Die zwei Gesichter des Januars - Patricia Highsmith - E-Book + Hörbuch

Die zwei Gesichter des Januars E-Book

Patricia Highsmith

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Beschreibung

Der amerikanische Hochstapler und Fremdenführer Rydal lernt in Athen das elegante Ehepaar Chester und Colette MacFarland kennen. Die schöne Blonde erinnert ihn an seine unglückliche Jugendliebe, und während Rydal ihr immer mehr verfällt, zieht ihn Chester in einen Strudel des Verbrechens. Als man ihnen auf die Spur kommt, fliehen die drei über Kreta und Marseille bis nach Paris, wo sie ihr Schicksal schließlich einholt. Ein Roman über Eifersucht, Verrat, Mord und die verzweifelte Suche nach Glück.

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Patricia Highsmith

Die zwei Gesichter des Januars

Roman

Aus dem Amerikanischen von Werner Richter

Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay

Herausgegeben von Paul Ingendaay und Anna von Planta

Diogenes

Mit diesem Buch bezeige ich dem Barnard College meine Dankbarkeit anläßlich seines fünfundsiebzigjährigen Bestehens

Für meinen Freund Rolf Tietgens

Die zwei Gesichter des Januars

1

Es war ein Morgen Anfang Januar um halb vier Uhr früh, als Chester MacFarland in seiner Koje auf der San Gimignano von einem beunruhigenden Kratzgeräusch geweckt wurde. Er setzte sich auf und sah durch das Bullauge eine grell erleuchtete Wand an sich vorüberziehen. Sein erster Gedanke war, daß sie gerade ein anderes Schiff schrammten, daher krabbelte er rasch aus dem Bett und spähte, immer noch im Halbschlaf und über die Koje seiner Frau gebeugt, hinaus. Die Wand war mit Graffitti, Krakeleien und Zahlen vollgemalt und entpuppte sich jetzt als nackter Fels. NIKO1957, las er. W. MUSSOLINI. Und dann ein sehr amerikanisches PETE ’60.

Der Wecker schrillte los, Chester packte ihn und warf dabei die Scotchflasche um, die neben dem Bett auf dem Boden stand. Er drückte den Knopf, der das Klingeln beendete, dann griff er nach seinem Morgenmantel.

»Liebling … Was ist los?« fragte Colette verschlafen.

»Ich glaube, wir sind im Kanal von Korinth«, sagte Chester. »Oder wir rammen gleich ein anderes Schiff. Aber eigentlich sollte es doch der Kanal sein. Es ist halb vier. Kommst du mit rauf an Deck?«

»Ach … nein«, murmelte Colette und kuschelte sich tiefer in die Kissen. »Erzähl mir später davon.«

Chester lächelte und drückte ihr einen Kuß auf die warme Wange. »Ich geh mal kurz rauf. Komme gleich wieder.«

Kaum war Chester durch die Tür an Deck hinausgetreten, lief ihm der Offizier über den Weg, der am Abend gesagt hatte, sie würden den Kanal von Korinth gegen 3.30 Uhr durchqueren.

»Sìsìsìsì! Il canale, signore!« rief er Chester zu.

»Danke!« Ein Kitzel von Abenteuerlust und Erregung durchfuhr Chester, und er reckte sich gegen den kühlen Wind, die Reling fest mit beiden Händen umklammert. Außer ihm war niemand an Deck.

Die Wände des Kanals ragten vier Stockwerke empor, wenn nicht höher. Auch als Chester sich über die Reling lehnte, sah er nichts als Schwärze in beide Richtungen. Man konnte nicht erkennen, wie weit der Kanal reichte, aber er erinnerte sich an die Landkarte Griechenlands: gut ein Zentimeter war er dort lang, was Chester auf rund sechs Kilometer hochrechnete. Von Menschen erbaut, diese wichtige Schiffsverbindung. Eine beeindruckende Vorstellung. Chester betrachtete die Spuren von Bohrern und Spitzhacken, die in dem orangefarbenen Fels noch zu sehen waren – oder war es nur harter Lehm? Er hob den Blick dorthin, wo die Kanalwand gegen die Dunkelheit abbrach, und weiter hinauf zu den Sternen, die den griechischen Himmel sprenkelten. Nur noch wenige Stunden, und er würde Athen sehen. Einen Moment lang wollte er den Rest der Nacht aufbleiben, sich seinen Mantel holen und an der Reling stehen, während das Schiff in Richtung Piräus durch die Ägäis pflügte. Allerdings wäre er dann am nächsten Tag todmüde. Nach ein paar Minuten ging Chester zurück in die Kabine und kroch ins Bett.

Etwa fünf Stunden später, als die San Gimignano in Piräus angelegt hatte, kämpfte sich Chester wieder zur Reling – diesmal durch eine zeternde Menge von Passagieren und Trägern hindurch, die an Bord gekommen waren, um den Leuten mit ihrem Gepäck zu helfen. Er hatte geruhsam in der Luxuskabine gefrühstückt, weil er vorsichtshalber abwarten wollte, bis die meisten Passagiere an Land waren; doch nach der Anzahl Menschen, die an Deck und in den Korridoren herumwuselten, hatte der Landgang noch nicht begonnen. Die Stadt und der Hafen von Piräus waren ein staubiges Chaos. Chester war enttäuscht, daß er Athen nicht einmal in der Ferne erkennen konnte. Er zündete sich eine Zigarette an und musterte versonnen die geschäftigen und die reglosen Gestalten auf der breiten Mole. Gepäckträger in Blau. Einige Männer gingen in eher schäbig aussehenden Mänteln rastlos auf und ab und sahen dabei zum Schiff hinauf: sie wirkten eher wie Geldwechsler oder Taxifahrer als wie Polizisten, dachte Chester. Er ließ den Blick von rechts nach links und wieder zurück über die versammelte Menge schweifen. Nein, er konnte sich nicht vorstellen, daß hier jemand auf ihn wartete. Die Gangway war seit langem herabgelassen, und wenn sie ihn fassen wollten, wären sie dann nicht längst an Bord gekommen, statt ihn an Land abzupassen? Natürlich. Chester räusperte sich und zog an seiner Zigarette. Dann drehte er sich um und sah Colette.

»Griechenland«, sagte sie lächelnd.

»Ja, Griechenland.« Er nahm ihre Hand. Sie spreizte die Finger und schloß dann die Hand fest über der seinen. »Ich kümmere mich besser mal um einen Träger. Sind die Koffer alle zu?«

Sie nickte. »Ich hab mit Alfonso geredet. Er bringt sie hinaus.«

»Hast du ihm Trinkgeld gegeben?«

»Aber ja. Zweitausend Lire. Glaubst du, das reicht?« Sie richtete den Blick ihrer großen dunkelblauen Augen auf Chester. Die langen rotbraunen Wimpern gingen zweimal nieder. Dann prustete ein Lachen aus ihr heraus, ein Lachen voller Glück und Zuneigung. »Du sagst gar nichts? Reichen zweitausend nun oder nicht?«

»Zweitausend sind perfekt, Liebling.« Chester küßte sie rasch auf die Lippen.

Alfonso tauchte mit der Hälfte ihres Gepäcks an Deck auf, stellte es ab und verschwand, um den Rest zu holen. Chester half ihm dabei, die Sachen über die Gangway an Land zu bringen, wo sich sogleich drei oder vier Gepäckträger um den Auftrag zu streiten begannen.

»Moment! Einen Moment mal bitte«, sagte Chester. »Zuerst brauche ich Geld. Muß mir was wechseln gehen.« Er schwenkte ein Heft voller Reiseschecks und trabte in Richtung einer Wechselstube an der Einfahrt des Hafens davon. Er wechselte zwanzig Dollar ein.

»Bitte!« sagte Colette und klopfte beschützerisch auf einen Koffer, worauf die diskutierenden Gepäckträger abwartend die Arme verschränkten, einen Schritt zurücktraten und sie beifällig musterten.

Colette – diesen Namen hatte sie sich mit vierzehn Jahren selbst zugelegt, weil ihr Elizabeth nicht gefiel – war fünfundzwanzig Jahre alt, einssechzig groß und hatte rotblondes Haar, volle Lippen, eine makellos gerade Nase, die leicht mit Sommersprossen gesprenkelt war, und ziemlich atemberaubend hübsche dunkelblaue, beinahe lavendelfarbene Augen. Sie sahen alles und jeden groß und geradlinig an, wie die Augen eines neugierigen, intelligenten und immer noch dazulernenden Kindes. Männer, die sie so ansah, fühlten sich meist fasziniert und wie gelähmt von ihrem Blick; es lag etwas Sinnierendes darin, und fast jeder Mann, egal, welchen Alters, dachte sich: Sie sieht aus, als ob sie sich gerade in mich verliebt hat. Ist das möglich? Frauen hielten ihre Miene und sogar Colette selbst meist für reichlich naiv, zu naiv, um eine Gefahr darzustellen; was ein Glück für sie war, denn sonst wären andere Frauen ihrer Anmut mit Eifersucht oder Mißtrauen begegnet. Sie war jetzt etwas mehr als ein Jahr mit Chester verheiratet, und kennengelernt hatte sie ihn, als sie sich als Teilzeitsekretärin und Typistin vorstellen ging, auf seine Annonce in der Times hin. Bereits nach ein paar Tagen war ihr klar, daß Chesters Firma nicht ganz legal sein konnte – welcher Aktienmakler arbeitete schon in seiner Privatwohnung statt in einem Büro, und wo waren seine Aktien an der Börse überhaupt? –, aber Chester verfügte über sehr viel Charme; offenbar hatte er auch jede Menge Geld, und dieses Geld kam auch regelmäßig herein, also konnte er nicht weiter in Schwierigkeiten sein. Chester war schon einmal verheiratet gewesen, acht Jahre lang, mit einer Frau, die, zwei Jahre bevor Colette ihn getroffen hatte, an Krebs gestorben war. Chester war zweiundvierzig und sah noch recht gut aus, mit leicht ergrauten Schläfen und dem Ansatz eines Bäuchleins, aber für Colette, die zu ihrem Leidwesen sehr leicht zunahm, waren Diäten an der Tagesordnung. Sie hatte kein Problem damit, für sie beide Speisepläne zu entwerfen, die ebenso appetitlich wie kalorienarm waren.

»Das hätten wir«, sagte Chester und wedelte mit einer Handvoll Drachmenscheine. »Ruf ein Taxi, Liebes.«

Es stand ein halbes Dutzend Taxis herum, und Colette suchte eines aus, dessen Fahrer freundlich grinste. Drei Träger halfen dabei, das Taxi mit den sieben Gepäckstücken zu beladen, von denen zwei auf dem Dach verstaut wurden, und dann fuhren sie ab in Richtung Athen. Chester saß vorn und hielt Ausschau nach dem Tempel oben auf dem Parthenonhügel oder einem anderen Wahrzeichen, das sich gegen den blaßblauen Himmel abheben würde. Statt dessen sah er plötzlich ein Walkie Kar vor sich, so groß wie ganz Athen, roter Lack und Chrom, mit dem scheußlichen Billiglenker aus Gummi und dem häßlichen Sicherheitsschalensitz. Chester erschauerte. Was für ein Blödsinn, was für ein unnötiges, idiotisches Risiko er da eingegangen war! Colette hatte es ihm ja gleich gesagt. Sie war zu Recht ziemlich sauer gewesen, als sie von der Geschichte erfuhr. Das mit dem Walkie Kar war so gekommen: Als Chester sich in einer Druckerei Visitenkarten machen lassen wollte, hatte er einen Stapel Handzettel herumliegen sehen, die für ein »Walkie Kar« warben. Sie zeigten ein Bild dieses kleinen Tretautos, eine kurze Beschreibung, den Preis – $ 12.95 – und unten angehängt ein Bestellformular, das sich entlang einer gestrichelten Linie abreißen ließ. Der Drucker hatte gelacht, als Chester sich einen der Zettel näher angesehen hatte. Das Unternehmen sei in Konkurs gegangen, sagte er, nicht einmal die Druckkosten hätten sie ihm gezahlt. Ja, er war durchaus einverstanden, wenn Chester sich ein paar von den Zetteln mitnahm, weil sie ohnehin schon längst in den Müll gehörten. Chester hatte gesagt, er wolle sie im Spaß an ein paar Freunde verschicken, an seine Saufkumpane, und anfangs hatte er auch nichts anderes damit vorgehabt; dann aber hatte ihn etwas – die Versuchung, Tollkühnheit, sein Sinn für Humor? – dazu angestiftet, diese verfluchten Tretautos im Ernst zu verhökern, und indem er an ein paar Türen klingelte und die alte Vertreternummer abzog, hatte er bald Bestellungen für über achthundert Dollar im Kasten, vor allem von Leuten in der Bronx. Dummerweise war Chester dann jedoch zufällig in seinem eigenen Wohnhaus in Manhattan einem der Kunden über den Weg gelaufen, noch dazu gerade als er seinen Briefkasten aufschloß. Der Mann erzählte ihm, sein Walkie Kar sei immer noch nicht geliefert worden, obwohl er es doch schon vor zwei Monaten bestellt und bezahlt hätte, und das Walkie Kar von seinem Nachbarn sei auch noch nicht da. Wenn so etwas zwei Menschen passierte, die einander kannten, dann unternahmen sie etwas, das wußte Chester aus Erfahrung. Und da der Mann sich den Namen auf seinem Briefkasten recht genau angesehen hatte, beschloß Chester, lieber eine Zeitlang außer Landes zu gehen – nicht nur umzuziehen und wieder einmal den Namen zu wechseln. Colette hatte ohnehin schon länger nach Europa fahren wollen, und die Reise war für den Frühling geplant gewesen, nun hatte die Walkie-Kar-Geschichte sie eben vier Monate früher aufbrechen lassen. Sie waren im Dezember von New York abgereist. Ja, Colette hatte ihm wegen der Sache mit den Walkie Kars ernste Vorwürfe gemacht, und sie war auch verärgert gewesen, weil das Wetter lange nicht so freundlich sein würde wie im Frühjahr, und damit hatte sie natürlich recht. Chester hatte ihr ein neues Kofferset und ein Nerzjäckchen geschenkt, um es irgendwie wiedergutzumachen, und natürlich wollte er sein möglichstes tun, ihr eine schöne Reise zu bereiten. Es war Colettes erster Aufenthalt in Europa. Bis jetzt hatte ihr London am besten gefallen, was Chester wunderte, denn sie mochte es sogar lieber als Paris. Es hatte in Paris mehr als in London geregnet, Chester hatte sich erkältet, und jedesmal wenn er nasse Füße bekam oder der Regen ihm in den Kragen rann, hatte er an das verdammte Walkie Kar denken müssen und darüber sinniert, weshalb er für das erbärmliche bißchen Geld, das er damit kassiert hatte, dem guten alten Howard Cheever (das war sein derzeitiger Deckname und auch der, der auf dem Briefkasten in seinem New Yorker Wohnhaus prangte) derartige Probleme bereitet hatte oder noch bereiten könnte, denn falls dessen wahre Identität bei gründlichen Nachforschungen aufflöge, könnte dies das Ende von einem halben Dutzend Firmen bedeuten, aus deren Aktienverkäufen Chester seinen Lebensunterhalt bestritt. Europa war im Moment einfach sicherer als die USA, und Chester MacFarland, seinen richtigen Namen, hatte er seit fünfzehn Jahren nicht mehr benutzt. Leider stand aber auch Betrug unter Zuhilfenahme der amerikanischen Bundespost auf der Liste seiner Delikte, und das war eines der wenigen Vergehen, bei denen die US-Regierung Auslieferungsanträge stellen konnte. Womöglich schickten sie sogar einen Fahnder hinter ihm her, dachte Chester, falls der Zusammenhang zwischen Cheever und MacFarland jemals aufgedeckt würde.

Der Taxifahrer wandte den Kopf über die Schulter und fragte etwas auf griechisch.

»Sorry. No capito«, erwiderte Chester. »Zum Hauptplatz, okay? Ins Zentrum.«

»Grande Bretagne?« fragte der Fahrer.

»Na ja … ich bin noch nicht sicher«, sagte Chester. Das Grande Bretagne war zweifellos das größte und beste Hotel in Athen, aber gerade deshalb hatte Chester kein gutes Gefühl bei dem Gedanken, dort abzusteigen. »Sehen wir’s uns mal an«, setzte er hinzu, obwohl er bezweifelte, daß der Fahrer ihn verstand. »Dort ist es«, sagte er zu Colette. »Das große weiße Gebäude da drüben.«

Der weiße Bau des Grande Bretagne verströmte eine förmliche, geradezu antiseptische Atmosphäre im Vergleich zu den kleineren und schmutzigeren Häusern und Geschäften, die rings um den rechteckigen Platz der Verfassung, den Syntagma-Platz, standen. Am anderen Ende erhob sich rechter Hand irgendein Regierungsgebäude, vor dem eine griechische Fahne am Mast flatterte und zwei Soldaten in Faltenröcken und weißen Strümpfen Wache standen.

»Was ist mit dem Hotel da drüben?« fragte Chester und zeigte mit dem Finger darauf. »Das King’s Palace. Sieht doch auch ganz nett aus, oder was meinst du, Liebes?«

»Ja, gut«, sagte Colette bereitwillig.

Das King’s Palace lag gegenüber dem Grande Bretagne an einer der vom Platz abzweigenden Straßen. Ein Page in roter Jacke und schwarzen Hosen trat auf den Gehweg hinaus, um ihnen mit dem Gepäck zu helfen. Die Empfangshalle verströmte für Chester eine exzellente Atmosphäre: vielleicht nicht gerade die Luxuskategorie, aber doch erstklassig. Auf dem Boden lag ein schwerer Teppich, und der Wärme nach zu urteilen, funktionierte die Zentralheizung einwandfrei.

»Haben Sie reserviert, Sir?« fragte der Empfangschef an der Rezeption.

»Nein, haben wir nicht, aber wir möchten gern ein Zimmer mit Bad und schöner Aussicht«, sagte Chester lächelnd.

»Jawohl, Sir.« Der Hotelangestellte drückte eine Klingel und reichte dem daraufhin erscheinenden Jungen in Livree einen Schlüssel. »Du zeigst ihnen die 621. Dürfte ich noch Ihre Pässe haben, Sir? Sie bekommen sie nachher zurück, wenn Sie wieder hinunterkommen.«

Chester griff nach dem Paß, den Colette aus dem roten Lederetui in ihrer Handtasche herauszog, nahm seinen eigenen aus der inneren Brusttasche und schob beide zusammen über den Tisch. Es versetzte ihm jedesmal einen kleinen Stich – eine leise Verlegenheit ganz ähnlich jener, die er bei der Aufforderung eines Arztes verspürte, die Kleidung abzulegen –, wenn er seinen Reisepaß an einer Rezeption abgab oder ihn staatlichen Beamten aushändigen mußte. Chester Crighton MacFarland, ein Meter achtzig, geboren 1922 in Sacramento, Kalifornien, keine besonderen Kennzeichen, verheiratet mit Elizabeth Talbott MacFarland. Es war alles so entblößt. Am schlimmsten fand er, daß er auf dem Foto, eher untypisch für ein Paßbild, leider ziemlich gut getroffen war; es zeigte den zurückweichenden Ansatz seines braunen Haars, den aggressiven Unterkiefer, die wohlgeformte Nase und den eigensinnig wirkenden, schmallippigen Mund samt dem Schnurrbart darüber – ein hervorragendes Porträt von ihm, es fehlten nur die stechend blauen Augen und die geröteten Wangen. Hatte der Portier oder der Beamte, dachte Chester dann immer, dasselbe Foto womöglich vor kurzem gezeigt bekommen und war instruiert worden, die Augen nach diesem Mann offenzuhalten? Hier und jetzt im King’s Palace würde er die Antwort nicht erfahren, da der Empfangschef die Pässe zur Seite schob, ohne sie zu öffnen.

Wenige Minuten später genossen sie die Bequemlichkeit eines geräumigen, warmen Zimmers mit Aussicht auf die weißen, geraniengeschmückten Balkons des Grande Bretagne und eine verkehrsreiche Straße sechs Etagen tiefer, die Chester auf seinem Stadtplan als die Venizelou-Avenue identifizierte. Es war erst zehn Uhr vormittags. Der ganze Tag lag noch vor ihnen.

2

In einem wesentlich billigeren und schäbigeren Hotel um die Ecke, in der Kriezotou-Straße, die manchmal auch Jan-Smuts-Straße genannt wurde, rief zur selben Zeit ein junger Amerikaner namens Rydal Keener im dritten Stock den Fahrstuhl. Der Mann war schlank und dunkelhaarig und bewegte sich langsam und bedächtig. Er erweckte einen leicht melancholischen Eindruck – eine Melancholie, die eher nach außen als nach innen gerichtet war, als sänne er nicht über eigene Probleme, sondern über jene der ganzen Welt nach. Der Blick seiner dunklen Augen schien alles abzuwägen, was er betrachtete. Er wirkte außerdem sehr gelassen und nicht im mindesten darum bekümmert, was andere von ihm dachten. Diese Nonchalance wurde ihm oft als Arroganz ausgelegt. Sie paßte nicht recht zu dem alten Mantel und den abgewetzten Schuhen, die er trug, aber er besaß eine so selbstsichere Haltung, daß seine Kleidung das letzte war, das man an ihm bemerkte, sofern man sie überhaupt registrierte.

Jeden Morgen standen die Chancen fünfzig zu fünfzig, ob der Fahrstuhl kommen würde oder nicht, und Rydal spielte deshalb immer ein kleines Spiel mit sich selbst: Kam der Fahrstuhl, würde er in der Taverna Dionysiou frühstücken, in der Straße, wo Niko stand, und kam er nicht, würde er eine Zeitung kaufen und zum Frühstück ins Café Brasil gehen. So oder so machte es keinen großen Unterschied. Im Laufe des Tages würde er sich ohnedies vier Zeitungen kaufen, aber in der Taverna Dionysiou kannte er so viele Leute, daß er vor lauter Reden nicht zum Lesen kam. Im Café Brasil hingegen, einem schickeren Lokal, kannte er niemanden, deshalb leistete ihm dort immer seine Zeitung Gesellschaft. Rydal wartete geduldig und ging dabei auf dem zerschlissenen Teppich vor dem Aufzugsschacht langsam im Kreis. Kein von unten oder oben näher kommendes Rumpeln kündigte an, daß sein Läuten gehört oder beachtet worden war. Rydal seufzte, warf die Schultern zurück und musterte mit ernsthaftem Interesse das außergewöhnlich lichtlose, düstere Landschaftsgemälde an der Wand des Korridors, den er eben durchquert hatte. Selbst der Himmel war in einem rußigen Schwarz gehalten, als hätte das Bild – auf der ganzen Welt würde ja wohl kein noch so schlechter Künstler einen Hügel und den Himmel dahinter so nebelhaft hinschmieren, daß man kaum sehen konnte, wo das eine aufhörte und das andere begann – im Laufe der Jahre den Dreck der Atmosphäre aufgesogen sowie den verbrauchten Atem all der Griechen, Franzosen, Italiener, Jugoslawen, Russen, Amerikaner und sonstigen Gäste, die diesen Korridor durchschritten haben mochten. Die Hinterteile zweier Schafe waren mit ihrem schmutzigen Beige noch die hellsten Flecken in der gesamten Bildkomposition.

Der Fahrstuhl würde so schnell nicht kommen. Er hätte ihn noch einmal rufen können, und irgendwann wäre wohl auch jemand aufgetaucht, wenn er immer weiter läutete, doch sein Spiel war vorbei, und er hatte gar keine Lust mehr aufs Fahrstuhlfahren. Er würde also ins Café Brasil gehen. Rydal stieg langsam den ersten kurzen Absatz teppichgepolsterter Stufen hinab. Es waren zwei Löcher im Läufer, jedes so groß wie ein ausgewachsener Männerfuß, und Rydal überlegte, ob sich wohl schon einmal jemand darin verfangen hatte und gestolpert war. Er wäre gegen das Gipsimitat einer Vase aus dem dritten vorchristlichen Jahrhundert gestürzt, das auf einem viktorianischen Blumenständer aus Gußeisen aufgestellt war. Rydal ging an einem gut drei Meter langen Wandspiegel entlang, durchquerte ein kleines, nichtssagendes Vestibül mit einem weiteren unkenntlichen Gemälde und einem vertrockneten Farn im Topf und nahm dann eine Treppe, die abermals hinunterführte. Eine Etage tiefer stand eine großgewachsene, etwas knochige Frau in einem Tweedkostüm, die keineswegs maskulin, aber doch so flach und geschlechtslos wirkte wie eine Figur aus einem englischen Modemagazin der zwanziger Jahre. Sie drückte gerade mit zuversichtlicher Miene die Glocke für den Liftboy, ehe sie Rydal gelassen mit ihren grünlichen Augen musterte. Rydal hielt ihrem Blick ein wenig zu lange stand, als daß es nur der Blick eines Fremden wäre, dem man im Hotelkorridor begegnet, aber dies war ein weiteres Spiel, das Rydal gern spielte, besonders gern im Hotel Melchior Condylis. »Abenteuer« wäre ein guter Name dafür. Es bestand darin, die Richtige Person zu finden, männlich oder weiblich. Etwas würde geschehen, wenn sein Blick dem der Richtigen Person begegnete, es würde einen Schock der Erkenntnis geben, einer von beiden würde etwas sagen, und sie würden gemeinsam irgendeine Art von Abenteuer erleben – oder es lag nichts in diesem Blick, dann würde rein gar nichts passieren. Diese Frau war sicherlich eine seltsame und faszinierende Type, aber in ihren Augen passierte nicht allzuviel. Das Hotel Melchior Condylis war voller seltsamer und faszinierender Typen. Es bot nicht gerade Platz für die Gutbetuchten, kein Ort, der den Durchschnittsamerikaner anzog, aber ansonsten waren so ziemlich alle Nationen hier vertreten, wie Rydal festgestellt hatte. Momentan gab es ein indisches Ehepaar und ein älteres aus Frankreich. Dann war da der junge russische Student, den Rydal auf russisch angesprochen hatte, aber der Bursche wirkte etwas mißtrauisch, und so waren sie nicht weiter in Kontakt gekommen. Im vergangenen Monat war ein Eskimo hier abgestiegen, der mit einem amerikanischen Ozeanographen reiste, beide kamen aus Alaska. Mit einer gewissen Anzahl von Türken und Jugoslawen konnte man immer rechnen. Es amüsierte Rydal, sich die vielen Punkte auf der Weltkugel vorzustellen, wo Menschen, die im Melchior Condylis gewesen waren, gerade in der einen oder anderen ihrer fünfundzwanzig bis dreißig Muttersprachen dessen Namen erwähnten und es vielleicht sogar Freunden als Unterkunft bei einer Athenreise empfahlen – aber konnten sie das ernsthaft, nur weil es so billig war? Der Service war lausig und sogar schlechter, als wenn es gar keinen gegeben hätte, denn es wurde oft etwas versprochen, das dann niemals eintraf. Die Korridore und Treppenaufgänge verströmten für Rydal die erwartungsvolle Atmosphäre einer Bühne mit fertig aufgebauten Kulissen, bevor der erste Schauspieler seinen Auftritt hat. Weder in den Zimmern – und Rydal hatte bereits drei verschiedene bewohnt – noch in den Gängen oder der Empfangshalle gab es irgendwelche Gegenstände, die nicht zum Charakter des Hotels paßten, und dieser Charakter war der eines müden alten mitteleuropäischen Scheunenkleppers.

Rydal sah den Fahrstuhlführer, der zugleich der Gepäckträger war, auf der Holzbank am Ausgang des Hotels sitzen, nasebohrend und zeitunglesend.

»Guten Morgen, Mihster Keener«, sagte Max, der Portier mit schwarzem Schnurrbart und einer alten grauen Uniform, der hinter der Empfangstheke stand.

»Guten Morgen, Max. Wie geht’s?« Rydal legte ihm seinen Schlüssel hin.

»Sie wollen Lotterielos kaufen?« fragte Max mit hoffnungsfrohem Grinsen und hielt dabei ein Bündel Papierlose hoch.

»Hmmm. Ob ich heute wohl Glück habe? Kommt mir nicht so vor. Nein, heute nicht«, sagte Rydal und ging hinaus.

Er wandte sich nach links und ging auf den Syntagma-Platz und das Büro von American Express zu. Dort könnte ein Brief für ihn hinterlegt sein, das war sogar höchstwahrscheinlich, denn es war bereits Mittwoch, und er hatte weder am Montag noch am Dienstag Post gehabt, obwohl er im Durchschnitt pro Woche zwei Briefe bekam. Doch er beschloß, erst am Nachmittag nach der Post zu sehen. Er kaufte sich den Londoner Daily Express vom Vortag und eine Athener Morgenzeitung, winkte Niko kurz zu, der einige Meter vom American-Express-Reisebüro in seinen Turnschuhen auf dem Gehsteig hin und her ging; da er am ganzen Körper mit Badeschwämmen behängt war, bot er einen beigefarbenen und mehr oder weniger kugelrunden Anblick.

»Lottolose?« rief Niko und wedelte mit einer Handvoll Lose.

Rydal schüttelte den Kopf. »Heute nicht!« rief er auf griechisch zurück. Offensichtlich war heute der Tag für Glückslose.

Er ging zum Café Brasil weiter, stieg die Stufen zur Bar im oberen Stock hinauf, wo man auch Frühstück bekam, und bestellte einen Cappuccino mit Marmeladehörnchen. Die Zeitung bot wenig aufregende Neuigkeiten. Ein kleineres Zugunglück in Italien. Der Scheidungsprozeß eines Mitglieds des britischen Unterhauses. Rydal hatte eine Schwäche für Mordgeschichten, und die aus England gefielen ihm am besten. Nach dem Kaffee rauchte er drei Papastratos, und es war kurz vor elf, als er das Café verließ. Er wollte eine Weile durch das Nationalmuseum für Archäologie schlendern und dann in irgendeinem Herrenartikelgeschäft oder in einer Lederboutique in der Stadiou-Straße ein Geschenk für seinen Freund Pan kaufen – am Samstag hatte Pan Geburtstag und gab eine Party –, wollte dann im Hotelrestaurant zu Mittag essen und den Rest des Nachmittags an seinen Gedichten arbeiten. Pan hatte davon gesprochen, daß sie am Abend ins Kino gehen könnten, aber diese Verabredung war keineswegs sicher, und Rydal war es eher egal, wenn nichts daraus wurde. Es sah stark nach Regen aus, den die Athener Zeitung auch vorhersagte. Und Rydal liebte es, bei Regenwetter in seinem Zimmer herumzusitzen und an seinen Gedichten zu arbeiten. Als er auf die Straße trat, wollte er am liebsten doch schon jetzt statt am Nachmittag bei American Express vorbeischauen, also ging er durch die Arkaden zurück zu jener Straße, die mehr oder weniger parallel zum Syntagma-Platz verlief, wo sich das Postbüro von American Express befand.

Sie hatten einen Brief seiner Schwester Martha für ihn, aus Washington DC. Wieder voller leisem Tadel, wie Rydal vermutete. Doch er irrte sich. Der Brief war im Grunde fast eine Entschuldigung dafür, daß sie »im Dezember ein wenig schroff gesprochen« hatte. Sie hatte geschrieben, nicht gesprochen. Anfang Dezember war Rydals Vater gestorben, was ihm sein Bruder Kennie zwei Tage vor dem Begräbnis telegrafisch mitgeteilt hatte, für den Heimflug wäre also Zeit gewesen, er hatte ihn aber nicht angetreten. Sein Vater hatte einen Herzanfall erlitten und war innerhalb von vier Stunden gestorben. Rydal hatte vierundzwanzig Stunden unschlüssig verstreichen lassen und schließlich ein Telegramm an Kennie in Cambridge geschickt, die Nachricht habe ihn sehr betrübt und er sende ihm und dem Rest der Familie sein Beileid und alle besten Wünsche. Er sagte nicht, daß er nicht dort sein würde, doch das verstand sich von selbst, da sich auch keine Erwähnung seines Kommens fand. Kennie hatte ihm seitdem nicht mehr geschrieben, aber von Martha kam ein Brief, in dem sie meinte: »Gerade weil die Familie so klein ist, nur Du und ich und Kennie mit seiner Frau und den Kindern, finde ich, daß Du Dir ruhig die Mühe hättest machen können, beim Begräbnis dabeizusein. Immerhin war es Dein Vater. Ich kann nicht glauben, daß Du kein schlechtes Gewissen deswegen hast. Willst Du denn Deinen Groll auch dann noch hegen, wenn derjenige, auf den er sich richtet, gar nicht mehr lebt? Du wärst bestimmt glücklicher, Rydal, wenn Du diese Angelegenheit großzügiger sehen könntest – und wenn Du zurückgekommen wärst, um mit uns am Grab zu stehen.« Rydal erinnerte sich beinahe wortwörtlich an den Brief, obwohl er ihn weggeworfen hatte, kaum daß er mit dem Lesen fertig war. Jetzt schrieb seine Schwester, sie verstehe ja den Groll, den er gegen den Vater hege,

»… und den ich, wie Du weißt, schon immer als durchaus berechtigt betrachtet habe. Aber werde nicht bitter dadurch, wenn Dir das möglich ist. Du hast mir einmal erzählt, daß Dir die Zwecklosigkeit von Haß und Groll klar ist. Ich hoffe, das stimmt jetzt noch mehr als damals und daß Du in Europa Frieden findest. Irgendwie bin ich froh darüber, daß Du in Athen und nicht in Rom bist … Wann glaubst Du denn, daß Du mal wieder nach Hause kommst?

Rydal faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Manteltasche. Dann verließ er das American-Express-Büro und schlenderte wieder durch die Arkaden. Er würde nicht mehr allzu lange in Athen bleiben. Bald würde der Richtige Tag kommen, und er würde ein Flugzeug nach Kreta nehmen, um sich den Palast von Knossos und das Museum minoischer Kultur in Heraklion anzusehen – und dann nach Hause fliegen. Dort würde er sich um eine Stelle in einer Anwaltskanzlei bemühen, wahrscheinlich in New York. Er hatte noch ungefähr achthundert Dollar in Reiseschecks und ein bißchen Bares übrig. Sein Geld hatte erfreulich gut über die zwei Jahre gereicht, die er fort gewesen war. Die zehntausend Dollar seiner lieben Großmutter. Sie war die einzige in der Familie gewesen, die während der Krise mit seinem Vater an ihn geglaubt hatte. Sie hatte damals ihr Testament aufgesetzt und war gestorben, als Rydal dreiundzwanzig war, mitten in seinem Jahr Militärdienst. Daraufhin hatte er sich gut überlegt, was er mit dem Geld anfangen wollte, und den Entschluß gefaßt, nach Europa zu reisen und so lange dort zu bleiben, wie die Erbschaft reichte. Sein Vater hatte erwartet, daß er unverzüglich bei einer Anwaltskanzlei anfing, und ihm auch schon eine Stelle als Juniorpartner bei Wheeler, Hooton & Clive an der Madison Avenue besorgt (er war mit Wheeler bekannt), aber Rydal wollte und würde nicht bei einem Unternehmen anfangen, das in irgendeiner Verbindung mit seinem Vater stand. Du bist ohnehin schon spät dran, fand sein Vater, womit er sich vor allem darauf bezog, daß Rydal sein Jurastudium in Yale erst mit zweiundzwanzig abgeschlossen hatte, was für eine schon immer akademisch orientierte Familie wie die Keeners äußerst untypisch war, doch schließlich hatte man ihn zwei Jahre lang in eine Besserungsanstalt gesteckt und er somit auch erst mit neunzehn an der Yale University anfangen können. Der Vater hatte mit neunzehn schon sein Abschlußexamen in Harvard abgelegt und Kennie seines mit zwanzig, auch Martha war mit zwanzig in Radcliff abgegangen. Alles Mitglieder von Phi Beta Kappa, der Elite-Studentenvereinigung. Rydal war nie bei Phi Beta Kappa gewesen.

Rydal fand sich unter den Arkaden vor der Glastür des Café Brasil wieder, als er aus seinen Gedanken in die Gegenwart zurückkehrte, und da er gerade erst in dem Café gewesen war, ging er weiter, auf der Suche nach Niko. Ja, er würde sich heute doch ein paar Glückslose kaufen. Da war Niko auch schon, er wanderte immer noch in der Kälte auf und ab und stampfte mit den Füßen auf. Niko hatte Hammerzehen und konnte deshalb nur Turnschuhe tragen, in denen er aber fror. Rydal grinste, als er sah, wie Niko auf einen gutgekleideten Herrn zusteuerte, der soeben aus dem American Express gekommen war. Lotterielose oder Schwämme, was von beiden hätten Sie gern, Sir?

Dann blieb Rydal jählings stehen. Der Mann, der mit Niko gerade sprach, hatte bemerkenswerte Ähnlichkeit mit seinem Vater. Die blauen Augen waren dieselben, die vorspringende Nase, die Farbe des Schnurrbarts. Dieser Mann war jünger, etwa vierzig, und auch massiger und mit etwas rosigerem Teint, aber die Ähnlichkeit war dennoch so erstaunlich, daß Rydal ihn am liebsten gefragt hätte, ob er mit ihm verwandt sein könne und ob er möglicherweise den Namen Keener trage. Die Keeners hatten Vettern in England, und dieser Mann mochte Engländer sein – obwohl seine Kleidung eher amerikanisch aussah. Der Mann warf jetzt den Kopf in den Nacken und lachte, ein herzliches Lachen, das bis zu Rydal hinüberscholl und ihn ebenfalls lächeln ließ. Nikos Hand fuhr bereits wieder unter seine Schwämme, doch Rydal hatte kurz etwas Weißes aufblitzen sehen; vielleicht hatte er Perlen verscherbeln wollen. Der Mann mit dem rosigen Teint im dunklen Mantel hatte Nikos Angebot abgelehnt, kaufte ihm aber einen Badeschwamm ab. Rydal verschränkte die Arme und blieb abwartend neben dem Zeitungskiosk an der Ecke stehen. Er sah, wie der Mann dem keineswegs unwilligen Niko einen zweiten Geldschein zuschob und die Hand zum Gruß hob, dann hörte er ihn im Gehen noch »Auf ein andermal« rufen.

Er kam auf Rydal zu. Rydal ließ ihn nach wie vor nicht aus den Augen und erkannte sogar in seinem Gang die selbstsicheren Schritte seines Vaters. Der Schwamm beulte dem Mann die Manteltasche aus. In der linken Hand hielt er einen neu aussehenden Guide Bleu. Er warf Rydal einen kurzen Blick zu, sah beiseite und dann wieder hin, inzwischen war er schon auf Rydals Höhe und wandte deshalb den Kopf, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Rydal starrte zurück, und diesmal war es kein Spiel, er wartete nicht auf irgendein Zeichen, sondern er war einfach nur fasziniert, ja gefesselt von der Ähnlichkeit dieses Mannes mit seinem Vater. Endlich wandte der Mann den Blick von Rydal ab, der ihm daraufhin folgte, wenn auch etwas langsameren Schrittes. Der Mann sah über die Schulter zurück, bemerkte Rydal, beschleunigte sein Tempo, rannte sogar kurz über die Venizelou-Straße und wurde dann im unpassendsten Moment langsamer – vor einem herannahenden Auto –, als wollte er den Eindruck vermitteln, er habe keine Eile. Jetzt hatte er das Grande Bretagne passiert, dabei hätte Rydal erwartet, daß er dort wohnte. Rydal behielt ihn im Auge, doch sein Interesse ließ bereits nach. Und wenn es tatsächlich ein Cousin aus England war? Was tat das schon? Der Mann betrat das King’s Palace Hotel durch die Eingangstür an der abgeschrägten Gebäudeecke und sah sich noch einmal um – Rydal konnte nicht sagen, ob er ihn dabei bemerkte –, bevor er hineinging.

Es war dieser letzte Blick zurück, der Rydals Argwohn erregte. Wovor fürchtete sich der Mann? Vor wem lief er davon?

Rydal ging langsam zurück zu Niko und kaufte ihm zwei Lose ab. »Wer war denn dein Freund?« fragte Rydal.

»Wen meinst du?« fragte Niko lächelnd und entblößte dabei seinen bleigefaßten Vorderzahn und die Lücke daneben.

»Den Amerikaner, der gerade einen Schwamm bei dir gekauft hat«, erklärte Rydal.

»Ach, weiß nicht. Hab ihn erstes Mal gesehen. Netter Mann. Hat mir zwanzig Drachmen extra gegeben.« Niko bewegte sich, und die Schwämme schwankten. Die großen, schmutzigweißen Turnschuhe und seine Beine, soweit sie unter dem Vorhang von Schwämmen zu sehen waren, stampften langsam auf der Stelle wie die Füße eines rastlosen Elefanten. »Warum fragst du?«

»Och, nur so«, sagte Rydal.

»Menge Moneten«, sagte Niko.

Rydal grinste. Er hatte Niko dieses Wort und noch massenhaft weitere Slangausdrücke für Geld beigebracht – ein Thema, dem Niko äußerst zugetan war. »Aber Sore hast du ihm keine unterjubeln können?«

»Unterjubeln?« fragte Niko verwirrt.

Niko kannte zwar »Sore«, aber nicht »unterjubeln«.

»Du konntest ihm keinen Schmuck verkaufen?«

»Ach so!« Niko wedelte kaum sichtbar mit der Hand unter den Schwämmen und lachte in einer plötzlichen und untypischen Verlegenheit laut auf. »Er wird es sich überlegen, hat er gesagt.«

»Worum ging’s denn?«

»Perlen.« Nach einem raschen Blick in die Runde zog Niko die Hand heraus und zeigte ihm ein zweireihiges Perlenarmband, das auf seiner breiten, schmutzigen Pranke lag.

Rydal nickte, und das Armband verschwand sofort wieder. »Wieviel?«

»Für dich – vierhundert Dollar.«

»Uff«, sagte Rydal unwillkürlich, obwohl die Perlen das wohl durchaus wert waren. »Na, dann viel Spaß mit dem reichen Amerikaner.«

»Der wird schon wiederkommen«, sagte Niko.

Und damit hatte Niko wahrscheinlich recht, dachte Rydal. Niko hatte seit seiner Jugend als Hehler und Bote für Diebe gearbeitet, und er konnte Menschen hervorragend einschätzen. Erst jetzt wurde Rydal klar, daß etwas an dem Amerikaner mit dem rosigen Teint einen irgendwie unehrlichen Eindruck gemacht hatte, sogar während der wenigen Sekunden, die ihn Rydal im Gespräch mit Niko beobachtet hatte. Rydal konnte nicht recht sagen, woran es lag. Auf den ersten Blick wirkte der Mann wie ein fröhlicher, gesprächiger Typ, freimütig wie ein kleines Kind. Aber er hatte zweifellos etwas Verstohlenes an sich gehabt, als er auf sein Hotel zugegangen war. Der Mann würde vermutlich zurückkehren und Niko dieses Armband abkaufen, und welcher ehrliche oder auch nur einigermaßen vorsichtige Mensch kaufte schon echte Perlen von einem Straßenhändler, der Schwämme verhökert? Vielleicht war der Bursche ein Spieler, dachte Rydal. Es war ein komischer Zufall, daß der Mann ausgerechnet seinem Vater so ähnlich sah – Professor Lawrence Aldington Keener von der archäologischen Fakultät der Harvard University, der nie im Leben auch nur davon geträumt hätte, etwas Illegales zu unternehmen, dem reinsten Wahrzeichen der Achtbarkeit – und dabei möglicherweise ein Spieler, ein Gauner war.

Drei Tage später sah Rydal den rosigen Amerikaner wieder. Er hatte ihn in der Zwischenzeit vergessen, oder falls ihm der Mann noch einmal in den Sinn gekommen war, so hatte er gedacht, er sei inzwischen weitergereist; aber dann, eines Mittags, lief er ihm im Benaki-Museum über den Weg, mitten bei den alten Trachten. Es war eine Frau bei ihm, eine junge, recht elegante Amerikanerin, die fast zu jung war, um wie seine Gattin auszusehen. Doch daran, wie der Mann sie immer wieder ebenso zärtlich wie besorgt am Ellenbogen berührte, an seiner gutgelaunten Art, umherzugehen und mit ihr zu plaudern, während sie mit sichtlichem Vergnügen die bestickten Röcke und Blusen der Puppen in den Schaukästen betrachtete, merkte Rydal, daß sie entweder verliebt oder frisch verheiratet waren. Der Mann trug seinen Hut in der Hand, und Rydal sah jetzt auch seinen ausgeprägten Hinterkopf, genau wie bei seinem Vater, und das Haar an den Schläfen war ebenso schütter wie das seines Vaters, verebbte wie Wasser entlang der Küstenlinie. Die Stimme war tief und kräftig, ein wenig gepreßter als die seines Vaters. Er schien leicht und gern zu lachen. Dann, nach rund fünf Minuten, sah die Frau Rydal ohne Umschweife an, und Rydal blieb einen Sekundenbruchteil lang das Herz stehen, dann pochte es rascher. Rydal schlug die Augen nieder und sah von ihr weg, blickte aber statt dessen auf den Mann, der sofort, als er ihn erkannte, die Stirn runzelte und überrascht den Mund offenstehen ließ. Rydal wandte sich ab, ging langsam auf einen Schaukasten mit juwelenbesetzten Dolchen und Krummsäbeln zu und beugte sich darüber.

Keine Minute später waren der Mann und die Frau verschwunden. Der Mann hatte sich bestimmt beschattet gefühlt. Rydal hatte ihn verunsichert, und am liebsten wäre er geradewegs ins King’s Palace Hotel hinübergegangen und hätte ihn in der Lobby abgepaßt, um ihm zu versichern, daß er nichts Böses im Schilde führe und keinerlei Absicht habe, ihm nachzustellen. Dann aber kam ihm das doch ein wenig übertrieben und auch irgendwie albern vor, also verwarf er den Gedanken. Er ging langsam durch das Museum und fühlte sich plötzlich allein, traurig und etwas entmutigt. Inzwischen wußte er, was ihn an der jungen Frau so fasziniert hatte, doch es beunruhigte und irritierte ihn, daß sein Herz es so lange vor seinem Verstand oder auch nur seiner Erinnerung erkannt hatte: Sie war ebenso sexy und verführerisch, besaß denselben sanften, etwas unbeholfenen Charme wie seine Cousine Agnes mit fünfzehn.

»Teufel auch«, sagte sich Rydal leise, während er einen breiten Boulevard entlangging. »Teufel auch«, zu niemand Bestimmtem und ohne dabei an jemand Speziellen zu denken.

Die Frau hatte blaue Augen gehabt, und die von Agnes waren braun. Agnes hatte dunkelbraunes, diese Frau dagegen eher rötliches Haar. Dennoch war da etwas. Was war es nur? Der Mund? Ja, ein bißchen. Vor allem aber war es ihr Blick gewesen, fand er. Er war seit damals nie wieder darauf hereingefallen, versicherte sich Rydal. Aber hatte er so einen Blick überhaupt je wiedergesehen? Nein. Also, es war doch wirklich merkwürdig: ein Mann, der aussah wie der Zwillingsbruder seines Vaters, in Begleitung einer Frau, die ihm Agnes ins Gedächtnis rief, so prompt und unmittelbar, als hätte man einen Lichtschalter angeknipst oder ihm das Herz mit einem Messer geöffnet. Es war jetzt zehn lange Jahre her. Er war erst fünfzehn gewesen. So vieles war geschehen in den zehn Jahren seit damals. Inzwischen sollte er doch ein reifer Mann geworden sein. Eine Bemerkung von Proust fiel ihm ein, wonach die Menschen in ihren Gefühlen niemals wirklich älter werden. Es war ein ziemlich beängstigender Gedanke.

An diesem Abend, bei Pans Geburtstagsfest im Haus seiner Familie in der Nähe der Bibliothek des Hadrian, trank Rydal ein paar Gläser mehr Ouzo, als ihm guttat, und mußte wieder an den Amerikaner mit der rosigen Gesichtsfarbe denken – an seinen Vater vor zwanzig Jahren –, wie er gerade mit der wohlgerundeten jungen Frau ins Bett ging, deren rötliches Haar und blaue Augen sich ständig in Agnes’ braunes Haar und braune Augen verwandelten. Aber die weichen roten Lippen waren dieselben. Auf der Party war Rydal schlecht gelaunt. Während der letzten Stunde gab er sich große Mühe, eine bissige Bemerkung Pans Freundin gegenüber wiedergutzumachen. Am nächsten Morgen erwachte er mit einem leichten Kater und schrieb ein vierzeiliges Gedicht über »den marmornen Genius« seiner Jugendliebe.

Am Montag fuhr er zum fünften oder sechsten Mal mit dem Bus nach Delphi und verbrachte dort den Tag.

Die Erinnerung an den Amerikaner mit den rosigen Wangen und seine Frau, die einen an Sex denken ließ, nagte immer noch an ihm. Er übertrieb die Ähnlichkeit bestimmt, vor allem die Ähnlichkeit der Frau mit Agnes. Er beschloß, er sollte die beiden noch einmal treffen und ihnen aus der Nähe ins Gesicht sehen, dann würde sicher etwas geschehen, der Bann wäre gebrochen, die Illusion verweht. Wenn er in ihrem Hotel nachfragte, würde er vermutlich herausfinden, daß sie Mr. und Mrs. Johnson aus Vincennes, Indiana waren, oder Mr. und Mrs. Smith aus St. Petersburg, Florida. Von den Keeners hätten sie noch nie im Leben gehört.

3

An seinem dritten Tag in Athen hatte Chester einen beruhigenden Brief von Bob Gambardella bekommen, seinem Mann in Milwaukee. Darin stand unter anderem:

Lieber Mac,

keine Neuigkeiten sind gute Neuigkeiten, und so stehen die Dinge hier. Sieben neue Anteilszeichner diese Woche, die Einnahmen angelegt wie üblich, abzüglich meiner Provision. Erwarte Deine Instruktionen zur bevorstehenden halbjährlichen Dividendenausschüttung bei Canadian Star …

Das bedeutete, daß Bob bislang keinen Ärger mit der Polizei bekommen hatte. Es war schon der zweite Brief von Bob, und in Paris hatte er einen von Vic bekommen, seinem Verkäufer in Dallas. Die Polizei war also weder an Vic noch an Bob herangetreten, um sie zu fragen, ob sie einen Howard Cheever oder einen William S. Haight oder, Gott bewahre, einen Chester MacFarland kannten. William S. Haight war der Name, den Chester auf die Dividendenschecks als Schatzmeister der Canadian Star Company, Inc. setzte. Sieben neue Anleger, das klang recht gut, dachte Chester, wenn man in Betracht zog, daß er Bob letzten Monat gebeten hatte, einstweilen keine weiteren Anstrengungen zu unternehmen. Von diesen sieben mußte Bob mindestens fünfzigtausend Dollar eingenommen haben, vielleicht sogar mehr. Die Anteilseigner bekamen Zertifikate zugeschickt, es wurden ihnen bescheidene, aber regelmäßige Summen als Dividenden ausgezahlt, und selbst wenn die Aktie es nie so recht auf den kanadischen Börsenzettel in den Zeitungen schaffte, weshalb sollten sich die Anteilseigner beklagen, solange sie ihre Dividende kassierten? Wenn Bob und Vic einen potentiellen Käufer überreden wollten, sagten sie immer, sie hätten eine ganz neue Firma für ihn, die erst in ein paar Monaten börsennotiert werden würde, dann aber wäre der Kurs der Aktie sicherlich schon explodiert. Genauso machten sie es bei Unimex, Valco-Tech, Universal Key – manchmal konnte Chester gar nicht alle im Kopf behalten. Dann und wann, wenn ein Aktienbesitzer ihm einen Brief mit zu vielen Fragen schrieb, wies Chester einen seiner Vertreter in Dallas, St. Louis oder San Francisco an, er solle den Mann anrufen, sie würden seine Anteile zurücknehmen, und zwar für mehr Geld, als sie ursprünglich gekostet hatten, und ihm außerdem den Mund nach einer neuen Aktie wäßrig machen. In neunzig Prozent der Fälle wollten die mißtrauischen Kandidaten ihre alten Wertpapiere dann doch lieber behalten und kauften die neuen dazu. Das Grundstück, auf dem die Aktien von Canadian Star basierten, existierte tatsächlich, nur war es herzlich wenig wert und enthielt aller Wahrscheinlichkeit nach nicht das geringste Uranvorkommen. Es lag oben im Norden von Kanada – Chester und seine Männer konnten jedem Kunden genau beschreiben, wo es auf der Landkarte zu finden war –, und sie ließen es immer so klingen, als würde das Uran dort nur so herausquellen, sobald die Geologen noch ein paar Berechnungen über den günstigsten Grabungsort angestellt hatten. In Wirklichkeit fand sich auf der Rückseite des Aktienzertifikats ein sehr klein gedruckter Satz tief unten im Text, der besagte, auf dem Grundstück würden »derzeit Probeschürfungen angestellt«, allerdings stand dort nicht, wonach. Jedenfalls konnte eine Aktiengesellschaft gewiß nicht für ihre Vorsätze und Hoffnungen vor Gericht gezogen werden, die natürlich darin bestanden, Uran zu finden.

Die Unimex Company war eine nicht existierende Offshore-Ölgesellschaft, deren Vorkommen sich angeblich nahe der texanisch-mexikanischen Grenze befanden. Die Firma hatte ihm über eine Million Dollar aus Aktien eingebracht, die er zu acht Dollar pro Stück angeboten hatte. Chester konnte dafür die von einem beglaubigten Buchprüfer gezeichnete Geschäftsbilanz vorweisen, die bescheinigte, daß die Vermögenswerte von Unimex sich auf über sechs Millionen Dollar beliefen, und er hatte sogar schon New Yorker Aktienhändler losgeschickt, um bestimmte Ölförderplattformen im Golf von Mexiko zu inspizieren, die allerdings anderen Besitzern gehörten. Ursprünglich hatte er eine sehr kleine verlassene Plattform gekauft, aber er behauptete, viele hundert Quadratkilometer ringsherum ebenfalls zu besitzen. Die Unimex und die Canadian Star waren inzwischen Chesters wichtigste Einkommensquellen.

Nach ein paar Tagen in Griechenland war Chester allmählich leichter ums Herz. Er genoß die fremdartigen Speisen in den Tavernen, die kleinen öligen Gerichte mit diesem und jenem darin, hinuntergespült mit Ouzo oder einem Wein, der meist beiden von ihnen nicht schmeckte, obwohl Chester die Flasche immer leerte. Colette hatte fünf Paar Schuhe gekauft und Chester sich einen Anzug aus englischem Tweed anfertigen lassen, was nur einen Bruchteil der Zeit gedauert und weniger als die Hälfte gekostet hatte, als wenn er zu Hause in den USA zum Schneider gegangen wäre. Dennoch blieb Chester seine nervöse Angewohnheit, sich in der Hotelhalle umzublicken, ob irgend jemand dort wie ein Polizist aussah. Er glaubte zwar nicht wirklich, daß sie ihm einen Fahnder nachschicken würden, aber das FBI konnte im Ausland bestimmt auf Amtshilfe der dortigen Polizei zählen. Sie brauchten nur ein Foto von ihm und die schriftlichen Aussagen einiger betrogener Kunden, dann könnten sie ohne weiteres über die Paßbehörden seinen derzeitigen Namen herausfinden.

In ihren sechs Tagen in Athen hatten Chester und Colette zweimal mit dem Guide Bleu in der Hand die Akropolis besichtigt, waren mit dem Bus zum Kap Sounion gefahren, um dort den Sonnenuntergang und Byrons berühmten Namenszug in einer der Marmorsäulen des verfallenen Poseidontempels zu bewundern, hatten die meisten Museen erkundet, waren einmal im Theater gewesen – nur zum Spaß, denn verstehen konnten sie von dem Stück kein Wort – und hatten Pläne für die Weiterreise durch den Rest des Landes geschmiedet. Als nächstes stand der Peloponnes auf dem Programm, mit Mykene und Korinth, wofür sie ein Auto mieten wollten, danach kamen Kreta und Rhodos. Dann zurück nach Paris für eine Woche oder zwei, bevor sie heimflogen. In New York besaßen sie keine Wohnung mehr, wollten auch nicht wieder in Manhattan wohnen, deshalb planten sie, entweder in Connecticut oder im Norden von Pennsylvania ein Haus zu kaufen.

Am Abend vor ihrer Abreise nach Korinth und Mykene ging Chester gegen sechs Uhr kurz aus dem Hotel, um eine Flasche Whiskey zu kaufen. Als er die Empfangshalle wieder betrat, fiel ihm ein dunkler Mann in grauem Mantel und Hut auf, der an einer der cremefarbenen Säulen lehnte, die Hände in den Manteltaschen. Er hatte buschige schwarze Augenbrauen, und Chester war zwar nicht sicher, daß ihn der Mann musterte, hatte aber stark das Gefühl. Chester blickte beiseite, sah sich rasch um und bemerkte dabei den jungen Mann in dem dunklen Mantel, den er schon zweimal gesehen hatte. Dieser stand in der Nähe der Tür und rauchte eine Zigarette. Polizisten, dachte Chester sofort. Daß er den Mann im grauen Mantel gleich registriert hatte, war reine Konditionierung; denn da er sich in den letzten Tagen so sicher gefühlt hatte, war ihm der übliche Rundblick beim Betreten der Halle langsam nicht mehr zur Regel geworden. Den jüngeren Mann hatte er allerdings schon immer im Verdacht gehabt, ein Polizist zu sein, und jetzt war er sich dessen sicher. Chester trat betont lässig an die Rezeption und sagte, was er zu sagen vorgehabt hatte: »Wir brechen morgen früh eher zeitig auf. Würden Sie uns bitte die Rechnung fertig machen, damit wir sie schon heute abend begleichen können? Das wäre für MacFarland in 621.« Unwillkürlich wurde seine Stimme bei »MacFarland« leiser, aber nur ein wenig.

Als Chester zum Fahrstuhl ging, setzte sich der ältere Mann in Bewegung und folgte ihm. Der Fahrstuhl kam an, die Tür öffnete sich, und da Chester näher stand, trat er als erster ein. Der Mann kam hinterher und nahm den Hut ab. Chester behielt seinen auf.

»Sechsten, bitte«, sagte Chester.

Der Liftboy sah den anderen Mann an.

»Sechster Stock«, sagte der Mann, ebenfalls auf englisch, aber mit Akzent.

Grieche, dachte Chester. Ihm wurde ein klein wenig wohler. Der Mann hatte eine massige, irgendwie semitische Nase, schwarz-graues Haar, und sein Gesicht war von Pockennarben übersät. Chester stieg im sechsten Stock aus, und der Mann folgte ihm. Chester wollte gerade an seine Zimmertür klopfen, da sagte der Mann: »Entschuldigen Sie. Sie sind, nehme ich an, Richard Donlevy?«

Der Name hieß für Chester Atlanta. Der Suwannee Club. »Nein«, sagte er emotionslos.

»Oder … Louis Ferguson?«

Das war Miami. Chester schüttelte den Kopf. »Tut mir leid.«

»Sie reisen mit Ihrer Gattin? Dürfte ich Sie beide einen Moment auf Ihrem Zimmer sprechen?«

»Weshalb? Was ist denn los?«

»Vielleicht gar nichts«, sagte der Mann und lächelte. »Ich bin von der griechischen Polizei. Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen.«

Chester sah sich die aufgeklappte Brieftasche an, die ihm der Mann entgegenhielt. Ein Klarsichtfenster zeigte eine echt aussehende Ausweiskarte voller griechischer Zeichen mit mehreren Unterschriften, in deren Mitte ein halbfetter Schriftzug auf englisch verkündete: GREEK NATIONAL POLICE. Wenn er sich weigerte, mit dem Mann zu reden, würde das die Dinge nur schlimmer machen, dachte Chester. »Also gut«, sagte er gleichgültig und klopfte an.

Die Tür öffnete sich sofort, aber nur einen Spaltbreit. Colette war im Morgenmantel.

»Entschuldige, Liebling«, sagte Chester. »Ich habe einen Herrn bei mir, der mich kurz sprechen möchte. Läßt du uns rein?«

»Aber natürlich«, sagte Colette, doch sie war ein wenig blaß geworden.

Sie gingen ins Zimmer. Colette schlang ihren Morgenmantel enger um sich und trat zurück an die Kommode.

Der griechische Polizist verbeugte sich kurz. »Madam, verzeihen Sie mein Eindringen.« Dann wandte er sich an Chester: »Darf ich fragen, unter welchem Namen Sie hier abgestiegen sind?«

Chester richtete sich auf und runzelte die Stirn. »Was soll das eigentlich? Welches Recht haben Sie, mich das zu fragen?«

Der Mann zog ein kleines Notizbuch aus der Manteltasche, öffnete es an einer bestimmten Stelle und hielt es Chester hin. »Sind das hier nicht Sie?«

Chesters Herz setzte kurz aus. Das Foto zeigte ihn, ein wenig verschwommen in der Vergrößerung, aber doch erkennbar: lachend und mit einem Longdrink in der Hand. Es stammte aus einem Gruppenfoto der Gäste bei einem Dinner im Suwannee Club vor etwa drei Jahren; damals war er Richard Donlevy gewesen, noch mit mehr Haaren auf dem Kopf und ohne Schnurrbart, und er hatte irgendwelche Aktien verkauft. Welche doch gleich? Er hatte es vergessen. Chester schüttelte den Kopf. »Das da bin nicht ich. Eine gewisse Ähnlichkeit sehe ich auch, aber … Ich weiß nicht, was Sie eigentlich von mir wollen.«

»Es geht um verschiedene – wie sagt man? – Investitionsangelegenheiten in den USA«, sagte der Polizist, der weiterhin ruhig und freundlich war. »Ich habe die Einzelheiten nicht bei mir, und selbst wenn ich sie wüßte, dürfte ich keine Auskunft darüber erteilen. Ich arbeite mit den amerikanischen Behörden zusammen, die vermuteten, daß Sie sich in Europa aufhalten.«

Eisige Panik durchfuhr Chester und ließ ihn auch nicht mehr ganz los. In den Staaten waren sie ihm also auf den Fersen. Irgendein Kunde hatte versucht, seine Aktien als Sicherheit zu hinterlegen oder etwas in der Art, und dabei erfahren, daß etwas faul war an ihnen. Oder vielleicht war er sogar doch wegen des Walkie Kar aufgeflogen. Er warf einen Blick zu Colette und sah, wie seine eigene Angst sich ihrem Gesichtsausdruck mitteilte, dann aber faßte sie sich wieder und lächelte ihn kurz an. »Aber Sie suchen doch nach jemandem mit einem ganz anderen Namen, haben Sie vorhin gesagt«, sagte Chester.

»Mit verschiedenen Namen. Das ist nicht so wichtig. Auf jeden Fall werden Sie bitte mit mir kommen, um einige Fragen zu beantworten, nicht wahr?« Der Mann fragte das mit einer Miene, als wäre er vollkommen sicher, daß Chester ihm folgen würde.

»Nein. Warum sollte ich? Sie irren sich einfach!« sagte Chester und zog seinen Mantel aus.

Colette trat vor, griff nach der Hand des Mannes, die das Notizbuch hielt, betrachtete das Foto und sagte dann: »Aber das ist doch nicht mein Mann.«

»Madam, unter welchem Namen sind Sie beide hier eingetragen? Ich kann das jederzeit selbst herausfinden, indem ich einfach unten anrufe und frage, wer in Zimmer 621 wohnt.«

Colette blickte ihn an und sagte mit ihrer hohen, jung klingenden Stimme: »Ich glaube nicht, daß Sie das etwas angeht.«

»Sie sollten wissen, daß ich bewaffnet bin. Ich würde Sie nur ungern mit gezogener Pistole abführen.« Die schwarzen Augenbrauen des Polizisten zogen sich fragend zusammen, während er Chester ansah.

Chester zuckte die Achseln und bewegte sich keinen Schritt. Er blickte sich jedoch suchend im Zimmer nach einem Gegenstand um, mit dem er sich verteidigen könnte.

Der Grieche ging schnellen Schrittes auf das Telefon zu.

Chester rannte in Richtung Badezimmer.

»Halt!« rief der Polizist. »Ich habe eine Pistole.«

Chester blickte sich zu dem Mann um, der die Waffe schwenkend hinter ihm herlief, und vertraute darauf, daß er sie nicht einsetzen würde. Er sprang auf den Rand der Badewanne und stemmte das Fenster nach oben. Es klemmte und bewegte sich nur wenige Zentimeter.

»Chester!« rief Colette.

Der Mann zerrte jetzt an Chesters Jackett, und Chester sah über die Schulter zurück, hob das linke Bein und trat nach hinten aus, in die Magengrube des anderen. Er stieg von der Badewanne hinunter, und bevor der Mann wieder aufrecht stand, versetzte er ihm einen Schlag in den Nacken. Der Mann knallte mit der Stirn gegen den Waschbeckenrand. Chester packte ihn am Haar und verpaßte ihm einen Kinnhaken, von dem sein Gegner in die Badewanne fiel. Er wollte ihn herausziehen, um einen neuerlichen Schlag auszuteilen, da merkte er, daß der Mann nicht mehr bei Bewußtsein war.

Chester stand mit geballten Fäusten da und keuchte.

»Um Himmels willen!« Colette stand in der Badezimmertür. »Alles in Ordnung, Liebling?«

Chester nickte. Er griff nach der Pistole des Polizisten, die auf dem Fliesenboden lag. Die Scherben eines umgestoßenen Glases waren überall verstreut. Chester trat nervös mit dem Schuh nach einem Glasstück.

»Ich kehre das gleich weg«, sagte Colette.

»Der Kerl muß hier verschwinden«, murmelte Chester, »bevor der andere Polizist – unten war nämlich noch einer …«

»Wirklich?« fragte Colette erschrocken. »Warte mal: auf den Balkon vielleicht?«

Vor ihren Fenstern verlief ein Balkon über die gesamte Breite des Hotels. »Nein. Der kommt in ein paar Minuten wieder zu sich. Ich muß mir was einfallen lassen. Pack bitte unsere Sachen, Liebes. Wir müssen noch heute abend hier weg.«

Colette streifte den Morgenmantel ab, stopfte ihn in einen Koffer und griff nach dem Rock ihres dunklen Kostüms, das über einer Stuhllehne hing.

»Ich hab’s!« sagte Chester und packte einen der schlaffen Arme des Mannes.

»Was?«

»Den Korridor hinunter gibt es eine Besenkammer.« Chester wuchtete sich den Körper über die Schulter. »Mit einer roten Lampe drüber. Hab sie neulich abends gefunden, als ich ein Klo gesucht hab, weil du in der Badewanne warst. Uff! Der Kerl ist wirklich schwer.« Chester wankte unter der Last durch das Zimmer. »Sieh doch mal draußen nach, ob irgendwer …«

Colette nickte und öffnete rasch die Tür ein paar Zentimeter weit. »Am Fahrstuhl steht jemand.«

»Verdammt«, sagte Chester und packte die Handgelenke des Mannes noch fester. »Womöglich kommt der hier wieder zu Bewußtsein, ehe ich …« Aber die Badewanne war hart, wurde Chester klar, und das Waschbecken ebenfalls. Der Kerl konnte ebensogut tot sein. Bei diesem Gedanken schwand Chesters Kraft, und er ließ den Mann sachte auf den Teppich sinken. Gerade wollte er Colette sagen, sie solle ihm einmal den Puls fühlen, da stieß sie hervor: »Jetzt geht’s. Kein Mensch zu sehen.«

Chester sammelte nochmals alle Kräfte und hob den Mann wieder auf. Tot oder lebendig, dachte er, die Besenkammer war der beste Platz. Falls er tot war … Nun, dann hatte ihn Chester jedenfalls nie gesehen. Jemand anders hatte ihn umgebracht. Der Mann hatte nie bei ihm angeklopft, kein Wort mit ihm geredet. Chester ging weiter auf die Tür mit dem kleinen roten Lämpchen darüber zu und betete, daß sie auch diesmal unverschlossen war.

In diesem Moment bog der andere Polizist direkt vor ihm um die Ecke und blieb überrascht im Korridor stehen. Chester starrte ihn wie gelähmt an. Der junge Mann hatte den Mund leicht geöffnet, und Chester sah den Beginn eines schmalen Lächelns – Zufriedenheit, Sarkasmus? Chester rechnete mit einer Waffe. Doch die rechte Hand hing leer herab, und in der linken hielt der junge Mann eine Zeitung. Er kam auf ihn zu.

»Wo bringen Sie ihn denn hin?« fragte Rydal mit einem raschen Blick den Korridor hinunter.

»Ich wollte …« Chester erschlaffte plötzlich, und die Last rutschte zu Boden. »In die Kammer da«, sagte Chester und deutete mit einer matten Geste auf die Tür mit dem roten Lämpchen.

Der junge Mann ließ die Zeitung fallen, bückte sich ohne Anstrengung, packte den Griechen unter den Schultern und begann, ihn zu der Besenkammer zu schleifen.

Chester sah regungslos zu.

»Hatte er nicht einen Hut?« fragte Rydal, und auf Chesters verstörtes Kopfnicken hin fügte er an: »Besser, Sie legen ihn dazu.«

Chester öffnete die Tür der Kammer – sie war nicht abgeschlossen –, dann rannte er zurück in sein Zimmer. Colette hatte den Riegel zurückgeschoben und stand unmittelbar hinter der Tür. »Liebes, hol mir seinen Hut. Er liegt da beim Telefon.«

Colette brachte den Hut vom Telefontischchen her und gab ihn Chester.

Der trottete durch den Korridor zurück. Die Tür unter dem roten Lämpchen stand halb offen, und er hörte das Scheppern von Eimern. »Hier.« Er reichte dem jungen Mann den Hut.

»Der Mann ist tot?« fragte Rydal.

»Ich weiß es nicht.«

»Meiner Meinung nach ja.« Mit leicht zitternden Händen leerte Rydal rasch den Tascheninhalt des Mannes, nahm ihm auch die Brieftasche ab, die hinten in der Hose steckte und mit einem Knopf gesichert war, und steckte alles ein. »Trug er eine Waffe? Er hatte ein Halfter umgeschnallt.«

»Die habe ich«, sagte Chester. Tot, dachte er, und seine Hände zuckten. Er sah zu, wie der junge Mann die Beine in den Raum hineinschob, damit die Tür zuging, und dann schloß sich diese Tür hinter dem ersten Menschen, den Chester jemals umgebracht hatte, einem Mann, der nun mit herabhängendem blutigem Kopf zwischen Putzeimern, Scheuerbürsten und schmutziggrauen Lappen saß.

Rydal zog Chester am Arm in Richtung seines Zimmers, dabei hob er im Vorbeigehen die Zeitung wieder auf.

Chester trommelte mit den Fingerspitzen gegen die Tür. Eigenartiges Verhalten für einen Polizisten, dachte er sich. Wollte der Mann den Hotelgästen den Anblick einer Leiche ersparen?

Colette öffnete und rang nach Luft.

Chester ging rasch hinein.

Rydal folgte ihm und begrüßte Colette mit einer automatischen leichten Verbeugung. Der Anblick von Blut war ihm unangenehm, und er fühlte sich benommen. »Ich … ich heiße Rydal Keener«, stellte er sich den beiden vor. »Sehr angenehm.«

»Ganz meinerseits«, murmelte Chester zur Erwiderung.

»Mein Mann hat in Notwehr zurückgeschlagen«, sagte Colette hastig und blickte Rydal dabei geradewegs an. »Ich habe gesehen, wie alles passiert ist.«

»Sag bitte gar nichts, Colette!« ermahnte sie Chester.

»Aber … gestatten Sie mir zu sagen«, begann Rydal und schämte sich für dieses geschwollene »Gestatten Sie«, kaum daß es ausgesprochen war, »daß ich nicht von der Polizei bin.«

»Nicht von der …? Aber warum …?« begann Chester.