Diese verdammte Welt zwischen uns - Stefanie Pree - E-Book

Diese verdammte Welt zwischen uns E-Book

Stefanie Pree

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Beschreibung

Nach vielen Jahren, in denen Kim von ihrem Vater misshandelt wurde, bevor dieser an einem unerwarteten Herzinfarkt starb, scheint sie ein Schlag nach dem nächsten zu treffen. Ihr Freund verschwindet spurlos, woraufhin dessen Bruder Nick, den sie bisher nur aus Kindheitstagen kannte, wieder in Kims Leben tritt, allerdings scheint sie für ihn nicht mehr als eine nervige Plage zu sein. Jedoch ist da dieses merkwürdige Gefühl, das sie in seiner Nähe verspürt, welches nur noch schlimmer wird, als ihre beste Freundin den Vermisstenfall lösen möchte. Es entsteht eine Spannung, die Kim am liebsten niemals zugelassen hätte. Ist es moralisch vertretbar, sich in den Bruder des Freundes zu verlieben? Wen darf sie tatsächlich noch vertrauen? Was hat ihr Vater mit dem Vermisstenfall zu tun? Ist sie bereit für die bittere Wahrheit?

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Triggerwarnung!

Dieses Buch enthält Themen die auf manche Leser verstörend wirken könnten wie:

Häusliche Gewalt

Sexueller Missbrauch

Panikattacken/Angststörung

Für Vanessa

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 1

Wenn dein ganzes Leben erst einmal in Scherben liegt, wollen alle, dass du es wie ein Puzzle zusammenlegt, doch alles, was ich sehe, ist ein kaputter Spiegel, trotzend vor Pech.

Ein einziger Fehltritt und die Konsequenzen brechen über einen herein. Man wird von ihnen verschüttet als hätte man entgegen jeglicher Warnung ein einsturzgefährdetes Haus betreten.

Aus der Ferne beobachte ich die Mädchen der Abschlussklasse, die sich weinend in den Armen legen, während sie sich gegenseitig mit Versprechen überhäufen, mit einander in Kontakt zu bleiben.

Entweder wissen sie, was für einen Müll sie da erzählen oder sie glauben wirklich noch, es könnte mehr sein als einfach nur heiße Luft, die mit jedem verschwendeten Wort ausgestoßen wird.

Solche Freundschaften halten in den seltensten Fällen tatsächlich auch an. Sobald sie merken, wie es ist, einander nicht mehr jeden Tag im Nacken zu hängen, werden sie beginnen sich zu fragen, was sie eigentlich noch gemeinsam haben. Damit sind sie wohl kaum die Ersten.

Das ist wohl einer der Gründe, warum ich nie viel Wert auf Kontakte gelegt habe, insofern sie meinen Freundeskreis von drei Personen überschreiten. Bei all der Zeit, in der ich meine Mitschüler erlebt habe, gibt es wenig, was ich wirklich an ihnen vermissen würde.

Beliebt zu sein wäre sowieso nie etwas für mich gewesen. Mir reichen schon ihre ekelhaft neugierigen Blicke, die mir tagtäglich auf der Haut brennen, seit ich für sie alle nur noch das Mädchen mit dem toten Vater bin. Davor war ich einfach unsichtbar. Es macht mich fast schon traurig daran zu denken, dass ich noch eine ganze Weile vor mir habe, bis ich wieder in diesen Zustand zurückkehren kann. Ihre falschen Komplimente und desinteressierten Versuche, mit mir ins Gespräch zu kommen, kotzen mich jedes Mal wieder an. Ich bekomme ihre Intentionen nicht aus dem Kopf, wenn ich sie ansehe. Sie sind nur mehr von purer Sensationsgier gesteuert, seitdem die Neuigkeiten die Runde machten wie ein Lauffeuer auf ausgetrocknetem Heu.

Mir war klar, dass sie mit ihren Beileidswünschen und Trostversuchen ankommen würden, als würde es sie tatsächlich interessieren, aber mit diesem Ausmaß habe ich nicht gerechnet. Um ehrlich zu sein, hätte ich nie gedacht, jemals so viele Angebote etwas zu Unternehmen oder Hilfe bei den Hausaufgaben zu bekommen, ausschlagen müsste. Wie konnte ich auch nur denken, dass man mich kaum noch überraschen kann?

Ich bin kein Mensch, der solche Bindungen aufbaut. Es tut zu weh, von Personen verlassen zu werden, die mir wichtig sind. Schon schwer genug, den Problemen anderer zu entkommen, da kann ich mehr von meinen eigenen schlecht gebrauchen. Genauso wenig will ich, dass andere ihre Nase tiefer in meine Angelegenheiten stecken. Ich habe es satt, dass Leute von meinem Leben ein und aus wandern als wäre es ein Kino mit freiem Eintritt, bei dem man einfach gehen kann, sobald es einem zu langweilig wird.

Alleine bin ich einfach besser dran, als wieder enttäuscht zu werden. Ich bin zufrieden so wie es ist und hasse es, so oft im Mittelpunkt zu stehen.

Zum ersten Mal lässt es mit auf neues Drama hoffen, auf das sie sich stürzen. Teilweise sind diese Geierimitationen ganz amüsant mit anzusehen. Es wundert mich nicht einmal. Letzten Endes kenne ich keine einzige Person hier, deren eigenes Leben interessant genug ist, um das anderer für sich sein zu lassen. Gleichzeitig wird auch ihr Bedürfnis, sich mitzuteilen, immer größer. Das Traurige ist nur, dass all diese Leute um einen herum, die sich „Freunde“ nennen, sehr schnell verschwinden, wenn man sie tatsächlich mal braucht. Dann reden sie nur noch hinter dem eigenen Rücken über einen.

Was für Heuchler.

Mein Handrücken streift über das Vermisstenposter an der Pinnwand. Beim Versuch, die rasenden Gedanken zu sortieren, überkommt mich ein tiefes Seufzen.

Es ist der dritte Monatstag von Mikes Verschwinden und niemanden scheint es wirklich noch zu kümmern. Im Gegensatz zu mir wurde sein Fall einfach von der nächsten Welle a la Gerüchteküche verschluckt, obwohl sie zu Beginn alle so betroffen schienen einen Freund und Mitschüler auf einen Weg, den sich keiner erklären kann, verloren zu haben.

Nach wenigen Wochen machten sie es sich einfach und redeten nur noch davon, dass er weggelaufen sei. Ich nehme ihnen die Annahme nicht einmal übel, immerhin hatten wir einen Fall wie diesen bereits vor zwei Jahren, doch sie müssten ihn eigentlich besser kennen.

Andererseits kann ich ihnen auch nicht vorwerfen, einfach normal weiterleben zu wollen.

Innerlich zerspalten reiße ich das Papier von der Wand und lausche dem leisen Knistern, während ich es in meiner Faust zu einem Ball knülle.

Ich hätte schon lange die Gelegenheit nutzen sollen, um genau wie meine beste Freundin aus dieser Stadt zu verschwinden. Allerdings hätte ich im Gegensatz zu ihr nie daran gedacht, sie zurückzulassen.

Wir hatten so viele Pläne zusammen, so viele Erinnerungen zusammengeschaffen und dann puff. Sie ist aus meinem Leben gegangen, ohne sich zu verabschieden.

>> Er ist nicht wie Lucy. <<, flüstere ich kaum hörbar vor mich hin. Bei den ganzen Dingen, die ich in letzter Zeit über Mike gehört habe, ist es das einzige, wobei ich mir noch wirklich sicher bin.

>> Geht es dir gut, Kimberly? <<, ertönt eine heisere Männerstimme, die mich direkt zusammenfahren lässt.

Schlagartig drehe ich mich zur Seite und fasse Blickkontakt mit meinem Lehrer. Ihm scheint es egal zu sein, mir gerade fast einen Herzinfarkt beschert zu haben.

>> Ja. <<, stoße ich knapp hervor, auch wenn ich ganz genau weiß, dass das genaue Gegenteil der Fall ist und versuche den Schrecken noch zu verdauen.

Herr Russo setzt ein breites Grinsen auf, wobei die Lücke zwischen den gelblichen Schneidezähnen besonders hervorsticht. >> Herzlichen Glückwunsch zum Einserzeugnis. Es freut mich zu sehen, dass zu in Chemie durch die Kurve gekratzt hast. << Er zwinkert mir zu und im selben Atemzug muss ich sauer aufstoßen. Dieser Mann passt perfekt in diese Schule. Ich wünschte, ich könnte behaupten, weil er einen guten Ausgleich schafft, doch ich glaube, man würde merken, wie sehr das gelogen ist.

Beim Unterdrücken eines weiteren Würgens setzte ich ein verkrampftes Lächeln auf.

Seine Hand, auf der sich mehr Haare befinden als auf seinem Kopf, streicht sie den Schweiß von der Stirn, bevor sie zurück in die Hosentasche der viel zu engen Jeans fährt.

Eigentlich hatte ich zuvor nie etwas gegen ihn, allerdings können kleine Dinge dafür sorgen, dass man einen Menschen plötzlich aus einer völlig neuen Perspektive betrachtet. Von dort an gibt es kein Zurück mehr. Ich war nicht bereit dafür.

Ich zwinge mich, den Blick aufrecht zu erhalten. >> Mein Vater wäre bestimmt sehr stolz auf mich. << Noch bevor ich den Satz beende, schiebe ich heimlich den Zettel in meiner Hand in die Umhängetasche an meiner Hüfte. Er beginnt mich intensiv zu mustern, was mich einen Schritt zurück zwingt. Mir ist schon öfter aufgefallen wie unangenehm Nahe er mir beim Sprechen kommt, was mich schon an die eine oder andere Wand gezwungen hat. Herr Russo ließ sich davon wenig stören und rückte immer wieder hinterher. Seine grausige Schweiß-Parfüm Mixtur drängt sich dabei in meine Nase bis zu dem Punkt, an dem es alles andere als angenehm ist.

>> Das denke ich auch, du bist ein kluges Mädchen. Hoffentlich triffst du auch nächstes Jahr wieder die richtigen Entscheidungen. <<

Ich schlucke, um mir unangebrachte zu verdrücken. Witzig. Als könnte ich tatsächlich jemals meine Meinung sagen. So oder so muss ich ihn noch ein ganzes weiteres Jahr ertragen, also mache ich es besser nicht unangenehmer als nötig. Zudem wird ihm, was ich zu sagen habe, genauso egal sein wie seine Karriere und seine Familie, die er gerne regelmäßig aufs Spiel setzt.

>> Na dann…<< Er klopft mir auf die Schulter, was mir sofort den Drang nach einer Dusche verleiht. >> Genieße die Ferien, du hast sie dir verdient. <<

>> Danke, Herr Russo. <<

In Blitzgeschwindigkeit winde ich mich um und stürme aus dem Gebäude, ehe er noch auf die Idee kommt, zu einem weiteren Satz anzusetzen. Ein letztes Mal lasse ich mich von den Leuten anstarren, während ich das Bedürfnis laut aufzuschreien unterdrücke.

Schnelle Schritte führen mich über den Parkplatz, wo ich nach dem roten Kombi meiner Mutter Ausschau halte.

Das Schuljahr ist gelaufen und das war´s nun. Erwarten sie jetzt alle, dass ich mich entspannt zurücklehne, als wäre nie etwas gewesen?

Ganz bestimmt nicht.

Keine Chance, dass ich mich ihrem Verhalten anpasse, nur fehlt mir der Plan.

Ich presse meine Lippen fest aufeinander und lasse mich auf den Beifahrersitz fallen, gleichzeitig ignoriere ich gekonnt Nataschas Begrüßung. Wir beide haben seit Ewigkeiten keine richtigen Gespräche mehr geführt, geschweige denn mehr als vier Sätze am Stück miteinander gewechselt, insofern es kein Streit war. Alleine heute habe ich kein einziges Wort mit ihr gewechselt, obwohl wir den ganzen Tag aufeinander kleben, seitdem sie sich nach dem Tod meines Vaters plötzlich dazu entschieden hat, eine Mutter zu sein. Jedoch ist mein Vertrauen zu ihr schon lange vor Markus gestorben. Sie lehnte sich immer entspannt zurück und ich wurde von meiner Babysitterin aufgezogen, was nicht bedeutet, dass sie eine Gelegenheit ausließ, mir unter die Nase zu reiben, wie sehr ich doch ihr Leben ruiniert hätte. Selbst nach der Kündigung war ich ihr stets egal. Es war schon fast gruselig mit anzusehen, wie sie sich auf einmal für mein Leben interessierte und eine ernsthafte Bindung zu mir aufbauen wollte. Ich bin nicht stur, jedoch ist der Zug abgefahren. Irgendwas in mir hat einfach dichtgemacht. Sie hatte fast achtzehn Jahr lang die Chance, eine Mutter zu sein und hatte letzten Monat trotzdem meinen Geburtstag vergessen. Vielleicht kann ich eines Tages auf ihre heile Welt Spielchen eingehen, doch das liegt noch weit in der Ferne.

Ich klammere meine Arme um die Tasche auf meinen Schoss und bohre meine Fingernägel hinein. Ungeduldig warte ich darauf, dass Natascha aufhört, mich anzustarren und endlich das Auto startet, weil ich keine Sekunde mehr als nötig mit ihr verbringen möchte.

Mir fällt es schon schwer genug, sie alleine eines Blickes zu würdigen. Ich weiß sowieso, was mich bei ihrem Anblick erwartet. Die dunkelbraunen Augen von tiefen Falten untermalt und die blonde Hochsteckfrisur, die sie jeden Morgen zwei Stunden kostet. Alles, was ich schon oft genug gesehen habe. Zudem weiß ich genau, dass aus den schmalen Lippen immer dieselben leeren Worte strömen. Es gibt nichts Neues an dieser Frau, das ich auf einmal kennen müsste.

Wenigsten hat sie den peinlichen Smalltalk bereits aufgegeben, damit ich in Ruhe meinen Kopf an die kühle Fensterscheibe lehnen kann, sobald der Motor beginnt, laut aufzuheulen. Ein Ritual aus meiner Kindheit immer den vorbeiziehenden Menschen zuzusehen, da ich panische Angst vor Autofahrten hatte. Die wachsende Panik in einen Unfall zu geraten, zog zur Folge, dass ich immer angespannt war, sobald wir uns in den Straßenverkehr eingliederten. Eventuell spielte auch der Mangel an Vertrauen meinen Eltern gegenüber mit ein schweres Fahrzeug zu bedienen.

Eine gefühlt unendlich lange Autofahrt ist überstanden und mit der letzten Kurve landen wir in unserer Einfahrt. Ich werfe die Autotür hinter mir mit etwas mehr Gewalt als nötig wäre zu und laufe ohne ein weiteres Wort hoch in mein Zimmer.

Nachdem sich alles so schlagartig verändert hatte und ich den ersten Fuß hier herein gesetzt hatte, wurden die Fenster nie mehr geschlossen. Bei Regen hatte ich sie trotzdem immer noch gekippt, um dieses Zimmer zu den geruchsneutralen Raum im ganzen Haus zu machen.

Somit ist hier der einzige Platz im ganzen Haus, an dem ich mich länger als eine halbe Stunde aufhalten kann, ohne das Bedürfnis zu haben, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen.

Schlimmer ist es noch, wenn Natascha sich dazu entschließt, mit dem Parfüm ihres Mannes durch das ganze Haus zu sprühen und ich daraufhin tagelang mein Zimmer noch seltener verlasse als auch so schon, was zur Folge hatte, dass ich immer Wasser bunkerte und gleichzeitig jeden einzelnen Trick auf diesem Planeten kenne, um seine Blase und Magen möglichst lange unter Kontrolle zu halten.

Ich weiß noch, wie immer, nachdem er bei mir war, ich so lange an die Wand sah, bis die Übelkeit verschwand und ich mich wieder in mein Bett legen konnte, dass noch nach ihm roch.

Auch wenn es mich letzten Endes kaum schlafen ließ, war ich froh, wenn ich es geschafft habe, so gegen meinen Körper anzukämpfen. Es hatte mich stolz gemacht.

Durch genau diese Wand im Hintergrund gibt es auch den einzigen Spiegel, in den ich unproblematisch sehen kann.

Als ich noch klein war habe ich in diesen Spiegel nur ein kaputtes Mädchen gesehen, das versuchte die blauen Flecken mit möglichst viel Kleidung einzuhüllen.

Bei 30 Grad im Schatten hatte ich immer noch lange Oberteile an und alles nur, weil er mir die größten Horrorgeschichten erzählte, was passieren würde, wenn ich jemanden etwas davon sagen würde.

Was Markus mir auch immer gerne erzählte war, was andere Männer mir antun würden, wenn ich zu viel Haut zeige.

Zudem gefiel es ihm, je weniger Gründe ich zum Hinausgehen hatte.

Seine Stimme dröhnt bis heute noch durch meinen Kopf. „Alle Menschen da draußen sind schlechte Menschen.“ Gänsehaut überragt meinen Körper und wende den Blick an meine Wand. >> 14 kleine Schildkröten, 18 kleine Schildkröten, 22 kleine Schildkröten… <<, murmle ich vor mich hin, unter tiefen Atemzügen.

Nie wieder werde ich diese grässliche Stimme hören müssen. Er ist nur noch in meinem Kopf. Markus ist fort.

Ich habe endlich eine wahre Chance auf Besserung.

Zögernd drehe ich mich zum Spiegel um. Das kaputte kleine Mädchen ist weg. Nach außen hin möge man denken sie ist nun eine starke Heranwachsende. Denkt zumindest jeder der noch nie ein Wort mit mir gesprochen oder über mich gehört hat.

Ich bin eher das Mädchen, das immer weite Sachen trägt, weil ihr Vater nie etwas anderes erlaubte, da er befürchtete, andere Männer würden so keinen falschen Blick auf sie legen.

Diejenige, die zu faul wurde, um jeden Tag ihre Zöpfe zu flechten und nur noch einen deprimierten Pferdeschwanz trägt.

Genau diejenige, die sich die merkwürdigste Brille im ganzen Laden aussuchte, um ihr Gesicht zu verunstalten, das eigentlich immer ganz in Ordnung war.

Beim Kauf dachte ich mir, wozu ich meine Augen betonen sollte, wenn sie ihr blaues Schimmern schon lange verloren haben.

Der Gedanke zieht ziemlich runter was? Ich bin es eigentlich schon gewöhnt, aber trotzdem frage ich mich, was andere von den Dingen in meinem Kopf halten würden.

Manchmal dachte ich daran, dass es so sein könnte wie in diesen Amerikanischen Highschool Filmen.

Das schüchterne, ruhige Mädchen tragt ihre Haare offen, nimmt ihre Brille ab und ist plötzlich wunderschön.

Wäre es tatsächlich so einfach. Ich denke, dass letzten Endes mehr dazu gehört, um wirklich „schön“ oder „hübsch“ zu sein. Mehr als nur das Bild, das sich auf den ersten Blick zeigt.

>> Schatz, möchtest du zum Essen hinunter kommen? << Ich schrecke auf und drehe mich so schnell zur Tür um, dass ich dabei fast den Boden küsse.

Nun sehe ich sie.

Ihr hoffnungsvoller Ausdruck, der will, dass ich mit ihr in die Küche gehe und mit ihr esse, als wäre das hier eine normale Familie.

Sie als neuerdings alleinerziehende Mutter mit einer Tochter, die gute Noten hat und versucht, unsichtbar zu sein.

>> Haben deine Eltern damals in den 80ern auch nicht angeklopft? <<

Sie rollt mit den Augen und klopft locker gegen den Türrahmen.

>> Willst du nun essen oder nicht? Ich habe Arrabiata für dich gekocht. <<

Früher wäre ich nun in die Küche gestürmt und zappelnd am Tisch gesessen, bis mir ein dampfender Teller vor die Nase gestellt wird. Doch jetzt lässt es mich kalt.

Ich habe weder Interesse an meinem Lieblingsessen, noch daran mit Natascha zu speisen. Nicht nachdem sie diejenige ist, die Essen zu einem so schwierigen Thema für mich machte.

>> Nein danke. <<

Ein schweres Seufzen kommt aus ihrer Richtung. Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich enttäuscht ist oder ob es nur einen weiteren Versuch darstellt, mir ein schlechtes Gewissen zu machen.

>> Du kannst jetzt gehen. <<

>> Mike hätte nicht gewollt, dass du dich so zu Tode hungerst. <<

Die Tür fällt ins Schloss und ich bin froh, dass kein Geruch mehr hereinziehen kann.

Ich ignoriere die letzten Worte, drehe mich zurück zu meiner Reflektion und ziehe mein T-Shirt zusammen. Es ist nicht zu übersehen, dass ich keine normalen Essgewohnheiten mehr befolge. Für mich ist es nicht einmal ein Wunder.

Gesund zu sein gehört nicht mehr unbedingt zu meinen Prioritäten. Nicht, wenn sich alles in meinem Kopf nur noch darum dreht, wie enttäuscht ich von allem bin.

Hätte man mich damals gefragt, wo ich mich in zehn Jahren sehe, wäre das meine Antwort?

Man erwartet von einem kleinen Mädchen, dass es Prinzessin oder Ähnliches sagen würde, doch ich hätte wahrscheinlich mit Hirtin geantwortet. Als Kind war ich von Schafen besessen.

Als meine Babysitterin Fiona noch bei mir war, musste sie sich immer mit mir und meinen imaginären Schafen beschäftigen. Das Beste daran war, sie hatte kein

Problem damit. Sie tat alles, um mich glücklich zu sehen. Im Prinzip war sie mir über die Jahre mehr Mutter als meine beiden Elternteile zusammen.

Vom ersten Tag an beschützte sie mich vor allem und jeden, wenn es nicht gerade mein Vater war, bis sie vor vielen Jahren gekündigt hat.

Ich habe oft darüber nachgedacht, wo es sie wohl hin verschleppt hat. Berlin, New York, Rom bei ihr war alles möglich. Vielleicht reist sie auch um die Welt, um sich eines Tages niederzulassen und eine Familie zu gründen.

Davon hat sie oft geredet. Sie wollte unbedingt Kinder, ein schickes Haus und einen starken Mann an ihre Seite.

Ihre Worte natürlich.

Dadurch hatte ich manchmal das Gefühl, sie war auf meine Mutter eifersüchtig. Natascha hatte alles, wovon Fiona träumte. Zumindest nach außen hin.

Wenn man sie nun ansieht, ist sie ein Wrack. Nach allem was passiert ist, wundert es mich auch nicht.

Ich weiß nur aus Erzählungen, wie lebensfroh sie einst war. Sie hatte Freunde, ging auf Partys und als sie Markus kennenlernte, änderte sich daran auch vorerst nichts. Die beiden haben nach Jahren einer stabilen und glücklichen Beziehung geheiratet, doch alles ging den Bach unter, als ich zur Welt kam. Natascha wollte nie Kinder und hatte dann plötzlich mich auf dem Arm, ohne einen Ausweg, da mein Vater sie vor die Wahl stellte. Entweder ein Leben mit ihm und Kind oder sie würde ihn nie wieder sehen.

Vielleicht war das der Grund, warum sie mir gegenüber ihren ewigen Hass ausübte. Ich passte weder in ihre Pläne noch in ihre heile Welt und so brach sie zusammen.

Mein Vater arbeitete viel, deswegen hing meine Kindheit an Fiona. Sie wohnte bei uns, kochte für mich, brachte mich zur Schule alles während meine Hausfrau Mutter auf dem Sofa gemütlich ein Glas Wein trank.

Zumindest wenn sie nicht gerade damit beschäftigt war, mir mein Leben zur Hölle zu machen. Sie nahm sich wirklich jede Gelegenheit raus, mich für ihre geplatzten Träume verantwortlich zu machen.

Eben dadurch finde ich es nun gruselig, wie nett sie sein kann. Wer weiß, vielleicht durchlebt sie nach dem Trauern ihren zweiten Frühling und alles wird wieder normal für sie.

Manchmal wünschte ich mir, es wäre noch nicht zu spät für uns zwei eine normale Beziehung zueinander aufzubauen. Es würde alles um so viel leichter machen, aber ich bin mit ihr in diesem Loch gefangen, in dem alles, was ich ansehe, mich nur noch an ihn erinnert. Vielleicht ist etwas frischer Wind in den Segeln alles, was ich brauche.

Ich reiße meine Schranktür auf und nehme ein paar Taschen heraus, die ich mit meinen wichtigsten Gegenständen fülle.

Alles, was nötig ist, um in etwas Würde ein Weilchen leben zu können. Um den Rest kümmere ich mich später.

Mit schnellen Schritten wage ich es keinen Blick zurückzuwerfen. Jede Sekunde, die ich verschwende, könnte mich alles kosten.

Seit meine Mutter ihre neue Angewohnheit hat, mich nie aus dem Haus zu lassen, fühlt sich jeder Ausflug wie eine Flucht an.

Na ja, man könnte wirklich meinen, ich würde weglaufen. Mit all den Sachen, die ich hier mit mir rumschleppe.

Wirkt verdächtig.

Ich bahne mir meinen Weg durch die schmalen Straßen bevor ich plötzlich abrupt anhalte.

Was würden manche da draußen geben, um mit jemanden, den sie verloren haben, noch ein letztes Mal reden zu können?

Seien es Freunde oder Verwandte, die von einem auf den anderen Tag beschlossen haben, diese Welt zu verlassen.

Gibt es überhaupt Menschen da draußen, die sich wünschten, jemanden ein für alle Mal auf so einem Weg loszuwerden?

Menschen wie mich?

Ich weiß, es ist falsch, einem anderen Menschen den Tod zu wünschen. Aber was tut man, wenn derjenige, den man sich schon so lange vom Hals wünscht, erst einmal wirklich gestorben ist?

Sollte ich glücklich sein? Erleichtert? Oder sollte ich mich weiter schuldig fühlen für alles, was passiert ist?

Etwas Zeit zieht vorbei, in der ich nicht verstehe, was mich noch hier hält und mich dazu bringt, weiter das Friedhofstor anzustarren. Ich habe nach wie vor kein Bedürfnis, ihn zu besuchen.

Alles sieht so leer aus. Weit und breit keine Hinterbliebenen, die ein Grab schmücken wollen.

Willkommen im Club.

Anne Frank meinte einst, dass tote mehr Blumen bekommen würden als lebende, weil Reue stärker ist als Dankbarkeit. Doch ich habe nichts zu bereuen. Meine Taten sind egoistisch, da mir die Welt oft genug bewiesen hat, dass es sowas wie Gerechtigkeit nicht wirklich gibt. Wofür sollte ich also mich schuldig fühlen?

Er war ein schlechter Mensch und hat verdient, was passiert ist.

Ich spüre, wie mein Körper zu krampfen beginnt und versuche, mich mit aller Kraft zusammenzureißen.

Ein tiefer Atemzug und ich widme mich weiter meinem Weg zum Bahnhof.

Ein lautes Quietschen dröhnt durch meine Ohren, bis der Zug vor mir zum Stillstand kommt. Mit viel Kraft ziehe ich die Tür zur Seite, um in den Waggon zu gelangen.

Ich genieße es, wenn sie sanften Bewegungen des Zuges unter meinen Füßen zu spüren.

Es war schon immer entspannter als im Stadtverkehr mit dem Bus zu fahren.

Wenn der Haltewunschknopf rechtzeitig funktionierte, musste man rechtzeitig aufstehen, nur um sich beim Anhalten halb aufs Maul zu legen.

Glaubt mir, ihr wollt im Bus nicht vor all den Leuten hinfallen. Unfassbar peinliche Angelegenheit.

Sowieso werde ich ungern bei jeder Kurve fast auf dem Sitz geschleudert oder an die Fensterscheibe gequetscht.

Nicht zu vergessen die seltsamen Gestalten die dann manchmal mitfahren.

Als junge Frau in der heutigen Gesellschaft wird man ständig von merkwürdigen Männern angestarrt. Selbst ich, die immer nur Kartoffelsäcke trug.

Wenn es zur Abwechslung mal keinen Spanner gab, war da immer dieser alte Mann, der sich mit jedem unterhalten wollte.

Er ist vor einigen Jahren Witwer geworden und es tut mir richtig leid, dass er niemanden zum Reden zu Hause hat, aber ich konnte Fremde noch nie ab.

Ich hasse es sogar Tickets zu kaufen oder Essen zu bestellen.

Soziale Interaktionen waren wohl noch nie mein Ding.

Ich springe aus dem Zug und ziehe mir eine dünne, graue Mütze über meine Haare, die ich zum ersten Mal seit Ewigkeiten wieder geflochten hatte.

Zu spüren, wie sie über meine Schultern fallen, gibt mir ein seltsames Gefühl von Sicherheit.

Ich lasse mich von Straßenlaternen durch die Dunkelheit leiten, während ich versuche, das unwohle Gefühl zu verdrängen, welches sich mit jedem weiteren Schritt in mir breit macht.

Als Fiona noch da war, habe ich nächtliche Spaziergänge geliebt. Der Moment, indem die Dunkelheit einen umhüllt und du nicht weißt, was sich außerhalb der Reichweite der Straßenlaternen verbirgt.

Es hat eine geheimnisvolle Schönheit.

Dann wird alles Still und du bist den Geräuschen der Natur und der Stimme in deinem Kopf überlassen, die bei mir oft sehr laut war und viel zu sagen hatte.

Entweder habe ich mit Fiona geredet oder wir gingen einfach schweigend nebeneinander her. Das war die beste Therapie.

Es war mein Ventil, um Druck und Frust abzulassen, wovon ich als Kind viel zu viel mit rumschleppte. Meist war das der Augenblick, in dem ich weinen wollte, aber nicht konnte. Alle Emotionen in mir wurden so extrem, dass ich nichts mehr fühlen konnte.

Als hätte ich sie abgestellt. Ich habe ein paar Mal versucht, dieses Abendritual alleine fortzuführen, aber ich fühlte mich immer einsam und doch beobachtet. Es war nicht mehr dasselbe.

Das hält ebenso noch bis heute an.

Der Gehweg endet und mit ihm die Straßenlaternen, was mich der offenen Straße aussetzt.

Ich halte meine kühlen Arme fest und gehe mit starren Augen weiter geradeaus. Es scheint hier so endlos verlassen und doch so vertraut. Jeder, der nicht weiß, was er tut, könnte sich hier zu einfach verlaufen.

Ich ziehe mein Handy hervor und lasse meine Finger über das Display gleiten, bis der Weg vor mir in das Licht der Taschenlampe gehüllt wird.

Die geringere Beleuchtung macht mich noch nervöser.

Normalerweise versuche ich Dunkelheit zu meiden wie ein Vampir das Tageslicht.

Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass meine Paranoia einfach nur durch mein Elternhaus bestärkt wurde mit ihren Geschichten, was jungen Mädchen passieren würde, wenn sie nachts alleine das Haus verlassen.

Ich denke eher, wenn ein Autofahrer mich hier draußen alleine den Straßenrand entlangschlendern sieht, würde man meinen, einen Geist gesehen zu haben.

Je weiter ich komme, desto deutlicher kann ich es in der Ferne sehen. Das wohl abgelegenste Haus, das ich je in meinem Leben besucht habe.

Von außen wäre es glatt für einen Horrorfilm tauglich.

Die alte blättrige Holzfassade macht den Eindruck, als wäre hier seit Jahrzehnten niemand mehr gewesen.

Jedoch ist es nicht nur irgendein Horrorhaus. Mike hat es von seinen Großeltern geerbt und ist direkt nach Erbantritt hier eingezogen. Wir haben die meiste Zeit hier verbracht, da wir beide kein gutes Verhältnis zu unserem „Zuhause“ hatten.

Hier fühlt es sich viel mehr nach zu Hause an.

Mein seltsames Bauchgefühl macht es mir schwer, mich zu konzentrieren, als ich hastig den ganzen Bereich um die Tür auf den Kopf stelle, bis mir schließlich in einem kleinen Versteck hinter dem Briefkasten der Schlüssel zwischen die Finger gleitet.

Eigentlich hätte ich auch einen eigenen Schlüssel, aber ich will nicht, dass irgendjemand sonst die Möglichkeit hat, sich zutritt zu diesem Haus zu verschaffen. Es ist alles, was ich von ihm noch habe.

Mit etwas Schwung und einem lauten Knarren fliegt die Tür auf und mit einem klickenden Geräusch erhellt sich der Raum im Bruchteil einer Sekunde. Es ist um einiges wärmer, als ich erwartet hätte. Ich war nicht mehr hier, seit er und ich ihn das letzte Mal sah und seinen Geruch nochmal in meiner Nase zu spüren dreht alles in mir und bringt mein Herz dazu, wie wild in meiner Brust herumzuspringen.

In meinem Kopf ziehen die Bilder von meinem letzten Besuch hindurch.

Ich sehe es genau vor mir, wie wir uns stritten und ich, ohne mich nochmal nach ihm umzudrehen, ohne ein letztes Mal etwas zu ihm zu sagen die Tür hinter mir zuknalle.

Tatsächlich kann ich mich nicht einmal mehr erinnern, ob er einfach da stand oder ob er versuchte, mich zu beruhigen. Alles, was ich noch weiß in die unfassbare Wut, die ich hatte, weil ich mich fühlte wie ein Kätzchen, das man ins kalte Wasser wirft.

Ich lasse meine Schritte auf dem Weg durch das Haus etwas schleifen und verarbeite die innere Mixtur meiner Gefühle.

Jedes einzelne Ding in diesem Haus an derselben Stelle, an der es zurückgelassen wurde, nur etwas staubiger.

Von der Asche im Kamin bis zu dem Fotoalbum das noch offen auf der Couch liegt.

Vorsichtig nehme ich es auf meinen Schoß und streiche die dünne Staubschicht ab. Auf der aufgeklappten Seite sind wir alle noch in unseren Kindheitstagen zu sehen.

Mike, sein älterer Bruder Nick mit dem üblich genervten Blick, ich in der Mitte noch mit einer bunten Strähne, die damals mein Markenzeichen bildete und Lucy, die Person, die ich einst meine beste Freundin nannte.

Es ist ewig her. Jedoch schießt mir ihr Gesicht bis heute noch in den Kopf, wenn es darum geht, jemanden zu vertrauen.

Sie hat beschlossen, alles hinter sich zu lassen, packte ohne ein Wort ihre Taschen und haute einfach ab. So wie ich sie kenne, wäre der Abschied für sie zu schwer gewesen, aber noch schwerer war es zu verarbeiten, dass sie einen Tag vorher noch auf heile Welt tat, obwohl sie die Gelegenheit hätte nutzen können, um mir von ihrem Vorhaben zu erzählen. Ich wäre mitgegangen. Ohne Fragen, ohne Zögern. Doch scheinbar hatte ich keinen Platz in ihrem neuen tollen Leben.

Wer blieb mir also von all den Leuten auf dem Bild noch übrig? Lucy ist weggezogen, für Nick war ich immer nur das nervige Mädchen, auf das er aufpassen musste und Mike ist verschwunden. Sogar der Hund, von dem man ein Stück in der Ecke erkennen kann, wurde mittlerweile von einem Auto überfahren. Keiner hat noch mit irgendjemanden aus der Gruppe etwas zu tun. Ich blättere eine Seite weiter und das nächste Kindheitsbild, das mir ins Auge fällt, weckt mehr die fröhlichen Momente aus der Vergangenheit. Es war der Tag, an dem seine Mutter Mikes Stiefvater heiratete. Die beiden kamen nie auf einen grünen Zweig, aber das Bild, auf dem wir tanzen, ist niedlich. Ich musste Nick wochenlang anbetteln, mir heimlich beizubringen, wie man tanzt, weil er in seiner frühen Jugend von seiner Mutter zu einem Tanzkurs gezwungen wurde. Seither hat niemand mehr auch nur einen der beiden in einem Anzug gesehen, während ich es kaum erwarten konnte, in diesen weinroten Kleid, Blumenmädchen zu spielen.

Zwischen diesen und dem nächsten Foto muss ein Zeitsprung von ungefähr fünf Jahren sein.

Der letzte Strandausflug, den Lucy und ich je gemacht haben.

Oder auch das letzte Foto auf dem ich und Lucy gemeinsam zu sehen sind.

Auch das letzte Foto, auf dem ich mit meiner Strähne zu sehen bin, von der ich mich nach Lucys Umzug verabschiedete, weil ich mich zu oft daran erinnern musste, wie sie mich „Strähnchen“ nannte.

Ich wollte es nicht verbrennen oder wegwerfen, also habe ich es Mike gegeben, jedoch hätte ich nicht erwartet, dass er es aufhebt.

Wie lange hatte ich geglaubt, sie hätte mich nicht vergessen?

Waren es vier oder doch sechs Monate, in denen ich auf einen Anruf oder einen verfluchten Brief gewartet habe, bis ich es endlich aufgab?

Beim Anblick eines weiteren Bildes kommt ein Schmunzeln über meine Lippen. An dem Tag an dem Mike hier einzog, habe ich ihn fotografiert und er hat mich sarkastisch gejammert, dass ich bei den Kisten mit anpacken sollte. Am Ende war er immer zu stolz, um meine Hilfe anzunehmen.

Schon seltsam wie auf fast jedem Foto ich entweder vor oder hinter der Kamera stand.

Außer bei diesem hier. Ist das Nick?

Seine dunklen Locken schmeicheln den strahlend eisblauen Augen. Das ist alles, was mir an ihm noch bekannt vorkommt. Und sogar das müsste schon ein paar Jährchen her sein.

Ich habe ihn ewig nicht mehr gesehen, könnte aber auch daran liegen, dass von seiner Seite aus nie Interesse bestand, den Kontakt zu halten.

Auch das Mädchen, das ihm zum Abschlussball begleitet hat, ist echt umwerfend.

Ich hätte nicht erwartet, dass aus ihm einmal so ein Frauenheld wird, bis auf einmal die Hälfte der Mädchen aus meiner Schule über ihn redeten.

Als ich ihn zuletzt sah, muss er ungefähr so alt wie ich jetzt gewesen sein, womit ich in der Schlussfolgerung noch ein Kind war.

Somit hat jeder es auf den Altersunterschied geschoben, wenn zur Sprache kam, dass er mich nicht mochte.

Von wegen, das kommt noch mit den Jahren.

Ich will gar nicht sagen, dass Altersunterschied weniger zu spüren ist, je älter man wird, aber die finsteren Blicke, die ich manchmal kassierte, fühlten sich echt persönlich an.

Im Rückblick ist es schon witzig, wie ich immer versucht habe, ihn dazu zu bringen, mich zu mögen.

Damals wollte ich noch unbedingt, obwohl ich mir den Grund bis heute nicht wirklich erklären kann. Oder will.

Tatsächlich habe ich nie drüber nachgedacht, was passiert wäre, wenn wir uns besser verstanden hätten.

Wären wir öfter zu viert gewesen?

Hätte es Lucy abgehalten zu gehen? Immerhin hatte er sie schon immer lieber als mich. Ehrlich gesagt, wer Lucy kannte, konnte ihm das auch nicht wirklich übel nehmen. Jeder mochte sie. Sie war einfach auf ihre ganz eigene Art und Weise besonders, worum ich sie immer beneidete.

Vielleicht sah Nick das auch an ihr? Alles, was ich weiß, ist, dass er irgendwann ziemlich abgerutscht ist und zwischendurch auch im Gefängnis war. Ich habe nie genauer nachgefragt, weswegen.

Ich klappe das Album zu und sehe mich seufzend um. Schlapp umklammere ich das Buch und lasse mich zur Seite fallen. Wow, ich habe mich wirklich selten in meinem Leben so einsam gefühlt.