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Nach der Scheidung der Eltern lebt Tom mit seiner Mutter wie in einer Wohngemeinschaft zusammen, und mit Till hat er auch die Hürde des Coming-out locker überstanden. Die Frischverliebten fahren in den Urlaub, doch als sie zurückkommen, ist etwas Furchtbares geschehen: Toms Mutter hat Selbstmord begangen. Tom lernt, dass Nähe und Verlust zusammen gehören, und aus Angst vor weiteren Enttäuschungen zieht er sich in seine Kifferträume zurück. Ein halbes Leben rauscht wie hinter einer Glasscheibe an ihm vorüber, bis ihn eine neue Katastrophe aus der Apathie reißt. Flokatis, Jimi Hendrix und leichte Drogen: die "fetten" 1970er und 1980er Jahre nehmen in diesem Roman noch einmal Gestalt an. Meyer-Sievers hat mit Tom einen charmanten Antihelden geschaffen, der am liebsten ein Pfeifchen reinzieht und den großen Durchblick sucht. Am Ende gelingt ihm das auch, doch anders als erwartet.
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Seitenzahl: 311
Veröffentlichungsjahr: 2015
Olav Meyer-Sievers
Diffuses Licht
Roman
Männerschwarm Verlag Hamburg 2015
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Olav Meyer-Sievers Diffuses Licht Roman
© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2015
Umschlaggestaltung: Carsten Kudlik, Bremen, unter Verwendung eines Fotos von Kevin Russ, iStockphoto.com Druck: Interpress, Budapest
1. Auflage 2015
ISBN Printausgabe 978-3-86300-189-6
ISBN Ebook-Ausgabe 978-3-86300-194-0
Männerschwarm Verlag GmbH – Steindamm 105 – 20099 Hamburg
www.maennerschwarm.de
Verlagstext
Nach der Scheidung der Eltern lebt Tom mit seiner Mutter wie in einer Wohngemeinschaft zusammen, und mit Till hat er auch die Hürde des Coming-out locker überstanden. Die Frischverliebten fahren in den Urlaub, doch als sie zurückkommen, ist etwas Furchtbares geschehen: Toms Mutter hat Selbstmord begangen. Tom lernt, dass Nähe und Verlust zusammen gehören, und aus Angst vor weiteren Enttäuschungen zieht er sich in seine Kifferträume zurück. Ein halbes Leben rauscht wie hinter einer Glasscheibe an ihm vorüber, bis ihn eine neue Katastrophe aus der Apathie reißt.
Flokatis, Jimi Hendrix und leichte Drogen: die „fetten” 1970er und 1980er Jahre nehmen in diesem Roman noch einmal Gestalt an. Meyer-Sievers hat mit Tom einen charmanten Antihelden geschaffen, der am liebsten ein Pfeifchen reinzieht und den großen Durchblick sucht. Am Ende gelingt ihm das auch, doch anders als erwartet.
Inhalt
Prolog
I
II
III
IV
V
VI
Über den Autor
Prolog
Der Mann ist klein und dicklich. In seinen Händen liegt ein Kissen aus schwarzem Samt. Darauf eine kupferfarbene Urne mit der Asche meiner Mutter. Der Mann trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, eine schwarze Krawatte. Seine Haare sind kurz und grau. Exakter Scheitel links, Fassonschnitt. Meine Haare sind lang und blond. Ich bin stolz darauf. Kein Junge an meiner Schule hat längere. Ich bin siebzehn. Ich trage einen schwarzen Umhang, ein besticktes Indienhemd und Jeans mit Flicken. Der Mann blickt mir in die Augen und hebt das Kissen leicht an. Ich bleibe stumm. Immer noch schaut er mich an. Worauf wartet er? – Stille. – Dann räuspert er sich und fragt: «Können wir?» Ich habe keine Ahnung, ob wir können. Aber ich nicke. Der Mann mit dem Kissen geht los, mit betont langsamen Schritten. Das sieht affig aus. Ich gehe hinterher. Genauso langsam. So gehe ich sonst nie. Kurz hinter mir, links, mein Freund Till, dann rechts meine Großmutter; dahinter, mit größerem Abstand, mein Vater. Wer sonst noch da ist, nehme ich nicht wahr. Ich starre auf den Rücken des Mannes mit dem Kissen. März, 1975: Die Luft ist kalt, die Bäume sind noch kahl. Ich friere. Der Mann bleibt vor einem Loch in der Erde stehen. Es riecht nach feuchtem Boden. Er guckt mich wartend an. Schon wieder. Endlich sagt er: «Ich werde die sterblichen Überreste Ihrer werten Frau Mutter nun für immer der Erde übergeben.» Meine werte Frau Mutter? In einer Blechdose? Der tickt doch nicht ganz richtig!
Etwa vier Wochen vorher hatte ich den Mann zum ersten Mal gesehen. Er klingelte an unserer Wohnungstür. Mein Vater war auch da. Seit Jahren war er nicht in dieser Wohnung gewesen. Nach der Scheidung war er ausgezogen, vor gut zehn Jahren. Ich war damals sechs gewesen und gerade in die Schule gekommen. Jetzt saßen wir mit dem Bestatter zusammen an einem Tisch in der Wohnung, in der ich groß geworden war.
«Was macht man denn da so?», fragte mein Vater den Bestatter.
«Zunächst müssten Sie sich für einen angemessenen Sarg entscheiden.» Der Bestatter öffnete die schwarze Ledermappe und zeigte uns Fotos. Ich fand alle Särge scheußlich. Ich glaube, mein Vater auch.
«Tom, was hältst du von dem da? Der ist doch ganz schön», sagte er zu mir.
«Eiche», nickte der Bestatter, «immer eine gute Wahl. Sehr beständig. Denken Sie an eine Erd- oder Feuerbestattung?»
Es sollte eine Feuerbestattung werden. Das war vorher ohne mich geklärt worden. Wie und warum wusste ich nicht. Es hatte wohl etwas mit dem Familiengrab zu tun.
«Bei Kremierungen würde ich von einem Eichensarg abraten.» Der Bestatter blätterte zwei Seiten weiter.
«Dürfte ich Ihnen dieses Modell empfehlen?»
Mein Vater schaute mich ratlos an. Ich schaute auf das Bild in der Ledermappe.
«Okay», sagte ich und nickte. Das Ding wird eh verbrannt.
Die Trauerfeier für meine Mutter hatte mit ihr nicht viel zu tun. Mit mir auch nicht. Ich erinnere mich kaum daran. Nur daran, danach vor der Kapelle zu stehen, in meinem schwarzen Umhang, der ein bisschen nach Zorro aussah, meinen geflickten Lieblingsjeans und einem extra für diesen Anlass schwarz gefärbten Indienhemd. In meiner Erinnerung sehe ich mich von außen. Ich blicke auf ein Bild von mir. Ich spüre nichts.
I
Mein Vater war Fotograf, deshalb gibt es viele Fotos aus meiner Kindheit. Sie zeigen die schönen Momente dieser Zeit: Mit Papi und Mami in den Boberger Sanddünen, er buddelt tiefe Löcher, bis das Grundwasser kommt. In den Dünen ist es heiß, in der Grube kühl und die Füße werden nass. – Mit Mami auf einem Liegestuhl im Garten. Mein Kopf liegt auf ihrem Bauch. Ich kichere, denn in Mamis Bauch hat es immer so komisch gegluckert. – Papi und ich in einem Baum. Ich klettere ganz weit nach oben, und wenn ich mich nicht wieder runtertraue, hilft Papi. – Und dann noch ein Foto von meiner Mutter und mir, auf dem wir beide lächeln. Dieses Foto zeigt alles Glück meiner Kindheit. Ich liege auf dem Schoß meiner Mutter, sie hält mich in den Armen, mein Kopf lehnt an ihrer Schulter. Ich bin vier oder fünf und strahle. Ein geliebtes Kind.
Das Wohnzimmer, in dem ich als Fünfjähriger zu Hause war, hatte noch keine Liegewiese mit Flokati und keine Poster an den Wänden, wie später in den Siebzigern. Es gab eine Couch, auf der man nur sehr gerade sitzen konnte, und zwei Sessel mit schrägen Beinen. Dazwischen stand ein von meinem Vater selbstgebauter Tisch mit einer Platte aus schwarzem und weißem Resopal. An der Wand hingen String-Regale, darauf, neben den Büchern, ein Tonkrug, zwei Kalebassen und bunte Fischerkugeln aus Glas. Auf schrägen Ablagen stapelten sich die Zeitschriften: Spiegel, Kristall, Twen, Life. In Kristall waren manchmal Fotos, die mein Vater gemacht hatte. Das fand ich toll. Es gab sogar schon einen Fernseher. Ein klobiger Schrank aus Teakholz mit Türen vor dem Bildschirm, schwarz-weiß, ein Programm. Und mit einem Radio unter der Deckelklappe. Das Telefon war grau, mit Wählscheibe. Es stand im Regal – nicht im Flur, auf einem Tischchen, wie in den meisten anderen Wohnungen.
• • •
«Wie sieht’s aus, mein Tomchen? Hast du deine Schularbeiten gemacht?»
«Mhm.»
«Alles, was du aufhattest?»
«Mhm.» Ich gehe schon in die zweite Klasse, manchmal müssen wir ganz schön viele Schularbeiten machen.
«Mhm. Mhm. Mhm. Geht das nicht im ganzen Wort?!»
«Ja.»
Meine Großmutter ist streng, aber sie hat mich lieb. Ich sie auch. Omaka heißt sie wegen ihres Nachnamens: Karsten. Ich habe sie so genannt, um meine Omis auseinanderzuhalten. Omaka und Omipi. Omipi ist aber schon tot. Sie hieß Pilling. Und Opaka ist auch tot, seit einem Jahr. Das ist traurig. Den anderen Opa kannte ich gar nicht.
«Wollen wir spielen?»
«Mhm.» – Mich trifft ein strenger Blick.
«Ja, Omaka.»
Ich hole die Karten, sie liegen immer in der linken Schublade von Omakas Schreibtisch. Der ist alt und groß. Sie hatte mir erzählt, er sei schon von ihrem Vater, meinem Uropa. Als ich kleiner war, habe ich oft Omas rote Wolldecke darübergelegt und unter dem Schreibtisch Höhle gespielt. Die Wolldecke riecht nach ‹Damals›, sagt Oma. Omaka war immer das Ungeheuer, das vor der Höhle gefährlich fauchte. Sie konnte aber nicht reinkommen, weil ich ein Zauberschwert hatte. Damit habe ich das Ungeheuer getötet. Danach hat Omaka immer Kekse geholt. Ich bin jetzt jeden Tag nach der Schule bei ihr, weil Mami wieder arbeitet und Papi woanders wohnt. Omaka kocht mir Mittagessen, dann mache ich Schularbeiten und danach spielen wir. Nach dem Spielen sitzen wir oft noch am Tisch, halten uns an den Händen und Oma erzählt von früher. Weil sie so alt ist, kennt sie noch den Kaiser. Sie ist sehr stolz darauf, dass der Opa beim Kaiser gearbeitet hat. Er war Soldat, und sie hat noch sein Schwert, das sie ‹Offizierssäbel› nennt. Später soll ich das Schwert mal erben. Darauf freue ich mich sehr. Es liegt in einer langen Schublade im Schrank, die bei Omaka ‹Der Heilige Gral› heißt. Auf dem Schrank steht eine alte Uhr, die immer tickt und zu jeder Stunde schlägt. Wenn ich bei Oma übernachte, stört mich das. Manchmal macht sie die Uhr dann aus und muss sie am nächsten Morgen wieder stellen. Vor dem Schlafengehen darf ich baden. Dazu wird in einem großen Badeofen Feuer gemacht, mit Holz oder Kohlen. Bis das Wasser warm ist, dauert es über eine Stunde. Dann ist auch das ganze Badezimmer heiß und alle Zimmer in Omas Wohnung riechen nach Feuer. Bei uns zu Hause haben wir einen Boiler im Bad. Der läuft mit Strom – aber es dauert auch lange, bis das Wasser warm ist. Ich bade zweimal in der Woche. Wenn ich bei meinem Vater zu Besuch bin, muss das Wasser erst in einem großen Topf auf dem Gasherd gekocht werden, bevor ich in der Wanne baden kann. Papis Badezimmer ist immer kalt. Aber er bringt mir jedes Mal ein großes, warmes Handtuch, wenn ich aus der Wanne komme.
Was mir bei Omaka besonders gefällt, ist das große Radio mit dem grünen Leuchtding. Das Radio muss auch erst warm werden, bevor man etwas hört. Dann sieht man drinnen die Röhren orange glühen. Das grüne Leuchtding muss ganz schmal sein, damit man einen Sender gut empfangen kann. Es heißt ‹Magisches Auge›, sagt Oma, und, dass das Radio noch von Opa ist. Damit man die Sender schneller findet, hat Opaka lauter kleine Papierstriche auf die Glasscheibe geklebt, mit den Namen fremder Städte darauf. Oma meint, dass Opaka früher, als er schon alt war und nicht mehr richtig gehen konnte, mit dem Ohr am Radio um die Welt gereist sei.
Manchmal stellt sich Omaka vor die Wand, an der alle ihre Fotos hängen. Links die Menschen, ihre Eltern und Großeltern, ihre Onkel und Tanten; rechts die Tiere: ihre Hunde.
«Du weißt ja, wir haben Boxer gezüchtet, die haben uns gerettet.»
Die Hunde wurden nach dem Krieg an die englischen Besatzungssoldaten verkauft. Dadurch hatten Omaka, Opaka und ihre Tochter immer genug zu essen.
Wenn Omaka vor ihrer Fotogalerie steht, zählt sie immer zuerst die Namen der Hunde auf. Das waren ihre ‹Zuchtrüden› und die Hündinnen mit den besten Würfen. Danach guckt sie zu den Menschen und sagt nacheinander die Namen von Uropa und Uromi, den Großonkels und -tanten und allen anderen auf. Dabei sieht sie oft ein bisschen traurig aus. Dann schweigt sie einen Moment, holt schließlich ganz tief Luft und richtet sich sehr gerade auf.
«Aber eines muss man doch sagen …», sagt sie mit fester Stimme, «gute Rasse!»
Ich weiß nicht so genau, ob Omaka die Menschen oder die Hunde meint.
Die Wohnung meiner Großmutter lag in Hamburg-Winterhude, in einem Wohnblock aus den Dreißigerjahren, der nach dem Krieg wieder aufgebaut worden war. Die Großeltern waren kurz nach der Währungsreform eingezogen und lebten mit ihrer Tochter auf knapp vierzig Quadratmetern. Sie hatten es für die Zeit gut getroffen. Ich bin ganz in der Nähe groß geworden, nur drei Straßen entfernt. In einem Mehrfamilienhaus der Sechzigerjahre. Hinter unserem Haus gab es eine Spielwiese, mit Wäscheleinen und Teppichstangen; dahinter ein zweites, baugleiches Haus, ebenfalls mit drei Eingängen, Rotklinker, blau gestrichene Balkone, wie bei uns.
Der Weg zwischen Omakas Wohnung und meinem Zuhause war mir vertraut. Ich ging ihn über viele Jahre fast täglich, außer an den Wochenenden, wenn meine Mutter freihatte. Da die Schularbeiten schon bei Großmutter erledigt worden waren, war der Weg nach Hause meist von Leichtigkeit geprägt. Ich trödelte und spielte mit dem Schulranzen vorne auf der Brust ‹Schneepflug›. Auf halber Strecke lag ein Laden mit Zeitschriften und Zigaretten. Dort gab es auch Süßigkeiten. Besonders gut fand ich die großen Salinos für 5 Pfennig das Stück. Ich musste auf der Strecke nur einmal eine größere Straße überqueren. Hier fuhren die Straßenbahnlinien 1, 3, 14 und 15. Man musste also immer aufmerksam in beide Richtungen gucken, bevor man über die Straße ging. Das hatte meine Mutter mir schon beigebracht, bevor ich eingeschult wurde.
Eines Nachts heulen die Sirenen. Ich wache auf. Das Geräusch der Sirenen kenne ich. Die machen manchmal Probealarm, aber nie nachts. Meine Kinderzimmertür ist – wie immer – nur angelehnt. Durch den Spalt kann ich sehen, dass im Wohnzimmer Licht brennt. Ich rappele mich aus dem Bett, nehme meinen Teddy Moritz mit und tapse ins Wohnzimmer.
Mami und Papi sitzen auf dem Sofa. Das Radio läuft. Eine durchdringende Stimme spricht und meine Eltern machen ernste Gesichter.
«Was ist denn los?», frage ich verschlafen.
«Wir haben eine Sturmflut, Tom», sagt Papi.
Mami streckt ihre Arme nach mir aus: «Komm, mein Großer!»
Beide nehmen mich zwischen sich und ich kuschele mich mit Moritz im Arm bei ihnen ein.
«Die Deiche sind gebrochen. Ganze Stadtteile sind überschwemmt.»
Unser Haus liegt direkt am Goldbekkanal. Obwohl ich schon fünfeinhalb bin, habe ich Angst.
«Werden wir auch überschwommen?»
«Nein, nein, hier sind wir in Sicherheit», beruhigt mich mein Papi.
Damit ich keine Angst mehr habe, darf ich heute bei Papi und Mami im großen Bett schlafen. Moritz auch. Hier kann uns nichts passieren.
Am nächsten Tag komme ich auf die Wiese hinterm Haus. Von meinen Freunden ist niemand da. Also muss ich allein gegen die Sturmflut kämpfen. Ich bin Offizier der Bundeswehr und werde Menschen aus dem Wasser holen. Davon hatte mir Papi beim Frühstück erzählt. Ich muss den Hang hinunter zum Wasser. Tausende werde ich retten! Ich bin der Held der Sturmflut! Bestimmt werden sie im Radio von mir berichten. Ich werde einen Orden bekommen! Schnell! Die Ertrinkenden müssen an Land gezogen werden! Los, runter zum Wasser …
Der Hang ist rutschig, ich glitsche aus und schliddere hinab. Meine Gummistiefel werden erst von einem überfluteten Zaunpfahl gebremst. Ich liege komplett im Wasser, mit gelbem Ölzeug und Regenhose, nur mein Kopf bleibt fast trocken. Ich kriege einen Zweig zu fassen und kann mich wieder den Hang hochziehen. Gott sei Dank bin ich nicht untergegangen! Aber mein Südwester ist weg, der schwimmt mitten im Kanal, leuchtend gelb im grauen Wasser.
Nass, frierend und heulend laufe ich über die Wiese. Kurz bevor ich zur Haustür komme, sehe ich unser Auto wegfahren. Ich kann gerade noch von hinten erkennen, dass mein Vater und meine Mutter darin sitzen.
«Mami!!!» – «Papi!!!» –
Zu spät.
Ich klingele beim Nachbarn, Herrn Franken. Keiner öffnet. Bei meinem Freund Ralf. Nichts. Bei anderen netten Nachbarn. Auch nichts. Bei doofen Nachbarn will ich nicht klingeln. Ich bin klatschnass und total allein. Was jetzt?
Ich mache mich auf den Weg zu Omaka. Es ist windig und regnet. Mir ist eiskalt. Werde ich erfrieren? Wasser steht in meinen Gummistiefeln und squatscht bei jedem Schritt. Der Weg zu Omaka kommt mir endlos lang vor. Aber sie ist da und macht sofort die Tür auf. Gerettet.
«Mein Gott, Tomchen! Was ist denn mit dir passiert?», fragt sie.
Ich schluchze und klappere und stottere und versuche zu erklären …
«Na komm; dich müssen wir erst mal aufwärmen», sagt Omaka.
Sie zieht mich aus, steckt mich in ein weißes Nachthemd und umwickelt mich mit ihrer roten Wolldecke. Als mir wieder warm ist, geht Oma mit mir vor den Spiegel im Flur. Sie zeigt mir, wie ich in ihrem langen, weißen Nachthemd aussehe. Wie ein Gespenst. Wir kichern.
Dann macht mir Omaka eine heiße Milch mit Honig und sagt: «So, Junge, und jetzt halt dich grade. Du hast doch Offiziersblut!»
Was ich damals träumte:
Ich gehe mit meiner Mutter am Nordseestrand entlang. Der Wind pfeift. Es ist kalt. Wir tragen Mützen. Der Himmel ist grau; hängt tief, breit und schwer über dem Meer. Plötzlich entdecke ich am Horizont eine riesige Welle. «Mami, eine Sturmflut!!» Die Welle kommt näher. Wir fliehen. Sie kommt. Wir müssen die Steilküste hoch. Wir rutschen immer wieder ab. Die Welle donnert an den Strand. Wir sind fast oben. Aber das Wasser erreicht schon unsere Füße. Mit den Händen können wir uns im Seegras festkrallen und raufziehen. Geschafft! Wir atmen auf. Dann blicken wir zurück. – Die Welle überflutet den Dünenkamm. Sie verfolgt uns. Wir rennen um unser Leben …
Oder: Ich liege in meinem Bett. Die Sirenen heulen. Eine Sturmflut kommt. Ich rufe: «Mami!» Keine Antwort. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Meine Zimmertür ist verschlossen. Ich gehe zum Fenster und schaue raus. Die Wiese steht schon unter Wasser. Das Wasser steigt. Ich hämmere an meine Zimmertür. «Mami!!!» – Nichts. Das Wasser erreicht mein Fenster. Im dritten Stock. Ich schreie. Unser gesamtes Haus steht jetzt unter Wasser. Dann dringt die Flut durch die Fensterritzen in mein Zimmer ein. Das Wasser steigt weiter, es geht mir bis zum Knie, ich klettere auf den Tisch. Es steigt bis zu meinem Bauchnabel, ich klettere auf den Schrank. Es geht mir bis zum Hals. Ich will schreien, aber ich kann nicht. Es steigt …
Ich wache auf. Meine Mutter sitzt an meinem Bett und streichelt mir sanft den Kopf. «Nur ein Traum, Tom. Nur ein Traum.»
• • •
«Fertig mit den Hausaufgaben?»
«Mhm. – Äh, – ja.»
«Gut. Dann sieh zu, dass du nach Hause kommst. Ich muss zum Friseur. Morgen können wir wieder spielen.»
Ich packe meine Schulsachen in den Ranzen und ziehe meinen Anorak über den grün-blau-braun gemusterten Pullover.
«Tschüss, Omaka.»
«Tschüss, mein Tomchen. Bis morgen.»
«Mhm.»
Ich gehe ins Treppenhaus und Oma macht die Tür zu. Ich lausche an der Tür, bis ich höre, dass sie ins Bad geht. Schnell eine Treppe höher. Anorak aus. Pullover aus. Omaka hat ihn mir geschenkt. Sie kauft öfter Kleidung für mich, ‹auf Zuwachs›, wie sie sagt. Ihr Geschmack ist von vorvorgestern. Ganz unten im Ranzen habe ich meinen hellblauen Lieblingsnicki. Den ziehe ich jetzt an. Der Pullover kommt in den Ranzen. Anorak wieder an und schnell die Treppe runter. So mache ich das oft. – Morgens vor der Schule sagt Mami: «Zieh doch mal den Pulli von Omaka an. Dann freut sie sich.»
«Der ist scheußlich. Und viel zu groß.»
«Ach, Tom.»
«Und er kratzt.»
«Aber du hast doch was drunter. Und Omaka freut sich so. Sie gibt sich so viel Mühe.»
«Das ist Erpressung!»
«Ach, Tom.» Sie streichelt mir die Wange.
Es war immer nur ‹ausnahmsweise› oder ‹dieses eine Mal›. Und ich habe Omaka ja auch lieb und es freut mich, wenn sie sich freut. Deshalb habe ich mir den Trick mit dem Umziehen ausgedacht. Bei Mami ziehe ich irgendetwas Scheußliches von Oma an – im Keller ziehe ich mich um. In der Schule trage ich dann meine Lieblingssachen. Bei Schulschluss tausche ich auf dem Klo. Danach freut sich Omaka darüber, dass ich ihre Sachen trage.
Als ich ins Treppenhaus komme, höre ich Frau Tieck im Keller reden, ihr Mann ist unser Hausmeister. Sie sagt oft ‹Och, nee!›, wenn ihr jemand etwas erzählt, daran kann man sie sofort erkennen. Unser Treppenhaus mag ich gern. Den Geruch nach Wäsche oder den Geruch nach Kuchen, der manchmal aus Fräulein Stäubles Wohnung im Parterre kommt. Früher, als ich noch viel kleiner war, bin ich die Treppe raufgerannt und Papi hinterher. Er war immer langsamer als ich und hat durch die Gitterstäbe des Geländers versucht, mich an den Beinen zu packen. Ich war jedes Mal als Erster oben und Papi war aus der Puste.
Wir wohnen im dritten Stock. Neben uns wohnt Herr Franken, den meine Eltern von früher kennen. Er zeichnet Werbebilder und lebt mit Fräulein Graf in ‹wilder Ehe›. Sie sind aber gar nicht wild, sondern nett und ruhig. Schräg unter uns wohnt mein bester Freund Ralf. Er ist so alt wie ich. In seinem Zimmer hängt ein Rohrstock an der Tür. Damit wird er manchmal von seinem Papa verhauen. Danach hat Ralf Striemen, die hat er mir mal gezeigt. Bei uns wird nie gehauen.
Jetzt bin ich oben angekommen. Der Schlüssel ist in meinem Anorak, mit einem langen Band daran, damit ich ihn nicht verliere. Ich will den Schlüssel ins Schloss stecken, doch er geht nicht rein. Ich klingele. Es passiert nichts. Ich versuche es noch mal mit dem Schlüssel. Es geht nicht. Da steckt was im Schloss. Sieht so aus, als würde von innen ein Schlüssel stecken. Noch mal klingeln. – Nichts. – Sturmklingeln. – Keine Reaktion. Ich gehe rüber zur Nebenwohnung und läute dort. Herr Franken öffnet. Er trägt seinen weißen Kittel mit Farbflecken und hat einen Stift in der Hand.
«Na, Tom, ist was Wichtiges? Ich arbeite gerade an einer Zeichnung.»
«Ich komme nicht rein. Da steckt ein Schlüssel von innen.»
«Hast du geklingelt.»
«Ja. Macht keiner auf.»
Herr Franken guckt ernst und schiebt mich in seine Wohnung.
«Komm. Setz dich da hin.»
Herr Franken geht gar nicht mehr zu unserer Tür, sondern direkt zum Telefon auf dem Tischchen im Flur:
«Hier Franken. Wir brauchen den Rettungsdienst …»
Unser Nachbar Herr Franken hat sich um mich gekümmert, während Feuerwehr und Rettungsdienst kamen, die Wohnung aufbrachen und meine Mutter mit Blaulicht ins Krankenhaus brachten. Irgendwie hat Herr Franken gute Worte für mich gefunden. Ein, zwei Sätze darüber, dass auch Erwachsene manchmal Dummheiten machen, oder so. Ihm war anscheinend sofort klar, dass meine Mutter einen Suizidversuch unternommen hatte. Ich weiß nicht, warum. Herr Franken hatte einige Situationen miterlebt, in denen es meiner Mutter nach der Scheidung nicht gut ging. Manchmal kam sie erst spät nach Hause und war angetrunken; einmal war sie abends auf der Straße vor unserem Haus gestürzt, und Herr Franken hatte sie bei mir abgeliefert, mit blutiger Stirn und aufgeschürften Händen. Ich hatte einen Schreck bekommen, mir aber nichts anmerken lassen. Ich habe meiner Mutter geholfen, sich auszuziehen und sie ins Bett gebracht. Damals war ich acht.
Nun aber, nachdem ich vor der verschlossenen Wohnungstür gestanden hatte, spürte ich Angst. Große Angst. Doch ich weinte nicht. Ich dachte: Ich darf ihr jetzt keine Sorgen machen, damit sie schnell wieder gesund und alles wieder gut wird.
In der folgenden Nacht habe ich in der großen Altbauwohnung meines Vaters übernachtet. Am nächsten Tag ging ich nach der Schule wieder zu meiner Großmutter, so wie immer.
Omaka hielt meine Hand, nach dem Kartenspielen.
«Ach, mein Tomchen. Das wird schon wieder.» Sie schaute mich liebevoll an.
«Lass den Kopf nicht hängen, Junge.» Dann drückte sie meine Hände fester. «So, und nun halt dich grade. Wir müssen alle mal was durchstehen. Da hilft unser Offiziersblut.»
Ich habe weder ‹Mhm› noch ‹Ja› gesagt. Ich hätte mich gern ganz klein gemacht, um tief in Omakas warmer, roter Wolldecke zu versinken. Der Geruch nach ‹Damals› wäre schön gewesen. Aber die Decke lag ordentlich gefaltet an ihrem Stammplatz auf dem Sofa. Und da blieb sie auch.
Und ich blieb erst mal bei meinem Vater.
Das erste Wiedersehen mit meiner Mutter fand im Krankenhaus statt. Eine weiß gekleidete Stationsschwester öffnete meinem Vater und mir die Tür ins Krankenzimmer. Die Sonne schien in einen strahlend weißen Raum, gebohnertes hellgraues Linoleum reflektierte die Strahlen. In einem Krankenbett mit weißer Bettwäsche lag meine Mutter. Ich sah nur ihren Hinterkopf, ihre dunklen, schwarzen Haare zwischen weißen Kissen. Niemand sagte ein Wort. Schlief meine Mutter? Hatte sie unser Eintreten gehört? Wollte sie nicht reagieren? Oder konnte sie nicht?
Ich stand regungslos etwa ein bis zwei Meter von ihrem Bett entfernt. Dann bewegte sich etwas zwischen den Kissen. Wie in extremer Zeitlupe drehte sich meine Mutter zu uns um. Als ich ihr Gesicht sah, ging ich langsam auf sie zu. Ihr Blick schien aus einer anderen Welt zu kommen. Kalt. Fremd. Fern. Ich schluckte, wich ihren Augen aus, sah graues Linoleum. Als ich wieder aufschaute, drehte sie ihren Kopf langsam von mir weg in Richtung Fenster. Ich konnte nicht weinen.
• • •
Meine Mutter pendelte lange zwischen den Welten. Wenn sie nicht ‹stabil›, sondern ‹labil› war, wohnte ich bei meinem Vater. Für mich war die Unterscheidung zwischen ‹labil› und ‹stabil› wie eine Verkehrsampel: Stabil war grünes Licht – ich konnte wieder zu Hause und bei ihr sein; labil hieß rotes Licht – Zwischenparken bei meinem Vater, in der großen, dunklen Wohnung, in der es immer kühl war.
Die Ampelphasen wechselten über mehrere Jahre. Rotes Licht: wieder Therapiebedarf oder gar ein stationärer Aufenthalt, also ab zum Vater. Grünes Licht: okay, es geht wieder, also zurück nach Hause. Grellrotes Licht: ein erneuter Suizidversuch, Rettungsdienst, Klinik. Schwachgrünes Licht: Es sieht wieder besser aus, vielleicht klappt gemeinsamer Alltag testweise für ein Wochenende.
Zwischen Rot und Grün gab es auch Gelbphasen, in denen der Zustand nicht eindeutig war. Eigentlich leuchtete immer ein gelbes Licht. Dauerblinkend, wie eine Vorwarnampel, die ‹Achtung› signalisierte; die immer darauf hinwies, dass Grün jederzeit wieder zu Rot wechseln könnte.
Ich habe mir als Kind eine unsichtbare Ritterrüstung angezogen, die mich schützen und vor dem Zusammensacken bewahren sollte. Ich durfte meiner Mutter keinen Kummer bereiten. Sie sollte doch bei mir bleiben. Ich musste stark sein, sie brauchte mich ja. In roten Phasen, wenn meine Mutter in stationärer Behandlung war, bin ich oft nach der Schule zu ihr gefahren, mit dem Schulranzen auf dem Rücken; bin über das Gelände der Psychiatrie getrottet, zwischen den Pavillons hindurch bis zu ihrer Station. ‹Wie ein tapferer kleiner Zinnsoldat›, hatte Omaka das mal beschrieben. Das klang so, als könne ich darauf stolz sein. Ja: Ich hielt mich gerade. Mein Kummer, meine Angst, meine Panik, dass meine Mutter mich für immer verlassen könnte, wurden in einem Tornister verschnürt, den sich der kleine Zinnsoldat auf seinen Rücken schnallte. Mit festen Riemen verschnürt, aber dem eigenen Blick entzogen. Gefühle zeigte der kleine Zinnsoldat, der aufrechte kleine große Junge in seiner unsichtbaren Ritterrüstung nur, wenn sein Vater schlecht über seine Mutter redete. Wenn er sie ‹labil› nannte oder gar ‹geisteskrank› oder ‹nicht ganz richtig im Kopf›. Dann bekam der kleine Zinnsoldat Wutausbrüche, rannte in sein Zimmer, schlug die Tür zu, trat die Ritterburg um, die er aus Lego gebaut hatte, schmiss das James-Bond-Auto an die Wand, das sein Vater ihm geschenkt hatte, riss das Fix und Foxi-Heft in Fetzen, das Omaka ihm mitgebracht hatte. Dann wünschte er sich, bald wieder für immer bei seiner Mutter sein zu können, wieder mit ihr gemeinsam auf dem Sofa zu sitzen, seinen Kopf in ihren Schoß zu legen und das lustige Gluckern in ihrem Bauch zu hören.
Was ich in jener Zeit träumte:
Ich hocke in unserem Wohnzimmer auf dem Fußboden und spiele mit Lego. Meine Mutter sitzt auf dem Sofa und raucht. Sie drückt ihre Zigarette aus, steht auf und geht vom Zimmer in den Flur. «Was machst du?», frage ich. Sie gibt mir keine Antwort und zieht ihren Mantel über. «Wo willst du hin?» Keine Antwort. Ohne mich anzublicken, öffnet sie die Wohnungstür, verlässt die Wohnung und zieht die Tür hinter sich zu. Ich höre, dass sie den Schlüssel ins Schloss steckt und von außen zuschließt. Ich höre sie die Treppe hinuntergehen. Ich renne zum Fenster, öffne es und schaue nach unten auf die Straße. Ich sehe sie aus dem Haus kommen und rufe: «Mami!!!» Sie schaut nicht hoch und überquert die Straße. «Mami, geh nicht weg!!!» Sie entfernt sich weiter, mit dem Rücken zu mir. «Maamiiiiiiiii!!!» Sie blickt sich nicht um. Sie geht. Für immer.
• • •
In dem Jahrzehnt, an dessen Anfang der erste Astronaut die Erde umkreiste und an dessen Ende die ersten Menschen den Mond betraten, schwärmte auch ich von Flügen zu fernen Galaxien. Manchmal träumte ich sogar, dass ich vom Fensterbrett meines Kinderzimmers aus losfliegen konnte, mit ausgebreiteten Armen, wie ein Brustschwimmer in der Luft. Zunächst schwebte ich über den Dächern der Stadt, sah unser Haus und unsere Straße von oben, dann stieg ich höher und konnte bis zu den Bergen und den Meeren blicken. Einmal überflog ich im Traum eine unbekannte Insel im Ozean, auf der mitten im Urwald ein Vulkanschlot rauchte.
Gemeinsam mit meinem Grundschulfreund Omar gründete ich den ‹Astronautenclub›. Wir tagten in meinem Kinderzimmer, planten Weltraumflüge und hatten Funkkontakt zu Mars und Jupiter. Natürlich wussten wir die Namen aller Planeten auswendig und kannten ihre Position im Sonnensystem. Großen Erfolg hatten wir bei einem Kinderfest, bei dem wir beide als Astronauten verkleidet auftauchten, in weißen Raumanzügen mit weißen Helmen aus Plastik, die total echt aussahen. Meinen Helm hatte mir mein Vater zu Weihnachten geschenkt. Ich war begeistert. Omar nervte dann seine Eltern so lange, bis er auch einen bekam. Das war harte Arbeit, denn Omar hatte noch drei Geschwister und sein Vater, der aus Marokko stammte, verdiente nicht viel. Einen marokkanischen Freund zu haben, war etwas Besonderes, denn es gab nur wenige Mitschüler mit Wurzeln im Ausland. Ich wollte gleich am allerersten Schultag neben Omar sitzen und fand es klasse, bei ihm zu Hause zu sein, wo vieles anders war. Besonders das Wohnzimmer mit fünf Sofas an drei Wänden, auf denen immer ganz viele Verwandte saßen und laut miteinander redeten, war prima. Auf dem Fernseher stand eine funkelnde Moschee aus Plastik, die bunt leuchtete, wenn man den Strom einschaltete. Wunderschön!
Auf unserem Schwarz-Weiß-Fernseher stand nichts, aber ich durfte mit meiner Mutter zusammen die Mondlandung sehen (grüne Phase). Wir saßen eng beieinander auf dem Sofa, ganz gemütlich. Die Mondlandung war unglaublich aufregend und es war völlig klar, dass in der Weltraumeroberung die Zukunft der Menschheit liegen würde. Wir würden Mond und Mars besiedeln! Wir würden fremde Galaxien erobern! Wir würden in riesigen Weltraumstationen leben! Wir Menschen werden das Universum beherrschen!
Omar und ich hatten in unserem ‹Astronautenclub› präzise Vorstellungen von der Zukunft. Dass man spätestens im Jahr 2000 auch auf der Erde nur noch schweben würde, in Flugautos, deren Atomantrieb mühelos für Wochenendausflüge zum Saturn reichte, war vollkommen klar. Omar und ich malten viele Bilder unserer zukünftigen Fluggeräte und pflasterten damit die Wände unserer Zimmer.
Wenn ich bei meinem Vater lebte (rote Phasen), spielte das Weltall auf andere Weise eine Rolle. Mein Vater hatte wechselnde Freundinnen, die mit unterschiedlichem Erfolg versuchten, sich bei mir Liebkind zu machen. Zunächst gab es Birgit, die den Ansatz verfolgte, dass Liebe durch den Magen geht. Ich war inzwischen Gymnasiast und wurde nach der Schule nicht mehr von Omaka bekocht. Stattdessen fuhr ich mit der U-Bahn zu meinem Vater in die große Altbauwohnung. Dort gab es Tiefkühlkost, von Birgit liebevoll erwärmt. Ihr Favorit: ‹Schlemmerfilet Bordelaise› in der Aluschale. Das musste man einfach nur vierzig Minuten in den heißen Ofen stellen. Mein Vater aß meistens mit, da sich sein Fotostudio in der Wohnung befand. Birgit beherrschte auch die Zubereitung von Fischstäbchen, Reispfanne aus dem Plastikbeutel und Schaschlik aus der Dose. Man musste ihr zugutehalten, dass ihre Form der Kochkultur hochmodern war und stark in Richtung Astronautennahrung ging. Meine Liebe erwarb sie sich dennoch nicht.
Christine hatte eine bessere Taktik. Sie war prinzipiell ein vorsichtiger Mensch. Deshalb behielt sie ihre kleine Wohnung und zog nicht mit Sack und Pack bei meinem Vater ein. Das ersparte ihr einen tränenreichen Auszug mit zahlreichen Kisten und Koffern, wie ihn Birgit nach drei Monaten hatte hinter sich bringen müssen. Sie vergaß dabei jedoch nicht, alle Geschenke wieder mitzunehmen, die sie meinem Vater gemacht hatte.
Christine kam also mit kleinem Gepäck und gönnte sich nach unharmonischen Auseinandersetzungen mit meinem Vater kleine Auszeiten. Ihr enormer Vorteil war ein Fernseher, der in ihrem ‹Apartment› stand. Bei meinem Vater gab es keinen, was aus meiner Sicht die Ödnis seiner dunklen Wohnung erheblich verstärkte. Den Begriff ‹Apartment› hatte ich noch nie gehört, er klang aber richtig schick und wurde deshalb von Christine gern verwendet. Als ich zum ersten Mal in ihrer Wohnung war, entdeckte ich beim Pinkeln in ihrem Bad eine Sitzbadewanne. Auch so etwas hatte ich noch nie gesehen. Da sich die Wohnung ansonsten von anderen nicht unterschied, musste eine Sitzbadewanne das Kennzeichen für ein ‹Apartment› sein.
Ihr Fernseher stand in einem Wohnzimmer, das komplett mit Möbeln aus den frühen sechziger Jahren eingerichtet war. Alles sehr modern, bis hin zur Braun-Stereoanlage. Christine war stolz darauf. Sie hatte alles von ihrem selbst verdienten Geld gekauft, wie sie betonte. Alte Möbel oder Familienfotos an den Wänden gab es nicht. Nur ein gemalter Fisch von Paul Klee hing an der Wand. «Gerahmtes Kalenderblatt», sagte mein Vater verächtlich. Was wir auf Christines Fernseher sahen, verschlug mir den Atem: Raumpatrouille mit Dietmar Schönherr und Eva Pflug. Die Abenteuer des Raumschiffs Orion beim Patrouillendienst in der Unendlichkeit des Alls. Ein faszinierender Ausblick in die Zukunft der Menschheit! Alle Folgen durfte ich bei ihr sehen. Damit konnte Christine richtig punkten. Nur einmal, als sie nach einem sehr lauten Gespräch mit meinem Vater eine Auszeit nahm, verpasste ich die neueste Folge der Raumpatrouille. Egoistische Zicke.
Nach den Ein- und Auszügen einiger anderer Damen, die keinen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterließen (außer vielleicht Martha, wegen ihrer rhythmischen nächtlichen Schreie in außergewöhnlich hoher Stimmlage), kam Hannelore. Hannelore blieb.
Wenn Omar und ich uns treffen und uns nichts anderes einfällt, spielen wir Weltraummission. Und wenn außer uns niemand zu Hause ist, gehen wir dazu in die Dunkelkammer.
Die Dunkelkammer ist ein von der Küche abgeteilter Verschlag, den mein Vater selbst eingebaut hat. Er hat Wände aus Sperrholz und ist innen ganz dunkel. Auf einem Tisch stehen die Becken mit Entwickler, Stopp- und Fixierbad. Daneben eine leere Plastikschale. Mit ihr werden Filme, Kontaktbögen oder Vergrößerungen zum Wässern in die Badewanne transportiert. Ganz hinten in der Dunkelkammer steht das Vergrößerungsgerät. Wegen der vielen Chemikalien darf ich die Dunkelkammer ohne meinen Vater eigentlich nicht betreten. Aber er hat mir schon alles erklärt, und ich kann bereits alleine entwickeln und vergrößern.
Jetzt bin ich zum ersten Mal heimlich mit Omar in der Dunkelkammer. Ich mache die rote Weltraumbeleuchtung an. Sie glimmt nur ganz schwach, sodass man fast nichts sieht und sich fühlt wie im All.
«Achtung, Major Omar, ich aktiviere den Overdrive.»
«Verstanden, Commander Tom.»
Die Dunkelkammer ist eng, es riecht nach Fixierbad und Essig. Ich schalte die Zeituhr des Vergrößerungsgerätes ein. Sie tickt laut. Wir rasen durch die Galaxis.
«Raketenaktivator auf Fünf Null Zehn.»
«Verstanden. Raketenaktivator Fünf Null Zehn.»
Die Belichtungsuhr klingelt scheppernd.
«Alarm! Leck im Raketentank! – Wir müssen den Ausstieg aus dem Raumschiff vorbereiten!»
Das heißt, ich muss als Commander die Raumanzüge überprüfen.
«Major Omar, ist ihr Raumanzug in Ordnung?»
«Jawohl, Commander Tom.»
«Ich muss das überprüfen.»
Ich taste Omars Schultern ab und seinen Rücken.
«Okay. – Umdrehen!»
Omar dreht sich um. Ich stehe hinter ihm. Ich taste seine Brust ab und seinen Bauch.
«Der Sauerstoffanschluss muss getestet werden.»
Ich fahre mit der Hand unter sein Hemd und suche den Bauchnabel. Ich stecke meinen Zeigefinger in seinen Nabel.
«Der Sauerstoffschlauch fehlt. Sie würden bei einem Ausstieg sterben, Major Omar!» Ich spreche mit Befehlsstimme. «Ich muss den Notschlauch suchen.»
Ich rutsche näher an Omar heran und fahre mit beiden Händen über seinen Bauch. Er ist schlank und weich und warm. Ich schiebe eine Hand tiefer und rutsche unter seinen Hosenbund. Dann unter den Rand seiner Unterhose. Mein Herz klopft. Ich ziehe die Hand wieder hoch und knöpfe mit beiden Händen seine Hose auf. Omar bewegt sich nicht. Ich höre ihn atmen.
Ich schiebe seine Hose nach unten. Dann tauche ich mit beiden Händen in seine Unterhose. An meinem Oberkörper spüre ich, dass auch Omars Herz heftig klopft. Ich untersuche Omar genau.
«Der Notschlauch ist in Ordnung.» – Pause – … – Herzklopfen – …
«Jetzt müssen Sie mich überprüfen, Major Omar. Das ist Vorschrift.»
Ich drehe Omar zu mir um und helfe ihm beim Öffnen meiner Hose. Omars Hand untersucht vorsichtig und langsam. Als sie ihn findet, ist mein Notfallschlauch im Alarmzustand. Omar sagt: «Oih!»
Omar und ich haben noch öfter nach Gelegenheiten gesucht, ‹Alarm im Weltall› weiterzuspielen. Manchmal tauschten wir die Rollen, dann war Omar der Commander und ich war Major Tom. Besonders aufregend wurde es, als wir testeten, ob uns im äußersten Notfall gegenseitige Beatmung gelänge.
Leider kam mein Vater eines Tages früher nach Hause als erwartet. Er hat uns zwar nicht mehr unmittelbar beim Überprüfen unserer Sicherheitssysteme erwischt – aber in der verbotenen Dunkelkammer, mit roten Köpfen und verlegenen Antworten auf seine strengen Fragen. Das war uns beiden so peinlich, dass es uns nicht mehr gelang, unbefangen miteinander umzugehen. Als Omar später die Schule wechselte, bewohnten wir andere Sonnensysteme und begegneten uns nie wieder. Mein Vater nahm mich nie mehr mit in die Dunkelkammer.
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Meine Mutter pendelte über mehrere Jahre zwischen starken Depressionen und vager Hoffnung. Ein neuer Therapeut, neue Methoden und wohl auch neue Medikamente sorgten dann für mehr Stabilität. Ein Job in einer anderen Stadt wurde für sie zum Prüfstein der Alltagsbewältigung. Endlich wieder als Journalistin arbeiten können. Ein großer Schritt nach vorn.
Nachdem Mutter ihre Koffer gepackt hatte, wurde unsere Wohnung am Ufer des Kanals möbliert untervermietet. Eine Studentin aus Bielefeld, Tessi, wohnte dort für ein Jahr. Sie schlief im Schlafzimmer meiner Mutter (und manchmal, nach zu viel Wein, auf dem Sofa im Wohnzimmer). Mein Zimmer blieb unangetastet, sodass ich als Vierzehnjähriger ab und zu nach der Schule hierherkam, ein bisschen abhing und erst dann zu meinem Vater und Hannelore fuhr. Manchmal war Tessi da, wenn ich in unsere Wohnung kam. Sie rauchte viel – wie meine Mutter –, wodurch ich mich zu Hause fühlte. Und sie hörte klassische Musik – wodurch ich mich fremd fühlte. Tessi hatte eine Sammlung von 23 Langspielplatten, auf die sie sehr stolz war. Als ich einmal allein in der Wohnung war, guckte ich Tessis Platten durch. 21 davon waren Klassik, aus meiner Sicht also spießig. Die 22. hieß Jeder Boy ist anders - Eine Boy-Party mit Gitte und die letzte Die allerfrechsten Chanson mit Helen Vita. Diese Chansons hörte ich mir an. Die schlüpfrigen Texte waren ganz lustig, aber die Stimme der Vita fand ich schrecklich. Ich stellte die Platten zurück, ohne auf die Sortierung zu achten.
«Warst du an meinen Platten?», fragte Tessi wütend.
«Mhm», machte ich. Peinlich.
«Du Arsch!»
«Tut mir leid.»
«Hast du sie auch aufgelegt?»
«Ne, ne. – – – Nur eine, ganz kurz.»
«Du Arsch. – Etwa den BEETHOVEN?» Das war ihre Lieblingsplatte, die war heilig.
«Ne, die Chansons.»
«Die Vita? Du Sau!», sagte Tessi, wurde rot und verfiel in Schweigen. Ich musste dann mal los zu meinem Vater.
In diesem Jahr kam meine Mutter zweimal zu Besuch aus Süddeutschland. Dann übernachtete auch ich in unserer Wohnung am Kanal, in meinem Zimmer. Die Situation war merkwürdig, weil meine Mutter im Wohnzimmer auf dem Sofa schlief und Tessi in Mutters Bett. Eigentlich hatte Tessi zugesagt, nach Bielefeld zu ihrer Familie zu fahren. Das hatte aber – wie so vieles, was Tessi plante – nicht geklappt; aus irgendwelchen Gründen, auf die sie, wie sie vehement beteuerte, keinerlei Einfluss hatte. Was Tessi hingegen im Griff hatte, war, dass immer, wenn meine Mutter da war, im Wohnzimmer nur 22 ihrer 23 Schallplatten standen. Helen Vitas freche Chansons wohnten dann woanders.
An einem der beiden Wochenenden, an denen meine Mutter zu Besuch kam, war schönstes Sommerwetter. Auch abends gegen zehn war es noch wohlig warm. Die Außenalster lag fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt. Man musste nur die Kanalbrücke überqueren, in die nächste Seitenstraße abbiegen, am Gemüseladen und beim Milchmann vorbeigehen und dann noch ein bisschen links am Kanal entlang; schon erreichte man die Alster.
Meine Mutter und ich machten einen schönen Spaziergang, ganz so wie früher. Wir waren oft zusammen am Ufer entlangspaziert, schon, als ich noch klein war. Manchmal hatte ich mein Fahrrad dabeigehabt und flitzte, je nach Laune, voraus und wieder zurück oder schob und klönte mit ihr. Wir konnten gut und lange über alles Mögliche reden. Oder schweigend auf das Wasser gucken und uns an dessen Schönheit freuen. In der blauen Stunde war die Wasseroberfläche manchmal spiegelglatt. Das gegenüberliegende Ufer mit den alten Villen und den großen Bäumen zog sich dann wie ein schmaler Streifen zwischen Himmel und Wasser hindurch, durch die Spiegelung gedoppelt. Das warme, gelbe Licht der Gaslaternen markierte den Straßenverlauf wie eine gepunktete, leuchtende Linie. Darüber das dunkel strahlende Blau des Abendhimmels, das wiederum vom Wasser reflektiert wurde. Für mich sah es so aus, als würde das gespiegelte Ufer mit seinen alten Häusern und den von unten gelblich beleuchteten Baumkronen losgelöst im Weltall schweben. Friedlich und schön.
So einen Spaziergang machten wir an diesem Wochenende. Es roch nach dem frisch gemähten Rasen der Alsterwiesen. Das Wasser war unbewegt, das andere Ufer schwebte inklusive seiner auf dem Kopf stehenden Dopplung frei im blauen All. Eine Zeit lang hielten wir uns beim Gehen an den Händen und ließen die Arme schwingen.
«Ich glaube, ich bin bald wieder für immer hier», sagte meine Mutter.
Endlich. Darauf freute ich mich sehr. Wieder zu Hause sein. Gemeinsam.
Meine Mutter kehrte tatsächlich nach einem Jahr nach Hamburg zurück. Eine Freundin hatte ihr einen Job vermittelt. Tessi verschwand mit ihren 23 Platten aus unserer Wohnung. Mein weißer Dual-Plattenspieler, den ich zum 14. Geburtstag bekommen hatte, wanderte aus dem Kinderzimmer in der Wohnung meines Vaters in das Jugendzimmer bei meiner Mutter.
Immer, wenn ich auf eine neue Platte gespart und sie dann gekauft hatte, fragte mich meine Mutter, ob sie die mal hören dürfe. Jimi Hendrix, Led Zeppelin, Ten Years After. Sie selbst hatte gerade Janis Joplin entdeckt. Die mochte ich auch. Nina Simone fand ich auch okay. Bei Spiel nicht mit den Schmuddelkindern von Degenhardt konnten wir beide mitsingen. Meine Mutter mochte besonders Musik mit politischer Botschaft, ich näherte mich langsam ‹bewusstseinserweiternden› Klängen. Was gar nicht ging, war ‹kommerzielle› Musik.
Auch ich wollte ein cooler Musiker werden. Meinen Weg dahin sollte eine Kooperationsvereinbarung der geschiedenen Eltern ebnen. Die Mutter zahlte das Instrument, der Vater finanzierte den Unterricht. Ich entschied mich nicht für eine E-Gitarre, sondern aufgrund der geringeren Saitenzahl für einen E-Bass. Der sah genauso cool aus, ließ sich aber sicher leichter erlernen. Bei vier statt sechs Saiten vermutete ich etwa 33 Prozent weniger Aufwand bis zur Genialität.
Das Wichtigste am Musikunterricht waren der Hin- und Rückweg. Die Stunden selbst – bei einem nikotinvergilbten älteren Herren aus der Tanzmusikszene – verliefen äußerst öde. Zu Hause geübt habe ich so gut wie nie. Wichtig war der Gang zur U-Bahn mit dem Gitarrenkoffer in der Hand, den allmählich länger werdenden Haaren und der fransigen Wildlederjacke. Bestimmt machte ich auf der Straße einen sehr, sehr coolen Eindruck.
Zu Hause konnte man das Üben und Spielen gut simulieren, da der Verstärker (ohne den man vom E-Bass ja fast nichts hörte) eine Kopfhörerbuchse besaß. Musikalische Höchstleistungen ließen sich somit visuell darstellen, ohne dass das Hörerlebnis den guten Eindruck gemindert hätte. Gut, dass nie jemand mit Nachdruck gefordert hat, mich spielen zu hören.
Bei Gesprächen hat mir meine Mutter allerdings immer gut zugehört. Sie wollte wissen, was mich interessierte, was mich begeisterte und was ich doof fand. Ich sprach gern mit ihr. Ich erzählte von den Klassenfesten, bei denen wir Deep Purple hörten und beim Tanzen die Köpfe schüttelten, bis die Haare flogen. Die ebenso angesagte Alternative war, auf dem Fußboden im Kreis zu sitzen und ausschließlich die Köpfe zu schütteln. Das war eine Gruppentanzvariante für Jungs. Meine Mutter fragte mich auch, welche Mädchen mir gefielen. Ich nannte Vera, die freche, unangepasste. In meiner Klasse hätte es noch drei unterschiedlich attraktive Sabines sowie drei nette Susannen gegeben. Die wurden von den drei Michaels sowie je zwei Peters und Bernds umschwärmt. Bei unseren Festen tranken wir Cola Rum, die zweite Zutat inoffiziell. Darüber wurde auch meiner Mutter nicht berichtet. Wenn der zweite Teil bei der Dosierung überwog, wurde es schwieriger, ihn zu verheimlichen.
Den ersten Vollrausch hatte ich von Champagner. Eine junge Referendarin nahm mich und zwei Schulfreunde mit zu einer Party. Die fand an der Elbchaussee statt und war vermutlich keine Party, sondern ein Empfang. Wir waren viel jünger als alle anderen Gäste; die Herren trugen keine Schlaghosen und Felljacken, sondern Anzüge und Krawatten. Es gab Diener, die ständig herumliefen und Champagner ausschenkten. Die Gläser wurden nie leer, obwohl wir alles daransetzten. Die Diener (oder Kellner?) waren extrem aufmerksam und blieben immer höflich, ganz gleich, wie oft wir uns nachschenken ließen. Dann entdeckte ich, dass auf der Terrasse in der kühlen Abendluft ein großer Vorrat an Champagnerflaschen stand. Wir drei Jungs schnappten uns jeder zwei davon, setzten uns an den Rand des Pools, ließen die Korken ploppen und tranken um die Wette. Nach der zweiten Flasche setzte eine längere Erinnerungslücke ein …
Dann sehe ich mich mit meinen Freunden in der U-Bahn sitzen. Mir ist schlecht. Wie und wo bin ich in den Waggon gekommen? Alles dreht sich. – Ich verpasse meine Station und torkele an der nächsten aus dem Zug. – Erinnerungslücke. – Die Bahnhofstreppe abwärts muss ich geschafft haben, denn ich bin auf dem Weg nach Hause. – Kantstein, Sturz, Pause, Schmerz. – Aufstehen, weiter. Der Weg ist sehr, sehr lang. – Gedächtnislücke. – Endlich die Haustür. – Im Treppenhaus, drei Stockwerke nach oben. – Links an die Wand donnern, stolpern, rechts ans Geländer, weiter rauf, stolpern, hinsetzen, anlehnen. – Übelkeit. Hier nicht kotzen! – Weiter. – Liegenbleibenwollen, für immer. – Aufrichten. – Dritter Stock. – Schlüssel brauchen. Schlüssel suchen. – Wo? Da. – Schlüsselloch? – Dort. – Vorbei. – Noch mal … – Treffer. – Schlüssel umdrehen. Tür öffnen. Reingehen. – Leise sein! Meine Mutter schläft … – Schwanken. – Leise!!! – Nach rechts zielen. Zimmertür öffnen. Endlich! – Hinfallen. Uferlose Übelkeit. – Insbettwollen! – Schuhe müssen weg. – Kotzen. – Schuhe müssen aber weg! – Wieder kotzen. – Schuhe sollen aus! – Geht nicht, Knoten im Senkel. – Schere suchen. Da. – Schuhe aufschneiden. Schwierig. Sehr schwierig. – Kotzen. – Jetzt Schere glibschig. Noch schwieriger. – Endlich Schuhe auf. Schuhe weg! – Hinlegen. Irgendwo. – Alles nass und säuerlich. – Liegen. Schlafen. – Große Lücke –
Die Auswirkungen dieses gesellschaftlichen Ereignisses ließen sich am Folgetag nicht verbergen. Meine Mutter nahm es eher von der pflegerischen Seite. Erst am übernächsten Tag wunderte ich mich darüber, warum ich bei meinen Schuhen (hellbraune Wildlederstiefel, wadenhoch, heißgeliebt) nicht die Senkel zerschnitten, sondern jeweils den Schaft komplett seitlich aufgeschnitten hatte. Die Stiefel waren hin. Ich war nach zwei Tagen wieder okay. Die Referendarin bekam Ärger.