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Das Märchen von Schneewittchen und ihrer bösen Stiefmutter ist weltbekannt. Ein Rätsel ist hingegen, wodurch die Königin so böse geworden ist. Schon immer kursieren viele Vermutungen: Weil sie die Schönheit der Stieftochter nicht ertrug? Oder weil sie eifersüchtig auf die verstorbene, erste Frau des Königs war? Nun werden erstmals die wahren Gründe enthüllt ... und die Geschichte einer faszinierenden Figur erzählt. Spannend, magisch und märchenhaft! Der erste Band der Bestseller-Serie Disney Villains!
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Seitenzahl: 221
In Liebe für meinen Vater,
der mir immer gesagt hat, dass ich schön bin,
selbst wenn ich es selbst nicht gesehen habe.
—S.V.
KAPITEL I
Rosenblüten, Küsse und Torte
Die Apfelbäume im Schlosshof waren zart pink erblüht und strahlten in dem hellen Sonnenlicht, das sich in zahllosen Silberkugeln brach.
Girlanden aus Glyzinien und Gardenien schmückten den steinernen Brunnen am Fuße der großen Schlosstreppe, die ein Teppich aus roten und rosafarbenen Rosenblüten bedeckte. Einhundert Bedienstete, festlich herausgeputzt in ihren dunkelblauen, in Silber gefassten Uniformen, standen entlang des Schlosstors bereit, um die königlichen Hochzeitsgäste in Empfang zu nehmen, die in den Hof strömten. Bald schien es, als habe sich die ganze Welt um den alten Brunnen versammelt, um einen Blick auf die wunderschöne junge Braut des Königs zu erhaschen. Eine herausragende Schönheit, die wie von Zauberhand dem Reich der Mythen und Legenden entstiegen war, die bezaubernde Tochter des sagenumwobenen Spiegelmachers. Inzwischen war der Schlosshof zum Bersten gefüllt mit den Abgesandten benachbarter Königreiche, die darauf warteten, dass die Hochzeit ihren Lauf nahm.
Die Königin war allein in ihrem Gemach und starrte auf ihr Spiegelbild, das mit einem recht nervösen Gesichtsausdruck zurückstarrte. Keine Frau konnte ihr Leben über Nacht so drastisch verändern und dabei nicht ein gewisses Maß an Furcht empfinden. Sie würde den Mann heiraten, den sie liebte, würde seiner kleinen Tochter eine Mutter sein und noch dazu die Königin dieses Landes. Königin. Sie sollte glücklich sein, aber etwas an dem Spiegel erfüllte sie mit einem beklemmenden Gefühl dunkler Vorahnung, das sie nicht verstand.
Verona, die Hofdame der Königin, machte sich mit einem Räuspern bemerkbar und tänzelte in das Gemach. Ihre hellen himmelblauen Augen strahlten vor Freude. Sie war von einem Leuchten umgeben, das aus ihrem tiefsten Inneren zu kommen schien. Es betonte ihre zarte Haut und perlte von ihrem flachsblonden Haar. Die Königin brachte ein schwaches Lächeln zustande, als Verona sie in die Arme schloss. Nie zuvor war die Königin von solcher Schönheit umgeben gewesen, noch hatte sie je wahres Glück gekannt. Nicht bevor sie an den Hof gekommen war.
Und diese Frau liebte sie wie eine Schwester.
Schneewittchen folgte Verona in die Gemächer der Königin. Sie war ein bezauberndes kleines Ding von drei oder vier Jahren mit einem fröhlichen Schwung im Schritt und einem unauslöschlichen Funkeln von Glück in den Augen. Ihre Haut war heller als unberührter Schnee, ihr kleiner Schmollmund von einem Rot, tiefer als der strahlendste Rubin, und ein Wasserfall aus rabenschwarzem Haar umspielte ihr kleines Gesicht. Sie sah aus wie eine unglaublich zerbrechliche Porzellanpuppe, die zum Leben erwacht war – und heute, in ihrem roten Samtkleidchen, sogar noch mehr als sonst.
Verona hielt Schneechens winzige Hand in ihrer eigenen. Sie hoffte, das würde das kleine Mädchen davon abhalten, an den Perlen ihres wertvollen Kleides zu spielen.
„Schneechen, meine Hübsche, hör auf, an deinen Stickereien herumzuzupfen. Du ruinierst dein Kleid noch, bevor die Hochzeit überhaupt angefangen hat.“
Die Königin lächelte und sagte: „Hallo, du süßer kleiner Fratz von einem Mädchen. Du siehst heute ganz bezaubernd aus.“
Schneechen errötete und vergrub das Gesicht in Veronas Röcken, von wo aus sie ihrer Stiefmutter vorsichtige Blicke zuwarf.
„Sieht deine neue Mutter heute nicht hübsch aus, Schneechen?“, fragte Verona.
Das Mädchen nickte.
„Dann sag ihr das doch, Süße“, flüsterte Verona, als sie sich mit einem Lächeln zu dem schüchternen kleinen Mädchen hinunterbeugte.
„Du siehst auch sehr hübsch aus, Momma“, flüsterte Schneechen, und das Herz der Königin fühlte sich an, als wollte es zerfließen.
Die Königin breitete ihre Arme aus, und nach einem ermutigenden Stups von Verona trippelte Schneechen auf sie zu und erwiderte die Umarmung ihrer neuen Mutter. Das Mädchen war so bezaubernd. Die Königin spürte, wie es ihrem Herzen einen Stich versetzte, als habe die Schönheit dieses Kindes sie tief verletzt. Als sie Schneechen in die Arme schloss, war sie erfüllt von einer Liebe, die sie sich nie hätte vorstellen können. Sie glaubte, ihr Herz müsse bersten, weil der Platz darin für diese allumfassende Liebe niemals ausreichte. Gleichzeitig wünschte sich ein winziger Teil von ihr, tief verborgen in ihrem Inneren, sie könnte die Schönheit dieses Kindes in sich aufsaugen, sodass sie selbst wahrhaftig schön wäre.
„Ihr seht wirklich atemberaubend aus, meine Königin“, sagte Verona mit einem wissenden Lächeln, als hätte sie der Königin direkt in ihr verunsichertes Herz geblickt.
Wieder betrachtete die Königin sich im Spiegel und entdeckte etwas von ihrer Mutter in sich selbst. Sie dachte zurück an den Tag, als der König eine Bemerkung über ihre Ähnlichkeit gemacht hatte. Vielleicht hatte er recht. Sie selbst erkannte es in diesem Moment zum ersten Mal, da sie in dem Kleid dastand, das auch ihre Mutter an ihrem Hochzeitstag getragen hatte.
Das Kleid war tiefrot, die Jahre hatten dem Glanz des Stoffes nichts anhaben können. Es war aufwendig mit schwarzen Vögeln bestickt und übersät mit passenden schwarzen Edelsteinen, die im Licht geheimnisvoll glänzten. Für einen kurzen Augenblick war die Königin beinahe euphorisch, dann wurde ihr schwer ums Herz. Wie wundervoll es doch gewesen wäre, ihre Mutter heute bei sich zu haben. Wie wundervoll es gewesen wäre, sie überhaupt kennengelernt zu haben.
Die Königin kannte ihre Mutter einzig von dem Gemälde, das das Haus ihres Vaters geschmückt hatte. Als Kind hatte sie es oft angestarrt. Erfüllt von tiefer Liebe für diese Frau und voller Bewunderung für deren Schönheit, hatte sie sich nach ihrer zärtlichen Umarmung gesehnt. Sie hatte sich vorgestellt, wie ihre Mutter sie in die Arme schloss, mit ihr durchs Zimmer tanzte und wie der Raum gefüllt wäre mit Lachen und dem Licht, das sich in den Edelsteinen ihrer Kleider brach.
Die Königin riss sich aus ihren Tagträumen und blickte zu Schneewittchen, die ein kleines Stück entfernt stand und mit den Kordeln der Vorhänge spielte. Trotz der Lebensfreude, die das Mädchen im Herzen trug und die sich in ihren Augen widerspiegelte, kannte die Königin den schweren Verlust doch genau, den das Kind erlitten hatte. In seinem Inneren musste eine untröstliche Leere herrschen.
Bekümmert runzelte die Königin die Stirn. Sie wusste, dass sie die erste Frau des Königs niemals und in Nichts ersetzen konnte. Wie könnte Schneechen je eine andere Frau so lieben wie ihre eigene Mutter? Und vor allem, wie könnte sie jemanden wie die Königin lieben, deren bisheriges Leben sich im besten Fall durch Mittelmäßigkeit ausgezeichnet hatte?
Während das Kind friedlich spielte, wanderten die Gedanken der Königin zurück zu dem Tag, an dem sie den König zum ersten Mal getroffen hatte, in der Spiegelwerkstatt ihres Vaters. Der Ruf ihres Vaters hatte sich so weit verbreitet und seine Kunst wurde allerorts derart bewundert, dass der König es als seine Pflicht angesehen hatte, dem Mann einen Besuch abzustatten, der über die Grenzen seines Königreiches hinweg als der begabteste aller Kunsthandwerker bekannt war.
Der König hatte die Arbeiten ihres Vaters bewundert, war mit einem eigenen Spiegel beschenkt und schließlich hinausgeleitet worden, wo die Königin gerade Wasser aus einem alten Brunnen schöpfte. Der König bedeutete seinem Gefolge anzuhalten.
„Wer ist dieses Mädchen?“, fragte er.
„Die Tochter des Spiegelmachers, Sire“, erwiderte einer der Diener.
Der König ging auf sie zu und ergriff ihre Hand. Sie schnappte überrascht nach Luft, und der Eimer entglitt ihren zitternden Fingern, sodass der König bis auf die Strümpfe durchnässt wurde.
Ängstlich sah die Königin zu ihm auf. Sie erwartete eine harsche Zurechtweisung, vielleicht sogar, dass er sie in den Kerker werfen ließ. Aber der König lächelte nur. Und dann richtete er das Wort an sie.
Sie dachte, er würde sich einen Scherz erlauben, als er ihr sagte, wie bezaubernd sie sei. Dass sie das wahre Meisterstück unter all den Kunstwerken ihres Vaters sei.
„Eure Majestät, so etwas dürft Ihr mir nicht sagen“, murmelte sie peinlich berührt und machte etwas zwischen einem Knicks und einer Verbeugung, um dem Blick seiner hellblauen Augen nicht zu begegnen.
„Und warum nicht? Ihr müsst das schönste Mädchen im ganzen Land sein. Nein, Ihr seid mit Sicherheit das schönste Mädchen aller Länder, die ich je gesehen habe. Es überrascht mich nicht, dass Euer Vater Spiegel herstellt, damit sie Eure Schönheit wiedergeben.“
Die Königin hatte es nicht gewagt, dem Mann ins Gesicht zu sehen, der alles beherrschte – vom Königreich bis hin zu dem Brunnen, aus dem sie Wasser holte.
Und dann war er fort, so schnell, wie er gekommen war. Noch im Davonreiten versprach er ihr seine baldige Rückkehr. Die Königin war sprachlos und verwirrt. Wie konnte der König auch nur im Entferntesten etwas Derartiges für sie empfinden? Bei all den Mädchen im ganzen Land?
Der Vater der Königin bedachte sie mit einem höhnischen Grinsen. „Du musst ihn verhext haben, Tochter“, sagte er, während die Königin dem Gefolge des Königs nachsah, das hinter einer Bergkuppe ihren Blicken entschwand, nur um beim nächsten Anstieg wiederaufzutauchen, bereits klein in der Ferne.
An diesem Abend saß sie in ihrer kleinen Kammer und betrachtete gedankenverloren den sternenübersäten Himmel. Kann es sein, dass der König heute Nacht an mich denkt?, fragte sie sich mit Blick auf die Sterne und stellte sich vor, wie ihre Mutter dort oben durch die Dunkelheit flog und über sie wachte; in einem dunklen Kleid voller Edelsteine, das sie vor dem Mantel der Nacht und seinen Sternen verbarg, die am dunklen Himmel funkelten. Sie stellte sich vor, an der Seite ihrer Mutter zu fliegen und zuzusehen, wie Sonnen glühend erloschen und aus der Finsternis neu geboren wurden. Sie war umgeben von leuchtendem Sternenstaub und schwebte in bunt schillernder Dunkelheit. Die Erinnerung an den König brachte sie zurück in ihre armselige Kammer.
Sie war sicher, dass er nicht zu ihr zurückkehren würde.
Nur kurz nach der Abreise des Königs erlitt die Königin einen weiteren Verlust. Ihr Vater starb.
Die Tage, die seinem Tod folgten, waren wie in Licht getaucht. Es war, als hätte er beim Verlassen dieser Welt sämtliche Dunkelheit mit sich genommen und sie so an einem Ort zurückgelassen, an dem sie, wenn auch nicht Liebe und Glück, so doch zumindest ein besseres Leben finden konnte, als sie es bisher geführt hatte.
An dem Tag, an dem ihr Vater starb – lange bevor die Nachricht von seinem Tod sich bis zum König oder irgendjemand anderem verbreitet hatte -, brachte die Königin jeden einzelnen seiner Spiegel hinaus ins Licht. Die kleineren hängte sie in die Zweige eines alten Ahorns nahe ihrem Häuschen. Der Effekt war atemberaubend. Die Spiegel schwangen in der sanften Brise, fingen das Sonnenlicht ein und reflektierten es auf eine geheimnisvolle überirdische Weise. Es tanzte über die Blätter des Ahorns und besprenkelte den Boden und die Wände ihres Hauses mit seinen Reflexionen, die wie verspielte Irrlichter darüber hinwegglitten.
Schon bald kamen Reisende von nah und fern, um das vermeintlich wunderbare Andenken zu bestaunen, das sie ihrem Vater zollte.
Auch der König.
„In dem Licht, das die Spiegel Eures Vaters wiedergeben, funkeln Eure Augen wie Diamanten“, sagte der König, während er unter der blendenden Sonne stand.
Das helle Licht ließ ihre dunklen Augen erstrahlen und verwandelte ihre Farbe in flüssigen Karamell. Der König versicherte ihr, sie sei bezaubernd. Furcht packte sie. Bezaubernd. Wenn ihre Schönheit nun genau das war, was ihr Vater gesagt hatte – ein Zauber? Wie konnte sie einen so gütigen, liebevollen Mann täuschen? Oder besaß sie möglicherweise tatsächlich eine Art Schönheit?
Der König betrat ihr Haus, und sie folgte ihm – unsicher, was sie als Nächstes tun sollte.
„Ist das ein Portrait von Euch?“, fragte der König mit Blick auf das einzige Bild, das den Wohnbereich des kleinen Hauses schmückte.
„Das war meine Mutter, Sire. Ich habe sie nie kennengelernt.“
„Die Ähnlichkeit ist verblüffend.“
„Ich wünschte, ich wäre so schön wie sie.“
„Ihr seid ein beinahe exaktes Ebenbild von ihr. Das müsst Ihr doch sehen.“
Die Königin betrachtete das Bild in stiller Verwunderung und wünschte sich, dass seine Worte ernst gemeint waren, konnte darin aber nichts weiter sehen als Schmeichelei von jemandem, der gewiss etwas von ihr haben wollte. Vielleicht die Ländereien ihres Vaters? Die verbliebenen Spiegel? Denn was auch immer es war, was der König begehrte, es war gewiss nicht sie.
Doch mit der Zeit und vielen weiteren Besuchen schien immer deutlicher zu werden, dass tatsächlich sie alles war, was der König wollte. Ihr Leben erschien ihr wie ein Traum: leicht, unbeschwert und schlicht atemberaubend. Das Gefolge des Königs hieß sie herzlich willkommen. Im ganzen Königreich – und sogar weit darüber hinaus – saß man am Lagerfeuer und besang zu den Lautenklängen des Spielmanns die wunderschöne Tochter des sagenumwobenen Spiegelmachers, an die der König sein Herz verloren hatte.
Veronas Stimme riss die Königin aus ihren Gedanken und brachte sie zurück in die Gegenwart. „Der Hof, nein, das Königreich, ist voller Menschen, die sich danach sehnen, einen Blick auf ihre neue Königin zu erhaschen. Wir sollten uns auf den Weg machen.“
Die Königin lächelte.
„Und was für ein wundervolles Bild wir drei abgeben werden, wenn wir zu ihnen hinausgehen werden“, sagte sie, als sie Verona und Schneechen bei der Hand nahm und sich anschickte, den Hochzeitsfeierlichkeiten ihren Lauf zu lassen.
Verona hatte nicht übertrieben. Durch die schmalen Fenster, die die Wand entlang der Wendeltreppe säumten, sah die Königin eine riesige Menschenmenge, die sich im Hof versammelt hatte. Inmitten der vielen unbekannten Gesichter entdeckte sie Markus, den Lieblingsonkel des Königs, der ihre Gestalt durch eines der Fenster erspäht hatte und ihr zulächelte. Er war ein großer Mann, ein wenig zerzaust und stets zu Scherzen aufgelegt. Die Königin wusste, dass seine Frau Vivian vor Kurzem schwer erkrankt war. Und doch war er heute für seinen Neffen da. Neben ihm stand sein bester Freund, der Jäger des Königs, ein gut aussehender Mann mit breiten Schultern, dunklen Augen und dichtem Haar.
Von nah und fern waren Könige mit ihrem Gefolge angereist. Darunter auch die drei sonderbaren Cousinen des Königs, die sich merkwürdig kleideten und stets eng beieinanderblieben. Ihre Lippen verzogen sich zu einem identischen Lächeln, und sie neigten nachdenklich die Köpfe, vollkommen im Einklang. Die Königin beobachtete ihr seltsames Verhalten, als sie an einem weiteren Fenster vorbeikam, das wie ein riesiges Abbild des Buchstaben X geformt war.
Das Schloss war erfüllt von warmem Kerzenlicht, flackernd und überirdisch, das in der Königin Erinnerungen an ihre liebste Jahreszeit hervorrief – die Wintersonnenwende. So viele Kerzen waren entzündet worden, dass der Raum sich heiß anfühlte. Zu heiß. Die Königin spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss und ihr Kopf sich zu drehen begann. Als sie den Mittelgang entlang auf ihren König zuschritt, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Er erwartete sie neben dem alten Brunnen, den er von den Ländereien des Spiegelmachers in den Schlosshof hatte verlegen lassen, wo er ihn für immer an den Augenblick erinnern sollte, in dem er die Königin zum ersten Mal gesehen hatte.
Mit Veronas Hilfe gelang es der Königin, sich aufrecht zu halten und sich ganz auf den König zu konzentrieren, der ihr mit einem strahlenden Lächeln entgegensah. Er raubte ihr den Atem in seinem festlichen Anzug, mit dem dunklen Haar und den hellen Augen. An der Seite trug er sein glitzerndes Schwert, und seine hohen Stiefel glänzten im Kerzenlicht.
Die Königin bewegte sich wie im Traum. Frauen, die Gesichter so weiß geschminkt wie Bettlaken und mit Wangen und Lippen von der Farbe roter Rosen, starrten sie an, als sie an ihnen vorüberschritt. Sie versuchte gar nicht erst, den Ausdruck auf ihren Gesichtern zu entschlüsseln, und richtete den Blick stattdessen auf ihren Bräutigam.
Aber gewiss lächelten sie ihr gönnerhaft zu, als sie an ihnen vorbeikam. Einige hielten kleine Sträußchen mit Jasmin in der Hand. Der Duft war berauschend, beinahe überwältigend. Sicher waren sie nicht nur eifersüchtig auf ihre Hochzeit, sondern dachten auch: Warum sie? Warum von all den edlen Damen im Königreich dieses Bauernmädchen? Es würde Geflüster geben, das sie der Hexerei bezichtigte, und böse Blicke, die sie verfluchten.
Endlich erreichte sie den König, der neben dem Brunnen stand und sie bei der Hand nahm. Vielleicht bemerkte er ihre Benommenheit und ihre weichen Knie. Doch als ihr Blick den seinen fand, beruhigte sich ihr wild pochendes Herz. Verona und Schneechen traten zur Seite. Der Geistliche begann mit der Zeremonie. Der König und die Königin tauschten Worte der Liebe, Schwüre, Ringe und schließlich einen Kuss.
Die Menge brach in Jubel aus, und die Königin wäre zusammengebrochen, wenn der König sie nicht im Arm gehalten hätte. Ein leises Rauschen ertönte, dann regneten pinke Rosenblätter auf das Paar herab, erstrahlten in dem bunten Licht der getönten Fenster und legten sich wie ein Zauber über das Schloss. Die Königin war verliebt und wunderschön.
Jeder, der sie beglückwünschte, äußerte sich bewundernd über ihre Schönheit. Sie versuchte, sich all die Komplimente nicht zu Kopfe steigen zu lassen. Als sie einmal darüber nachdachte, begann sich in ihrem ohnehin schon übermüdeten Kopf alles zu drehen. Der Tag rauschte in einem rosafarbenen Sturm der Gefühle an ihr vorüber. Ihre Hand musste bereits Tausende Male geküsst worden sein, und sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nicht so viel getanzt wie heute, noch nicht einmal als Kind mit ihrer Nanny.
Ach, Nanny. Wie sehr sie sich wünschte, dass Nanny sie heute sehen könnte. Sie erinnerte sich noch, was Nanny an einem sonnendurchfluteten Morgen in der Küche ihres Vaters zu ihr gesagt hatte, während sie Erdbeeren mit Schlagsahne aßen.
„Du bist wunderschön, meine Süße, wirklich wunderschön. Das darfst du nie vergessen, auch wenn ich einmal nicht mehr hier bin, um dich daran zu erinnern.“
„Wenn du nicht mehr hier bist? Aber wo solltest du denn hingehen?“
„Zu deiner Mutter, um mit ihr im Himmel zu tanzen. Eines Tages wirst du dich uns anschließen, aber bis dahin werden noch viele Jahre vergehen.“
„Nein, Nanny, bitte bleib hier und tanz jetzt mit mir! Ich will nicht, dass du weggehst. Niemals!“ Also tanzten sie, drehten sich im Kreis, lachten und genossen die warmen Sonnenstrahlen, die durch das kleine Fenster fielen. Das waren drei der vielen Dinge, mit denen Nanny sie aufheitern konnte – Erdbeeren, Schlagsahne und Tanz.
Schon bald würde sie genau das für Schneechen tun. Bei dem Gedanken fühlte sie sich leicht und behütet. Sie würde mit dem König und seiner zarten wunderhübschen Tochter glücklich werden. Sie würde das Kind zu ihrer eigenen Tochter machen und sie lieben. Jeden einzelnen Tag ihres Lebens würde sie ihr sagen, wie schön sie war, und wie Mutter und Tochter würden sie miteinander tanzen und lachen. Sie wären Mutter und Tochter.
Sie ging an den Rand der Tanzfläche, wo Verona und Schneechen standen und den Herren und Damen zusahen, die im Kreis umherwirbelten wie Blumen in einem sanften Sommerwind. Die Königin hob das Kind hoch, nahm es auf den Arm und trug es mitten hinein in den bunten Strudel aus Kleidern. Sie tanzte mit dem Mädchen, hielt es fest an ihre Brust gepresst und fühlte erneut diesen unstillbaren Strom der Liebe, während ihr schien, als tanzten sie in einem lebendigen Garten aus Farben und Musik.
Der König gesellte sich zu ihnen, und die kleine Familie vergnügte sich noch bis weit in die frühen Morgenstunden, lange nachdem die letzten Gäste sich bereits verabschiedet oder auf ihre Zimmer im Schloss zurückgezogen hatten.
Erschöpft und aufgekratzt nach vielen Stunden der Festlichkeiten und des Tanzens brachten der König und die Königin ihr schlafendes kleines Mädchen zu Bett.
„Gute Nacht, kleines Täubchen“, sagte die Königin und küsste Schneechen auf die Wange.
Unter den Lippen der Königin fühlte sich die warme Haut des Mädchens weich wie Seide an. Sie überließ das Kind seinen Träumen. Sie war sicher, dass sie gefüllt waren von lieblich tanzenden Damen, farbenfrohen Kleidern und Bannern, die im Wind flatterten und wehten.
Der König nahm seine neue Frau bei der Hand und führte sie in ihre Gemächer. Die ersten Sonnenstrahlen sickerten bereits durch die schweren Vorhänge und tauchten den Raum in ein unwirkliches Licht. Für einen Moment standen sie nur da und sahen einander an.
„Wie ich sehe, hast du mein Geschenk geöffnet“, sagte der König mit Blick auf den Spiegel.
Der Spiegel war oval, eingefasst in einen reich verzierten Rahmen aus vergoldeten Ranken, die sich in verschlungenen Mustern ineinanderwanden und schließlich miteinander verschmolzen, um den Spiegel mit einem Kopfstück zu krönen, das einer Königin würdig war. Er war perfekt. Und doch löste er in ihr auch jetzt wieder dasselbe Unbehagen aus, das sie schon vor der Zeremonie verspürt hatte. Ihr war, als habe sich eine Schlinge um ihr Herz gelegt, die sich nun unerbittlich zuzog. Die Wände des Zimmers schienen mit einem Mal näher zu kommen und sie zu erdrücken.
„Was ist denn los, Liebste?“, fragte der König.
Die Königin versuchte zu sprechen, aber kein Laut kam ihr über die Lippen.
„Gefällt er dir nicht?“, fragte der König, der plötzlich furchtbar niedergeschlagen aussah.
„Nein, mein Geliebter, er ist … ich bin nur … müde. Schrecklich müde“, murmelte sie. Aber sie konnte ihren Blick nicht von dem Spiegel lösen.
Der König fasste sie sanft an den Schultern, drehte sie zu sich herum und küsste sie.
„Natürlich bist du erschöpft, mein Schatz. Es war ein furchtbar langer Tag.“
Sie erwiderte seinen Kuss und versuchte, die Sorge aus ihrem Herzen zu verbannen.
Sie war verliebt. Glückselig. Und sie würde nicht zulassen, dass ihr irgendetwas diesen Tag verdarb.
KAPITEL II
Drachen und Ritter
Am vierten Abend nach der Hochzeit hatte die Königin ihre kleine Familie endlich einmal für sich. Die noch verbliebenen Hochzeitsgäste und entfernten Verwandten hatten sich wieder auf den Weg in ihre eigenen Königreiche gemacht. Erst an diesem Morgen hatte die Königin sich nach dem Frühstück von Markus verabschiedet, dem Großonkel des Königs. Er war ein humorvoller Kerl, stämmig und gut gebaut für einen Mann seines Alters, beinahe genauso breit wie groß. Er war freundlich und liebte seinen Neffen über alles, sodass die Königin ihm den verlängerten Aufenthalt im Schloss nicht verübeln konnte. Zusammen mit seinem Onkel und dem Jäger des Hofes hatte der König die Tage im Wald zugebracht, auf der Jagd nach Geflügel und Wild für die abendlichen Festmahle.
„Du wirst mich vielleicht nie wiedersehen, mein Mädchen“, hatte Onkel Markus der Königin zum Abschied zugeraunt. „Ich reise in den Süden, auf der Suche nach Drachen! Sumpfdrachen sind eine riskante Angelegenheit, aber nicht halb so gefährlich wie Höhlendrachen, glaub mir! Habe ich dir je von meiner Begegnung mit dem großen Saphirdrachen erzählt? Die schönste und tödlichste Kreatur, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe! Sie hätte mir beinahe den ganzen Bart verkohlt!“
Onkel Markus wurde immer äußerst lebhaft, wenn er von Drachen sprach. Er gestikulierte wild und demonstrierte, wie sein Bart Feuer gefangen hatte.
„Und was hält Lady Vivian von deinen Abenteuern, Onkel?“, fragte die Königin.
„Oh, sie hat die wildesten Vorstellungen!“, entgegnete er.
„Und die wären?“, fragt die Königin neugierig.
„Sie hält das alles für Unsinn. Ist das zu fassen? Unsinn, das waren ihre Worte! Sie denkt, ich hätte nur Angst, mich in ihrer Gesellschaft zu langweilen, bis ich alt und grau bin!“
Die Königin musste lachen. Der Mann war ihr ans Herz gewachsen mit seinen Geschichten von hinterhältigen Drachen, die sich in dunklen Höhlen versteckten, und wie er versuchte, ihnen in groß angelegten Raubzügen ihre Schätze zu stehlen.
„Nun, es ist wirklich schade, dass sie nicht zur Hochzeit kommen konnte, Onkel. Sobald sie sich ausreichend erholt hat, um zu reisen, muss sie uns unbedingt besuchen kommen.“
„Keine Angst, deine Tante Vivian wird sich schon in kürzester Zeit auf dich stürzen. Wie ich sie kenne, wird sie gleich das ganze Schloss an sich reißen.“
Es betrübte die Königin, ihn davonreiten zu sehen. Zugleich war sie glücklich, ihren Ehemann und ihre Tochter für sich zu haben, obwohl ihr das Schloss nach all den Festlichkeiten fast ein wenig zu still vorkam.
Sie ließ ein Familienessen in einem der kleinen Speisesäle auftragen. Die Königin bevorzugte die kleineren Räume des Schlosses. Dort fühlte sie sich mehr wie zu Hause. Dort war sie keine Königin, sondern eine Ehefrau und eine Mutter. Sie war sie selbst.