den man auch ermitteln konnte, wenn sie einmal nicht schien. In den ersten Tagen seiner Wanderung musste sie links von seinem Wege untergehen, danach, und auch heute, direkt vor ihm.
Sein heutiges Ziel war der Ort Erksdorf. Morten wusste nicht, wie weit er noch von ihm entfernt war; auch nicht, wie viele Kilometer er heute bewältigt hatte. Er war von Hainsberg in der Frühe losgegangen und war dann ohne Aufenthalt weiter gewandert.
Es war genug für heute. Seine Kräfte waren ziemlich verbraucht.
Die Sonne sank rasch. Sie sah jetzt aus wie eine Tomate, die in Möhrensaft versinkt.
Es blieb ihm nichts als auf die sinkende Sonne zuzugehen. Aber sperriges Unterholz und Pflanzenwuchs behinderten sein Vorwärtskommen. Hin und wieder gab es Gestein, das, wer weiß wie, hierhergekommen war. Einen Pfad fand er nicht. Die Sonne war endgültig untergegangen. Nur wenn er aufblickte, sah er über den Baumwipfeln einen schwachen hellen Schein, der, ziemlich farblos, sich von dem Nachtdunkel abhob. Morten gab sich eine Frist. Noch eine halbe Stunde wollte er weitergehen, dann würde er einen Platz zum Schlafen suchen. Es wäre nicht das erste Mal, dass er in einem Wald übernachten würde. In seinem Rucksack hatte er einen Schlafsack; zum Glück regnete es nicht. Er dachte flüchtig an jenen Sommer, an dem er mit einem Studienfreund und einem Mädchen eine Radtour an die Ostsee unternommen hatte, auf der sie ebenfalls in einem Wald kampieren mussten. Und damals besaßen sie nicht einmal einen Schlafsack.
Kurz vor Sonnenuntergang war ein Vogelzug über ihn hinweggeflogen. Sie flogen in einer keilförmigen Formation. Dabei schienen sie keine Hierarchie zu kennen. Vögel aus den hinteren Reihen lösten die an der Spitze führenden Tiere ab. Mitunter bildeten sie eine zweite Kette, in die sich andere Vögel sogleich einfügten. Was ihn besonders bewegte, war das Geschnatter der Vögel. Sie gaben Laute von sich, in denen Morten eine Unterhaltung vermutete, die die Vögel miteinander führten.
Immer neue Scharen in Keilordnung tauchten auf. So viele Vögel hatte er noch nie gesehen. Ihre Körper waren gegen den noch hellen Himmel gut zu erkennen. Lang gestreckte Hälse, schlagende Flügelpaare. Es war wie ein Schauspiel. Er, hier in dieser Waldwüste. Sie, dort oben. Für sie gab es keine Hindernisse. Ihr Lebensraum, so schien es Morten, war unendlich. Er schaute und schaute. Fast hob er sich auf die Zehen. Aber es war ihm unmöglich, ihnen in ihre luftige Freiheit zu folgen.
Unwillkürlich unterstellte Morten ihnen eine Denk- und Fühlweise, die ihm eigen war, aber sicher nicht ihnen. Vor allem dünkte Morten, dass ihnen eine unendliche Leichtigkeit des Denkens eignete. Sie kennen, dachte er, keine Gedankenschwere, keine komplizierte Problematik bei ihrem freien Flug über Länder und Meere. Sie folgten einem Morten unbegreiflichen »Zielsinn«. Gefahren erwachsen ihnen nur durch eine von Menschen veränderte Umwelt,
Eine von Wehmut durchzogene Sehnsucht hatte Morten beim Anblick der Tiere ergriffen, deren eigentliches Ziel er nicht hätte nennen können. Eine Sehnsucht, wie er sie schon als Kind gekannt hatte.
Er wollte aus seinen Lebenskreisen und Verhältnissen ausbrechen, darüber hinaus gelangen. Paradiesische Zustände erfahren. Dabei hatte er die Beschaffenheit dieser »Zustände« nicht nennen, ja, sie sich nicht einmal vorstellen können. Er befand sich dann einfach in einer Gefühlslage, die ihm wohltat, obwohl ihm gleichzeitig zum Weinen zumute war. Einem heilsamen, erlösenden Weinen, wonach er sich als Kind an die Brust seiner Mutter geflüchtet hatte. Und später vielleicht in die Wärme einer Frau? Doch das wollte er heute dahingestellt sein lassen. Jetzt waren es die Reinheit der Himmelsfarben, die Klarheit des Firmaments, in denen er sich Räume der Seligen dachte.
Morten war jetzt in eine Dickung geraten, in der sich junge Kiefern schon mit ihren Zweigen berührten. Mühsam hatte er sich hindurchgezwängt, bis er auf ein Areal traf, wo mannshoher Adlerfarn förmlich wucherte. Plötzlich stieß er mit dem Fuß an einen metallenen Gegenstand. Er bückt sich, um ihn aufzuheben. Es war ein Messer. Sein Griff aus Horn. Die Schneide feucht, etwa zwanzig Zentimeter lang. In der starken Dämmerung hielt er sie für rostfarben. Er betrachtete es eine Weile, dachte, es wird Jägern gehören, die es hier wohl verloren haben. Er brauchte das Ding nicht, es konnte ihm nicht helfen, den Weg zu finden. Er ließ das Messer achtlos fallen, ging weiter, die Farne biegend, sich durch ihre Wedel windend.
Da hörte er das Röhren eines Hirsches. Er schien ganz nahe. Morten blieb stehen, lauschte. Es war Brunstzeit. Aber er glaubte nicht, dass ihm Gefahr drohen könne. Er überlegte, ob er sich hier zum Schlafen niederlegen sollte. Aber das wiederholte Röhren des Hirsches machte ihn doch unruhig. Und da er noch die Hand vor den Augen sehen konnte, ging er weiter. Abgestorbene Äste bedeckten den Boden, das Holz knackte berstend unter seinen Tritten. Dieses Areal wollte er noch hinter sich bringen. Er war seit sieben Uhr unterwegs, war mindestens fünfunddreißig Kilometer gelaufen. Müdigkeit überfiel ihn und verdrängte seine Unruhe.
Da sah er plötzlich einen dunklen Gegenstand auf dem Waldboden liegen. Es gab hier Luftwurzeln, auf denen sich Polstermoos gebildet hatte. Dort lag der Gegenstand, den Morten anfangs für einen umgestürzten Baumstamm hielt. Doch schnell erkannte er seinen Irrtum. Es war ein Mensch, der dort lag.
Morten tat einen raschen Schritt auf den Liegenden zu, kniete sich neben ihn. Der Mensch lag auf der Seite, das Gesicht auf dem Moos. Morten tastete die Halsschlagader. Kein Puls. Vorsichtig drehte er den Körper, bis er das Gesicht sehen konnte. Es war verschmutzt, entstellt. Die Augen geweitet, ohne Reaktion. Morten hatte einen Toten vor sich. Die Feuchte auf dem Rücken war Blut, das aus einer breiten Wunde am Rücken geflossen und schon zu Klumpen geronnen war. Auch der Waldboden war mit Blut getränkt, was Morten eher ertastet als gesehen hatte. Man konnte nichts mehr tun. Der Mann war offensichtlich verblutet.
Morten hob einen verschmierten Gegenstand auf. der neben dem Toten lag. Es war eine große Kamera. Unweit des Toten befand sich ein Anstand. Morten hatte den Eindruck, der Mann sei von der Leiter des Anstandes herabgestürzt. Offenbar hatte der Mörder den Mann, als dieser die Leiter des Anstandes besteigen wollte, hinterrücks erstochen. Warum hatte er die Kamera nicht mitgenommen?
Nochmals blickt er auf den Toten. Schauer überrieselten ihn. Er musste weg hier, musste die Behörde verständigen. Aber wie sollte ihm das gelingen?
Es war inzwischen stockdunkel geworden. Weit entfernt hörte er wieder das Röhren des Hirsches. Da kam ihm das Messer in den Sinn. Sinnlos zurückzugehen, um es zu suchen. Wahrscheinlich war es die Tatwaffe. Er konnte den Fund nur melden. Am Tage würde man sie finden.
Er wusste nicht mehr, in welche Richtung er gehen sollte. Schlafen konnte er nun auch nicht mehr. Er drehte sich mehrmals um seine eigene Achse, glaubte schließlich die Richtung zu kennen, in die er gehen musste, um in den nächsten Ort zu gelangen.
Er trat wieder auf Zweige. Äste schlugen ihm ins Gesicht. Nach einer Weile musste er sich durch dorniges Gestrüpp zwängen. Wahrscheinlich Brombeeren, dachte er. Da fiel ihm ein, dass er keine Brille mehr hatte. Er musste sie, während er den Toten untersucht hatte, verloren haben.
Er blickte zum Himmel, als könne er dort Zeichen entdecken, die ihm den richtigen Weg weisen. Der Himmel blieb stumm. Schwarz hing er über dem schwarzen Wald.
Weiter! Er drückte Zweige beiseite. Einmal sank er mit dem rechten Fuß in moorigen Grund ein. Er streifte sich mit der Hand über das Gesicht. Es ist schweißnass. Plötzlich ganz nahe: Das Geräusch brechender Zweige. Ein huschender Schatten. Morten spürte, wie sein Herz schlug. Nur ein Waldtier. Ein Reh oder ein anderes Wild. Er blieb stehen. Atmete, bis er sich beruhigt hatte.
Ich muss, denkt er, immer in gleicher Richtung gehen. Nur nicht im Kreise laufen! Er konnte vor Müdigkeit kaum noch denken. Ihm kamen Geschichten von Menschen in den Sinn, die sich in unwegsamen Gegenden verlaufen hatten und nach langem Gehen, am Ende ihrer Kräfte angelangt, wieder den Ausgangspunkt ihrer Wanderung erreicht hatten. Aber er, Morten, befand sich nicht in der Wüste. Der Wald musste doch einmal ein Ende haben!
Mit großer Anstrengung zwang er sich, weiterzugehen. Er hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Bilder entstanden in seinem Hirn. Filme, die ihm die Ermordung des Mannes vorgaukelten. Er, Morten, hätte die Kamera mitnehmen sollen. Aber sie wird ja morgen geborgen. Wer konnte der Mörder sein?
Über einen quer liegenden Ast stolpernd, sah er vor sich ein Gestell aufragen. Es glich einer überdachten Hütte ohne Wände. Er wischte sich über die Augen. Es war ein eingefriedeter Futterplatz für Wild, vollgestopft mit Heu.
Er tritt an das Gestell heran, greift mit der Hand in das Heu. Es ist weich. Völlig erschöpft, lehnte er sich an einen Balken. Die Müdigkeit nistete in allen Zellen seines Körpers.
Nur ein paar Minuten, dachte er, dann bin ich wieder bei Kräften. Er stieg auf das Gestell. Rollte sich auf den Heuballen zusammen und war im nächsten Augenblick eingeschlafen.
***
Nach einiger Zeit träumte er, dass ihn jemand an der Schulter festhielte und ein anderer ihm mit einem nassen Schwamm oder Lappen über das Gesicht wischte. Aufwachend schloss er rasch wieder die Augen vor dem gleißenden Strahl einer Lampe, die auf sein Gesicht gerichtet war, während zwei große Hunde, die ihm offenbar über das Gesicht geleckt hatten, von ihm abließen.
Morten stemmte sich im Heu hoch und rutschte von den Ballen hinunter. Vor ihm standen drei Männer mit Gewehren, offenbar Jäger. Zu ihren Füßen die jetzt angeleinten Hunde.
Morten war erleichtert, bewegt: Dass Sie mich gefunden haben, stammelte er. Und: Wir müssen umgehend die Polizei verständigen. Ich habe einen Toten gefunden.
Auf diesen Toten sind wir gestoßen, sagte einer der Männer kurz angebunden. Die Hunde haben Ihre Spur aufgenommen. Nun sind wir hier. Sie kommen jetzt mit uns. Wir verständigen die Polizei und Sie können dort Ihre Aussagen machen, sagte der Zweite.
Und der Erste wieder: Das Blut an Ihrem Jackenärmel. Wie das dahin kommt, können Sie sicher angeben. Wir haben dort eine Brille gefunden, die ist blutverschmiert. Gehört die Ihnen? - Ja. Das alles kann ich Ihnen leicht erklären.
Ach, sparen Sie sich Ihre Worte für die Polizei, sagte einer. Dort können Sie »das alles«, er ahmte Mortens Worte nach, zu Protokoll geben. Übrigens, warum sind Sie, anstatt zur Polizei zu gehen und den Fall zu melden, in diese Richtung gegangen, die tiefer in den Wald hineinführt? Die B 89 führt von der Stelle, wo der Tote lag in einer Entfernung von einem Kilometer vorbei, und von da aus ist es nicht weit bis zum nächsten Ort. Das ist ein verdammtes Pech, sagte Morten erregt, mir war jeder Orientierungssinn abhandengekommen.
Hm, machte der Mann. Kommen Sie. Wir müssen los.
In Morten brach ein Gefühlssturm aus. - Sie halten mich wohl gar für den Täter? rief er zornig - Jedenfalls sind Sie ein Zeuge. Allerdings ein äußerst wichtiger, das werden Sie verstehen,
Morten begann zu schildern, wie er zu dem Toten gekommen war. - Hören Sie, sagte der vor ihm gehende Mann und machte eine abwehrende Handbewegung. Dann fasste er einen Zweig, den er beiseite bog, sagte: Achtung! - Der Zweig schnellte in seine Ausgangslage zurück und schlug Morten, der den Vorgang nicht bemerkt hatte, ins Gesicht. Morten spürte den Schmerz, tastete unwillkürlich sein Gesicht ab. Dann schwieg er. Jetzt war eine Art Pfad zu erkennen, der sich als Wildspur erwies und sich bald wieder verlor. Und wieder sagte der Mann vor ihm: Achtung! Diesmal war es ein mooriger Untergrund, den sie umgehen mussten. Hinter Morten liefen die beiden anderen Jäger. Jeder von ihnen hielt einen Hund an der Leine. Morten hörte mitunter das Keuchen der Tiere. Sonst herrschte Schweigen.
Sie waren wohl schon eine Stunde unterwegs. Morten fühlte das Gewicht seines Rucksacks, als wäre er mit Blei gefüllt. Er dachte schon, der Wald sei ohne Ende. Da war ihm, als helle sich die Nachtschwärze auf Ein schwaches Grau schimmerte durch die Kronen der Bäume. Sollte das schon der neue Morgen sein?
Mit einem Male gerieten sie auf einen lehmigen Waldweg. Die hinter Morten laufenden Männer konnten nun nebeneinander gehen. - Wir sind bald da. sagte einer von ihnen. Die Hunde, von der Leine gelassen, liefen jetzt voraus. Sie schienen den Weg zu kennen. Bald hatten sie eine Asphaltstraße erreicht.
Die Männer berieten eine Weile, in welche Richtung sie gehen müssten, um zu ihrem Geländewagen zu kommen, den sie in einer Lichtung geparkt hatten. Schließlich hatten sie sich geeinigt. Nach einem längeren Marsch fanden sie den »Caravan«. Sie stiegen ein. Die Hunde waren durch eine Art Käfig von den Insassen getrennt.
In Ostran gibt es eine Polizeistation. Wir fahren am besten dorthin, sagte der, der bislang den Zug angeführt hatte. Morten stimmte zu. Seine Stimme war heiser. Als sie, von einer Höhe kommend, den Ort in einer Senke liegen sahen, zeigte sich die Sonne. Sie glich einer riesigen Glocke von glutroter Farbe.
Vor der Station mussten sie eine Weite warten, bis ein Summer ertönte und sie eintreten konnten.
Wir haben einen Toten gefunden, vielmehr einen Ermordeten, sagte der Anführer zu dem Beamten, und diesen Mann hier.
Der Beamte hatte erschrocken aufgeblickt und sagte zu dem Jäger: Ich protokolliere jetzt Ihre Aussage. Morten wurde gebeten, im Nebenzimmer zu warten, bis er aufgerufen würde.
Morten, der gedacht hatte, den Bericht der Jäger mit anhören und notfalls korrigieren zu können, war besorgt. Aber, dachte er, sie können ja nur vorbringen, was sie gefunden haben. Er hörte Stimmen aus dem Dienstzimmer, konnte aber Einzelheiten nicht verstehen. Eine Tür ging, dann wurde die seine geöffnet, und ein zweiter Polizist forderte ihn auf, einzutreten. Morten war überrascht, die Jäger nicht mehr vorzufinden.
Berichten Sie uns, aber bitte genau, wie sich die Sache zugetragen hat, sagte der Beamte, der ihn zuerst vernommen hatte. Sein Ton war sachlich und Morten glaubte sogar, eine Spur von Anteilnahme darin wahrzunehmen.
Und Morten begann. Er berichtete, wie er um sieben Uhr morgens in Hainsberg losgegangen sei. - Moment sagte der Beamte: Sie haben also in Hainsberg übernachtet? - Ja. - Und wo? - Im Gasthaus »Zur Lilie«. Dann bin ich eigentlich ununterbrochen gelaufen, mit kleinen Pausen natürlich. - Irgendwo eingekehrt? - Nein. Ich hatte Proviant bei mir und auch eine Wasserflasche. Am Abend dann geriet ich in diesen Wald, wo ich den Weg aus den Augen verlor. Es war schon dunkel, als ich auf den Mann stieß. Ich hielt ihn zuerst für einen Baumstamm, dann sah ich die Wunde. Ich untersuchte ihn und stellte seinen Tod fest, der vor kurzer Zeit eingetreten sein musste. - Woraus schlossen Sie das? - Die Totenstarre war noch nicht eingetreten. Bei der Untersuchung ist das Blut an meine Kleidung gekommen. - Und Sie konnten das alles beurteilen? - Ich bin Arzt. - Der Beamte blickte Morten jetzt flüchtig an. - Haben Sie sonst noch etwas bemerkt? - Ja, eine Kamera. Sie lag neben ihm, ich bin mit dem Fuß dagegen gestoßen. - War sie nicht in einer Hülle? - Nein, sie war ohne Schutztasche. Es sah aus, als habe sie der Tote gerade benutzt, und sei dabei von hinten erstochen worden. - Von hinten? - Die Stichwunde war auf dem Rücken. Der Mann lag übrigens am Fuße eines Anstandes.
Man könnte meinen, er wollte gerade die Leiter besteigen, als es geschah. - Das schließen Sie aus der Lage des Toten? - Ja. - Aber gesehen haben Sie es nicht? - Wie kann ich es denn gesehen haben, sagte Morten ein wenig ärgerlich.
Gut, sagte der Beamte. Wir werden alle Spuren verfolgen. Und: Sie verlassen bitte diesen Ort nicht. Sie sind ein wichtiger Zeuge, das werden Sie verstehen. Geben Sie uns eine Adresse an, wo wir Sie erreichen können. Ich möchte mich gern umziehen, sagte Morten. Mit den Blutflecken kann ich mich nicht in ein Hotel wagen.
Nebenan, sagte der Beamte. Übrigens: Das Blut stammt, wie Sie angeben, von dem Toten. Sie selbst sind nicht verletzt? - Nein, sagte Morten. Morten war schon an der Tür, als der Mann ihm nachrief: Eine Frage noch. Warum sind Sie von dem Toten weg direkt in den Wald gelaufen, anstatt zur nahe gelegenen Straße? - Das haben mich schon die Jäger gefragt. Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung ich gehen sollte. Von dieser Straße wusste ich nichts.
Der Frager winkte ihm zu gehen.
Im Nebenzimmer nahm Morten eine beigefarbene Gabardinehose aus seinem Rucksack und zog sie an. Der Blutfleck am Jackenärmel war eingetrocknet. Er bürstete ihn so gut es ging ab. Morten verließ die Station, nachdem er das Protokoll, das der Untersucher ihm noch einmal vorgelesen, durchgesehen und unterschrieben hatte.
Als er auf die Straße trat, war die Sonne höher gestiegen. Die Häuser neben der Straße wurden von ihrem Licht getroffen. Sie wirkten wie frisch verputzt, sodass von ihnen ein förmliches Leuchten ausging. Aber in Mortens Gemüt leuchtete nichts. Zwar empfand er die Wärme der Sonne wie eine Tröstung, aber sich selbst sah er außerhalb der geordneten, normalen Welt gestellt. Die Heiterkeit des Tages, wenn sie auch nur äußerlich war und den leuchtenden Farben geschuldet, ergriff ihn nicht.
Er pendelte langsam durch die Straßen, fast war sein Gehen ein Schleichen. Seinen Rucksack hatte er abgenommen, trug ihn an den Schulterriemen, bald in der linken, dann in der rechten Hand.
Seine Übermüdung ließ ihn frösteln. Doch das Erlebnis der Nacht erschien ihm jetzt wie ein Spuk, ein Albtraum. Das alles konnte doch nicht wahr sein.
Radfahrer kamen an ihm vorbei. Sie fuhren hemdsärmelig. Offenbar war ihnen warm. Er sah einen jungen Mann in einem Overall, der Zeitungen in Briefkästen steckte, ging auf ihn zu, fragte nach einem Hotel. Der Mann zeigte auf die gegenüberliegende Straßenseite. - Da, Sie stehen so gut wie davor, sagte er ein wenig herablassend. - Danke, sagte Morten. Er überquerte die Straße, betrat die kleine Hotelhalle durch eine Drehtür. An der Rezeption war keiner. Da war eine Knopfklingel. Nachdem er gedrückt hatte, kam ein Mann. Er fragte gleichgültig, was Morten wolle. Ein Zimmer. Der Mann sah Morten, wie der glaubte, verwundert an - Ich will es gleich haben, sagte er rasch, weil er die Verwunderung des Mannes auf die Tageszeit bezog. Ein Zimmer verlangt man wohl, dachte Morten, erst am Abend. Er bekam den Schlüssel, fragte nach dem Preis, und sagte, dass er gleich bezahlen wolle. Für eine Nacht, sagte Morten, weil er glaubte, seine Angelegenheit werde sich rasch entscheiden.
Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Sein Fenster ging auf die Straße. Morten betrat das Bad. Es gab nur eine Dusche. Das weiß bezogene Bett erschien ihm wie eine Stätte, auf der er Ruhe, Geborgenheit und Vergessen finden könnte. Er dachte nur an Schlaf. Beim Aufwachen würde sich alles als ein Traum erwiesen haben.
Er zog sich aus, duschte, nahm das Nachtzeug aus seinem Rucksack und legte sich mit einem tiefen Seufzer nieder. Da erinnerte er sich. Er musste die Polizei anrufen und seine Adresse angeben. Er tat es.
Erst am späten Nachmittag wachte er auf. Stimmen vor seiner Tür hatten ihn geweckt. Er glaubte, darunter die Stimme des Portiers zu erkennen. Sie schienen vor seiner Tür zu verharren. Er setzte sich im Bett auf. Dachte einen Augenblick lang, Leute wollten zu ihm, um ihm zu sagen, dass er weiterreisen könne. Aber keiner klopfte. Die Stimmen waren verklungen. Es kam ihm vor, als seien sie im gegenüberliegenden Zimmer verschwunden.
Da stand er auf, zog sich an. Er blickte aus dem Fenster, sah eine dunkle Limousine, die direkt vor dem Hoteleingang parkte. Nach einer Weile hörte er die Stimmen wieder. Er konnte jedoch, was gesprochen wurde, nicht verstehen. Sie entfernten sich schließlich endgültig.
Als Morten wieder aus dem Fenster blickte, war der dunkle Wagen verschwunden.
Eine heftige Unruhe packte Morten. Seine Hände waren feucht und kalt. Von der Behörde war noch keine Nachricht eingegangen. Er beschloss, auf die Straße zu gehen, sich ein wenig in der Stadt umzusehen.
Als er auf den Flur trat, bemerkte er, dass die Tür des »Gegenzimmers« versiegelt war. Er fragte den Portier nach dem Grund dieser Maßnahme. Der Angesprochene antwortete mürrisch, in jenem Zimmer habe der Mann gewohnt, den man heute tot im nahen Walde aufgefunden habe. Es heißt, er sei ermordet worden. Morten schwieg. Hören Sie, sagte er dann zu dem Portier, ich erwarte einen Anruf. Sagen Sie bitte dem Anrufer, ich sei in etwa einer Stunde wieder zurück.
Auf der Straße blieb er stehen. Er war unschlüssig, wohin er sich wenden sollte. Sah in den Himmel. Er war bewölkt. Die Sonne verbreitete ein milchiges Licht. Der Verkehr war mäßig. Ein Motorradfahrer fuhr mit überhöhter Geschwindigkeit vorbei. Der Schallschutz an seinem Krad war defekt, oder er hatte ihn absichtlich demontiert.
Morten kam an einem Uhrengeschäft vorbei. Er könnte seine »Tissot« überprüfen lassen, dachte er. Im Laden war eine Kundin, die sich nicht entscheiden konnte, was sie für ein Uhrenarmband nehmen sollte. Obwohl Morten ja Zeit überbrücken wollte, riss ihm jetzt die Geduld, und er verließ den Laden. Unruhe bedrängte ihn. Das Warten in dem Laden hatte diese Unruhe nur verstärkt. Warum zögerte die Behörde. Nach einer Weile hielt er es nicht mehr aus, ziellos durch die Straßen zu laufen. Er kehrte zurück in das Hotel.
Haben Sie einen Anruf für mich erhalten, fragte er den Pförtner. - Nein. Kein Anruf.
Langsam ging er hinauf in sein Zimmer Er benutzte diesmal die Treppen, damit mehr Zeit verginge. Hunger hatte er nicht. Aus seinem Zahnputzglas trank er Leitungswasser. Erblickte sich dabei im Spiegel. Sein Gesicht sah aus wie immer. Das nächtliche Ereignis hatte keine Spuren hinterlassen.
Zum ersten Male bereute er, von den gekennzeichneten Pfaden abgewichen zu sein. Auf regulären Wegen, sagte er leise zu sich selbst, hättest du den Toten nicht entdeckt und wärst jetzt frei.
Er blieb im Zimmer. Es wurde Abend. Ein Anruf kam nicht. Da rief er den Portier an und fragte, ob er das Zimmer noch eine Nacht behalten könne. Er konnte.
In dieser Nacht schlief er kaum.
Der nächste Tag brachte keine Veränderung seiner Lage. Ihm blieb nichts, als das Zimmer noch eine weitere Nacht zu buchen.
In dieser Nacht wurde er morgens um fünf Uhr aus seinem unruhigen Dahindämmern aufgeschreckt. Sein Telefon klingelte, wohl schon eine Weile und jetzt wurde energisch an seine Tür geklopft.
Sein Puls schlug heftig. Er sprang aus dem Bett, öffnete. Vor der Tür standen zwei Polizisten. Einer von ihnen hielt ihm ein Papier vor die Augen und sagte: Sie sind verhaftet. Es besteht der dringende Verdacht, dass Sie den Mord an Thorvid Häeggerforth begangen haben. Ziehen Sie sich an! Morten hatte das Gefühl, sein Blut stocke in den Adern, sein Hirn war wie zusammengepresst. Er war denk- und bewegungsunfähig.
Was sagen Sie da, stammelte er. - Machen Sie keine Schwierigkeiten, sagte einer der beiden. Sie waren inzwischen in das Zimmer eingetreten. Ich habe ihn doch gefunden, als er schon tot war, rief Morten verzweifelt. Das erklären Sie bitte dem Richter. Sie werden heute noch dem Haftrichter vorgeführt.
Morten spürte plötzlich einen unwiderstehlichen Drang in seiner Blase. Ich muss auf die Toilette, sagte er. - Einen Augenblick. Einer der beiden trat an Morten vorbei, sah sich nach dem Badezimmer um, schaute, als er es entdeckt hatte, hinein. - Ich muss mich überzeugen, dass Sie nicht abhauen können. - Wo sollte ich denn hin, murmelte Morten. Der Polizist bestand darauf, dass Morten die Tür einen Spalt weit offen ließ.
Dann zog sich Morten an.
Zeigen Sie Ihre Hände! - Morten musste sich aufs Äußerste beherrschen, um sich nicht zu wehren, als man ihm Handfesseln anlegte. Vor heller Empörung begann er zu zittern.
Er ließ sich nun willig abführen, glaubte er doch mit einem Male, den Richter von seiner Unschuld überzeugen zu können. Ich werde bald wieder frei sein, sagte er zu den beiden, die ihn in die Mitte nahmen. Vor Erregung sah er nicht, wie ihnen der Pförtner erschrocken nachsah.
Auf der Straße überfiel ihn ein Kältegefühl. Ihm war, als lege sich eine eisige Masse um seinen Körper. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Die Luft zwischen den Häusern war aschgrau, wie der Himmel. Die Leere in den Straßen verstärkte sein Frostgefühl. Er fühlte sich ausgestoßen, verdammt, als wende sich die ganze Stadt von ihm ab. In einer Kurve glaubte er am Himmel einen schwachen rötlichen Schein zu bemerken. Da fiel ihm das Lied vom Morgenrot ein, das einem Menschen zum frühen Tod leuchte. Immer ist es der frühe Morgen, dachte Morten, der Beginn eines neuen Tages. Immer geschieht es im Morgengrauen. Im Morgengrauen beginnen die Angriffe der Armeen, werden Verurteilte zur Hinrichtung geführt. Als wolle man den neuen Tag in seiner Gänze für seine Vorhaben, seine Verbrechen zur Verfügung haben.
***
Sie waren angekommen. Vor ihm ein hohes Gebäude mit kleinen Fenstern, grau verputzt und mit einem steilen Dach. Er wurde in einen Raum geführt, wo er warten sollte.
Das Warten wurde zur Qual. Anfangs blieb er auf seinem Stuhle sitzen, auf jedes Geräusch lauschend; umklammerte seine Knie, soweit es die Fesseln zuließen. Dann fixierte er einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand, deren Farbe unbestimmt war; sagte vor sich hin: Graubeige, nein grün-beige, grau-grün-beige. Später entdeckte er an der Decke einen Putzschaden. Ein dunkler, bizarr geformter Fleck, der, wie er fand, finden wollte, einem Gesicht glich. Dem Gesicht eines Feindes, der ihn böse ansah.
Als er aufgefordert wurde, zu dem Richter zu kommen, war es schon später Vormittag. Die Tür wurde ihm geöffnet und er stand dem Haftrichter gegenüber. Es war ein mittelgroßer Mann, etwas kleiner als Morten. Er hatte dunkles, gelocktes Haar. Eine Strähne hing ihm in die Stirn. Der Mann war aufgestanden, als Morten das Zimmer betrat. Jedenfalls empfand es Morten so. Vielleicht hatte er auch schon gestanden, bevor die Tür geöffnet worden war.
Er blickte eine Weile auf Morten, als wolle er aus dessen Äußerem wichtige Schlüsse ziehen. Seltsamerweise fühlte sich Morten sogleich von ihm angetan.
Nehmen Sie dem Mann die Schellen ab, sagte er zu dem Beamten, der Morten hereingeführt hatte. Und Morten überkam ein heißes Gefühl von Dankbarkeit und Erleichterung. Dann wies er Morten eine Holzbank vor seinem Tisch an: Setzen Sie sich. - Er selbst nahm hinter dem Tisch Platz. Morten musste dann dem Richter seine Personalien ansagen, die ein zweiter Beamter protokollierte. Und nun, der Fragende machte eine Pause, sah Morten nachdenklich an, und fuhr dann fort: Erzählen Sie mir ausführlich die Vorgänge in der bewussten Nacht. - Morten wollte sagen, dass er dies schon auf der Polizeistelle zu Protokoll gegeben habe. Aber er sah natürlich ein, dass er seinen Bericht hier wiederholen musste. Es ist das letzte Mal, sagt er sich, dann kann ich wieder in mein normales Leben zurückgehen.
Er gab sich jetzt Mühe, keine auch noch so unbedeutende Sache auszulassen. Er berichtete sogar von den Vogelschwärmen, den Rufen der Hirsche und dem Versinken der Sonne; dabei fiel ihm ein, dass er den Messerfund bei seiner ersten Vernehmung vergessen hatte zu erwähnen, was er jetzt dem Richter gestand.
Glauben Sie. fragte der Richter, ihn unterbrechend, dass es die Mordwaffe war? - Ich weiß es nicht, sagte Morten. Ich hielt es damals für ein Jagdmesser, das irgendein Jäger verloren hätte. - Und heute, für was halten Sie es heute? - Ich bin kein Kriminalist, sagte Morten. Ich frage mich, wenn es die Mordwaffe wäre, warum sie dann so weit von dem Toten entfernt gelegen hat. Der Richter schwieg und Morten berichtete weiter, wie er den Toten gefunden hatte, und dass der nach seiner, Mortens, Meinung von hinten erstochen worden sei, vielleicht, als er gerade den Anstand besteigen wollte.
Dann stellte der Richter die gleiche Frage, die Morten schon den Polizisten und den Jägem beantwortet hatte, warum er in den Wald hineingelaufen sei, anstatt zur nahen Straße. Mortens Antwort klang etwas gereizt. Dann trat Stille ein, in der nur die Anschläge des Protokollanten auf seiner Tastatur zu hören war, wie der Nachhall einer Glocke.
Plötzlich sagte der Richter: Und Sie, Sie haben ihn nicht umgebracht? Er sagte es mit freundlicher Stimme, ziemlich leise und sah Morten, wie es dem schien, mit dem Anflug eines Lächelns an.
Morten hielt die Frage für einen Scherz. Vielmehr, er dachte, es sei eine Routinefrage, die der Richter selbst nicht ernst nahm. - Nein, antwortete er und fügte hinzu: Was sollte ich denn für einen Grund gehabt haben. Sofort ärgerte er sich über seine Aussage, die ja gar nicht von ihm verlangt worden war.
Ach, sagte der Haftrichter, beiläufig, da gäbe es schon Gründe. Er sah dabei zum Fenster hinaus mit einem Ausdruck, als sei er gelangweilt oder sähe den ziehenden Wolken nach.
Dann sah er Morten mit einer veränderten Miene an, die tiefen Ernst ausdrückte: Wir haben inzwischen Ermittlungen in alle Richtungen angestellt. Ich möchte Ihnen die Ergebnisse jetzt vorlesen. Er nahm eine Akte in die Hand, beugte sich darüber, als sei er kurzsichtig und begann:
Zuerst das Messer. Das Labor konnte Fingerabdrücke nachweisen. Sie stammen von Ihnen, er hob die Hand, um Mortens Einwand, er habe es ja angefasst, abzuwehren: Nur von Ihnen, nicht noch von irgendeinem Jäger, der es verloren haben könnte. - Der Mörder trug doch wohl Handschuhe, warf Morten ein. - Möglich, sagte der Richter und fuhr fort: Sie haben am Vortage im Gasthaus »Zur Lilie« übernachtet. - Ja - Warum haben Sie den Wirt gebeten, Ihnen Fahrpläne von Bus und Bahn zu geben? War es vielleicht nicht so, dass Sie nach hier nicht gewandert, sondern gefahren sind, um dann hier in aller Ruhe jenem Mann aufzulauem. - Nochmals, sagte Morten heftig, was soll ich denn für einen Grund haben, einen mir völlig unbekannten Mann zu erstechen. Das ist ja lächerlich! Morten spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. - Nun, er war Ihnen keineswegs unbekannt! - Und wie kommen Sie auf solch abenteuerliche Behauptung? - Das hat uns Ihre Frau bestätigt. - Meine Frau? Morten fasste sich unwillkürlich ans Herz. - Das ist unmöglich. - Unter den Papieren des Toten haben wir die Adresse Ihrer Frau gefunden. Wir haben sie vernommen. Sie hat Folgendes ausgesagt: Sie hätten diesen Mann mindestens zweimal in Gegenwart Ihrer Frau gesehen, und Ihre Frau hat Sie mit ihm bekannt gemacht. Morten war es, als berste sein Kopf. Moment, sagte er, Moment, ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich den Mann nicht kenne. Es war dunkel, ich habe gar nicht auf seine Züge geachtet. Wie kann meine Frau das sagen. Und wieso gibt sie vor, ihn zu kennen. Ich muss meine Frau sprechen. Unverzüglich. - Hören Sie! In dem Verhörprotokoll gibt Ihre Frau weiterhin an, dass sie mit Thorvid Häeggerforth, dem nun Toten, sehr befreundet war. Er entnahm nun seiner Akte ein Bild, das er vor Morten auf den Tisch legte. Morten schoss das Blut ins Gesicht. Was soll das! rief er heftig.
Es ist die Kopie eines Ölbildes von Gustave Courbet, sagte der Verhörende. Er nennt es »Der Ursprung der Welt«. Das Original hängt heute im Pariser Musee de Orsay.
Das Bild zeigte den Köper einer Frau. Dargestellt war der Unterleib mit abgewinkelten Schenkeln, die Brüste. Man sah das weibliche Geschlecht in Großformat. Die Mamille der einen Brust war erigiert, die andere verdeckt. Der Kopf der Frau war verhüllt. Sie schien bereit zur Hingabe, ja begierig darauf. Ein Laken, in gefällige Falten gelegt, rahmte sie ein, bot sie gewissermaßen dar.
Das Bild war von ungeheuerem erotischen, aber auch ästhetischem Reiz. Während Morten dem Anblick des Bildes ausgesetzt war, verfiel er in einen beinahe schizoiden Zustand, sodass er schließlich mit heiserer Stimme ausstieß: Was soll das. Warum zeigen Sie mir das!
Der Richter antwortete nicht. Nahm dann mit beinahe feierlichen Gesten ein Foto aus seiner Akte und legte es neben die Courbetsche Kopie. Es war ein Aktfoto. Es zeigte eine Frau, die die gleiche Position eingenommen hatte wie das Modell des französischen Malers. Es war ebenfalls farbig. Auch ihr Gesicht war verhüllt.
Morten sah den Richter an. Zorn und Hilflosigkeit spiegelten sich in seiner Miene. - Sehen Sie sich beide Bilder genau an, sagte der Richter mit gleichmütiger Stimme, die aber seine innere Gespanntheit nicht ganz kaschieren konnte, was man an einem leichten Zittern seiner Hände hätte sehen können. - Ich verstehe Sie nicht, sagte Morten mühsam. Und: Das Foto einer weiteren Nackten, ich wüsste nicht, was diese Pornoshow, die Sie hier abziehen, mit dem Grund meiner Verhaftung zu tun haben sollte.
Wirklich nicht? fragte der Richter so leise, dass Morten ihn kaum verstehen konnte. Haben Sie die Fotos genau angesehen? - Morten machte eine wegwerfende Bewegung mit der Hand.
Das zweite Bild ist ein Foto Ihrer Frau. - Der Richter hatte es mit klarer Stimme gesagt.
Was fantasieren Sie da, stieß Morten hervor. - Wir fanden es in den Papieren des Toten, neben Briefen von Ihrer Frau.
Diese böswilligen Unterstellungen wird meine Frau widerlegen können.
Wie ich Ihnen schon sagte, fuhr der Richter fort, wir haben Ihre Frau vernommen. Er machte eine Pause, blickte wieder zum Fenster hinaus, dann sah er Morten an, mit einem Blick, als sähe er durch ihn hindurch. Als wir Ihrer Frau den Tod von Herrn Häeggerforth mitteilten, vielmehr seine Ermordung, war das offensichtlich für sie ein Schock. Ich lese Ihnen das Protokoll vor: »Um Gottes willen, rief sie aus, bedeckte dann ihr Gesicht mit beiden Händen. Von Schluchzen geschüttelt, konnte sie kaum sprechen. - Wer war es, brach es dann aus ihr hervor. Wer hat ihn umgebracht und warum! Warum nur?«
Der Richter stemmte jetzt beide Hände auf die Tischplatte vor Morten und blickte ihn an. Morten schien es, als würden die Augen des Mannes größer, wölbten sich vor, glichen funkelnden, blitzenden Instrumenten der Inquisition, wie sie Morten von den Bildern des Mittelalters her kannte. Sie haben das Verhältnis Ihrer Frau zu Häeggerforth entdeckt. Da haben Sie das Motiv. Ich kann mir denken, dass Sie unsäglich unter der Tat leiden. Legen Sie ein Geständnis ab. Das Gericht wird mildernde Umstände gelten lassen.
Der Ausdruck der richterlichen Augen hatte auf Morten eine beinahe hypnotische Wirkung, sodass er sich für einen Zeitbruch selbst seiner Handlungen nicht mehr ganz sicher war. Sollte er diesen Mann, den er ja gekannt haben soll, der sich für ihn als furchterregender Nebenbuhler erwies, vielleicht im Unbewussten schon immer verfolgt und ihn schließlich in einer Art Trancezustand umgebracht haben? Sein »Waldspaziergang« eine Halluzination?
Er stellte sich diesen Gesichten entsetzt entgegen. Warf den Kopf, als wolle er Wasser aus den Haaren schütteln. Das alles war die Wirkung einer Art von Hypnose. Die Unterstellung des Richters, Margret habe einen Liebhaber, seit Jahren, war so ungeheuerlich, dass sie einem betäubenden Schlag gegen sein Hirn gleichkam. War so sehr außerhalb aller für ihn denkbaren Wirklichkeit, dass die Beschuldigung des Richters wie ein Giftgas in ihn eindrang und seine verderbliche Wirkung entwickeln konnte. Und das Vorzeigen des Bildes samt Foto war offenbar nur ein Mittel, eine Verhörmethode, ihm, Morten, eine Wirklichkeit vorzugaukeln, die seinen Sinn für Realität lähmen sollte.
So hatte Morten nur eine Art Sound vernommen, eine Stimmungswalze, die über ihn hinweggerollt war und seine Ratio zugeschüttet hatte. Sein Denken kristallisierte sich in der Frage: Was soll mir das Bild, was hat das mit mir, mit der Anklage gegen mich zu tun. In seine jetzt mobilisierte Abwehrhaltung drangen die weiteren Worte des Richters:
Die Macht der Sexualität, ihre Wucht, mit der sie menschliches Denken, Fühlen und Handeln lenkend beeinflusst, hat ein ebenso mächtiges Pendant. Das heißt Eifersucht. Auch sie kann menschliches Fühlen und Denken vollkommen beherrschen, sodass ein Betroffener auf Taten sinnt, den Verräter an seiner Liebe auszuschalten und sei es durch Untaten, die bis zum Mord gehen können. Nehmen Sie Shakespeares »Othello« als Beispiel für diesen Zustand.
Er machte wieder eine Pause, schob eine Hand über die Tischplatte, als wolle er Morten freundlich berühren: Glauben Sie mir, sagte er, und ein mitfühlender Ton war in seiner Stimme. Das Gericht wird Ihre Verzweiflung, die Sie jetzt offensichtlich quält, verstehen und Sie gerecht beurteilen.
Die Verstörung von Mortens Psyche war so weit fortgeschritten, dass ihm allmählich furchtbare Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit kamen. Wenn der Haftrichter wie schon die Jäger und dann wohl auch das Schwurgericht von seiner Schuld überzeugt waren, alles nüchterne, klar denkende Menschen, konnte es da nicht sein, dass es ihm, bei solcher Veranlagung, wie einem Schlafwandler ergangen war, der, obwohl er auf seinem Nachtweg sicher wandelt, auch nicht weiß, was er tut. Jedenfalls am nächsten Morgen nicht mehr.
Aber vernichtend wirkte auf ihn, die, ihm noch immer nicht vorstellbare Untreue seiner Frau, ihr für ihn unwirkliches Verhalten, das aber wirklich geschehen war. Das Bild. Das Nacktfoto.
Das alles hatte sich so verdichtet, dass es ihn, einer Lawine gleich, unter sich begraben hatte, ihm alle Luft nahm, alle Lebenswärme. Eine Wirklichkeit, die sich in der Tat auf das Foto beschränkte, dessen Anblick sich wie ein schneidender Gegenstand in seine Brust grub, in seine Eingeweide und sich dort um und umdrehte.
In diesem Augenblick brach vor den Fenstern die Sonne durch das Grau des Tages. Auf dem Tisch vor Morten war ein langes blendendes Lichteck entstanden, das durch das obere Fenster himmelwärts führte.
Morten wandte den Blick von dem gleißenden Zeichen ab, schloss für eine Weile die Augen. Als er sie wieder öffnete, nahm er den Blick wahr, den der Protokollant, einer junger Mann, auf ihn warf. ln dessen Miene stand ein Ausdruck höchster Spannung. Da gewann Morten wie durch einen Zauber seine Klarheit im Denken zurück.
Er blickte den Richter fest an, sagte: Es tut mir leid. Ich kann nicht gestehen, was ich nicht getan habe. Die Ereignisse jenes Tages sind mir überdeutlich im Bewusstsein. Ich kann jeden Schritt, den ich getan habe, rekonstruieren. Ich habe den Mann gefunden, als er schon tot war. Es war ein böses Missgeschick, für das ich nichts kann.
Obwohl das leuchtende Rechteck vom Fenster zum Tisch hin immer noch da war, wurde das Gesicht des Richters starr und leblos. Seine Miene drückte jetzt nur eine grenzenlose Gleichgültigkeit aus.
Nach einem langen Schweigen stand der Richter auf. Auf sein Zeichen hin erhob sich auch Morten. Morten Bogner, sagte er: Sie sind dringend verdächtig, Thorvid Häeggerforth ermordet zu haben. Motiv: Eifersucht.
Die Stimme des Richters hatte sich verändert. Sie ähnelte jetzt dem monotonen Geräusch eines Automaten, als er fortfuhr: Die Behörde zieht Ihren Personalausweis ein. Sie haben sich bis zur Hauptverhandlung täglich um 8.00 Uhr auf der hiesigen Polizei zu melden. Kontakte zu Zeugen sind Ihnen untersagt. Sie dürfen den Ort nicht verlassen.
***
Morten trat aus der Tür des Gebäudes, stand eine Weile reglos auf der Straße. Blendendes Sonnenlicht teilte die Straße in der Mitte. Er selbst stand im beschatteten, dunklen Abschnitt. Die ihm gegenüberliegende Seite prangte in farbiger Helle. Sie wirkte auf ihn wie die personalisierte Lebendigkeit. Er wollte in diese Schönheit des Lebens hineinflüchten, als könne sie alles das, was er gerade erfahren hatte, wegschmelzen aus seinem Gedächtnis. Aber er war verbannt, gefesselt, verurteilt, auf der Schattenseite zu bleiben.
Halbherzig versuchte er, die andere Seite zu erreichen. Er trat vom Bürgersteig auf die Straße, wurde durch ein lautes Hupen aufgeschreckt, sprang zurück vor dem heransausenden Auto. Nahm das für ein Zeichen und blieb im Schatten.
Da hallten die Worte des Richters in seinem Bewusstsein wider, dröhnten wie Hammerschläge: Margret hatte einen Geliebten. Seit Jahren.
Er blieb stehen. Presste seine Ohren mit der flachen Hand. Ein gebrochener Laut drang aus seinem Mund. Dann wieder sagte er laut: Ich muss mit ihr sprechen. Ich glaube es nicht.
Er lief wohl stundenlang durch die Straßen. Für den Toten und seine, Mortens, Verwicklung in diesen Fall hatte er keinen Gedanken mehr übrig. Die unsinnige Anklage des Richters ließ nur das dumpfe Gefühl einer Gefahr in ihm zurück.
Was ihn wieder und wieder verzweifeln ließ, war Margrets Liebe zu einem anderen, dessen Namen er nicht einmal kannte.
Auf der besonnten, lebensbunten Seite der Straße sah er ein junges blondhaariges Mädchen in einem hellen Sommermantel. Dahinter eine Frau, welche die Hand eines Mannes hielt, der neben ihr ging. Frauen mit Plastikbeuteln traten aus einem Supermarkt. Andere gingen hinein. Ein Mann schob einen Kinderwagen mit hohen Rädern. Der Korb, in dem das Kind lag, glich einer Wabe.
Diese Menschen sind Kinder des Glücks, dachte Morten. Plötzlich spürte er einen heftigen Schmerz in seiner Brust, als presse sich sein Herz zusammen. Und einen Augenblick lang hoffte er, es würde aufhören zu schlagen.
Er dachte an Margret, sah ihr Gesicht, konnte ihre Züge nicht festhalten. Hätte sie nur beschreiben können: Ihre slawische Gesichtsform, ihre blonden, glatten Haare, dunkelblauen Augen. Aber er hätte sie nicht aufzeichnen können.
Und plötzlich hatte er das Aktfoto vor seinem inneren Auge. Mit einer entsetzlichen Schärfe. Und er stellte sich den unbekannten Mann vor, der sie, nachdem er das Foto gemacht hatte, genommen hatte, in sie eingedrungen war. Oder vorher. Morten konnte nicht weiterlaufen. Er setzte sich auf die Stufen einer Haustür, schlug die Hände vor sein Gesicht.
Morten war wenig später von einem Schwurgericht zu zehn Jahren Haft verurteilt worden. Wegen Mordes an Thorvid Häeggerforth. Es war ein Indizienprozess gewesen. Das Gericht sah es als erwiesen an, dass Morten den Fotografen hinterrücks erstochen habe.
Mortens Verteidiger hatte ihm noch vor der Verhandlung dringend geraten, sich schuldig zu bekennen. Und sei es nur der Form halber. Er würde mit Sicherheit verurteilt werden. Mit einem Geständnis könne er seine Lage verbessern. Gestehe er nicht, hätte er jedes Recht auf Privilegien verspielt.
Gewichtige Gründe für die Verurteilung waren, wie der Richter ausführte, die Fingerabdrücke auf der Tatwaffe, die Blutspuren an seiner Kleidung, dass er nach der Tat versucht habe, in das Innere des Waldes zu flüchten, vor allem natürlich die Tatsache, dass der Tote der Liebhaber seiner Frau gewesen war. Letzteres dank der Aussage und vor allem des Verhaltens der Ehefrau, als die Ermittler ihr den Namen des Getöteten genannt hätten. Diese Tatsache bleibe bestehen, auch wenn die Zeugin heute bei der Verhandlung ihr Recht auf Aussageverweigerung wahrgenommen habe.
Der Angeklagte habe, um sich ein Alibi zu verschaffen, in Hainsberg übernachtet, sich am Tage seiner Abreise Fahrpläne des regionalen Bus- und Bahnverkehrs vom Wirt bringen lassen, habe offenbar eine solche Verbindung benutzt, um in die Stadt Ostran zu kommen, habe dann am Abend im Foyer des Hotels »Zur Sonne« seinem Opfer aufgelauert. Nach Aussage des Portiers, der an diesem Abend an der Rezeption gesessen hatte, sei er, nachdem der Fotograf mit seiner Fotoausrüstung das Hotel verlassen hatte, diesem gefolgt. Zwar könne der Zeuge nicht mit Sicherheit angeben, ob jener Verfolger der Angeklagte gewesen sei, mit Sicherheit aber sei es kein Gast gewesen. Größe und Statur allerdings träfen auf den Angeklagten zu.
Der schrecklichste Augenblick für Morten war, als er Margret im Zeugenstand sah. Ihre Bewegungen waren so langsam, dass man den Eindruck hatte, sie könne jeden Augenblick umsinken. Ihr Gesicht war tiefblass, erschien aufgequollen und entstellt. Sie schien mit Tränen zu kämpfen. Ihre Lippen waren aufgesprungen und sie setzte mehrmals an, um Worte zu formulieren, die Morten kaum verstehen konnte. Sie vermied es beharrlich, ihn anzusehen, ihn, der sie ununterbrochen anstarrte, als könne er sie so dazu bringen, ihm zu glauben.
Erstaunlicherweise ging es Morten in diesem Augenblick aber nicht darum zu wissen, ob sie ihn für einen Mörder hielt oder nicht, vielmehr hoffte er noch, sie könne widerlegen, dass der Fotograf ihr Geliebter gewesen sei. Dagegen war ihm die Mordanklage in diesem Augenblick beinahe gleichgültig.
Aber auf die Frage des Staatsanwaltes, ob Thorvid Häeggerforth ihr Geliebter gewesen sei, antwortete sie nicht, und als der Ankläger ihr nun das Aktfoto entgegenhielt und sie fragte, ob sie da abgebildet sei und ob Häeggerforth es aufgenommen habe, schlug sie beide Hände vors Gesicht und ein Stöhnen kam aus ihrem Mund, sodass Morten trotz seiner Verzweiflung tiefes Mitleid mit ihr spürte.
Ich glaube, so der Ankläger mit einer Stimme, die vor Überzeugung vibrierte, das Gericht kann diese Äußerung der Zeugin für Zustimmung nehmen.
Eine weitere Frage war, ob der Angeklagte den Ermordeten gekannt habe, was jener verneinte. Wollen Sie zu diesem Punkt jetzt aussagen?
Der Staatsanwalt wartete. Margret schüttelte den Kopf. - Gut, Sie können auch hier die Aussage verweigern. Ich lese jetzt die Aussage der Zeugin vor, die diese bei der ersten Vernehmung gemacht hat, als sie noch nicht wusste, dass ihr Mann des Mordes verdächtig wird.
Er las von einem Papier ab: Mein Mann hat Thorvid in unserer Wohnung gesehen. Ich selbst habe die beiden miteinander bekannt gemacht.
Sie habe nichts dazu zu sagen, sagte Margret nach mehrmaliger Aufforderung.
Dann begann der Richter mit seinem Plädoyer. Jedes Indiz in diesem Prozess »reicht allein nicht aus, eine Schuld des Angeklagten zu beweisen. Aber die Summe der Indizien ergibt - wie bei einem Puzzle - ein Gesamtbild, dass die Täterschaft des Angeklagten zu voller Überzeugung des Gerichtes feststeht.«
Morten fand es später selbst eigentümlich, dass ihn die Verkündung des Urteils beinahe unberührt ließ. Was ihn erschütterte, war die nun nicht mehr zu leugnende Liebe Margrets zu einem anderen Mann, von der er nichts gewusst, nichts geahnt hatte. Die in ihm nun Hass auslöste, noch mehr Verstörung und sich jetzt mit Sehnsucht nach Margret und Mitleid mit ihr gleichsam mischte.
Als sie zu ihrem Platz zurückgegangen war, weiterhin bemüht, an ihm vorbeizusehen, war es Morten plötzlich, als würde sie von einem übermächtigen Impuls getrieben, ihr Gesicht ihm voll zuwenden. Beide hielten einander mit Blicken fest. Und er sah in dem ihm so vertrauten Gesicht Margrets, wie in ihr heftige Empfindungen miteinander kämpften: Abscheu, Sehnsucht, Verzweiflung und Zweifel, und dass sie daran zugrunde zu gehen drohte, wenn er sie nicht davon erlösen könnte.
Am furchtbarsten aber war es für Morten, in ihrem verstörten Gesicht zu lesen, dass sie dem Gericht glaubte, nicht aber den Beteuerungen seiner Unschuld.
Dass er selbst aus der Welt gerissen, in eine Zelle gebannt war, schien ihm in diesem Augenblick Nebensache. Ohnehin glaubte er, dass der wahre Mörder bald gefunden würde.
Das waren auch Mortens letzte Worte an das Gericht, dass es Schuld auf sich lade, weil es den Mörder des Fotografen in Freiheit beließe, wo er ungehindert neue Untaten verüben könne.
Dieser Ausdruck einer furchtbaren Qual, die Margrets schönes Gesicht entstellt hatte war es, der Morten in den nächsten Wochen nicht losließ.
In der Justizvollzugsanstalt Gießbach war er auf seinen Wunsch hin in einer Einzelzelle untergebracht worden. Die Wände waren mit einem grobkörnigen Putz von undefinierbarer Farbe bedeckt. Der Putz war nicht gleichmäßig aufgebracht. Mortens psychischer Zustand war die Ursache, dass er in dieser Unregelmäßigkeit der Struktur Figuren wahrzunehmen meinte, menschliche Gesichter, deren groteske Züge sich zu Fratzen, geisterähnlichen Gestalten ausbildeten, die scheinbar die leeren Wände der Zelle bevölkerten, förmlich aus den Wänden herauswuchsen. Beängstigend war, dass sich diese Mienen, mit denen er sich in persönlichen Beziehungen wähnte, fortwährend zu verändern schienen, als sei Leben in ihnen. Das Gesicht dort an der Schmalseite der Zelle blickte ihn höhnisch an, verzog dann den Mund und schien mit einem Male zu weinen. Während ein Gesicht an der Breitseite ihn mit offenem Mund anstarrte und bald einer lachenden Maske glich, wie man sie vom Karneval kannte.
Es war wie bei der Betrachtung von Wolken. Nur war dort die Verschiebung von Konturen, der ständige Wechsel der Formen natürlich, lag in der Natur der Wolken als flüchtige, bewegliche Gebilde. Aber die Wände hier standen fest. Der Putz war längst erhärtet, eine Verschiebung, Veränderung der Struktur gar nicht möglich.
Morten schloss die Augen, bedeckte sie zusätzlich noch mit den Händen. Da tauchte wieder das Gesicht seiner Frau auf, neben dem des Richters, und erst jetzt, quasi aus seiner Erinnerung, bemerkte er, dass einer der Schöffen eine Narbe auf seiner rechten Wange hatte. Dieser Schöffe blickte auf Morten mit einer Strenge, als beschuldige er ihn, diese Narbe verursacht zu haben.
Ein Spuk, flüsterte Morten. Das alles ist ja spukhaft. War er im Begriff, den Verstand zu verlieren?
Mit einem Male sah er einen linsengroßen schwarzen Punkt, der von rechts oben nach links unten wanderte. Erschrocken versuchte er, den wandernden Fleck mit Blicken zu verfolgen. Der Punkt verschwand aus seinem Gesichtskreis, um wieder aufzutauchen, wenn er gerade auf eine Wand schaute. War sein Sehvermögen gestört, hatte er Halluzinationen? Er fasste sich an die Stirn. Ich muss nachdenken, sagte er halblaut vor sich hin. Das war der Beginn seiner Selbstgespräche, die er fortan mit sich führte, um sich aus seiner Isolation zu befreien.
Am nächsten Morgen, als die schwarzen Punkte ausblieben, fiel ihm ein, dass es Trübungen im Glaskörper seiner Augen gewesen sein mussten. Trübungen, dachte er, keine Halluzinationen.
In den ersten Nächten schlief er schnell ein. Sein Schlaf war tief und er fühlte sich am Morgen erstaunlich ausgeruht.
In der Frühe wurde zuerst die »Sichtklappe« geöffnet, danach die Eisentür. Ein Wärter reichte ihm Brot, Marmelade und Kaffee in einem Aluminiumbecher. Der Trank schmeckte bitter, aber er war heiß, Morten nahm das Gefäß in beide Hände, spürte die Wärme auf seiner Haut.
Dann herrschte Stille. Morten dachte unwillkürlich, er würde aufgerufen, man würde das Urteil aufheben, ihn um Entschuldigung bitten. In der anhaltenden Lautlosigkeit tauchten die Erlebnisse der vergangenen Tage wieder vor seinem inneren Auge auf. Er sah den Toten vor dem Anstand auf dem Boden liegen. Sah sich im Gestrüpp des Waldes weiterhasten, einen Ausgang suchen. Den Heuhaufen, dessen Geruch er noch in der Nase hatte, fühlte die schwammigen Zungen der Hunde auf seinem Gesicht. Ekel erfasste ihn. Unwillkürlich wischte er sich mit der Hand über die Stim. Als hätte er damit diese Geschichte abgewehrt, sah er sich jetzt dem Haftrichter gegenüberstehen. Eine Weile stand ihm dessen Haarsträhne vor Augen und plötzlich, alle anderen Bilder und Emotionen verdrängend, die Miene des Mannes, als er ihm das Courbetsche Bild auf den Tisch legte, um Morten ein Geständnis abzuringen oder wenigstens eine Reaktion bei ihm auszulösen, die ihn verraten würde.
Morten stöhnte. Alles, was mit dem Mord zusammenhing, schwand aus seinem Bewusstsein, wurde bedeutungslos. Wirklichkeit blieb die Liebe seiner Frau zu dem Toten. Ihre Hingabe an ihn.
Er musste Margret sprechen. Allein. Sofort. Aber er wusste, dass es unmöglich war. Es schauderte ihn. Er hatte jetzt wieder das zerquälte Gesicht seiner Frau vor Augen. Ihren irrlichternden Blick auf ihn, als schaue sie in Himmel und Hölle gleichzeitig.
Was Morten von nun an leisten musste, war, das Warten zu ertragen. Manchmal war er wie gelähmt, saß dann reglos auf dem Bettrand oder auf dem Holzstuhl, den er vor das Fenstergitter rückte, um dann, den Kopf nach hinten geneigt, hinaus in die Öffnung der Mauer zu starren.
Dann wieder erzeugte das Warten eine ungeheuerliche Spannung, in der wie vor Wettkämpfen oder Prüfungen alle Kräfte mobilisiert wurden und er in der Zelle hin- und herrannte, sich im Kreise drehte, ja, sich schließlich verzweifelt auf den Boden warf.
Er merkte in diesem Zustand nicht, dass ihm die Mittagssuppe hingestellt und später wieder abgeholt wurde. Am nächsten Tage drohte ihm der Essenbringer, er werde zwangsernährt, wenn er weiterhin die Nahrung verweigern würde.
An einem der vielen Abende sah Morten einen hellen Schein, der auf seine Pritsche fiel. Er blickte hoch zu dem Fenster und sah einen zunehmenden Mond, der durch die Gitterstäbe scheinbar in Teile zerschnitten war. Er betrachtete ihn lange. Es war erstaunlich, wie rasch sich der Mond dem Rand des Fensters näherte und schließlich verschwand. Eine Weile noch blieb eine geringe Helle am nachtblauen Himmel, bis auch diese von der herankriechenden Finsternis aufgesaugt wurde.
Von diesem Abend an hatte das Warten gewissermaßen ein Ziel. Es war, als bekämen die Tage einen Inhalt. Jeder Tag, der verging, würde einen größer werdenden Mond zeigen, seine Gestalt zu einer Kugel werden lassen, und eines Nachts würde ihn das Gleißen des vollen Mondes erquicken. Morten hatte an der Geschwindigkeit, mit welcher der Mond sich bewegte, gewissermaßen den Lauf der Zeit vor Augen gehabt. Zeit verging also, blieb nicht stehen, wie es ihm sein verstörtes Bewusstsein suggerierte. Also würden mit den Minuten die Stunden, die Tage, Wochen und schließlich die Jahre vergehen. Natürlich wusste er das, auch ohne das Monderlebnis. Aber dieses Wissen vermochte nichts über das Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, das ihn in Bann hielt. Bei den Gedanken an Jahre erschauerte Morten. Nein. Nein. Jahrelang würde er den Kerker nicht ertragen.
Die Mondphasen waren ein Zeitraum, den man aushalten konnte. Als wäre er süchtig, wartete er nun fieberhaft auf die Wiederkehr des Mondes. Und Morten glaubte wieder, dass der wahre Mörder gefunden und er, Morten, erlöst würde. Er wurde ruhiger. Der eiserne Ring um seine Brust lockerte sich.