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Ein alter Freund, eine neue Bedrohung – der Königsbastard ist zurück!
Fünfzehn Jahre sind seit dem schrecklichen Krieg der sechs Provinzen mit den Roten Korsaren vergangen, seitdem herrscht ein unsicherer Friede. Da verschwindet Prinz Pflichtgetreu kurz vor seiner Hochzeit mit einer Prinzessin der Roten Korsaren. Will er der Vermählung ausweichen, wie einige behaupten? Oder ist ihm etwas zugestoßen? Es gibt nur einen, der sich auf die gefahrvolle Suche nach ihm machen kann: Fitz der Bastard mit seinem Wolf Nachtauge. Doch der hat sich geschworen, nie wieder in die Intrigen des Königshofs verstrickt zu werden …
Dieses Buch ist bereits unter dem Titel »Der lohfarbene Mann« im Bastei-Lübbe Verlag erschienen.
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Seitenzahl: 1313
Buch
Fünfzehn Jahre sind seit dem schrecklichen Krieg der Sechs Provinzen mit den Roten Korsaren vergangen, seitdem herrscht ein unsicherer Friede. Da verschwindet Prinz Pflichtgetreu kurz vor seiner Hochzeit mit einer Prinzessin der Roten Korsaren. Will er der Vermählung ausweichen, wie einige behaupten? Oder ist ihm etwas zugestoßen? Es gibt nur einen, der sich auf die gefahrvolle Suche nach ihm machen kann: Fitz der Bastard mit seinem Wolf Nachtauge. Doch der hat sich geschworen, nie wieder in die Intrigen des Königshofs verstrickt zu werden …
Autorin
Robin Hobb wurde in Kalifornien geboren, zog jedoch mit neun Jahren nach Alaska. Nach ihrer Hochzeit zog sie mit ihrem Mann nach Kodiak, einer kleinen Insel an der Küste Alaskas. Im selben Jahr veröffentlichte sie ihre erste Kurzgeschichte. Seither war sie mit ihren Storys an zahlreichen preisgekrönten Anthologien beteiligt. Mit Die Gabe der Könige, dem Auftakt ihrer Serie um Fitz Chivalric Weitseher, gelang ihr der Durchbruch auf dem internationalen Fantasy-Markt. Ihre Bücher wurden seither millionenfach verkauft. Robin Hobb hat vier Kinder und lebt heute in Tacoma, Washington.
Die Chronik der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:
1. Die Gabe der Könige
2. Der Bruder des Wolfs
3. Der Erbe der Schatten
Das Erbe der Weitseher von Robin Hobb bei Penhaligon:
1. Diener der alten Macht
2. Prophet der sechs Provinzen
3. Beschützer der Drachen
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Robin Hobb
Diener der alten Macht
Das Erbe der Weitseher 1
Roman
Deutsch von Eva Bauche-Eppers
Für Ruth und ihre getreuen Stubentiger,Alexander und Crusades
Karte
Kapitel 1
CHADEIRRSTERN
Ist Zeit das Rad, das sich dreht, oder die Spur, die es in die Erde gräbt?
KELSTARSRÄTSEL
Er kam in einem späten, verregneten Frühling und brachte mir die große weite Welt zurück. Ich war fünfunddreißig in jenem Jahr. Mit zwanzig wäre mir ein Mann in meinem jetzigen Alter als Greis erschienen, verbraucht, nur mehr einen Schritt vom Rand des Grabes entfernt. Dieser Tage empfinde ich mich weder als jung noch als alt, sondern wie in der Schwebe dazwischen. Man kann sich nicht länger mit jugendlicher Einfalt entschuldigen und sich noch nicht auf die Torheit des Alters berufen. In vielerlei Hinsicht wusste ich nicht mehr genau, welches Bild ich von mir selbst haben sollte. Manchmal kam es mir vor, als ob mein Leben allmählich hinter mir verblasste wie Fußspuren im Regen, bis ich womöglich schon immer dieser stille Mann gewesen war, der in einer Hütte zwischen dem Wald und dem Meer ein nicht weiter bemerkenswertes Dasein fristete.
Ich lag im Bett an dem fraglichen Morgen und lauschte auf die kleinen Geräusche, die manchmal die Macht hatten, mir innere Ruhe zu schenken. Der Wolf atmete gleichmäßig vor dem leise knisternden Herdfeuer. Ich spürte mit der uns beiden eigenen Gabe nach ihm und berührte sacht sein schlummerndes Bewusstsein. Er träumte davon, mit einem Rudel über schneebedeckte, wellige Hügel zu laufen. Für Nachtauge war es eine Vision aus Stille, Kälte und Bewegung. Behutsam zog ich mich zurück und überließ ihn der Harmonie seines Traumgesichts.
Vor meinem kleinen Fenster schmetterten die zurückgekehrten Zugvögel sich ihre Herausforderungen entgegen. Es wehte ein leichter Wind, und jedes Mal, wenn er durch die Zweige strich, prasselte ein losgeschüttelter Tropfenhagel des Regens der vergangenen Nacht auf die durchweichte Erde. Die Bäume waren Silberbirken, vier an der Zahl. Als ich sie einpflanzte, vor Jahren, waren sie kaum mehr als Stecklinge gewesen, und nun warf ihr zartes Laub einen angenehmen, luftigen Schatten um das Fenster meiner Schlafkammer. Ich schloss die Augen und glaubte das Lichtgeflimmer auf den Lidern zu spüren. Noch etwas liegen bleiben, nur eine kleine Weile.
Ich hatte einen schlimmen Abend gehabt, eine schlimme Nacht, und mich ohne Beistand hindurchkämpfen müssen. Mein Ziehsohn, Harm, war vor fast drei Wochen mit Merle auf die fröhliche Walz gegangen und noch nicht wiedergekommen. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Mein ruhiges, zurückgezogenes Leben lag beengend um seine jungen Schultern. Merles Geschichten vom Leben auf der Bocksburg, ausgemalt mit aller Kunst der fahrenden Sängerin, schufen Bilder in seiner Fantasie, deren bunte Verlockung ihn überwältigte. Also hatte ich zögernd eingewilligt, dass er sie nach Bocksburg begleitete, sodass er dort das Frühlingsfest mitfeiern, einen mit Carrissamen bestreuten Kuchen essen, dem Puppenspieler zusehen und vielleicht, wenn er Glück hatte, ein Mädchen küssen konnte. Harm war dem Alter entwachsen, wo regelmäßige Mahlzeiten und eine warme Schlafstatt genügten, um ihn zufriedenzustellen. Schon länger hatte ich mir gesagt, es wäre an der Zeit, ihn ziehen zu lassen, ihn bei einem tüchtigen Tischler oder Zimmermann in die Lehre zu geben. Er zeigte Geschick im Arbeiten mit Holz, und je früher man ein Gewerbe angeht, desto besser lernt man es. Doch noch war ich nicht bereit, auf ihn zu verzichten. Wie auch immer, vorerst durfte ich einen Monat der Ruhe und Einsamkeit genießen und mich bequemen, Dinge selbst zu tun, die sonst für mich getan wurden. Nachtauge und ich hatten einander zur Gesellschaft. Was brauchten wir mehr?
Doch kaum waren sie fort, da schien mir das kleine Haus zu still. Die Begeisterung des Jungen beim Aufbruch hatte mir lebhaft die Frühlingsfeste meiner eigenen Jugend ins Gedächtnis gerufen. Puppentheater und Carrissamenkuchen und Mädchen zum Küssen weckten Erinnerungen, die ich begraben geglaubt hatte. Vielleicht waren die quälenden Träume eine Folge davon. Zweimal war ich schweißgebadet und zitternd erwacht, mit verkrampften Gliedern. Lange war ich von diesen Heimsuchungen verschont geblieben, doch in den letzten vier Jahren war mein altes Übel wieder aufgelebt, kam und ging ohne erkennbares Muster, fast, als hätte die Gabe sich plötzlich meiner erinnert und griffe nach mir, um mich aus meiner friedlichen Idylle zu reißen. Tage, die glatt und gleichförmig einander gefolgt waren wie Perlen auf einer Schnur, wurden nun von ihrem Drängen gestört. Manchmal fraß der Gabenhunger an mir, wie ein Geschwür gesundes Fleisch verzehrt. Dann wieder erschöpfte er sich in ein paar Nächten mit sehnsuchtsvollen, lebendigen Träumen. Mit Harm als Ablenkung und Gesellschaft wäre es mir vielleicht möglich gewesen, dem unablässigen Drängen der Gabe zu widerstehen, doch allein, ohne Ablenkung, hatte ich am gestrigen Abend dem ungestillten Verlangen nachgegeben, das von solchen Träumen aufgestört wurde. Ich war hinuntergegangen zu den Klippen am Meer, hatte mich auf die Bank gesetzt, von Harm für mich gezimmert, und die Gabe wie eine suchende Hand über die Wellen gestreckt. Der Wolf hatte eine Zeitlang neben mir gesessen, einen alten Vorwurf im Blick. Ich bemühte mich, ihn zu ignorieren. »Auch nicht schlimmer als deine Marotte, Stachelschweine zu ärgern«, gab ich ihm zu bedenken.
Nur, dass man deren Stacheln herausziehen kann. Was dich sticht, bohrt sich immer tiefer hinein und eitert. Seine wachen Augen schauten an meinen vorbei, während er mir ohne falsche Rücksicht seine Meinung übermittelte.
Warum gehst du nicht Kaninchen jagen?
Du hast den Jungen und seinen Bogen fortgeschickt.
Du könntest selbst eins fangen. Wie früher.
Früher haben wir gemeinsam gejagt. Warum tun wir nicht das, statt dieses fruchtlosen Suchens? Wann wirst du begreifen, dass da draußen keiner ist, der dich hören kann?
Ich muss es eben … versuchen.
Warum? Genügt dir meine Gesellschaft nicht?
Doch, sie genügt mir bei weitem. Sie hat mir immer genügt. Ich öffnete mich weiter der Alten Macht, die wir beide teilten, und versuchte ihn fühlen zu lassen, wie die Gabe an mir zerrte. Es ist die Magie, die will, dass ich sie gebrauche, nicht ich.
Tu es weg. Ich will das nicht sehen. Und als ich diesen Teil meines Selbst vor ihm verschlossen hatte, fragte er bekümmert: Wird sie uns nie in Ruhe lassen?
Ich konnte ihm keine Antwort geben. Nach einer Weile legte der Wolf sich hin, bettete den großen Schädel auf seine Pfoten und machte die Augen zu. Ich wusste, er würde bei mir bleiben, weil er Angst um mich hatte. Zweimal im vorletzten Winter hatte ich im Übermaß von der Gabe Gebrauch gemacht und in diesem mentalen Prozess die Kraft meines Körpers verbrannt, bis ich nicht einmal mehr in der Lage gewesen war, mich zum Haus zurückzuschleppen. Beide Male hatte Nachtauge Harm holen müssen. Diesmal waren wir allein.
Dabei wusste ich, mein Tun war dumm und sinnlos. Wusste gleichzeitig, ich konnte es nicht lassen. Wie ein Hungers Sterbender, der Gras isst, um die heulende Leere in seinem Bauch zu füllen, so griff ich mit der Gabe hinaus, berührte die Leben innerhalb meiner Reichweite. Ich konnte ihre Gedanken spüren und vorübergehend das mächtige Verlangen stillen, meine Leere füllen. Ich hatte Teil am Tun der Fischersfamilie, die draußen auf dem Meer bei starkem Wind ihre Netze auswarf. Ich teilte flüchtig die Bedenken eines Kapitäns, dessen Fracht um ein Weniges schwerer war, als sein Schiff gefahrlos tragen konnte. Die Maatin auf demselben Schiff sorgte sich wegen des Mannes, den ihre Tochter heiraten wollte; ein Nichtsnutz war er, trotz seiner schönen Worte. Der Schiffsjunge verfluchte sein Pech, dass sie wieder einmal zu spät nach Burgstadt kamen, um beim Frühlingsfest mitzufeiern. Wenn sie endlich einliefen, war der Spaß vorbei, und in der Gosse lagen nur noch welke Girlanden. Immer passierte ihm das.
Diese Erfahrungen aus zweiter Hand stellten eine kümmerliche Ablenkung dar. Sie machten mir bewusst, dass die Welt größer war als die vier Wände meines Hauses, größer sogar als die Fläche meines Gartens, doch es war nicht dasselbe wie der wahre Gebrauch der Gabe, in keiner Weise vergleichbar mit diesem Augenblick des Einsseins, wenn Bewusstseine verschmolzen und man die Welt als ein großes Ganzes erfuhr, in welchem der eigene Körper nicht mehr war als ein Körnchen Staub.
Die energischen Zähne des Wolfs am Handgelenk brachten mich jäh zurück von meinem Nachspüren in der Ferne. Komm jetzt. Das ist genug. Wenn dich hier unten die Kräfte verlassen, hast du eine feuchte Nacht vor dir. Ich bin nicht der Junge, dass ich dich auf die Füße stellen kann. Also komm jetzt.
Als ich aufstand, wurde mir für einen Moment schwarz vor Augen. Diese Schwärze verging wieder, nicht aber der Schatten auf meiner Seele. Ich war hinter dem Wolf durch die tiefer werdende Dunkelheit unter den tropfenden Bäumen gestapft, zurück zum Haus, wo das Feuer im Kamin niedergebrannt war und die Kerzen auf dem Tisch dem Erlöschen entgegenflackerten. Ich braute mir Tee aus Elfenrinde, schwarz und gallenbitter. Er würde meinen Geist noch mehr verdüstern, doch er linderte auch die wütenden Schmerzen in meinem Kopf. Ich hatte die aufputschende Wirkung der Elfenrinde zur Arbeit an einer Beschreibung des Steinespiels und seiner Spielregeln genutzt. Es war nicht mein erster Versuch, und jedes Mal hatte ich das Unterfangen als hoffnungslos aufgegeben. Man kann es nur lernen, indem man es spielt, sagte ich mir. Diesmal ergänzte ich den Text um eine Reihe von Zeichnungen, die veranschaulichen sollten, wie ein typisches Spiel sich entwickelte. Als ich kurz vor dem Morgengrauen die Blätter beiseiteschob, erschien mir das Geleistete wie der dümmste meiner jüngsten Versuche. Man konnte nicht mehr sagen, ich ging spät zu Bett, es war eher früh.
Als ich erwachte, war bereits der halbe Vormittag um. In der hinteren Ecke des Hofes scharrten und gackerten die Hühner. Der Hahn krähte einmal. Ich stöhnte. Die Arbeit rief. Mein Gewissen sagte mir, es war Zeit, die Eier einzusammeln und eine Handvoll Körner auszustreuen, um das Federvieh bei Laune zu halten. Im Garten grünte alles um die Wette; das Unkraut schrie danach, gejätet zu werden. Und hatte ich mir nicht vorgenommen, die Reihe Fesk nachzusäen, die die Schnecken gefressen hatten, und noch einen Vorrat Purpurbanner zu sammeln, solange es blühte? Mein letzter Versuch, Tinte daraus herzustellen, war fehlgeschlagen, aber ich wollte es noch einmal probieren. Holz wartete darauf, gehackt und gestapelt zu werden, Haferbrei wollte gekocht sein, der Kamin gefegt. Zu guter Letzt war da die Esche neben dem Hühnerhaus, wo der geknickte Ast abgesägt werden musste, bevor er beim nächsten Sturm auf den Stall genau darunter fiel.
Und wir sollten zum Bach hinuntergehen und schauen, ob die Fische schon wandern. Frischer Fisch wäre gut. Nachtauge fügte seine eigenen Pläne meiner gedanklichen Liste von Erledigungen hinzu.
Letztes Jahr wärst du an verdorbenem Fisch fast gestorben.
Erst recht ein Grund, sich jetzt an ihnen zu laben, wo sie frisch sind und springen. Du könntest den Speer des Jungen nehmen.
Und triefnass werden und frieren.
Lieber triefnass und durchgefroren als hungrig.
Ich drehte mich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Na und? Gönnte ich mir eben einen faulen Tag. Wer merkte und wen kümmerte es? Die Hühner? Ich konnte gerade erst die Augen zugemacht haben, als seine Gedanken mich anstießen.
Wach auf, Bruder. Ein fremdes Pferd kommt.
Augenblicklich war ich munter. Am Winkel der Lichtstrahlen, die ins Zimmer fielen, konnte ich erkennen, dass Stunden vergangen waren. Ich stand auf, zog mir den Kittel über, legte den Gürtel um und schlüpfte in meine Sommerschuhe: eigentlich nur Ledersohlen mit ein paar Riemen, um sie an den Füßen zu halten. Ich strich mir das Haar aus dem Gesicht und rieb mir die brennenden Augen. »Sieh nach, wer es ist«, forderte ich den Wolf auf.
Nicht mehr nötig. Er ist fast an der Tür.
Ich erwartete niemanden. Merle kam drei- oder viermal im Jahr auf einige Tage zu Besuch und brachte mir Neuigkeiten, feines Schreibpapier und guten Wein, aber sie und Harm würden nicht jetzt schon, so bald, von der Bocksburg zurückkehren. Andere Besucher waren rar. Es gab Baylor mit seiner Kate und seinen Schweinen im Nachbartal, aber er besaß kein Pferd. Jedes halbe Jahr kam ein Kesselflicker. Beim ersten Mal hatte er sich buchstäblich zu mir verirrt, in einem Gewitter, als sein Pferd anfing zu lahmen und er mein Licht zwischen den Bäumen hindurchschimmern sah. Seither fanden öfter Reisende ähnlicher Art den Weg zu mir. Der Kesselflicker hatte eine zusammengerollte Katze, das Symbol für ein gastliches Haus, in einen Baum neben dem Pfad zu meiner Hütte geritzt. Ich hatte das Zeichen entdeckt, aber belassen, denn ein Besucher ab und an war durchaus willkommen.
Vermutlich war auch dieser Fremde ein verirrter Reisender oder ein wegmüder Händler. Ich sagte mir, ein neues Gesicht und ein wenig Unterhaltung wären nicht schlecht, konnte mich aber selbst nicht recht überzeugen.
Ich hörte das Pferd draußen stehen bleiben und die leisen Geräusche eines Reiters, der aus dem Sattel stieg.
Es ist der Graue. Der Wolf knurrte.
Fast blieb mir das Herz stehen. Ich öffnete langsam die Tür, gerade als der alte Mann die Hand hob, um anzuklopfen. Er schaute mich an, dann brach sein Lächeln hervor. »Fitz, mein Junge. Ach, Fitz!«
Er streckte die Arme aus. Einen Moment lang war ich wie gelähmt, unfähig, mich zu rühren. Ich wusste nicht, was ich fühlte. Dass der alte Mann mich aufgespürt hatte, nach all den Jahren, war erschreckend. Er musste einen Grund haben, etwas anderes als nur den Wunsch, mich wiederzusehen. Doch ich spürte auch eine Regung der alten Vertrautheit, das Aufflackern von Neugier, das Chade von jeher in mir ausgelöst hatte. Als ich ein Knabe auf der Bocksburg gewesen war, kam sein verstohlener Ruf des Nachts und forderte mich auf, die geheime Treppe zu seinem Reich in dem Turm über meiner Kammer hinaufzusteigen. Dort mischte er seine Gifte und lehrte mich das Geschäft des Meuchelmörders und machte mich unwiderruflich zu seinem Geschöpf. Stets hatte mein Herz schneller geklopft, wenn die geheime Tür aufsprang. Trotz der vielen Jahre und der Schmerzen an Leib und Seele hatte er immer noch diese Wirkung auf mich. Geheimnisse und die Aussicht auf Abenteuer umgaben ihn.
So konnte es nicht anders sein, als dass ich seine gebeugten Schultern umfasste und ihn an mich zog. Haut und Knochen. Der alte Mann war nur noch Haut und Knochen, fast so mager wie in meiner Erinnerung an unsere erste Begegnung. Diesmal aber war ich der Eremit in dem zerschlissenen Gewand aus grauer Wolle. Ihn hingegen schmückten eine königsblaue Hose und ein Wams in der gleichen Farbe, aber mit unterfütterten Schlitzen in einem Grün, das seinen Augen Tiefe verlieh. Seine Reitstiefel waren aus schwarzem Leder, die weichen Handschuhe ebenfalls. Der grüne Umhang hatte die Farbe der Einsätze in seinem Wams und war mit Pelz verbrämt. An Kragen und Manschetten schäumten weiße Spitzen. Die vielen Narben, die ihn einst dazu gebracht hatten, sich schamvoll vor den Augen der Welt zu verbergen, waren zu hellen Flecken in seinem wettergegerbten Gesicht verblasst. Das weiße Haar hing offen auf seine Schultern und war oberhalb der Stirn zu Locken gedreht. Seine Ohrringe waren mit Smaragden besetzt, und ein einzelner Stein blinkte in der Mitte des Goldreifs an seinem Hals.
Mit einem ironischen Lächeln ließ der alte Assassine meine Musterung über sich ergehen. »Schon gut, Fitz, aber ein Ratgeber der Königin muss seiner Stellung entsprechend auftreten, wenn ihm der Respekt entgegengebracht werden soll, der einem Kanzler Ihrer Majestät gebührt.«
»Aha.« Ich besann mich auf meine Pflichten als Gastgeber. »Tritt ein, tritt ein. Ich fürchte, mein Heim ist ein wenig bescheidener als das, woran du dich gewöhnt zu haben scheinst, aber dennoch bist du von Herzen willkommen.«
»Ich bin nicht hier, um an deinem Zuhause herumzukritteln, Junge, ich bin hier, um dich zu sehen.«
»Junge?«, fragte ich lächelnd und ließ ihn an mir vorbei durch die Tür treten.
»Nun ja. Für mich immer, wahrscheinlich. Es ist einer der Vorteile des Alters, dass ich jedermann anreden kann, wie es mir beliebt, und keiner wagt, sich zu beschweren. Ach, da ist immer noch der Wolf, wie ich sehe. Nachtauge, richtig? Etwas in die Jahre gekommen, an das Weiß um die Schnauze erinnere ich mich nicht. Komm her, du bist ein braver Bursche. Fitz, macht es dir etwas aus, mein Pferd zu versorgen? Ich habe den ganzen Vormittag im Sattel gesessen, und mein Quartier letzte Nacht war einfach scheußlich. Ich bin ein wenig steif. Und bring bitte die Satteltaschen mit, sei so gut.«
Er bückte sich, um den Wolf zu kraulen, mit dem Rücken zu mir, überzeugt, dass ich seiner Bitte nachkommen würde. Und ich grinste und tat es. Die Rappstute, die er ritt, war ein großartiges Tier, freundlich und fügsam. Es macht immer Vergnügen, sich um ein Tier dieser Klasse zu kümmern. Ich gab ihr Wasser, eine Portion vom Körnerfutter für die Hühner und brachte sie auf die verwaiste Koppel des Ponys. Die Satteltaschen, mit denen ich zum Haus zurückging, waren schwer, und eine gluckerte vielversprechend.
Ich fand Chade in meiner Klause, an meinem Schreibtisch, wo er in meinen Papieren stöberte, als wären es seine. »Ah, du hast sie mitgebracht. Dank dir, Fitz. Das hier, das ist eine Anleitung für das Steinspiel, richtig? Das Krähe dir beigebracht hat, um deine Gedanken von der Gabenstraße abzulenken? Faszinierend. Ich würde sie gern haben, wenn du damit fertig bist.«
»Wenn du Wert darauf legst.« Mich überkam ein flüchtiges Unbehagen. Er warf mit Worten und Namen um sich, die ich begraben hatte, um nie wieder daran zu rühren. Krähe. Die Gabenstraße. Ich schob sie zurück in die Vergangenheit. »Der Name ist nicht mehr Fitz«, sagte ich leichthin. »Hier bin ich Tom Dachsenbless.«
»Ach ja?«
Ich zwirbelte die weiße Haarsträhne über der Narbe an meiner Stirn. »Deswegen. Die Leute merken sich den Namen. Ich erzähle ihnen, ich hätte die weiße Strähne von Geburt an, und meine Eltern hätten mich danach benannt.«
»Verstehe«, erwiderte er ausdruckslos. »Nun, es entbehrt nicht einer gewissen Logik und scheint vernünftig.« Er lehnte sich zurück. Der alte Holzstuhl knarrte. »Ich habe etwas Seelentrost mitgebracht, wenn du die Becher spendierst. Außerdem ein paar von Saras Ingwerkuchen … Ich wette, du hast nicht erwartet, dass ich noch weiß, wie du dahinterher gewesen bist. Wahrscheinlich sind sie etwas zerdrückt, aber das tut dem Geschmack keinen Abbruch.« Nachtauge hatte sich bereits aufgerichtet. Er kam heran und legte die Nase auf die Tischkante. Sie zeigte schnurstracks auf die Satteltaschen.
»Dann ist Sara immer noch Köchin auf Bocksburg?«, fragte ich, während ich nach zwei vorzeigbaren Bechern suchte. Eigentlich störte mich angeschlagenes Geschirr nicht, aber plötzlich war es mir peinlich, Chade so etwas hinzustellen.
Chade stand vom Schreibtisch auf und kam zu mir in die Küche. »Nur sporadisch. Ihre alten Füße schmerzen, wenn sie zu lange steht. Sie hat sich einen großen Polsterstuhl auf ein Podium in einer Ecke der Küche stellen lassen. Von dort führt sie das Regiment. Sie bereitet die Speisen zu, an denen sie Spaß hat, die raffinierten Pasteten, die Gewürzkuchen und das Konfekt. Ein junger Mann namens Flammeri erledigt den Großteil der alltäglichen Kocherei.« Beim Reden packte er die Satteltaschen aus. Er stellte zwei Flaschen mit dem Siegel der Brennereien aus Sandsegge auf den Tisch. Ich konnte mich nicht erinnern, wann mir das letzte Mal ein so guter Tropfen durch die Kehle geronnen war. Die Ingwerkuchen – etwas zerdrückt, wie prophezeit – kamen zum Vorschein. Aus dem Leinentuch, in das sie eingeschlagen waren, rieselten Krümel. Der Wolf schnaufte tief, dann fing er an zu sabbern. »Auch sein Lieblingsgebäck, wie ich sehe«, bemerkte Chade trocken und warf ihm einen der Kuchen zu. Der Wolf fing ihn geschickt mit den Zähnen auf und trug ihn zum Kaminvorleger, um ihn dort in Ruhe zu verspeisen.
Die Satteltaschen gaben in schneller Folge ihre übrigen Schätze preis. Ein Paket feinstes Schreibpapier, Fässchen mit blauen, roten und grünen Tinten. Eine dicke Ingwerwurzel mit knospenden Trieben, genau richtig, um für den Sommer eingetopft zu werden. Päckchen mit Kräutern. Ein seltener Luxus für mich: ein runder, reifer Käse. Und in einer hölzernen Schatulle andere Kleinigkeiten, bestürzend fremd in ihrer Vertrautheit. Habseligkeiten von einst, mit deren Verlust ich mich abgefunden hatte. Der Ring von Prinz Rurisk aus dem Königreich in den Bergen. Die Pfeilspitze, die des Prinzen Brust durchbohrt und ihn beinahe getötet hatte. Ein kleiner geschnitzter Kasten, vor vielen Jahren von mir selbst gefertigt, als Behälter für meine Gifte. Ich machte ihn auf. Er war leer. Ich klappte den Deckel wieder zu und stellte ihn auf den Tisch. Darüber hinweg musterte ich Chade. Er war nicht einfach ein alter Mann, der kam, um mich zu besuchen. Er zog meine gesamte Vergangenheit hinter sich her, wie die bestickte Schleppe einer Dame in den Tanzsaal folgt. Als ich ihm die Tür öffnete, hatte ich meine alte Welt mit eingelassen.
»Warum?«, fragte ich leise. »Warum, nach so vielen Jahren, hast du mich gesucht?«
»Nun ja …« Chade zog einen Stuhl heran und ließ sich seufzend darauf nieder. Er entkorkte eine Flasche und schenkte uns ein. »Aus vielerlei Gründen. Ich sah Merle mit deinem Zögling. Ich wusste sofort, wer er war. Nicht dass er dir ähnlich sieht, ebenso wenig wie Nessel Burrich ähnelt. Doch er hat dein Gehabe, deine Art zu zögern und sich eine Sache zu betrachten, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, bevor er beschließt, ob er sich darauf einlassen will. Er hat mich so sehr an dich erinnert, als du in seinem Alter warst, dass …«
»Du hast Nessel gesehen«, unterbrach ich ihn ruhig. Es war keine Frage.
»Selbstverständlich«, antwortete er ebenso ruhig. »Soll ich dir von ihr erzählen?«
Ich wagte nicht zu sprechen. Vorsicht, mir zur zweiten Natur geworden, warnte mich davor, ein zu großes Interesse an ihr zu bekunden. Dem entgegen sagte mir eine Ahnung, dass Nessel, meine Tochter, die ich nie gesehen hatte, außer in Visionen, der Anlass war, der Chade zu mir führte. Ich senkte den Blick auf meinen Becher und erwog die Vorzüge von Branntwein zum Frühstück. Dann dachte ich wieder an Nessel, Bastardtochter eines Bastards, die ich gegen meinen Willen schon vor ihrer Geburt im Stich gelassen hatte. Ich nahm einen Schluck. Ich hatte vergessen, wie weich der Odevie aus Sandsegge war. Seine Wärme durchströmte mich so schnell und süß wie jugendliche Lust.
Chade ließ Gnade walten und zwang mich nicht, meinen Wunsch auszusprechen. »Sie sieht dir sehr ähnlich, auf eine schlaksige, mädchenhafte Art«, sagte er und lächelte, als er sah, wie ich das Gesicht verzog. »Merkwürdigerweise hat sie noch mehr Ähnlichkeit mit Burrich. Bei ihr finden sich mehr von seinen typischen Gesten und seiner Art zu sprechen als bei irgendeinem seiner fünf Söhne.«
»Fünf!«, entfuhr es mir überrascht.
Chade grinste. »Fünf Jungen, und alle begegnen ihrem Vater mit so viel Respekt und Ehrerbietung, wie ein Mann es sich nur wünschen kann. Ganz anders als Nessel. Sie gibt Burrich seinen eigenen finsteren Blick zurück, wenn er ihr gegenüber den strengen Vater herauskehrt. Was selten vorkommt. Ich will nicht sagen, dass sie sein Liebling ist, aber sie erobert sich einen größeren Platz in seinem Herzen, indem sie ihm die Stirn bietet, als die Buben mit ihrem achtungsvollen Gehorsam. Sie hat Burrichs Ungeduld und seinen untrüglichen Sinn für Recht und Unrecht. Zudem deine ganze Sturheit, aber vielleicht hat sie die ebenfalls von Burrich gelernt.«
»Dann hast du auch mit Burrich gesprochen?« Er hatte mich großgezogen, und nun wuchs meine Tochter bei ihm auf wie sein eigenes Kind. Ihm zur Seite stand die Frau, die ich, so musste es nach außen erscheinen, im Stich gelassen hatte. Beide hielten mich für tot. Ihr Leben war ohne mich weitergegangen. Von ihnen zu hören vermischte Schmerz mit Zärtlichkeit. Ich spülte den Geschmack mit einem Schluck Sandsegger hinunter.
»Es ist unmöglich, Nessel zu sehen ohne Burrich als Dreingabe. Er wacht über sie, nun ja, wie ihr Vater. Es geht ihm gut. Sein Hinken ist mit den Jahren nicht besser geworden, doch er ist selten zu Fuß unterwegs, daher scheint es ihn nicht sehr zu stören. Seine Leidenschaft sind Pferde, immer Pferde, wie von jeher.« Er räusperte sich. »Du weißt, dass die Königin und ich veranlasst haben, dass ihm die Fohlen von Rötel und Rußflocke übergeben wurden? Mit diesen beiden hat er sich seine Existenz aufgebaut. Die Stute, die du abgesattelt hast, Glosel, habe ich von ihm bekommen. Er züchtet nicht nur, sondern bildet Pferde aus. Er wird nie ein reicher Mann sein, denn sobald er einen Kuranten übrig hat, gibt er ihn für ein neues Pferd oder eine neue Parzelle Weideland aus. Doch als ich ihn fragte, wie er zurechtkommt, antwortete er: ›Wir sind zufrieden.‹«
»Und was hat Burrich zu deinem Besuch gemeint?«, erkundigte ich mich. Ich war stolz darauf, dass meiner Stimme nichts von meinem inneren Aufruhr anzumerken war.
Chade grinste wieder, aber ein wenig schief diesmal. »Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, war er höchst liebenswürdig und gastfreundlich. Als er mich am nächsten Morgen zu meinem Pferd hinausbegleitete, das einer der Zwillinge, Nim, glaube ich, für mich gesattelt hatte, versicherte er mir in aller Freundschaft, dass er mich töten würde, bevor er irgendeine Einmischung bei Nessel duldete. Ich zweifelte nicht an dem Ernst seiner Worte, also brauche ich sie nicht noch einmal aus deinem Mund zu hören.«
»Weiß sie, dass Burrich nicht ihr Vater ist? Weiß sie von mir? Dass es mich gibt?« Fragen über Fragen drängten sich mir auf die Zunge; ich schluckte sie hinunter. Ich hasste den Eifer, mit dem ich diese beiden gestellt hatte, aber ich konnte nichts dafür. Es war wie der Gabenhunger, diese Gier zu wissen, diese Dinge endlich zu wissen, nach all der langen Zeit.
Chade schaute mich von der Seite an und nippte an seinem Becher. »Ich weiß nicht. Sie nennt ihn Papa. Sie liebt ihn mit aller Inbrunst, ohne Wenn und Aber. Oh, sie streiten auch, aber dabei handelt es sich mehr um die üblichen Meinungsverschiedenheiten als um Burrich selbst. Ich fürchte, die Beziehung zu ihrer Mutter ist um einiges stürmischer. Nessel zeigt kein Interesse an Bienen oder Kerzen; Molly sähe aber gern, dass die Tochter bei ihr in die Lehre geht. Dickköpfig wie Nessel ist, glaube ich, dass Molly sich stattdessen mit einem Sohn oder zweien als Nachfolgern wird zufriedengeben müssen.« Er richtete den Blick aus dem Fenster. »Dein Name wurde in Nessels Beisein nicht erwähnt.«
Ich drehte den Becher zwischen den Händen. »Was für Dinge interessieren sie?«
»Pferde. Falken. Schwerter. Bei einem Mädchen von fünfzehn Jahren hätte ich ein wenig Geschnatter über junge Männer erwartet, aber dafür scheint sie nichts übrigzuhaben. Mag sein, die Frau in ihr ist noch nicht erwacht, oder sie hat zu viele Brüder, um sich irgendwelchen romantischen Illusionen über das Mannsvolk hinzugeben. Am liebsten würde sie ausreißen und nach Bocksburg gehen und in eins der Gardebataillone eintreten. Sie weiß, dass Burrich dort früher Stallmeister gewesen ist. Einer der Gründe, weshalb ich ihn aufgesucht habe, war, ihm diesen Posten wieder anzubieten. Burrich hat abgelehnt. Nessel versteht nicht, weshalb.«
»Ich schon.«
»Ich ebenfalls. Davon abgesehen habe ich die Gelegenheit genutzt, ihm zu sagen, ich könnte in Bocksburg einen Platz für Nessel finden, selbst wenn er sich entschließen sollte, nicht auf seinen alten Posten zurückzukehren. Zur Not könnte sie mein Page sein, obwohl ich überzeugt bin, dass Königin Kettricken entzückt wäre, sie unter ihre Fittiche zu nehmen. Gib ihr die Möglichkeit zu sehen, wie es in einer Burg und in einer Stadt zugeht, lass sie die Luft bei Hofe schnuppern, sagte ich zu ihm. Burrich lehnte ab, bevor ich ganz ausgesprochen hatte, und schien mein Angebot fast als Kränkung zu empfinden.«
Unwillkürlich atmete ich erleichtert auf.
Chade nahm noch einen Schluck Sandsegger und beobachtete mich. Wartete. Er wusste so gut wie ich, welches meine nächste Frage sein würde. Warum? Warum besuchte er Burrich, weshalb bot er ihm an, Nessel nach Bocksburg mitzunehmen? Auch ich trank und machte mir meine Gedanken über den alten Mann. Alt. Ja, aber nicht, wie die meisten Menschen altern. Sein Haar war schneeweiß, doch das Grün seiner Augen funkelte umso strahlender unter diesen hellen Locken. Ich fragte mich, wie hart er gegen seinen Körper war, um zu verhindern, dass die Jahre nicht nur auf seinen Schultern lasteten, sondern auch seinen Rücken beugten, welche Mittel er einnahm, um seine Lebenskraft zu erhalten, und womit er in anderer Hinsicht dafür bezahlte. Er war älter als König Listenreich, und Listenreich lag nun schon seit vielen Jahren in seinem Grab. Ein königlicher Bastard aus derselben Linie wie ich, schien er bei Intrigen und Zwist prächtig zu gedeihen, was mir nicht gelungen war. Ich hatte dem Hof den Rücken gekehrt und allem, was damit zusammenhing. Chade hatte beschlossen zu bleiben und sich der nächsten Generation von Weitsehern unentbehrlich zu machen.
»So, so. Und wie geht es Philia dieser Tage?« Ich wählte die Frage mit Bedacht. Neuigkeiten von meines Vaters Gemahlin waren meilenweit entfernt von dem, was ich wirklich in Erfahrung bringen wollte, aber ich konnte seine Antwort als Trittstein benutzen, um mich näher heranzutasten.
»Prinzessin Philia? Es ist einige Monate her, seit ich sie gesprochen habe. Ein ganzes Jahr, wenn ich mich recht entsinne. Sie residiert in Fierant, musst du wissen. Sie führt dort das Zepter, und zwar gut. Ein Kuriosum, genau betrachtet. Als sie in der Tat Königin war und mit deinem Vater vermählt, hat sie sich stets im Hintergrund gehalten. Als Witwe war sie’s zufrieden, die exzentrische Philia zu sein. Aber als alle anderen flohen, wurde sie – ohne Titel zwar, doch nach Verdienst – Königin von Bocksburg. Kettricken war gut beraten, ihr eine eigene Grafschaft zu geben, denn sie hätte niemals wieder als Untertan in Bocksburg leben können.«
»Und Prinz Pflichtgetreu?«
»Seinem Vater so ähnlich wie nur möglich.« Chade schüttelte den Kopf. Ich beobachtete ihn genau. Wie war diese Bemerkung gemeint? Wie viel wusste der alte Mann? Er runzelte die Stirn, als er fortfuhr. »Die Königin sollte ihn etwas mehr an der langen Leine laufen lassen. Im Volk spricht man von Pflichtgetreu wie von Chivalric. ›Prinz Stocksteif‹ nennen sie ihn und haben beinahe recht damit, fürchte ich.«
Die kaum merkliche Veränderung seines Tonfalls entging mir nicht.
»Beinahe?«, fragte ich.
Chade bedachte mich mit einem fast entschuldigenden Lächeln. »In letzter Zeit ist der Junge nicht mehr er selbst gewesen. Er war von jeher ein Einzelgänger, aber das ist eine Folge seiner Stellung als einziger Prinz und Thronfolger. Er hat immer bedenken müssen, wer er ist, musste sich hüten, dass er nicht den einen oder anderen Gefährten bevorzugte. Dadurch hat er sich in sich selbst zurückgezogen. Doch letzthin hat sein Gemüt sich weiter verdüstert. Er ist geistesabwesend und mürrisch, dermaßen in sich gekehrt, dass ihm gar nicht bewusst zu sein scheint, was in den Menschen um ihn herum vorgeht. Er ist nicht unhöflich oder gleichgültig, wenigstens nicht absichtlich, aber …«
»Wie alt ist er, vierzehn?«, warf ich ein. »Das klingt mir sehr nach Harm in letzter Zeit. Ich habe mir fast die gleichen Gedanken seinetwegen gemacht – dass er sich den Wind um die Nase wehen lassen sollte. Es ist Zeit, dass er auszieht und etwas Neues lernt, von einem anderen als von mir.«
Chade nickte. »Sehr richtig. Königin Kettricken und ich sind in Bezug auf Prinz Pflichtgetreu zu dem gleichen Schluss gekommen.«
Die Art, wie er es sagte, weckte in mir die böse Ahnung, dass ich soeben unwissentlich den Kopf in eine Schlinge gesteckt hatte. »Ach ja?«, sagte ich zurückhaltend.
»Ach ja?«, äffte Chade mich nach und griff nach der Flasche, um sich nachzuschenken. Sein Grinsen verriet, dass das Katz-und-Maus-Spiel vorbei war. »Ja. Bestimmt hast du es erraten. Wir würden gern sehen, dass du nach Bocksburg zurückkehrst und den Prinzen in der Gabe unterrichtest. Und Nessel auch, falls man Burrich überreden kann, sie gehen zu lassen, und falls sie das Geschick dazu hat.«
»Nein.« Ich sagte es schnell, um nicht der Verlockung zu erliegen. Ich bin nicht sicher, wie entschieden es klang. Chade hatte kaum ausgesprochen, da drängte es mich mit jeder Faser, die Einladung anzunehmen. Es war die Lösung, die so naheliegende Lösung, nach all den Jahren. Eine neue Kordiale von Gabenkundigen heranziehen. Ich wusste, Chade hatte die Schriften und Tabellen für den Unterricht in seinem Besitz. Gabenmeister Galen und nach ihm Prinz Edel hatten sie uns seinerzeit böswillig vorenthalten. Doch jetzt könnte ich sie studieren, ich könnte mein Wissen vervollständigen, und ich könnte andere unterweisen, nicht wie Galen es getan hatte, sondern wie es richtig war. Prinz Pflichtgetreu würde eine Kordiale haben, zu seinem Beistand und Schutz, und ich wäre nicht mehr einsam. Es würde jemand da sein, um mir zu antworten, wenn ich mit der Gabe rief.
Und meine beiden Kinder würden mich kennen, wenn nicht als ihren Vater, so doch als eine wichtige Person in ihrem Leben.
Chade war immer noch der alte schlaue Fuchs. Er musste meinen inneren Zwiespalt gespürt haben, denn mein Nein blieb nackt und bloß zwischen uns in der Luft hängen.
Er hielt seinen Becher mit beiden Händen umschlossen und ließ wie auf der Suche nach Erkenntnis den Blick hineinsinken, was mich schmerzlich an Veritas erinnerte. Dann hob er wieder den Kopf, seine grünen Augen schauten ruhig in die meinen. Er fragte nicht, er drängte nicht. Er brauchte nichts weiter zu tun als warten.
Dass ich seine Taktik durchschaute, machte mich nicht immun dagegen. »Du weißt, das kann ich nicht tun. Du kennst sämtliche Gründe, weshalb ich es nicht tun sollte.«
Er schüttelte leicht den Kopf. »Eigentlich nicht. Weshalb sollte Prinz Pflichtgetreu sein Geburtsrecht als Weitseher vorenthalten bleiben?« Leiser fügte er hinzu: »Oder Nessel?«
»Geburtsrecht?« Ich bemühte mich um ein bitteres Auflachen. »Es ist mehr eine Erbkrankheit, Chade. Es ist ein Hunger, und wenn man lernt, ihn zu befriedigen, entwickelt er sich zur Sucht. Eine Sucht, die mit der Zeit so stark werden kann, dass sie dich zwingt, die Straße zu betreten, die über das Bergreich hinausführt. Du weißt, was aus Veritas geworden ist. Die Gabe hat ihn aufgezehrt. Er hat sie benutzt, um sich seinen Wunsch zu erfüllen; er hat seinen Drachen erschaffen und wurde eins mit ihm. Er hat die Sechs Provinzen gerettet. Doch auch ohne die Bedrohung durch die Roten Korsaren wäre Veritas zu guter Letzt in die Berge gegangen. Jener Ort hat ihn gerufen. Es ist das vorherbestimmte Ende für jeden der Gabenkundigen.«
»Ich verstehe deine Befürchtungen.« Es klang aufrichtig. »Aber ich glaube nicht, dass es so ist, wie du sagst. Ich bin überzeugt, dass Galen dir bewusst diese Ängste eingeimpft hat. Er lehrte dich nur, was er wollte, das du weißt, und er hat durch wohlberechnete Grausamkeiten in dir Blockaden errichtet. Aber ich habe die Gabenschriften studiert. Ich konnte nicht alles enträtseln, was darin enthalten ist, aber ich weiß, die Gabe ist unendlich viel mehr als nur die Fähigkeit, über weite Entfernungen zu kommunizieren. Mit der Gabe kann ein Mensch sein Leben und seine Gesundheit länger erhalten. Sie verleiht einem Redner größere Überzeugungskraft. Deine Ausbildung – ich weiß nicht, wie gründlich sie war, aber ich wette, Galen hat dir so wenig beigebracht wie nur möglich.« Ich hörte die wachsende Erregung in der Stimme des alten Mannes, als spräche er von einem geheimen Schatz. »Die Gabe hat so viele Facetten, so viele. In den Schriften finden sich Hinweise, dass die Gabe als Werkzeug zur Heilung verwendet werden kann, nicht nur, um genau herauszufinden, was einem verwundeten Soldaten fehlt, sondern auch, um die eigentliche Genesung zu fördern. Jemand mit starker Gabe kann durch die Augen eines anderen sehen, hören, was jener andere hört und fühlt. Und …«
»Chade.« Mein halblauter Einwurf ließ ihn innehalten. Einen Moment hatte ich zornig werden wollen, als er zugab, die Schriften gelesen zu haben. Es stand ihm nicht zu. Andererseits, wenn seine Königin sie ihm zum Studium übergab, hatte er so gut das Recht dazu wie jeder andere. Wer sonst sollte sie lesen? Ein Gabenmeister existierte nicht mehr. Diese Linie war ausgestorben. Nein. Ich hatte sie ausgerottet. Ausgemerzt, einen nach dem anderen, die letzten geschulten Gabenkundigen, die letzte je in Bocksburg geschaffene Kordiale. Sie waren des Verrats an ihrem König schuldig, deshalb hatte ich sie getilgt und die Magie mit ihnen. Der vernünftig denkende Teil von mir wusste, dass es eine Magie war, die besser nie wieder erweckt werden sollte. »Ich bin kein Gabenmeister, Chade. Nicht nur, dass mein Wissen über die Gabe unvollständig ist, mein Talent war unbeständig. Gewiss hast du beim Studium der Schriften herausgefunden oder von Kettricken erfahren, dass Elfenrinde das Schädlichste ist, was ein Gabenkundiger zu sich nehmen kann. Sie unterdrückt die Gabe oder tötet sie ab. Ich habe mich bemüht, ohne sie auszukommen. Was sie mir antut, gefällt mir nicht. Aber selbst die Niedergeschlagenheit, die sie bewirkt, ist besser als der Gabenhunger. Manchmal habe ich den Tee tagelang getrunken, wenn das Verlangen besonders schlimm war.« Ich wandte den Blick von seiner besorgten Miene ab. »Was immer ich an Talent besessen haben mag, ist wahrscheinlich inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.«
Seine Stimme klang bedrückt, als er sagte: »Mir will scheinen, dass die immer wiederkehrenden Anfälle für das Gegenteil sprechen, Fitz. Es betrübt mich zu hören, dass du leiden musstest; wir hatten wirklich keine Ahnung. Ich nahm an, der Gabenhunger sei vergleichbar mit dem Verlangen nach Alkohol oder Rauchkraut und dass nach einer Zeit erzwungener Abstinenz das Bedürfnis nachlassen würde.«
»Nein. Das tut es nicht. Manchmal ruht es. Über Monate, Jahre sogar. Dann, ohne erkennbaren Anlass, erwacht es wieder.« Ich kniff für einen Moment die Augen zusammen. Darüber zu sprechen, daran zu denken, war wie das Stochern in einem Geschwür. »Chade, ich weiß, du bist aus diesem Grund den weiten Weg zu mir gekommen. Und du hast meine Antwort gehört. Können wir jetzt von etwas anderem reden? Dieses Gespräch … bereitet mir Schmerzen.«
Er schwieg eine Zeitlang, dann sagte er mit aufgesetzter Munterkeit: »Aber natürlich. Wechseln wir das Thema. Ich habe Kettricken gewarnt, dass du dich aller Wahrscheinlichkeit nach für unseren Plan nicht würdest begeistern können.« Er stieß einen kurzen Seufzer aus. »Dann werde ich also sehen müssen, was ich mit den Kenntnissen, die ich aus den Schriften gewonnen habe, ausrichten kann. Lassen wir das. Was soll ich dir jetzt erzählen? Was möchtest du wissen?«
»Du kannst nicht meinen, dass du Pflichtgetreu mit dem Wissen unterrichten willst, das du aus irgendwelchen alten Schriftrollen zusammengeklaubt hast?« Ärger regte sich in mir.
»Du lässt mir keine andere Wahl«, bedeutete er mir ohne den geringsten Vorwurf in der Stimme.
»Hast du eine Vorstellung davon, welcher Gefahr du ihn aussetzt? Die Gabe versucht den, der sie besitzt, zu beherrschen. Sie zieht an Verstand und Herz wie ein Magnet. Er wird eins mit ihr werden wollen. Wenn der Prinz dieser Verlockung nur für einen Augenblick nachgibt, während er noch ein Schüler ist, ist er verloren. Und es wird kein Kundiger zur Stelle sein, um ihm zu folgen und ihn der Strömung zu entreißen.«
Chades Mienenspiel verriet mir, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich redete. Er erwiderte starrsinnig: »Aus den Schriften weiß ich, dass es gefährlich ist, einen, in welchem die Gabe stark ist, ohne Schulung zu lassen. In manchen Fällen haben solche Uneingeweihten fast instinktiv begonnen, von der Gabe Gebrauch zu machen, doch ohne Vorstellung von der Gefahr oder wie man sie beherrscht. Nach meiner Meinung dürfte selbst eine lückenhafte Ausbildung besser sein, als den Prinzen in völliger Unwissenheit zu lassen.«
Ich setzte zum Sprechen an, dann ließ ich es bleiben, holte stattdessen tief Atem und stieß ihn langsam wieder aus. »Ich lasse mich da nicht hineinziehen, Chade. Ich bleibe bei meinem Nein. Vor Jahren habe ich mir selbst ein Versprechen gegeben. Ich saß neben Will und sah zu, wie er starb. Ich habe ihn nicht getötet. Weil ich mir geschworen hatte, dass ich nicht länger ein Meuchelmörder sein wollte und kein Werkzeug mehr. Ich lasse mich nicht manipulieren, und ich lasse mich nicht benutzen. Ich habe genug Opfer gebracht. Ich finde, ich habe mir diesen Ruhestand verdient. Und falls ihr – du und Kettricken – gegenteiliger Meinung seid und keine Lust mehr habt, mir eine Rente zu zahlen, nun, auch damit kann ich leben.«
Gut, das einmal ausgesprochen zu haben. Als ich zum ersten Mal nach einem Besuch von Merle einen Beutel mit Münzen neben meinem Bett fand, war ich beleidigt gewesen. Ich hätschelte den Groll monatelang, bis sie mich wieder besuchte. Sie hatte nur gelacht und erklärt, es handele sich nicht etwa um eine Vergütung von ihr für meine Dienste, sondern um eine von den Sechs Provinzen an mich gezahlte Rente. Das war der Moment, in welchem mir klar wurde, dass alles, was Merle von mir wusste, auch Chade erfuhr. Er war auch der Spender des Schreibpapiers und der Tinten, die sie manchmal mitbrachte. Wahrscheinlich erstattete sie ihm jedes Mal nach ihrer Rückkehr Bericht. Ich hatte mir vorgemacht, dass es mich nicht störte, doch heute fragte ich mich, ob während all der Jahre der Beobachtung aus der Ferne Chade auf den Tag gewartet hatte, an dem ich wieder von Nutzen sein konnte. Mein Gesicht muss ihm verraten haben, was mir durch den Kopf ging.
»Fitz, Fitz, beruhige dich.« Der alte Mann beugte sich vor und tätschelte beschwichtigend meine Hand. »Davon kann überhaupt nicht die Rede sein. Wir sind uns beide vollauf bewusst, was nicht nur wir dir schulden, sondern was das ganze Reich dir schuldig ist. Solange du lebst, werden die Sechs Provinzen für dein Auskommen sorgen. Was die Ausbildung des Prinzen angeht, so denk nicht mehr daran. Es ist im Grunde nicht dein Problem.«
Wieder einmal fragte ich mich voller Unbehagen, wie viel er wusste. Dann nahm ich mich zusammen. »Wie du sagst, es ist im Grunde nicht mein Problem. Ich kann nichts weiter tun, als dich bitten, vorsichtig zu sein.«
»Ach, Fitz, hast du mich je anders erlebt?« Über den Rand des Bechers lächelten seine Augen mich an.
Ich bemühte mich redlich, nicht mehr an seinen Vorschlag zu denken, doch es war, als versuchte man, einen Baum mit den Wurzeln auszureißen. Zum Teil bewegte mich Sorge, dass Chades laienhafte Unterweisung des jungen Prinzen ein böses Ende nehmen könnte. Doch der wahre Reiz des Gedankens, eine neue Kordiale auszubilden, lag darin, dass es mich in die Lage versetzen würde, mein eigenes Verlangen zu stillen. Nachdem ich mir dessen bewusst war, konnte ich nicht guten Gewissens eine neue Generation mit dieser Sucht infizieren.
Chade hielt sein Versprechen. Die Gabe und ihre Wissenschaft wurden mit keinem Wort mehr erwähnt. Stattdessen schwatzten wir stundenlang über all die Leute, die ich früher in Bockburg gekannt hatte und was aus ihnen geworden war. Klinge war Großvater geworden. Litzel litt unter schmerzenden Gelenken, die sie gezwungen hatten, mit ihrer endlosen Spitzenknüpferei aufzuhören. Flink war jetzt Stallmeister auf der Burg. Er hatte eine Frau aus dem Landesinneren genommen, mit flammend rotem Haar und dem entsprechenden Temperament. Alle ihre Kinder waren rothaarig. Sie hielt Flink an der kurzen Leine, und Chade behauptete, er sei glücklich dabei. Neuerdings bedrängte sie ihn, mit ihr nach Farrow zurückzukehren, woher sie gebürtig war, und er schien ihr nachgeben zu wollen. Deshalb hatte Chade die Reise zu Burrich mit dem Angebot verbunden, seine alte Stellung wieder einzunehmen. Schicht um Schicht löste er die Verhornungen von meinen Erinnerungen und rief mir die Gesichter von früher ins Gedächtnis zurück. Die Sehnsucht nach Bocksburg erwachte in mir, und ich konnte nicht anders, als weiterzufragen. Nachdem wir sämtliche alten Bekannten durchgegangen waren, führte ich ihn herum, als wären wir zwei alte Tanten, die sich gegenseitig besuchten. Ich zeigte ihm meine Hühner und meine Birken, meinen Garten und meine Spazierwege. Ich zeigte ihm meine Werkstatt, wo ich die Farben und Tinten herstellte, die Harm für mich zum Markt brachte. Letztere wenigstens versetzten ihn in Erstaunen. »Ich habe dir Tinten aus Bocksburg mitgebracht, aber jetzt frage ich mich, ob deine nicht von besserer Qualität sind.« Er klopfte mir auf die Schulter, genau wie früher, wenn mir die Mischung eines neuen Giftes gelungen war, und die alte heiße Freude über das Lob meines Lehrers stieg in mir hoch.
Wahrscheinlich zeigte ich ihm viel mehr, als meine Absicht war. Beim Betrachten meiner Kräuterbeete musste ihm der übermäßig große Anteil an Pflanzen mit beruhigender oder schmerzlindernder Wirkung aufgefallen sein. Als ich ihm meine Ruhebank auf den Klippen über dem Meer zeigte, bemerkte er sogar: »Ja, das hätte Veritas gefallen.« Doch trotz allem, was er sah oder vermutete, kam er nicht wieder auf die Gabe zu sprechen.
Wir blieben lange auf, und ich lehrte ihn die Grundlagen von Krähes Steinespiel. Nachtauge langweilte unser endloses Gerede, und er ging auf die Jagd. Ich spürte die aufkeimende Eifersucht des Wolfs, beschloss aber, das später mit ihm ins Lot zu bringen. Nachdem wir das Spiel beiseitegeschoben hatten, lenkte ich die Unterhaltung auf Chade selbst, sein Tun und Treiben. Verschmitzt lächelnd gestand er, dass er die Rückkehr an den Hof und in die höfische Gesellschaft genoss, und erzählte mir – was er selten getan hatte – von seiner Jugend. Er hatte ein lustiges Leben geführt, bevor der unachtsame Umgang mit einem explosiven Gebräu sein Gesicht mit Narben entstellte und er sich aus Scham in ein geheimes Schattendasein als Meuchelmörder des Königs zurückzog. In diesen späten Jahren schien er das Leben des Jünglings von einst wieder aufgenommen zu haben, der gern tanzte und eine Vorliebe für intime Abendessen mit geistreichen Damen hegte. Ich freute mich für ihn, und es war nicht ganz ernst gemeint, als ich fragte: »Und wie findest du bei all diesen anderen Verpflichtungen und Lustbarkeiten Zeit für deine geheime Arbeit im Dienst der Krone?«
Er antwortete frei heraus. »Ich komme zurecht. Und mein derzeitiger Adept ist sowohl flink als auch geschickt. Es wird nicht lange dauern, bis ich diese alten Pflichten vollkommen in jüngere Hände legen kann.«
Ich fühlte einen beunruhigenden Stich der Eifersucht, weil er nach mir einen neuen Lehrling genommen hatte. Im nächsten Moment wurde mir klar, wie dumm dieses Gefühl war. Das Haus der Weitseher würde immer jemanden brauchen, der in der diskreten Diplomatie des Stiletts versiert war. Ich hatte erklärt, dass ich nicht länger königlicher Meuchelmörder sein wollte, und daraus folgte keineswegs, dass es keinen Bedarf für einen solchen mehr gab. Ich versuchte, meine Betroffenheit zu überspielen. »Dann ist der Turm immer noch Schauplatz der alten Experimente und Lektionen?«
Er nickte einmal und gewichtig. »Allerdings. In dem Zusammenhang …« Er stand auf. Aus wiedererwachter langer Gewohnheit hatten wir unsere Konstellation von früher eingenommen, er im Sessel vor dem Kamin und ich zu seinen Füßen. Ich merkte es erst jetzt und staunte, wie selbstverständlich es mir vorgekommen war. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf, während Chade am Tisch in seinen Satteltaschen kramte. Er zog eine fleckige Flasche aus hartem Leder heraus. »Ich habe das hier mitgebracht, um es dir zu zeigen. Jetzt hätte ich es über unseren Gesprächen fast vergessen. Du erinnerst dich an meine Faszination für unnatürliche Feuer, Explosionsstoffe und so weiter?«
Ich verdrehte die Augen. Seine »Faszination« hatte uns beide mehr als einmal versengt und wie Mohren geschwärzt. An das letzte Mal, als ich Zeuge seiner Pyromagie gewesen war, mochte ich nicht denken: In der Nacht, als Prinz Edel sich unrechtmäßig zum Erben der Krone der Weitseher erklärte, hatten durch seine Künste die Fackeln zischend und Funken sprühend mit geisterhaft blauer Flamme gebrannt. In derselben Nacht war König Listenreich ermordet worden, und mich hatte man als seinen Mörder verhaftet.
Falls auch Chade daran dachte, ließ er es sich nicht anmerken. Er kam voller Elan mit der Flasche zurück zum Kamin. »Hast du ein Stück Papier? Ich habe keins mitgebracht.«
Ich gab ihm das Gewünschte und verfolgte skeptisch, wie er einen langen Streifen abriss, ihn der Länge nach auf die Hälfte kniffte und dann eine gewisse Menge Pulver in die Furche rieseln ließ. Sorgfältig faltete er den Streifen darüber, faltete ihn nochmals und drehte ihn spiralförmig zusammen. »Und jetzt schau her!«, forderte er mich lebhaft auf.
Ich beobachtete mit einem unguten Gefühl, wie er den Fidibus ins Feuer legte. Doch was immer dieser erwartungsgemäß tun sollte – explodieren, Funken sprühen oder Qualm produzieren – , es geschah nicht. Das Papier färbte sich braun, flammte auf und verbrannte. Leichter Schwefelgeruch breitete sich aus. Das war alles. Ich blickte Chade an und hob eine Augenbraue.
»Es hat nicht funktioniert!«, verteidigte er sich aufgeregt. Eilig präparierte er eine zweite Papierspirale, diesmal mit einer größeren Menge des Pulvers aus der kleinen Flasche, und platzierte sie im heißesten Bereich des Feuers. Ich beugte mich nach hinten, zur Sicherheit, doch es passierte wieder nichts. Ich rieb mir den Mund, um mein Feixen über sein maßlos enttäuschtes Gesicht zu verbergen.
»Man könnte glauben, ich verstünde mein Handwerk nicht mehr!«, rief er aus.
»Nie und nimmer«, widersprach ich, aber es fiel mir schwer, ernst zu bleiben. Diesmal hatte die Kartusche, die er herstellte, Ähnlichkeit mit einer dicken Wurst, und Pulver rieselte heraus, als er sie zusammendrehte. Ich stand auf und trat ein paar Schritte zurück, als er sie in die Flammen legte. Doch wie zuvor verbrannte das Päckchen sang- und klanglos.
Er schnaubte zornig. Er lugte in den Hals der kleinen Flasche, schüttelte sie, fluchte und drehte den Korken hinein. »Feucht geworden, irgendwie. Tja, das war’s dann. Heute keine Vorstellung.« Damit warf er die Flasche ins Feuer, bei Chade ein Zeichen höchsten Unmuts.
Nachdem wir uns wieder hingesetzt hatten, konnte ich spüren, wie sehr ihm der Fehlschlag zu schaffen machte, und versuchte ihn aufzuheitern. »Das erinnert mich an damals, als ich das Rauchpulver mit der gemahlenen Speerwurzel verwechselt hatte. Erinnerst du dich? Mir haben noch Stunden später die Augen getränt.«
Er stieß ein kurzes Lachen aus. »Und ob.« Danach schwieg er eine Weile und lächelte in sich hinein. Ich wusste, seine Gedanken wanderten zurück zu unserer gemeinsamen Zeit. Dann beugte er sich vor und legte mir die Hand auf die Schulter. »Fitz«, sagte er ernst und schaute mir mit einem zwingenden Blick in die Augen, »ich habe dich nie getäuscht, oder? Ich war aufrichtig. Ich habe dir gesagt, welches Handwerk du bei mir lernst, von Anfang an.«
Da erkannte ich das Narbengewebe über alten Wunden. Ich legte meine Hand auf die seine. Die Knöchel waren spitz, die Haut papierdünn. Ich hielt den Blick ins Feuer gerichtet, während ich sprach. »Du warst immer ehrlich zu mir, Chade. Wenn irgendjemand mich getäuscht hat, dann ich mich selbst. Wir haben beide unserem König gedient und getan, was getan werden musste, zum Nutzen des Reichs. Dass ich nicht nach Bocksburg zurückkomme, hat nichts mit dir zu tun, sondern liegt einzig daran, dass ich nicht mehr der bin, der ich war. Ich trage dir nichts nach, gar nichts.« Ich wandte den Kopf, um ihn anzusehen. Sein Gesicht war sehr ernst, und ich las in seinen Augen, was er nicht ausgesprochen hatte. Er vermisste mich. Nicht nur aus politischen Gründen, auch um seiner selbst willen versuchte er mich zur Rückkehr nach Bocksburg zu bewegen. Balsam für meine Seele. Ich wurde immer noch geliebt, von Chade wenigstens. Rührung überkam mich, die Kehle wurde mir eng. Ich versuchte, die Stimmung aufzulockern. »Du hast nie behauptet, als dein Adept hätte ich ein ruhiges, sicheres Leben …«
Wie um meine Worte zu unterstreichen, schoss ein Blitz aus dem Kamin. Ein krachender Donnerschlag machte mich taub. Schwelende Holzstücke und Funken flogen herum, und das Feuer brüllte plötzlich wie ein wütender Löwe. Wir sprangen auf und brachten schleunigst einigen Abstand zwischen uns und den Kamin. Im nächsten Augenblick löschte eine Rußlawine aus meinem vernachlässigten Schornstein den größten Teil des Feuers. Chade und ich tanzten durchs Zimmer, traten die Funken aus und beförderten Stücke der kokelnden Flasche zurück auf den gemauerten Platz vor dem Kamin, bevor der Holzboden anfing zu schmoren. Die Tür flog krachend auf. Nachtauge kam hereingeschlittert, scharrte mit den Krallen nach einem Halt.
»Alles in Ordnung, mir fehlt nichts«, versicherte ich ihm und merkte, dass ich schrie, um das Klingeln in meinen Ohren zu übertönen. Mit einem angewiderten Schnauben tat Nachtauge seine Meinung über den beißenden Gestank im Zimmer kund. Ohne auch nur einen Gedanken in meine Richtung stelzte er wieder hinaus in die Dunkelheit.
Plötzlich schlug mir Chade ein paar Mal kräftig auf die Schulter. »Funken ausschlagen«, erklärte er überlaut. Wir brauchten einige Zeit, um Ordnung zu schaffen und wieder ein Feuer an dafür vorgesehener Stelle in Gang zu bringen. Dessen ungeachtet stellte Chade seinen Stuhl ein Stück nach hinten, und ich setzte mich nicht wieder direkt vor den Kamin. »War das der Effekt, auf den du es abgesehen hattest?«, erkundigte ich mich verspätet, nachdem wir es uns mit frisch gefüllten Bechern gemütlich gemacht hatten.
»Nein! Bei Els Eiern, Junge, glaubst du, ich würde mit Absicht ein solches Feuerwerk in deinem Kamin veranstalten? Wenn ich es bisher ausprobiert habe, gab es nur einen grellen Blitz aus weißem Licht. Das Pulver hätte nicht so explodieren dürfen. Hm. Ich frage mich, wieso … Was war anders als vorher? Verdammt! Wenn ich mich nur erinnern könnte, was vorher in der Flasche gewesen ist.« Mit zusammengezogenen Brauen starrte er konzentriert in die Flammen, und ich wusste, sein neuer Adept würde das zweifelhafte Vergnügen haben auszutüfteln, was der Auslöser dieser Explosion gewesen sein könnte. Ich beneidete ihn nicht um die Reihe von Experimenten, die er würde durchführen müssen.
Chade blieb über Nacht und schlief in meinem Bett, während ich auf Harms Lagerstatt umsiedelte. Als wir am nächsten Morgen erwachten, wussten wir beide, dass der Besuch zu Ende war. Plötzlich schien es kein Gesprächsthema mehr zu geben, überhaupt nichts, worüber sich zu reden lohnte. Ein Gefühl der Sinnlosigkeit ergriff von mir Besitz. Weshalb sollte ich mich nach Leuten erkundigen, die ich nie mehr wiedersehen würde; weshalb sollte er von den aktuellen politischen Kabalen berichten, die doch überhaupt keine Auswirkungen auf mein Dasein hier hatten? Für einen langen Nachmittag und Abend hatten unsere Leben sich wieder verzahnt, aber nun, als der graue Tag heraufdämmerte, schaute er mir stumm bei der Verrichtung meiner häuslichen Pflichten zu: Wasser holen, Hühner füttern, Frühstück zubereiten, das Geschirr abwaschen.
Mit jedem Schweigen, das lang und lastend den wenigen dürren Worten folgte, zu denen wir uns aufraffen konnten, schienen wir uns weiter voneinander zu entfernen. Fast begann ich zu wünschen, er wäre nicht gekommen.
Nach dem Frühstück wollte er aufbrechen, und ich hielt ihn nicht zurück. Ich versprach ihm, dass er die Anleitung für das Spiel bekäme, sobald sie ausgearbeitet war. Ich gab ihm einige Aufzeichnungen über die Dosierung von Beruhigungstees mit und Wurzeln für die eigene Kultivierung der wenigen Kräuter in meinem Garten, die er nicht bereits kannte. Ich schenkte ihm Flakons mit verschiedenfarbigen Tinten. Schwer zu sagen, ob es ein Versuch war, mich doch noch umzustimmen, als er bemerkte, in Burgstadt gäbe es einen besseren Markt für derlei Waren. Ich nickte nur und sagte, vielleicht würde ich Harm irgendwann hinschicken. Dann sattelte und zäumte ich die schöne Stute und führte sie vors Haus. Zum Abschied umarmte er mich, dann stieg er auf und ritt davon. Ich blickte ihm nach, wie er den Pfad entlangtrabte. Nachtauge schob seinen Kopf unter meine herabhängende Hand.
Bereust du es?
Ich bereue vieles. Aber ich weiß, wenn ich mit ihm ginge und täte, was er will, würde ich das irgendwann noch mehr bereuen.
Trotzdem konnte ich mich nicht abwenden und an meine Arbeit gehen. Noch war es nicht zu spät, führte ich mich selbst in Versuchung. Ein Ruf, und er würde kehrtmachen und zurückkommen. Ich biss die Zähne zusammen.
Nachtauge stieß mit der Nase gegen meine Hand. Komm. Gehen wir jagen. Kein Junge, kein Bogen. Nur du und ich.
»Klingt gut«, hörte ich mich sagen. Und wir taten es und fingen sogar ein dralles Frühlingskarnickel. Es tat gut, die Muskeln zu strecken und mir zu beweisen, dass ich noch immer Kraft und Ausdauer besaß. Ich war noch kein alter Mann, und genau wie Harm stünde es mir gut an, in die Welt hinauszugehen und etwas Neues zu beginnen. Etwas Neues zu lernen. Das war immer Philias Rezept gegen Langeweile gewesen. Als ich an diesem Abend den Blick durch meine Behausung wandern ließ, erschien sie mir eher beengend als gemütlich. Was mir noch vor ein paar Tagen vertraut und heimelig vorgekommen war, wirkte jetzt abgewohnt und schäbig. Ich wusste, es lag an dem Kontrast zwischen Chades Erzählungen von Bocksburg und meinem eigenen ländlichen Dasein. Doch Rastlosigkeit, einmal geweckt, lässt sich nur schwer wieder zur Ruhe bringen.
Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich das letzte Mal in einem anderen als meinem eigenen Bett geschlafen hatte. Ich führte ein sehr geregeltes Leben. Jedes Jahr zur Erntezeit ging ich für einen Monat auf Wanderschaft, verdingte mich auf den Heuwiesen oder als Apfelpflücker. Das zusätzliche Bargeld konnten wir gut brauchen.
Früher war ich zweimal im Jahr nach Stundenbucht gereist, um meine Tinten und Stofffarben gegen Kleidung und Töpfe und Ähnliches einzutauschen. Die letzten zwei Jahre hatte ich Harm auf unserem dicken alten Pony Vierklee losgeschickt. Mein Leben verlief so glatt in eingefahrenen Gleisen, dass ich es nicht einmal bemerkt hatte.
Aha. Und was willst du dagegen tun? Nachtauge gähnte und streckte sich resigniert.
Ich weiß nicht, musste ich zugeben. Etwas anderes. Wie würde es dir gefallen, eine Zeitlang umherzuziehen?
Für eine Weile zog er sich in den Teil seines Bewusstseins zurück, der ihm allein gehörte. Dann fragte er, etwas gereizt: Zu Fuß? Alle beide? Oder wird von mir erwartet, den ganzen Tag mit einem Pferd Schritt zu halten?
Eine gute Frage. Wenn wir beide zu Fuß gehen?
Wenn es sein muss, willigte er widerstrebend ein. Du denkst an diesen Ort oben in den Bergen, nicht wahr?
Die alte Stadt? Ja.
Er erhob keine Einwände. Nehmen wir den Jungen mit?
Ich denke, es wird Harm guttun, wenn er eine Weile auf sich allein gestellt zurechtkommen muss. Außerdem muss sich jemand um die Hühner kümmern.
Dann nehme ich an, dass wir nicht aufbrechen, bevor der Junge wieder hier ist?
Ich nickte. Ich fragte mich, ob ich völlig den Verstand verloren hatte.
Ich fragte mich, ob wir je wieder hierher zurückkehren würden.
Kapitel 2
MERLE
Merle Vogelsang, Menestrelle an Königin Kettrickens Hof, ist selbst Heldin ebenso vieler Lieder, wie sie geschrieben hat. Berühmt geworden als der Königin Weggefährtin bei deren Queste, um die Hilfe der Alten gegen die Schiffe der Roten Korsaren zu erbitten, stellte sie sich während des Wiederaufbaus der Sechs Provinzen für Jahrzehnte in den Dienst des Hauses Weitseher.
Als jemand mit der Fähigkeit, sich ungezwungen übera