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Falk Richter

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Beschreibung

"Die einzige Frage, die bleibt, lautet: Wie konnten wir so leben? Warum haben wir nichts dagegen unternommen." Falk Richter Inmitten der Krise, angegriffen von Vertretern der Neuen Rechten, bezieht Falk Richter in Disconnected Stellung: Scharf analysiert er die Verwerfungen, die der neoliberale Kapitalismus und der Aufstieg der sogenannten Neuen Rechten dem Einzelnen in den westlichen Gesellschaften zumuten. Anschaulich und vehement beschreibt und verteidigt er sein Verständnis vom Theater als Ort der Analyse von Sprache und Ideologie, als Ort der Vielstimmigkeit, als geschützten Raum, in dem ungestört gedacht, diskutiert, ausprobiert werden kann. Falk Richter, der "Regisseur des Jahres" 2018 (Theater heute) und einer der wichtigsten, international einflussreichsten Theatermacher deutscher Sprache der Gegenwart, erläutert in Disconnected erstmals ausführlich und anhand zahlreicher Auszüge aus seinen Stücken sein Modell des Theaters, das Tanz, Text und Musik zu einem stets hochpolitischen Gesamtkunstwerk mit einer unverwechselbaren Theatersprache verbindet. Disconnected ist eine Analyse des Lebens in Zeiten der permanenten Überforderung und Erschöpfung, des Zerfalls der Gewissheiten, des Bruchs und der unsicheren Zukunft, sowie der Möglichkeiten des Theaters, die Zurichtungen des Einzelnen bewusst zu machen und Wege gegen die Bedrohungen der offenen, demokratischen Gesellschaft zu suchen. Ausgangspunkt des vorliegenden Buches sind drei öffentliche Vorträge, die Falk Richter im Rahmen der 5. Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik gehalten hat.

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Falk Richter, geb. 1969 in Hamburg, zählt zu den bedeutendsten Dramatikern und Regisseuren der Gegenwart. Studium der Regie an der Universität Hamburg; 1994 erste Arbeiten als Regisseur und Bühnendebüt als Dramatiker. 1999 erlangt er mit Gott ist ein DJ und Nothing Hurts als Dramatiker und Regisseur zunächst im deutschsprachigen Raum Bekanntheit. Wenig später gehört er, bis heute, zu den international einflussreichsten deutschsprachigen Theatermachern mit Arbeitsaufträgen an den wichtigsten nationalen und internationalen Bühnen, wie u. a. der Schaubühne Berlin, dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg, Schauspielhaus Zürich, Berliner Maxim Gorki Theater, Burgtheater Wien, Théatre National de Strasbourg, Dramaten Stockholm, Melbourne Theatre Company, den Salzburger Festspielen und dem Festival d’Avignon. In den letzten Jahren entwickelte er zunehmend mit Schauspieler*innen, Musiker*innen und Tänzer*innen freie Projekte ausgehend von eigenen Texten. Bislang entstanden über 35 eigene Theaterstücke, die in mehr als 30 Sprachen vorliegen und weltweit gespielt werden. Zu den bekanntesten gehören Gott ist ein DJ, Electronic City, Unter Eis, Im Ausnahmezustand, Trust, Rausch, Fear und Small Town Boy.

Falk Richter, »Regisseur des Jahres« 2018 (Theater heute), erläutert in Disconnected erstmals ausführlich sein Modell des Theaters, das Tanz, Text und Musik zu einem stets hochpolitischen Gesamtkunstwerk mit einer unverwechselbaren Theatersprache verbindet.

Inmitten der Krise, angegriffen von Vertretern der sogenannten Neuen Rechten, bezieht er in Disconnected Stellung: Scharf analysiert er die Verwerfungen, die der neoliberale Kapitalismus und der Aufstieg der Neuen Rechten dem Einzelnen in den westlichen Gesellschaften zumuten. Anschaulich und vehement beschreibt und verteidigt Falk Richter sein Verständnis vom Theater als Ort der Analyse von Sprache und Ideologie, als Ort der Vielstimmigkeit, als geschützten Raum, in dem ungestört gedacht, diskutiert, ausprobiert werden kann.

Johannes Birgfeld, geb. 1971, ist nach Lehrtätigkeiten in Bamberg, Sewanee (TN/USA) und Oxford Studiendirektor i. H. an der Universität des Saarlandes für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Initiator der Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik. Forschungen zur deutschsprachigen Literatur vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart.

Falk Richter

Disconnected

Theater Tanz Politik

Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik

Mit einem Nachwort herausgegeben

von Johannes Birgfeld

In dieser Reihe sind bereits erschienen:

Albert Ostermaier: Von der Rolle oder: Über die Dramatik des VerzettelnsShe She Pop: Sich fremd werden. Beiträge zu einer Poetik der Performance

Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Fachrichtung Germanistik an der Universität des Saarlandes.

Der Abdruck von Auszügen aus den Stücken Falk Richters erfolgt mit freundlicher Genehmigung des S. Fischer Verlages (Frankfurt a. M.).

Originalausgabe

© by Alexander Verlag Berlin, 2018

Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, 14050 Berlin

www.alexander-verlag.com | [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Satz und Layout: Johannes Birgfeld/Antje Wewerka

Umschlaggestaltung: Antje Wewerka

Umschlagfoto: Esra Rotthoff

Schlusslektorat: Christin Heinrichs-Lauer

ISBN 978-3-89581-463-1 (eBook)

Erste Vorlesung

Into the Void

Zweite Vorlesung

Choreografisches Theater zwischen Schauspiel und Tanz

Dritte Vorlesung

Der Hass auf das Fremde

Postskriptum 1

Postskriptum 2

Anmerkungen zu den Vorlesungen

»Die einzige Frage, die bleibt, lautet: Wie konnten wir so leben? Warum haben wir nichts dagegen unternommen?«

Falk Richters Konzept eines politischen Theaters des zugerichteten Subjekts

Nachwort von Johannes Birgfeld

Danksagung

I. INTO THE VOID

I.1. Der Anfang

Wie entsteht ein neues Projekt eines Autorregisseurs? Wie wird aus der ersten Suche im theaterkollektiven und schriftstellerischen Prozess ein Gesamtkunstwerk? Wie beginne ich ein neues Projekt, wie entstehen Text, Bewegung, Klang, Bild, und wie finden sie zusammen? Wie starte ich den künstlerischen Prozess, an dessen Ende eine Inszenierung steht? Am Anfang steht der Versuch, sich im Hier und Jetzt zu verorten, das Innen und das Außen zusammenzudenken.

Was passiert in mir jetzt, hier?

Was passiert um mich herum jetzt, hier?

Ich habe mich immer auch als Chronist meiner Zeit gesehen und versuche, den Außenraum abzusuchen hier und jetzt, seismographische Arbeit zu leisten und zu fragen: Wie verschiebt sich gerade in unserer Gesellschaft die Art zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren? Welchen Verunsicherungen, welchen neuen Aufgaben sind Menschen in komplexen westlichen Gesellschaften ausgesetzt? Welche Sehnsüchte treiben sie, welche Ängste? Was ist ihre Vorstellung von Glück? Wie wollen sie Beziehungen führen? Wie arbeiten sie, wie leben sie? Welches politische System, welche Marktgesetze, welche normativen Vorstellungen davon, wie sie Männlichkeit oder Weiblichkeit performen sollen, welche Bruchstücke religiösen Denkens, welche Ideologien walten in ihnen und bestimmen ihre Art zu handeln?

Wie lässt sich der Geschwindigkeitsrausch theatralisch sinnlich fassen, wie die Überforderung, die Erschöpfung, die Einsamkeit, die Angst vor Nähe, vor Verbindlichkeit und fester Bindung? Was ist der Klang dieser Zeit, welche Musik gibt unsere Zeit und die Kämpfe, die Menschen heute mit der Welt, die sie umgibt, austragen, wieder? Wie ist der Sound, der Beat der Sprache, die gesprochen wird? Zerrissen, schnell, flüchtig, komplex, überbordend, unüberschaubar, kalt, abgehackt? Sachlich, technokratisch, ideologisch, angeberisch, aufgeblasen wie der Effizienzsprech der Berater in meinem Stück Unter Eis1, das wir uns im weiteren Verlauf genauer anschauen werden? Suchend nach einer neuen Innerlichkeit, um eine neue Poesie ringend wie am Ende meines Stücks Zwei Uhr nachts2? Welche Sprachen, welche Jargons werden heute, hier, jetzt gesprochen?

Was sagen die Worte, die ein Mensch benutzt, was sagt die Struktur seiner Sätze über sein Denken aus, über sein Fühlen, sein politisches Kalkül, über den Grad seiner inneren Abgestorbenheit und Empathielosigkeit, über den eingefrorenen Hass, die Wut, die Angst, die in ihm walten? Mit welchen Worten spricht er über seine Sehnsüchte und den Wunsch nach einem Ausbruch aus einer Sprache, die den eigenen Empfindungen nicht mehr gerecht wird, mit der er das, was er jetzt in diesem Moment fühlt, nicht mehr sagen kann?

Am Anfang stehen erste ungeordnete Notizen, Momentaufnahmen, Mitteilungen über den Stand der Dinge. Was passiert hier gerade in diesem Moment in mir, in der Welt? Ein Fragerausch. Und so ist auch der folgende Text zunächst einmal als ein Fragerausch zu verstehen. Notizenhaft und in Fragmenten versuche ich zu skizzieren, welche Fragen mich bei der Theaterarbeit bewegen. Der Fragerausch ist der Motor, der Stück und Inszenierung und den Probenprozess vorantreibt, eine Suchbewegung hin zu einem möglichen neuen Projekt, das seinen Ausgang nicht bei einem fertigen klassischen oder zeitgenössischen Stück, nicht bei einem Filmskript und/oder einem Roman nimmt, sondern an dessen Anfang alle Möglichkeiten offen stehen und alle Richtungen denkbar sind. Das leere Blatt, der leere Raum, der Moment vor der ersten Skizze, vor den ersten Gehirnstürmen ließe sich auch als »the void«, also als eine »Leere« beschreiben, die über den künstlerischen Prozess mit Form und Inhalt gefüllt wird und sich allmählich zu einer fertigen Inszenierung entwickelt, die vor Zuschauer*innen gezeigt wird und sich der Kritik stellt.

Der Probenraum kann dabei der »space of emergence« werden, also der Raum, in dem etwas entsteht, das nicht immer planbar ist und weit über das hinausreicht, was ich an meinem Schreibtisch zuhause allein planen konnte. Viele meiner Texte setzen sich mit der völligen Vereinzelung des Individuums in einer marktorientierten Gesellschaft auseinander. Das Diktum der Effizienz und der ständigen Selbstausbeutung und Selbstoptimierung erreicht dabei zuweilen einen totalitären Anspruch an das Individuum, das unter dem Druck der Forderung ständiger Höchstleistung und unter dem Druck, ständig eine offene, lebensbejahende, anpassungsfähige, zu allem allzeit bereite Persönlichkeit zu performen, zusammenbricht, Ängste entwickelt, wild um sich schlägt oder sich tot und leer, von sich selbst und dem Rest der Gesellschaft abgetrennt und durchweg unverbunden – »disconnected« – fühlt. Die Suche nach einem Kollektiv treibt viele meiner Figuren um. Ich selbst suche auch immer wieder in künstlerischen Zusammenhängen danach, Kollektive, zumindest für eine kurze Zeit, entstehen zu lassen.

Gott ist ein DJ3 (1999), Electronic City4 (2003), Sieben Sekunden5 (2003), Die Verstörung6 (2005), Im Ausnahmezustand7 (2007), das waren alles Theaterstücke, die ich zuhause am Schreibtisch geschrieben und anschließend meinem Verlag übergeben habe. Die Stücktexte waren fertig, lagen gedruckt vor und konnten so von mir und anderen Regisseur*innen aufgeführt werden. Bei anderen Arbeiten wollte ich den Autor*innen-Begriff erweitern, außerhalb des Schreibateliers in den Dialog treten, als Autorregisseur, der in der Auseinandersetzung mit anderen Künstler*innen ein Gesamtkunstwerk erschafft, in dem sein Text eine zentrale Rolle einnimmt, als Autor, der sein Schreiben immer wieder mit anderen Kunstformen konfrontieren will und immer wieder die Begegnung und die Diskussion mit zeitgenössischen Sozialwissenschaftler*innen und Gesellschaftsphilosoph*innen und politischen Aktivist*innen sucht und die Gespräche in die Texte einfließen lässt.

Zurück zum Anfang: Nehmen wir als fiktiven Ausgangspunkt eine rauschhafte Nacht voller Fragen. Eine rauschhafte Nacht, in der ich endlich all das begreifen und erfassen will, was in mir und um mich herum geschieht, wie die Welt im Moment zu fassen sein könnte. – Dieser Satz könnte bereits der Startpunkt, der Ausgangspunkt für eine neue Arbeit sein. Und irgendwie erinnert er an eines der bekanntesten deutschen Dramen und seinen Titelhelden, der am Anfang der Tragödie Fragen stellt, auf die er keine Antworten findet, und der sich dann auf eine Reise begibt, die ihm mehr offenbart, als er sich am Ausgangspunkt seiner rauschhaften Nacht in seinem engen Studierzimmer hätte erträumen lassen.

Der Anfang. Mit wem rede ich über die ersten Ahnungen, die ersten Ansätze, die ersten Fragen? Mit wem trete ich in den Dialog, wer trägt Gedanken, Ideen, eigene Geschichten, recherchiertes Material bei? Wer erzählt mir von seinem Leben, seinen Gedanken, seinen Ängsten, seinen Erschütterungen, Krisen, Traumata, Träumen, Zielen, wilden Nächten, Plänen? Wer hat das interessanteste Material gelesen und berichtet von Texten und Gedanken anderer, mit denen sich die Auseinandersetzung lohnt, Material, das das eigene Denken schärft, neue Welten eröffnet oder einen erschreckt, irritiert, verstört?

Manchmal wird während der Stückentwicklung der größte Diskursmüll angespült, mit dem man sich dann aber auch auseinandersetzen, zu dem man sich verhalten, zu dem man Stellung beziehen muss, gegen den man sich mit künstlerischen Mitteln wehren, den man abwehren, vor dem man die Welt schützen will: wie in meinem Stück Small Town Boy8 der Millionenbestseller Shades of Grey, der überholte Männer- und Frauenbilder aus den 1950er-Jahren reaktiviert und eine seltsam naive Hässlicher-Schwan-trifft-auf-Millionär-Märchenprinz-Fabel in einen abstrus seifig und völlig durchgeknallt hölzern getexteten SM-Reißer überträgt;9 oder wie jüngst in meinem Stück Fear10 die reaktionären menschenverachtenden Aussagen christlicher Fundamentalisten, die sich verharmlosend als »Familienschützer« bezeichnen und die Bibel missbrauchen, um gegen alles und jeden zu hetzen, der nicht ihrer sentimentalen reaktionären und realitätsfernen Vorstellung einer Biedermeier-Vorzeigefamilie entspricht; oder wie das aus den Diskursgräbern der dreißiger und vierziger Jahre wiederauferstandene rechtsnationale völkische, am nationalsozialistischen Jargon orientierte Gehetze einiger kleiner rechtsnationaler Randgruppen, die in Deutschland für ein Klima des Hasses und der Angst sorgen und zunehmend den öffentlichen Diskurs bestimmen. Wie verhalte ich mich dazu, zu dieser Sprache, zu diesem Denken?

Aber noch mal zurückgespult auf Anfang: Welches sind die ersten einfachen Fragen, die ersten Aufgaben, die ich mir am Beginn einer neuen Inszenierung stelle?

Der leere Raum hat eine Geschichte

Gibt es ihn, den leeren Raum? Jeder Raum, in dem Theater gemacht wird, hat eine Vorgeschichte. Wo genau führe ich auf? In einer alten Lagerhalle, einer Fabrikhalle, einem alten Kinosaal, einem Studio, einer Kunsthalle, einem Club, einem stillgelegten Flughafen, in einem Opernhaus, während eines Kunstfestivals? Was hat früher an diesem Ort stattgefunden, wer hat hier schon vor mir Theater gemacht? Und was wurde hier aufgeführt in welcher Form? Welche Geschichten erzählt der Raum, in dem ich aufführe? Und wie soll, wie will ich mich zur Geschichte und Gegenwart dieses Raumes verhalten? Es ist ein Unterschied, ob ich am post-migrantischen Maxim Gorki Theater in Berlin inszeniere oder in einer stillgelegten Industriehalle im Ruhrgebiet, wie z. B. der Jahrhunderthalle in Bochum, oder bei den Salzburger Festspielen. Jeder Raum hat bereits eine Geschichte, hat bereits ein Drama in sich eingeschrieben und bestimmt – wenn auch unterschwellig – die Wahrnehmung der Zuschauer. In einer Kunsthalle oder einem Museum schauen die Betrachter*innen anders auf ein Ereignis als in einem alten Theater mit einer Guckkastenbühne. An einem offenen Platz in der Stadt nehmen sie das Umfeld und das Ereignis anders wahr, als wenn sie mit nur einem einzigen Schauspieler gemeinsam in einem Hotelzimmer sitzen und dessen persönlicher Geschichte lauschen. Räume schaffen Nähe, schaffen Distanz, haben Geschichte, gesellschaftspolitische Kämpfe und persönliche Geschichten in sich eingeschrieben.

Wen bringe ich in diesem Raum zusammen? Welche Menschen sollen in diesem Raum aufeinandertreffen? Welche Geschichten tragen die Menschen in sich, mit denen ich arbeiten will? Mich interessieren die persönlichen Geschichten der an einem Projekt Beteiligten.

Mich interessieren die Herkunft, die kulturellen Einflüsse, das Gefühl von Zugehörigkeit der Tänzer*innen, Schauspieler*innen, Musiker*innen, Videokünstler*innen, Choreograf*innen, Bühnenbildner*innen, Lichtdesigner*innen, Komponist*innen, Kostümbildner*innen, Dramaturg*innen, Wissenschaftler*innen, Soziolog*innen, Gesellschaftsphilosoph*innen, politischen Aktivist*innen (live oder per skype zugeschaltet) und dann all der Assistent*innen und Hospitant*innen, die auch im Raum sitzen und zuschauen oder Materialien zum Prozess beitragen. Wer kommt da zusammen in so einer Arbeit? Welche Herkunftsgeschichten, welche künstlerischen Visionen, welche unterschiedlichen Arten von gelebtem Leben, sozialen Zugehörigkeiten und Familienhintergründen treffen aufeinander? Der Raum und die Menschen, die mit und in diesem Raum arbeiten, sind die ersten wichtigen Faktoren bei der Entstehung eines Projekts, an dessen Anfang noch kein fertiger Text, kein abgeschlossenes well made play steht. Ich spreche also hier über offene Projekte, jene Grenzüberschreitungen, die im Dialog mit anderen Künstler*innen und Wissenschaftler*innen entstanden sind, über die Rechercheprojekte und choreografischen Inszenierungen, an deren Beginn eine Idee, ein Konzept steht oder einfach nur der Wunsch, mit einer Gruppe ganz bestimmter Performer*innen und Künstler*innen zusammenzutreffen und über all das zu reden und nachzudenken, was jetzt hier in diesem Moment in mir vorgeht, mich bewegt, mich interessiert, mich umtreibt; über alles, was an Bildern, Gedanken, Diskursen auf mich einstürzt und eine Resonanz in mir erzeugt, über alles, was ich gerade fühle und denke und lebe und sehe und erfahre, und über alles, was mich verunsichert, was mir schlaflose Nächte bereitet, über all das, was ich derzeit, wenn ich den Fernseher anmache oder durchs Internet stöbere, wenn ich mich durch die Stapel von Zeitungen, Zeitschriften, Internetposts und Kommentarspalten arbeite, nicht verstehe, worüber ich aber gern mehr wissen möchte, weil ich es nicht begreife, weil es mir Angst macht, weil es mich fasziniert, weil ich spüre, dass es das Denken, das Handeln, das Fühlen der Menschen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten prägen wird.

Trust

In den letzten Jahren bin ich immer öfter dazu übergegangen, vor Probenbeginn offene Materialsammlungen zusammenzustellen – aus ersten Szenenskizzen, Improvisationsaufgaben, essayistischen Texten, Tagebucheinträgen, Dialogen, Monologen, choreografischen Überlegungen, YouTube-Verlinkungen, Recherchematerialien und einer Liste von Fragen –, um damit in den Proben einen Prozess in Gang zu setzen, der durch die Mitarbeit aller beteiligten Künstler*innen beeinflusst und geprägt werden kann.

Mein Tanztheaterprojekt Trust11, das ich gemeinsam mit der Choreografin Anouk van Dijk und einem Ensemble aus vier Tänzer*innen, fünf Schauspieler*innen und einem Musiker 2009 an der Berliner Schaubühne entwickelt habe, war so eine Arbeit, an deren Anfang kein fertiger Text, sondern eine Materialsammlung stand: Trust erzählt vom Zusammenbrechen des Vertrauens zwischen dem Bürger und den staatlichen und finanzwirtschaftlichen Institutionen, von der Unterbrechung der Erzählung einer funktionierenden fairen demokratischen marktorientierten Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben. Trust beschreibt den disconnect der Fiktion eines gerechten, funktionierenden Marktes, beschreibt die Folgen des Zusammenbrechens allen Vertrauens in das wirtschaftliche und politische Handeln der Eliten für jeden Einzelnen und die gesamtgesellschaftliche Atmosphäre. Trust erzählt also von Gesellschaften ohne Vertrauen, vom Leben ohne Vertrauen, von Beziehungen ohne Vertrauen. 2008 war das Jahr der weltweiten Finanzkrise, einer enormen Erschütterung. Alles Vertrauen in Institutionen, die als solide und unfehlbar galten, brach zusammen.

Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn in ihr grundsätzlich kein Vertrauen mehr herrscht? Daran schlossen sich weiterführende Fragen an: Was bedeutet es für das Leben des Einzelnen, wenn es in zwischenmenschlichen Beziehungen kein Vertrauen mehr gibt, wenn sich niemand mehr auf irgendetwas, auf irgendwen verlassen kann? Was bedeutet all dies für das politische System? Und wie begegnen sich Körper ohne Vertrauen? Auf die praktische Probenarbeit heruntergebrochen stellt sich also die Frage: Wie können Tänzer*innen Bewegungsmaterial miteinander entwickeln, wenn sie sich nicht mehr vertrauen können, wenn sie nicht mehr sicher sein können, dass der Partner sie hält, sie nicht fallen lässt, dass er überhaupt noch auf sie reagiert, ihre Bewegungsangebote noch interpretieren und beantworten kann? Wie verhalten sich Menschen, die sich selbst und anderen und der Welt um sie herum nicht mehr vertrauen, die ihrem eigenen Körper nicht mehr vertrauen? Die nie sicher sein können, dass sich gesellschaftliche und persönliche Gewissheiten nicht in kürzester Zeit radikal verändern? Wie agieren und bewegen sich erschöpfte Menschen in einem hochkomplexen störanfälligen System, in das keiner mehr regulierend einzugreifen vermag, bei dem keiner genau voraussagen kann, ob und wann es zusammenbricht? Gemeinsam mit den Tänzer*innen und Schauspieler*innen improvisieren Anouk van Dijk und ich im Probenraum anhand von Stichwörtern, die sich aus den Texten und Notizen meiner Materialsammlungen ergeben.

Zusammenbrechende Systeme

Zusammenbrechende erschöpfte Menschen,

zusammenbrechende Beziehungen:

zwischen Menschen,

zwischen Institutionen.

Zusammenbrechendes Vertrauen:

zwischen Bürger*innen und Staat,

zwischen Staat und Finanzindustrie,

zwischen Bürger*innen und Finanzsystem,

zwischen Bürger*innen und politischem System,

zwischen Politiker*innen und Wähler*innen,

zwischen Wähler*innen und politischen Institutionen weltweit.

Wie können erschöpfte Menschen ohne Vertrauen Nähe zueinander herstellen? Wie sieht zwischenmenschliche Kommunikation aus, die weitgehend von Misstrauen gezeichnet ist? Erschöpfte Menschen ohne Vertrauen suchen nach Alternativen für ihr Wirtschaftssystem. Wie viel Kraft, wie viele Ideen haben sie angesichts der enormen Macht der ständig wiederholten neoliberalen Doktrin, nach der dieses krisenanfällige Finanzsystem und seine Rettung alternativlos seien. Mit Trust begann eine Auseinandersetzung mit der Frage, wie weit das Finanzsystem und seine Ideologien den Körper und das Fühlen und Denken jedes einzelnen Menschen in der neoliberalen Demokratie beherrschen, definieren und lenken. Die drei Inszenierungen Trust (2009), Protect Me12 (2010) und Rausch13 (2012) bilden eine Tanztheatertrilogie, deren inhaltliche Auseinandersetzung sich mit »Das Individuum und das Kollektiv zwischen Krise, Überforderung und Widerstand« beschreiben ließe. Eine choreografisch-theatrale Recherche, in der Anouk van Dijk und ich mit einem Ensemble aus internationalen Tänzer*innen, Musiker*innen, Dramaturg*innen und Schauspieler*innen untersuchen, wie weit sich das Finanzsystem in den Körper und die Psyche jedes einzelnen Menschen eingeschrieben hat, wie es in den Körpern arbeitet, welche Spuren der Selbstoptimierung, Überforderung, Erschöpfung, des täglichen Kampfes und der Resignation es hinterlassen hat.

Die Arbeiten thematisieren die Ausbeutung aller natürlichen und menschlichen Ressourcen, Strategien des Widerstandes und Versuche, Alternativen zum bestehenden real gelebten Finanz- und Gesellschaftsmodell zu entwickeln, wie sie bei Occupy14 und ähnlichen Bewegungen zu beobachten waren, die bald allesamt vehement von den neoliberalen Regierungen bekämpft und unter großem Polizeiaufgebot aus dem öffentlichen Raum vertrieben wurden. Der Widerstand gegen das bestehende System, der nicht von der Polizei aus den Innenstädten herausgeprügelt werden sollte, kam indes Jahre später von einer anderen Seite. Zum Mantra der Alternativlosigkeit, das eine ganze Generation in eine Art von politischer Resignation versetzte, stimmten einige Jahre später radikal rechte Kräfte das Lied einer neuen alten Alternative an. Linke Positionen, die gegen die enorme Umverteilung von Geldern zugunsten der neoliberalen Eliten kämpften und ein gerechteres krisenresistentes nachhaltiges Wirtschafts-, Gesellschafts- und Finanzmodell forderten, wurden in der öffentlichen Diskussion weitgehend ignoriert oder mithilfe von Schlagwörtern wie »Sachzwänge«, »Marktgesetze« und abermals »Alternativlosigkeit« abgewürgt. Wenige Zeit später kam dann also die Alternative der rassistischen, nationalistischen, homophoben, weißen Europäer, die als Antwort auf die Krisen des Marktes sehr einfache Lösungen anzubieten hatten: alle Fremden raus, Frauen zurück an den Herd, alle Grenzen schließen, die Europäische Union abschaffen. Der Frühling der Reaktionäre brach an, angetrieben von der Schlagkraft der Fakenews, Hassposts und Shitstorms. Die weiße, heterosexuelle, als christlich imaginierte Vorherrschaft kann als späte Antwort auf ein Krisen und Unsicherheiten produzierendes Finanzsystem gelesen werden, das die Demokratie und ein vertrauensvolles gesellschaftliches Zusammenleben zutiefst ausgehöhlt hat. Die Gefahr, den unberechenbaren Gesetzen des Weltmarktes ungeschützt ausgeliefert zu sein und jederzeit finanziell und sozial abstürzen zu können, setzt enorme Ängste frei. Ängste und eine diffuse Wut, die, angeheizt von radikal rechten Strategen, in offenen Hass gegen einzelne Bevölkerungsgruppen umschlagen kann. Der totalitäre, die Demokratie aushöhlende Neoliberalismus und eine antidemokratische völkische Ordnung gehen Hand in Hand. Doch dazu später mehr, wenn ich über meine Stücke Fear und Small Town Boy schreibe, die sich mit den neuen faschistischen Kräften in Europa auseinandersetzen. Gehen wir noch einmal zurück an den Anfang: Das leere Blatt Papier oder die unbeschriebene Datei im Computer. Wir gehen in diesen »leeren Raum«, »into the void«, wie eine Performance hieß, die ich mit Theaterstudierenden 2008 in Kopenhagen entwickelte.

Into the void – space of emergence

The void bezeichnet in diesem Fall eine Leere, einen imaginierten leeren Raum, ein Vakuum, das sich während des Probenprozesses mit Inhalt und Form füllt. Space of emergence meint den Raum, in dem sich etwas ereignen kann. Es geht also am Anfang eines neuen Projektes darum, einen Raum zu schaffen, in dem sich während des Probenprozesses Dinge ereignen können, die über das hinausgehen, was ich allein zuzause am Schreibtisch schaffen kann. Wie sieht das praktisch aus?

Ich bin der Autor, der Initiator. Ich komme mit den ersten Ideen. Ich bringe die Leute zusammen. Ich stelle die Fragen, höre zu, schreibe mit. Ich lege meine ersten Notizen vor. Ich werfe Ideen in die Runde. Es wird geredet, improvisiert. Ein Tänzer steht auf und macht etwas, nachdem er mir zwei Stunden lang zugehört hat, z. B. wie ich über den Körper im Widerstand rede. Vielleicht improvisiert er den jungen Occupy-Körper vor den Türmen der Frankfurter Finanzzentren, der gegen das Pfefferspray kämpft, wie in meiner Inszenierung Rausch, der sich irgendwie wehren will, von einem anderen Leben träumt, aber nicht weiß, wie das gehen soll, der nicht weiß, wie er allein dieses andere Leben finden soll, wie er als Einzelkämpfer in einem System der Entfremdung und Entsolidarisierung allein für sich eine Utopie entwerfen können sollte. Der Tänzer sucht Bewegungen für dieses Gefühl, dass da ein Machtapparat auf dem eigenen Körper lastet, das System, das man so schwer zu fassen kriegt. Er sucht Bewegungen dafür, dass der Körper sich wehren oder sich anpassen oder spielerisch auf alle Kräfte, die ihn hin und her werfen, reagieren will oder Schutz und Halt sucht, oder dafür, dass er keinen Gegner findet, immer wieder an allen Oberflächen abrutscht, dafür, dass seine Wut sich zu irgendeiner Handlung, zum Heraustreten aus der Tatenlosigkeit durchringen will. Das alles sind Anfänge, erste Versuche.

Dann stelle ich Fragen und werfe neue Ideen, Notizen, Ansätze, Fragmente in den Raum. Jeder der Beteiligten antwortet auf seine Weise. Material wird gesammelt. Alles wird mit der Videokamera festgehalten. Jede Probe wird gefilmt. Es gibt ein großes Archiv, auf das wir immer wieder im Verlauf des Probenprozesses zurückgreifen. Auf dem Video sehen wir Ansätze, erste Versuche, improvisiertes Material, das dann weitergeführt, ausdifferenziert werden kann.

Der Anfang besteht also auch daraus, Menschen auszuwählen, die an diesem Prozess beteiligt sein sollen und die sich darauf einlassen, dass das Stück während des Probenprozesses entsteht; die also vorab noch keine festen Rollen zugewiesen bekommen, die sich gemeinsam mit mir in den Prozess begeben – Schauspieler*innen, Tänzer*innen, Performer*innen, wie auch immer man sie nennen will. Am Ende steht eine fiktionalisierte Version ihrer selbst auf der Bühne, die Anteile ihrer Biografien aufweist oder sich aus Material zusammensetzt, das im Prozess mit ihnen zusammengetragen wurde.

Alle meine Texte und Inszenierungen sind ein Spiel mit Realitäten und Fiktionen. Sie sind nie dokumentarisch, sie bilden nie wirklich die Biografien der Mitwirkenden ab. Sie vermischen Fiktives, Erzähltes, Recherchiertes, Erlebtes, Improvisiertes mit autobiografischen Partikeln, mit tagesaktuellem Geschehen, mit historischer Überlieferung und schaffen etwas Neues: Eine eigene Realität, Verdichtung, Überhöhung, Theater, Spiel. Aber am Anfang können sehr persönliche, sehr intime Fragen stehen: Wo fühlst du dich sicher? – wie in meinem Stück Safe Places15. Was ist »Heimat« für dich? – wie in meinem Stück Fear:

HEIMAT IMPRO (aus Fear)

(Alle Performenden unterhalten sich darüber, was für sie persönlich Heimat bedeutet und was sie mit dem Begriff verbinden.) heimat – was ist das für dich?

wo fühlst du dich zuhause?

was ist das besondere an dem ort, an dem du aufgewachsen bist?

was macht den aus?

was hat dich da gestört?

kannst du mir diesen ort beschreiben?

kannst du mal deinen vater beschreiben?

wo hast du dich sicher gefühlt?

wenn du heute an den ort kommst, wo du groß geworden

bist, fühlst du dich da immer noch wohl?

ist eine beziehung eine heimat?

war deine letzte beziehung deine heimat? dein zuhause?

wenn du einen film drehen würdest mit dem titel

DIE EHE MEINER ELTERN wie würde der film aussehen?

willst du eine familie gründen? ist das dann eine

heimat für dich? oder was ist das?

ist heimat überhaupt an einen ort gebunden, ist es

ein gefühl, eine erinnerung, ein geruch, ein geschmack,

ein geräusch, ein bild, eine reihe von ereignissen,

ein vages gefühl, dass alles überschaubar

ist, nichts dich verwirrt, du den überblick

behältst, KEINE ANGST hast?

was ist das für dich ganz persönlich: heimat? hast

du das mal gehabt und jetzt ist es weggebrochen?

suchst du das? ist das ein begriff, den wir aufgeben

können?

was ist das: deine heimat?16

I.2. Wer spricht?

Wer spricht, wenn jemand auf der Bühne im Probenprozess etwas erzählt? Wer steht da? Der Mensch, der oder die Schauspieler*in, Performer*in, Zeitzeug*in, Geschichtenerzähler*in, eine sich gerade vor meinen Augen erst entwickelnde fiktive Figur? Der Mensch, der mit den Mitteln der Schauspielerei und des Storytellings von sich erzählt, Zeugnis ablegt, den Zuschauer*innen teilhaben lassen wird an seinem Leben und der später in der Inszenierung Fiktives und Autobiografisches zu einer neuen Erzählung zusammenbringt, ihn muss ich kennenlernen, von ihm will ich wissen, wer er ist, was er erlebt hat, welche Erfahrungen, welche Erschütterungen, welche Ängste, welche Dramen, welche Wunden sich in ihm zu dem Individuum verdichtet haben, das mir jetzt hier in diesem Augenblick gegenübersteht. Im aktuellen, von rechtsnationalen und neufaschistischen Kräften bestimmten öffentlichen Diskurs werden Menschen immer wieder ihrer individuellen Geschichte beraubt, sie werden einer Kategorie zugeordnet und über die Stereotype, die diesen Kategorien zugeschrieben werden, markiert und abgewertet: Die »Muslime«, »die Flüchtlinge«, »die Schwulen«, »die Gutmenschen«. Der öffentliche Diskurs ist von einengenden, abwertenden, rassistischen, sexistischen, nationalistischen, homosexuellenfeindlichen Zuschreibungen durchzogen, so dass der Blick auf den einzelnen Menschen, seine ganz eigene Geschichte, seine Erfahrungen, sein Leben völlig verstellt und verunmöglicht wird.