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Jahrhundertelang sind die Morphaner ganz auf sich gestellt, ernähren sich von dem, was sie anbauen können, und das ist herzlich wenig. Doch dann fallen Ernten aus, die Temperatur sinkt immer weiter ... und Leute sterben. Fast könnte man meinen, eine dunkle Macht hätte sich gegen sie verschworen - bis plötzlich drei Fremde auftauchen, von denen einer gar behauptet, ein Doktor zu sein. Bringen sie die Rettung? Oder den Untergang? Und was mag noch da draußen in der eisigen Kälte lauern, bereit, jeden Augenblick zuzuschlagen?
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Seitenzahl: 319
Jahrhundertelang sind die Morphaner ganz auf sich gestellt, ernähren sich von dem, was sie anbauen können, und das ist herzlich wenig. Ihr ganzes Leben besteht darin, die Maschinen instand zu halten, die eines Tages ihre Welt so bewohnbar machen werden wie die alte Erde. Doch plötzlich fallen Ernten aus, die Temperatur sinkt immer weiter … und Leute sterben. Als schließlich noch die Eiskrieger, uralte Gegner des Doktors, auftauchen, beginnt der wahre Überlebenskampf. Oder doch nicht? Der Doktor beginnt zu vermuten, dass hinter all dem eine tödlichere und noch eisigere Gefahr steckt …
Dan Abnett ist Romanautor und preisgekrönter Comicautor. Er hat über fünfunddreißig Romane geschrieben, darunter die gefeierte Gaunts-Geister-Reihe und die Eisenhorn-Trilogie. Sein letzter Horus-Heresy-Roman Prospero brennt: Die Wölfe sind entfesselt, war ein New York Times Bestseller und hat die SF-Charts im Vereinigten Königreich und den USA gestürmt. Sein SF-Militär-Actionroman Planet 86 wurde 2011 veröffentlicht. Er lebt und arbeitet in Maidstone, Kent.
Dan Abnett
DOCTORWHO
UND STUMME STERNEZIEHN VORÜBER
Aus dem Englischen vonAxel Franken
BASTEI ENTERTAINMENT
Deutsche Erstausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe: »Doctor Who – The Silent Stars Go By«
First published in 2011 by BBC Books.
BBC Books is a part of the Penguin Random House Group of Companies
Copyright © Dan Abnett 2011 für die Originalausgabe
Doctor Who is a BBC Wales production for BBC One
Executive producer: Chris Chibnall
BBC, DOCTOR WHO and TARDIS (word marks, logos and devices) are trademarks of the British Broad-casting Corporation and are used under licence.
Ice Warriors created by Brian Hayles
Cover design: Lee Binding © Woodlands Books Ltd, 2011
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Stefan Bauer; Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum
eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-6114-8
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für George
Oh kleines Städtchen Bethlehem
Wie still wir dich dort liegen seh’n
An deinem Schlaf
Der tief und traumlos ist
Zieh’n stumme Stern’ vorüber
Doch in den Straßen dein
Scheint das Ewige Licht
Die Hoffnungen und Ängste all der Jahre
Treffen heute Nacht in dir zusammen.
~ ›Oh kleines Städtchen Bethlehem‹,ein Lied der Erde vorher
Vesta stand früh auf an diesem Morgen, noch ehe Ratgebers Glocke mit ihrem Läuten den Beginn der Arbeit verkündete, noch bevor die Sonne aufgegangen war und Wärme und volles Licht brachte. Sie zog sich im Dunkeln an; Wollsachen und Röcke sowohl darüber als auch darunter, dazu eine Mütze und zwei Schals. Sie hatte Handschuhe, die Bel für sie genäht hatte. Es war sehr kalt. Sie konnte die Röte in ihren Wangen und ihrer Nase ebenso spüren, wie sie das Wasser in ihren Augen und den weißen Rauch von ihrem Atem in der Dunkelheit sehen konnte.
Es war eine beißende Kälte, eine schlimme Kälte. Es war eine Kälte, die etwas Bedrohliches an sich hatte, nichts Verheißungsvolles, ganz egal was Bill Groan und die anderen sagten. Der Winter sollte eigentlich langsam gehen, nicht schlimmer werden. Achtzehn Jahre war Vesta jetzt alt und nie hatte sie einen weißen Winter gesehen vor den letzten dreien, von denen jeder weißer gewesen war als der davor.
Als sie ihren Mantel vom Haken nahm, waren ihre Hände trotz der Handschuhe schon taub. Das Zwielicht der Morgendämmerung, ein graues Licht, das vom Schnee verstärkt wurde, kroch in den hinteren Hausflur. Mit seiner Hilfe fand sie ihre Stiefel und das kleine Gefäß mit dem Strauß Warmhausblumen, die sie am Abend zuvor bereitgelegt hatte. Sie fand auch die Stange; eine Heckensichel, stabil und fast zwei Meter lang. Es war zwar nicht die Jahreszeit zum Zurückschneiden, aber sie hatte sie trotzdem griffbereit gehalten, denn Bel hatte gesagt, es sei gut zu wissen, wie tief der Schnee war, bevor man sich daraufbegab. Die weiße Decke veränderte die Landschaft und füllte Löcher auf. Man konnte hinfallen oder verschwinden oder mit dem Fuß umknicken und so lange hilflos daliegen, bis man erfrieren würde.
Man hatte ihnen eingeschärft, nicht alleine nach draußen zu gehen, besonders nicht früh oder spät, aber das war bloße Sorge. Es hatte schon immer Geschichten über Wesen gegeben, die im Wald lauerten. Aber das waren Märchen, die erfunden worden waren, um Kindern Angst einzujagen. Vesta hatte Dinge zu erledigen. Irgendein alter Hund, der vielleicht die Herden behelligen mochte, würde sie schon nicht in Gefahr bringen.
Sie sah ihren Namen auf dem Schildchen über ihrem Haken. Harvesta Flurrish. Daneben Bels Name. Daneben ein leerer Haken. Bel war keine Freundin von Rührseligkeit: Sie war älter und sie war klug. Trotzdem konnte Vesta Flurrish den Tag nicht einfach so verstreichen lassen.
Chaunce Plowrite hatte sie alle Metallstollen für ihre Stiefel machen lassen. Bill Groan, der Elekt, gab Chaunce die Erlaubnis, sie aus übrig gebliebener Schiffshaut zu fertigen, und davon war nicht mehr viel da. Vesta hatte, als sie wach wurde, gehofft, sie würde sie nicht benutzen müssen.
Aber sie musste.
In der Nacht war weiterer Schnee hinzugekommen und hatte sich über den der Tage zuvor gelegt. Alles hatte weiche, gebogene Ränder bekommen.
Im Hof war der Himmel nachtblau, die Farbe von Bels Augen. Erstes Licht, klar bis hoch zu den Sternen. Die schneebärtigen Dächer und Kamine von Beside waren schwarz vor dem Blau, genau wie die kahlen Bäume und die großen, ansteigenden Hochebenen der Firmer jenseits davon. Die Dampfschwaden, die aus den Venten oben auf den Firmern quollen, leuchteten vor dem Kobaltblau. Sie fingen die frühesten Sonnenstrahlen ein, weil sie so viel höher als alles andere waren.
Vesta schaltete ihre Solampe ein und hängte sie an ihre Stange. Dann ging sie los, mit knirschenden Metallstollen, mit dem Stiel der Heckensichel die Schneedecke prüfend, mit einer Hand den Saum ihres Überrocks hochhaltend. Im Hof bellte ein Hund. Im Kuhstall hinter dem Flurrish-Haus muhte das Vieh.
Sie folgte dem Nordweg aus Beside hinaus, vorbei am Brunnen und hinauf in Richtung Would Be, das im Schatten von Firmer Nummer Zwei lag.
Es ging nur langsam voran, denn es war harte Arbeit, über Gelände zu laufen, das unter einem einsank. Vestas Beine begannen zu schmerzen. Sie blieb stehen, um sich eine Minute auszuruhen, und blickte auf die Bäche hinab, die die Autumnalmühlen speisten. Sie waren erstarrt wie Glas an diesem besänftigten Ort zwischen Nacht und Morgen.
Als sie Would Be erreichte, wusste sie, dass sie es nicht schaffen würde, nach Beside zurückzukommen, bevor Ratgebers Glocke läutete und sie zur Arbeit rief. Sie beschloss, nach dem Abendläuten noch weiterzuarbeiten, um das auszugleichen. Vesta wusste auch, dass die Leute der Pflanznation-Gemeinschaft ihr verzeihen würden. Sie gestanden ihr einmal im Jahr ungefähr eine Stunde zu.
Es war still in Would Be. Die Bäume standen als stumme Figuren mit schneeweißen Mützen da. Der Herbst hatte ihnen das Laub genommen, doch der Winter bog ihre schwarzen Äste und Stämme nach unten. Vestas Solampe begann zu flackern, denn die Ladung hatte sich erschöpft, aber es wurde jetzt mit jeder Minute heller. Die zukünftige Sonne verlieh dem blauen Himmel und dem weißen Schnee einen Stich Rosa.
Als sie in der Stille dahinwanderte, hatte sie einen Moment lang das Gefühl, dass jemand ihr folgte. Aber das war ein Produkt der Ruhe und ihrer Einbildung.
Der Erinnerungshof befand sich im Zentrum von Would Be an einer Stelle, die vor Jahren als ruhiges Stück Erde ausgewählt worden war. Geduld galt als die größte Tugend aller Morphaner, und diejenigen, die hier lagen, waren die Geduldigsten von allen. Schlichte Steine kennzeichneten jede Begräbnisstelle, alle mit Namen beschriftet, so deutlich wie die Schildchen über den Haken in der hinteren Diele des Flurrish-Hauses.
Es gab Flurrishs hier. Jahre von ihnen, aufgebahrt und erinnert, inmitten all der anderen morphanischen Familien. Vestas Mama war vor langer Zeit fortgegangen, noch bevor Vesta alt genug war, um sie richtig kennenzulernen. Sie lag hier, und Vesta sagte ihrem Stein immer ein freundliches Hallo.
Doch Vesta war wegen ihres Vaters gekommen, Tyler Flurrish, gegangen vor vier Jahren, dahingerafft von einem Fieber. Er hatte die kälteren Jahreszeiten kommen sehen und sich deswegen mit seiner Sippe beunruhigt, aber tatsächlich erlebt hatte er den Schnee und das Eis nicht mehr. Vesta fragte sich, ob er es wohl dort im Boden fühlte, der wie eine betäubende Decke über seinem Grab lag. Er hätte sich zu viele Sorgen gemacht, um seine Töchter, Vesta und Bel, und um die Zukunft, die sie erwartete.
Vesta kauerte sich am Grab nieder und wischte den Schnee vom Stein, sodass sie den Namen darauf lesen konnte. Sie nahm die Blumen heraus, die sie mitgebracht hatte, und stellte sie in das Gefäß auf seiner Grabstelle. Danach sprach sie ein bisschen mit ihm über die Arbeit und das tägliche Leben.
Weit weg, unten in Beside, schlug Ratgebers Glocke.
Vesta senkte den Kopf, sprach ein paar Worte zu Ratgeber und bat ihn, sich um ihren Vater zu kümmern. Dann stand sie auf, um sich auf den Rückweg zu machen.
Die Sterne waren noch draußen. Im Westen, hinter den kahlen Silhouetten der Bäume, schien einer sich zu bewegen.
Vesta blieb stehen, um zu schauen. Es hatte Gerede gegeben über Sterne, die sich bewegten. Sogar Bel sagte, sie hätte einen gesehen. Viele meinten, das sei ein böses Vorzeichen, welches die kommende Gefahr der Kälte anzeigte, aber es war auch ein Rätsel. Sterne sollten eigentlich nicht lautlos in der Dunkelheit einer Winterdämmerung vorbeischlittern.
Langsam, und ohne ein Geräusch zu machen, verschwand er hinter einer Baumgruppe. Vesta beeilte sich, um zu sehen, ob sie noch einen Blick darauf erhaschen konnte.
Da sah sie die Spuren.
Sie wäre beinahe über sie getreten. Sie waren so tief im Schnee, dass sie einen Schatten warfen und pechschwarz aussahen. Sie führten von Norden aus mitten durchs Zentrum von Would Be und entfernten sich in Richtung von Firmer Nummer Drei.
Es waren die größten Fußstapfen, die sie je gesehen hatte, größer sogar als die, die Jack Duggat machen würde mit seinen Arbeitsschuhen und den Metallstollen daran und allem. Und es war nicht nur die Größe der Spuren – auch die Schrittlänge war gewaltig.
Vesta betrachtete sie einen Moment lang erstaunt. Sie überlegte angestrengt und versuchte sich zu erklären, was sie hier sah. Sie fragte sich, ob es Fußabdrücke waren, die zu schmelzen begonnen hatten, sodass ihre Größe übertrieben wurde.
Aber nein, sie waren frisch. Der Schnee war erst ein paar Stunden alt und es hatte noch nicht genug Tageslicht gegeben, um sie antauen zu lassen. Niemand war hier außer ihr, nicht so weit nördlich der Stadt. Die Spuren waren klar umrissen. Sie konnte erkennen, wo die Fersen- und Zehenpartien sich abgedrückt hatten.
Ein Riese war durch die stillen Wälder gewandert und das vor noch nicht allzu langer Zeit. Wenn sie das Grab ihres Vaters nur wenige Minuten früher verlassen hätte, wäre sie ihm begegnet. Er wäre ihr direkt über den Weg gelaufen.
Vesta Flurrish hatte jetzt richtig Angst. Ihre Hände zitterten, und das kam nicht von der Kälte. Beside schien ihr jetzt einen weiten Weg entfernt: zu weit, um es schnell zu erreichen, zu weit, um hinzurennen, zu weit, um hinüberzurufen. Sie wollte nicht einmal die Spuren überqueren, um nach Hause zu laufen. Das zu tun, fühlte sich falsch an, als ob der Riese womöglich spüren könnte, dass ihr Pfad den seinen kreuzte, und er dann kehrtmachen würde, um sie zu suchen.
Sie drehte sich um und begann, zum Erinnerungshof zurückzulaufen. In diesem Moment, wo die Sonne immer noch nicht aufgegangen war, schien ihr der sicherste erreichbare Platz der an der Seite ihres Vaters zu sein.
Aber da war etwas, das in den Bäumen auf sie wartete, etwas mit einem tiefen, gurgelnden Knurren wie ein Hund, der erdrosselt wurde, etwas mit roten Augen, die den Schimmer des frühen Lichts einfingen.
Etwas, das zum Töten abgerichtet war.
»Das«, sagte Amy und war dabei außerstande, eine leise Verwunderung aus ihrer Stimme zu halten, »war eine perfekte Landung!«
»Danke, dass Sie es bemerkt haben!«, antwortete der Doktor. Er strahlte und schnipste eine Reihe von Konsolenschaltern in ihre jeweilige ›Aus‹-Stellung, wobei er die schwungvolle Gestik eines Meisterorganisten an den Tag legte, der nach einer karriereweisenden Darbietung seine Wurlitzer ausschaltet.
»Und wieso stehen wir dann schief?«, meinte Rory.
»Schief?«, fragte der Doktor, während er das Glas der Konsolenskalen mit einem Taschentuch polierte.
»Schräg«, bestätigte Rory. »Zu einer Seite geneigt. Ganz eindeutig, würde ich sagen.«
»Tun wir nicht«, sagte der Doktor.
»Stellt euch gerade hin!«, verlangte Amy.
Das machten alle drei. Sie betrachteten sich in Relation zu den senkrechten Geländerstützen.
»Ah!«, machte der Doktor. »Das ist … äh … schiefig«, räumte er ein. »Vielleicht nicht ganz so perfekt, wie ich es mir anfangs eingebildet habe«, fügte er hinzu.
»Schief-ig?«, fragte Amy.
»Na ja, allermindestens schieflich«, erwiderte der Doktor und rutschte übers Treppengeländer aufs Hauptdeck der TARDIS herunter.
»Wir dürfen jetzt also Wörter erfinden, ja?«, fragte Rory.
»Ich dachte, das sei allseits bekannt«, warf Amy ein.
»Hören Sie, es spielt keine Rolle«, sagte Rory, während er Amy über die Kontrollraumtreppe nach unten folgte. »Es war keine Beschwerde, das mit dem schief, meine ich.«
»Schief-lich«, korrigierten ihn der Doktor und Amy in einem Atemzug.
»Meinetwegen«, sagte Rory. »Jedenfalls war es keine Beschwerde. Ich habe mich nicht beschwert. Schieft ruhig, so viel ihr wollt. Ich will nur nachsehen, ob wir am richtigen Ort sind. Am richtigen Ort können wir schiefen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Solange wir am richtigen Ort sind. Sind wir am richtigen Ort?«
Der Doktor blieb an der TARDIS-Tür stehen, drehte sich zu Rory um, legte ihm eine beruhigende Hand auf die Schulter und blickte ihm forschend in die Augen.
»Rory Williams Pond«, sagte der Doktor.
»So heiße ich eigentlich nicht«, warf Rory ein.
»Rory Williams Pond, habe ich nicht versprochen, Sie zu Weihnachten nach Hause zu bringen?«
»Ja.«
»Nach Hause zur Erde zu Weihnachten?«
»Ja. Direkt nach Leadworth, nahe Gloucester in …«
»Tä-tä-tä-tä-tä!«, tadelte der Doktor ihn. »Einzelheiten, bloße Einzelheiten. Zu Weihnachten nach Hause, das war die Abmachung, richtig?«
»Ja«, stimmte Rory zu.
»Scheint dir da der Interpretationsspielraum nicht gewaltig?«, fragte Amy ihn, während sie sich Gummistiefel und einen Dufflecoat anzog. »Ich meine, er garantiert nicht mal Straße und Hausnummer, also wird, von welchem Weihnachten er spricht, auch ein bisschen vage sein.«
»Oh, das hatte ich gar nicht bedacht!«, ächzte Rory.
»Zu Weihnachten nach Hause ist, was ich versprochen habe«, erklärte der Doktor. »Zu Weihnachten nach Hause ist, was ich halten werde, auch wenn dabei etwas Schiefes involviert sein sollte.«
Er blickte Amy an.
»Duffle, Pond?«
Sie knöpfte gerade die Knebelknöpfe zu.
»Hallo? Weihnachten? Leadworth? Kalt?«, erwiderte sie.
»Gutes Argument«, räumte der Doktor ein. Er blickte nachdenklich drein und fummelte an seiner Fliege herum, als fungiere sie auch als Thermostatregler.
»Irgendwo hatte ich noch einen Pelzmantel«, überlegte er. »Großer Pelzmantel. Sehr warm. Wo der wohl geblieben ist?«
Amy warf einen Blick auf Rory. »Also wirklich nur die Strickjacke?«
»Ja«, sagte er und zog den Reißverschluss hoch.
»Das ist dein Vertrauensniveau?«
»Man kann nicht enttäuscht werden, wenn man sich keine Hoffnungen macht«, meinte Rory.
Der Doktor öffnete die Türen. Ein Hauch kalter Luft berührte ihre Gesichter, nur ein sanfter Windstoß, als hätte jemand einen Tiefkühlschrank aufgemacht.
»Wow!«, sagte Amy.
»Da, ihr Kleingläubigen!«, lächelte der Doktor. Er holte tief Luft. »Man kann das Klingeln der Schlittenglöckchen förmlich riechen!«
Sie traten hinaus in vollkommen jungfräulichen Schnee von einem halben Meter Tiefe. Der Himmel war von unvergleichlichem Blau und die Sonne hatte einen strahlenden, grellen Glanz. Das Waldland um sie herum war still, die Bäume glichen aus Schnee geschaffenen Skulpturen.
»Das ist wunderschön!«, sagte Amy lächelnd und mit großen Augen.
»Weihnachtig, nicht wahr?«
»Weihnachtiglich!«, korrigierte Amy.
»Es ist großartig«, fand auch Rory. »Ich glaube zwar nicht, dass es Leadworth ist, aber es ist großartig.«
»Natürlich ist es Leadworth!«, widersprach Amy. »Es ist dieses kleine Waldstück außerhalb von Leadworth. Du weißt schon. Das kleine Wäldchen?«
»Tatsächlich?«, fragte Rory. »Horch mal!«
»Wonach?«, fragte sie.
»Horch einfach.«
Sie horchten.
»Ich höre nichts«, sagte Amy.
Mit zusammengekniffenen Augen nickte Rory bedeutsam.
»Das beweist gar nichts!«, sagte Amy.
»Kein Verkehr? Keine … Vögel?«, fragte Rory.
»Es ist noch früh. Es ist Weihnachten.«
»So früh ist es auch nicht. Sieh dir die Sonne an!«
»Die Straßen sind wegen des Schnees gesperrt.«
»So viel Schnee liegt doch gar nicht.«
»Dies ist Leadworth, bevor es Verkehr gab«, sagte Amy.
»Also ist es nicht das richtige Leadworth«, stellte Rory fest.
Amy stapfte zum Doktor und wirbelte dabei mit ihren Gummistiefeln kleine Schneewolken auf.
»Sagen Sie ihm, dass wir am richtigen Ort sind!«, forderte sie ihn auf.
Der Doktor war dabei, die TARDIS zu inspizieren. Die blaue Polizeizelle hatte auf der dicken Schneedecke aufgesetzt, geneigt durch die Verwehung, sodass sie in einem leichten Winkel zur Senkrechten stand.
»Das erklärt die Schiefe«, sagte der Doktor. »Wir sind nicht eben gelandet. Egal. Ist ganz flott. Ich würde sagen, das war in der Tat schiefesk.«
»Sagen Sie ihm, dass wir am richtigen Ort sind!«, wiederholte sie.
Der Doktor drehte sich zu ihnen um.
»Oh, wir sind definitiv am richtigen Ort!«, erklärte er. »Definitiv! Dies ist der richtige Ort! Wir sind genau in der Mitte von Weihnachten. Überall um uns herum ist Weihnachten! Weihnachten kennzeichnet diese Stelle sozusagen! Können Sie es nicht fühlen? Nicht spüren? Alles hier besteht aus Mince Pies und Weinbrandbutter und Orangeat und Zitronat und verängstigten Truthähnen! Es ist Lametta und Weihnachtslieder und Christbaumkugeln und Eierflip! Es ist …«
»Es ist Weihnachten in Leadworth, auf der Erde im Jahr 2011?«, fragte Rory.
Der Doktor streckte nachdenklich einen Finger in die Luft und schürzte die Lippen. Er schaute von einer Seite auf die andere.
»Finden wir es doch heraus!«, beschloss er und ging mit großen Schritten los.
»Falls es das nicht ist«, rief er ihnen über die Schulter zu, »und ich sage nur ›falls‹, falls es das nicht ist, dann hat die TARDIS uns immerhin zur weihnachtiglichsten Weihnachtszeit im ganzen Universum befördert, was doch wirklich mal was ist und keine wie auch immer geartete Kritik verdient!«
»Das saugt er sich doch alles im Gehen aus den Fingern!«, sagte Rory zu Amy, während sie sich beeilten, um ihn einzuholen.
»Oder ›business as usual‹, wie man dazu auch sagt«, erwiderte sie.
Sie begannen, einen Hang zwischen den Bäumen zu erklimmen. Das Sonnenlicht, das vom unberührten Schnee zurückgeworfen wurde, war so gleißend, dass sie die Augen zusammenkneifen mussten. Das Gehen war beschwerlich. Einmal rutschte Amy aus und fiel fast hin; Rory kicherte so sehr darüber, dass er tatsächlich stürzte und ein Stück den Hang hinunterrutschte. Amy lachte und reichte ihm die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. Der Doktor ging schnurstracks den Hang hoch, schlenkerte dabei mit den langen Armen, um die Balance zu halten, und sang fröhlich ›Ich sah drei Schiffe auf dem Meer‹.
»Na los!«, rief er ermunternd. »Als Kanon!«
»Wir können uns kaum auf den Beinen halten«, rief Amy zurück, »geschweige denn einen dreistimmigen Gesang zuwege bringen!«
»Kommen Sie hier hoch! Na machen Sie schon!«, rief der Doktor.
Sie gesellten sich zu ihm auf die Spitze des Hangs. Unter ihnen lag die Landschaft im hellen Sonnenschein: Waldland und Felder, Hügel, Berge, eine prächtige Schneelandschaft, friedvoll und still, vollkommen ruhig.
»Das ist ziemlich atemberaubend«, fand Amy.
»Allerdings«, pflichtete Rory ihr bei, »das ist es wirklich. Natürlich ist es nicht Leadworth.«
»Nein«, stimmte der Doktor ihm zu.
»Es sei denn, so sah Leadworth im, ich weiß nicht, neunten Jahrhundert aus?«, fügte Rory hinzu.
»Mit diesen Bergen?«, wandte Amy ein.
»Dann kann man also fairerweise sagen, dass es hier nicht einmal leadworthlich ist, richtig?«, vergewisserte sich Rory.
»Ja, aber sehen Sie sich doch nur die Hübschheit an!«, meinte der Doktor.
Sie waren gezwungen zuzugeben, dass die Hübschheit wirklich sehr hübsch war, und betrachteten sie eine Zeitlang bewundernd.
»Ist das ein Dorf da unten?«, fragte Amy.
»An diesen Bergen ist etwas sehr Sonderbares«, sagte Rory.
»Dorf?«, fragte der Doktor.
»Da unten, durch die Bäume«, antwortete Amy und zeigte in die Richtung. »Dort, sehen Sie das? Keine Ahnung, vielleicht eine Meile weit entfernt?«
»Ich glaube, Sie haben recht«, sagte der Doktor.
»Die Berge«, meinte Rory, der seine Augen gegen das blendende Licht abschirmte, »sehr merkwürdig.«
»Ja«, sagte der Doktor. »Das liegt daran, dass es keine Berge sind. Ich denke jedenfalls nicht, dass es Berge sind. Kommen Sie!«
Er machte sich auf den Weg hangabwärts.
»Wo gehen Sie hin?«, rief ihm Amy hinterher.
»Was meinen Sie damit, Sie denken nicht, dass es Berge sind?«, fragte Rory.
»Wir werden diesem Dorf einen Besuch abstatten!«, kündigte der Doktor an. »Ich meine, wo wir schon mal hier sind! Vielleicht bietet man uns ja ein reizendes weihnachtliches Willkommen! Das wäre doch den Ausflug wert, oder?«
Rory und Amy blickten erst einander an und dann den Doktor.
»Was haben Sie damit gemeint?«, wiederholte Rory seine Frage. »Wollen Sie damit sagen, die Leute hier sind berglich?«
»Kommen Sie schon!«, rief der Doktor und streckte die Arme aus, während er energisch den Abhang hinunterschritt. »Füllen Sie Ihre Lungen! Ahhhh! Kosten Sie diese frische Luft! Lassen Sie sich Appetit auf all den Weihnachtsnachtisch machen!«
Kopfschüttelnd lief Amy dem Doktor hinterher. Rory zögerte kurz und zog den Reißverschluss seiner Strickjacke bis oben hin zu.
»Weißt du was?«, sagte er. »Es ist echt ganz schön kalt.«
»Komm!«, rief Amy.
»Du hast gut reden, Dufflecoat«, sagte Rory. »Ich meine, es ist ja sehr hübsch, wirklich. Aber es ist kalt und es ist sehr … tot. Hier gibt es gar nichts. Es ist so still und ruhig und … trostlos.«
Der Doktor wirbelte auf dem Absatz herum und deutete dramatisch auf Rory.
»Genau! Und ein trostloser Mittwinter, ungeachtet der bitteren Kälte, ist genau die Umgebung, in der man ein wirklich weihnachtigliches Weihnachten zu finden erwarten würde! Also lassen Sie uns genau das machen!«
»Kann ich vorher zurückgehen und mir zuerst einen Mantel holen?«, fragte Rory. »Bitte? Es ist echt kalt! Und falls dies das allerweihnachtiglichste Weihnachten aller Weihnachten wird, dann möchte ich es genießen und nicht vorher an Frostbeulen sterben.«
»Er wird tatsächlich allmählich blau«, unterstützte Amy ihn.
»Es dauert nur zwei Minuten«, sagte Rory. »Versprochen!«
Der Doktor lächelte.
»Selbstverständlich. Wir werden genau hier warten. Wir werden die Aussicht genießen. Denn sie ist, da werden Sie mir zustimmen, überwältigend.«
Er nahm den TARDIS-Schlüssel aus seiner Tasche und warf ihn Rory zu. Rory fing ihn sauber und streckte beide Zeigefinger hoch.
»Zwei Minuten!«, wiederholte er und lief über die Anhöhe hinter ihm zurück nach unten. Amy und der Doktor drehten sich wieder der wunderschönen Landschaft zu. Die Sonne war sehr hell. Amy beschattete ihre Augen mit einer im Fäustling versteckten Hand.
»Wie haben Sie das mit diesen Bergen gemeint?«, fragte sie.
»Hab nur laut gedacht«, meinte der Doktor.
Es gab eine lange Pause.
»Wird er klarkommen?«, fragte sie.
»Er ist nur kurz zurückgegangen, um einen Mantel zu holen.«
»Wir hätten mit ihm gehen sollen!«, fand sie.
»Ich denke, einen Mantel, den wird er schaffen.«
Amy warf ihm einen Blick zu.
»Wir hätten zusammenbleiben sollen!«, sagte sie. »Spotten Sie nicht! Wir wissen nicht, wo wir sind, und wir haben uns soeben getrennt. Für mich ist es bei Ihnen ja in Ordnung, aber er ist auf sich allein gestellt. Wer von uns wird in Schwierigkeiten geraten und gerettet werden müssen? Na los, beantworten Sie mir das!«
Der Doktor senkte das Kinn und drehte sich vorsichtig um, um ihrem Blick zu begegnen.
»Wollen Sie damit sagen«, fragte er, »wir können uns auf ein wenig unnötiges Rufen und Herumrennen nachher gefasst machen?«
Amy nickte.
»Na schön, wir gehen und leisten ihm Gesellschaft«, sagte der Doktor. Sie wandten sich um, um Rory über den Hang nach unten zu folgen.
Und blieben wie angewurzelt stehen.
Vor ihnen auf der Spitze der Anhöhe stand ein halbes Dutzend Männer. Sie waren in mehrere Schichten schwerer, dunkler Kleidung gehüllt, eine offensichtliche Maßnahme gegen die Kälte. Dazu trugen sie Kapuzen und Fausthandschuhe und Schneestiefel mit Stollen und hielten klobige landwirtschaftliche Werkzeuge in den Händen: Harken, Hacken und Mistgabeln. Amy kam nicht umhin, zu bemerken, wie grimmig und misstrauisch die Männer aussahen. Wie entschlossen.
»Ist dies das reizende weihnachtigliche Willkommen, das Sie erwartet haben?«, flüsterte Amy.
Dem Doktor schien ein wenig unbehaglich zu sein; er betrachtete die schweren Bauernwerkzeuge, die auf eine Weise auf sie gerichtet waren, die unangenehm an Speere erinnerte.
Mit einer offenen, freundlichen Geste breitete er die Arme aus und machte einen Schritt nach vorn.
»Ho ho ho?«, versuchte er.
Rory trat aus der TARDIS und zog ein Paar dicke Handschuhe an, die zu dem Parka passten, den er sich ausgeliehen hatte. Sorgfältig schloss er die Tür der Zelle hinter sich ab.
»Amy?«, rief er und machte sich in die Richtung auf den Weg, in die sie gegangen waren. »Doktor?«
Es war eindeutig der richtige Weg: Die drei Fährten waren nicht zu übersehen, wie auch die vierte nicht, die er auf dem Weg zurück hinterlassen hatte. Die Schneedecke war perfekt; und abgesehen von ihren Fußspuren war sie immer noch vollkommen unberührt.
»Amy? Doktor?«
Rory ging den Weg zu der Anhöhe zurück, wo sie die Aussicht genossen hatten. Er blieb stehen. Von seiner Frau oder dem Doktor war nichts zu sehen.
Anfangs war Rory nicht besonders besorgt. An solche Dinge war er gewöhnt. So was kam häufig vor. Die Leute gingen weg oder wurden abgelenkt. Die Leute warteten nicht dort auf einen, wo sie sagten, dass sie warten würden (was seiner Ansicht nach blöd von ihnen war, weil er einmal ein paar Tausend Jahre an mehr oder weniger derselben Stelle gewartet hatte). Manchmal bemerkten die Leute, dass um die Ecke interessantere Sachen vor sich gingen, während man selbst in die andere Richtung schaute. Und das war nur die erste Idee, die Rory in den Sinn gekommen war. Genauso gut mochten der Doktor und Amy hinter ein paar Bäumen in der Nähe stehen, wo sie gekonnt Schneebälle formten, um ihn damit zu begrüßen.
»Amy?«
Rory sah sich um. Er dachte darüber nach, sich selbst schon mal einen Präventivschneeball anzufertigen.
Er sah die Fährten, die Fußstapfen des Doktors und Amys, die ein kleines Stück den Hang hinunter und dann wieder zurückführten. An der Spitze der Anhöhe war eine ganze Masse von Fußabdrücken zu sehen, die von links vom Hügel kamen und sich, so weit er es erkennen konnte, in die gleiche Richtung wieder entfernten.
Rory registrierte den allerersten Anflug von Besorgnis.
»Es gibt eine vollkommen vernünftige Erklärung dafür«, sagte er sich. »Sie sind ein paar netten Leuten begegnet und mit ihnen weggegangen. Das waren ein paar … Sternsänger. Die beiden sind sternsingen gegangen.«
Er hielt nicht inne, um die Logiklöcher in dieser Aussage zu prüfen, er folgte den Fußabdrücken. Es war keine Viertelstunde vergangen – wie weit konnten sie schon gekommen sein?
Nach ein paar Minuten Fußmarsch wurde es offenkundig, dass ›weit genug, um außer Sicht zu gelangen‹ die elementare Antwort auf seine Frage war. Rory fühlte sich nun schon etwas besorgter. Immerhin bewirkten der schwere Parka und das mühsame Stapfen durch den Schnee tatsächlich, dass ihm ein bisschen warm wurde. Er blieb stehen und zog Bilanz.
»Amy? Doktor?«
Die kahlen Bäume mit ihren schweren Schneelasten warfen seine Rufe zu ihm zurück.
Etwas bewegte sich.
Rory sah Gestalten vor sich. Er trat vor, bereit, erleichtert zu lächeln und sie dafür auszuschimpfen, dass sie ihn zurückgelassen hatten.
Wie angewurzelt blieb er stehen. Auch das neugeborene Lächeln erreichte seine Lippen nicht.
Dies war nicht der Doktor. Es war auch nicht Amy. Es waren auch nicht irgendwelche netten, freundlichen Leute, denen die beiden unterwegs begegnet sein mochten.
Rory wusste, dass ein Schneeball es unter diesen Umständen nicht wirklich bringen würde. Ihm wurde klar, dass er sich verstecken musste, und zwar ebenso gut wie schnell.
Er übersprang das Stadium der Besorgnis und ging direkt zu einer angemessenen, tiefen Furcht über.
»Wer in Ratgebers Namen sind die?«, fragte Bill Groan.
Old Winnowner schüttelte den Kopf.
»Es sind keine Gesichter, die mir jemals untergekommen wären, Elekt«, sagte sie. Winnowner Cropper war die älteste Morphanerin in Beside, die Letzte ihrer Generation. Sie war auch die Weiseste von Bill Groans Ratsmitgliedern. Wenn es jemand wusste, überlegte sich Bill Groan, dann wäre sie es.
»Ich wette, sie sind aus einer der anderen Pflanznationen, Elekt«, meinte Samewell.
Bill Groan sah den jungen Mann an. Samewell Crook fand an allem stets die gute Seite. Bill Groan hatte das mulmige Gefühl, dass es gegenwärtig nicht allzu viele gute Seiten gab.
»Sie sehen nicht wie Morphaner aus«, meinte Bel Flurrish. Ihre Stimme war klein und steif, als kauerte sie sich vor der Kälte in ihr zusammen.
»Sie haben alle möglichen verschiedenen Moden«, wandte Samewell ein. »In Seeside haben sie echte Hüte, das habe ich gehört. Ratgebers Wahrheit!«
»Wir haben seit drei Jahren keine Gutwünscher mehr zum Fest gehabt«, sagte Old Winnowner. »Nicht seit das mit dem Eis anfing.«
»Nun, dann haben sie sich dieses Jahr eben einen Ruck gegeben, nicht wahr?«, erwiderte Samewell.
»Diese da tragen aber keine Hüte«, sagte Bel.
»Jack Duggats Gruppe hat sie drüben am oberen Ende von Would Be gefunden«, sagte Bill Groan.
»Dann können sie uns vielleicht sagen, wo meine Schwester ist!«, sagte Bel.
Jack Duggats Männer, die landwirtschaftlichen Geräte geschultert wie die Waffen, die die alten Kämpfer in Ratgebers Büchern der Erde vorher trugen, führten die beiden Besucher in den Haupthof. Eine ansehnliche Schar von Leuten, die nicht mit der Arbeit oder der Suche beschäftigt waren, war aus ihren Häusern gekommen, um zuzuschauen.
Einer der beiden Fremden war groß und munter, schaute jeden um sich herum an und lächelte allen zu. Er erinnerte Bel Flurrish an einen neugierigen Junghahn, der mit aufgerichtetem Kamm auf alles zuging, unbedacht auf seine eigene Sicherheit. Es war etwas an seiner Offenheit, das sie ein wenig beruhigte. Ein Wesen, dessen Gesicht zu einem derartigen Ausdruck fähig war, war – ihrer Ansicht nach – niemand, der einem anderen Wesen Leid zufügen konnte.
Bei dem zweiten Besucher handelte es sich um ein Mädchen. Sie sah vorsichtig aus, doch sie spürte Stärke in ihr. Sie hatte rote Haare. Bel hatte noch nie rote Haare gesehen. So etwas war ihr überhaupt nur in Ratgebers Büchern untergekommen. Wie konnte etwas, das nur auf der Erde vorher jemals bekannt gewesen war, seinen Weg nach Danach finden?
»Ich will mit ihnen sprechen, Elekt«, sagte Bel.
»Ich denke, du wirst mir zustimmen, dass das meine Aufgabe ist«, antwortete Bill Groan.
»Und ich denke, du wirst mir zustimmen, dass es um meine Schwester geht!«, erwiderte Bel.
Bill Groan war das gewählte Oberhaupt der Pflanznation von Beside. Er war ein guter Mann mit dunklem Haar und einem Bart, in dem sich im ersten Jahr, als der Winter Weiß getragen hatte, auch das erste Grau gezeigt hatte. Er blickte Bel an, sah ihr direkt in die harten, wütenden Augen.
»Du weißt, dass ich dies ernst nehme, Arabel«, sagte er. »Das Verschwinden deiner Schwester ist eine Kat-A-Angelegenheit. Und jetzt kommen diese Fremden an? Es bereitet mir Sorgen. Aber es gibt einen Ablauf. Ich muss dies richtig machen.«
»Dann will ich zugegen sein!«, sagte sie. »So wahr mir Ratgeber helfe, ich verdiene es, zugegen zu sein!«
Bill warf einen raschen Blick auf Old Winnowner, sah ihr winziges Nicken und signalisierte Bel Flurrish dann Zustimmung.
»Bring die Fremden in die Versammlungshalle!«, trug er Jack Duggat auf.
Der große Besucher hörte es und drehte sich mit einem Lächeln zu Bill Groan um.
»Hallo, ich bin der Doktor!«, verkündete der Mann und ging auf Bill zu. Eine Hacke und eine Mistgabel kreuzten sich vor ihm und versperrten ihm den Weg. »Du meine Güte!«, sagte er und schreckte vor den schweren Holzstielen zurück. »Ich glaube, hier hat es kleines Missverständnis gegeben. Das glaube ich wirklich. Haben Sie hier das Sagen? Ich würde gerne rausgehen und noch mal reinkommen. Verstehen Sie? Noch einmal von vorn anfangen. Wie wäre das?«
»Das ist ein komischer Akzent, Elekt«, flüsterte Winnowner Bill Groan von der Seite zu.
»In der Tat.«
Der Doktor und Amy beobachteten, wie die Einheimischen ihretwegen murmelten.
»Sie bringen sie zum Ausflippen – und sie haben diese spitzen Gabeln!«, raunte Amy dem Doktor zu.
»Tu ich das?«, sinnierte er. »Und, ja, die haben sie.«
»Allerdings«, bekräftigte Amy. »Könnten wir fürs Erste einfach mitspielen?«
Sie zitterte ein wenig und hielt die Arme fest vor der Brust verschränkt. »Wenn wir Glück haben, bringen sie uns vielleicht ins Warme, bevor sie uns mit ihren Gartengeräten erstechen.«
Der Anführer des Gemeinderats gab ein Zeichen, und die beiden Besucher wurden über den verschneiten Hof in die Versammlungshalle eskortiert. Feuereimer waren entzündet und die Solampen eingeschaltet worden. Die vorwiegend in Braun gehaltene Halle war warm und bestand hauptsächlich aus abgenutzten Holzbalken und Sitzen, glänzend von Jahren des Gebrauchs und der Pflege, sowie Dielenbrettern, die eine ganze Historie von Fußstapfen zum Schimmern gebracht hatte, dazu aus Schiffshaut gefertigte Nägel und Haken, die die Wände des Versammlungsgebäudes zierten.
Amy stellte sich so dicht sie konnte an einen der sprühenden Feuereimer und wärmte sich. Sie zog die Handschuhe aus, die an einer Gummischlaufe an der Innenseite der Ärmel ihres Dufflecoats befestigt waren.
Der Doktor sah sich staunend um. Er schaute hoch zu den Dachbalken und betrachtete die runden Einlegearbeiten aus Metall, die Muster in den abgenutzten Holzfußboden bildeten, sowie die metallenen Elemente in Balken und Deckenpfosten.
»Dieses Gebäude ist alt«, sagte er. »Und wunderschön gemacht.«
Amy beobachtete ihn. Er kauerte sich neben eines der Holzgeländer, die den offenen Raum umgaben, in den sie geführt worden waren, und fuhr wie ein Experte für Antiquitäten anerkennend mit der Fingerspitze darüber.
»Diese Nägel!«, murmelte er.
Amy zog die Augenbrauen hoch. »Die Nägel sind von Bedeutung? Echt jetzt? Sind die wirklich wichtig?«
Der Doktor stand auf. »Möglicherweise«, antwortete er.
»Rory ist da draußen! Ganz allein! Und sucht nach uns!«, sagte Amy. »Könnten wir uns bitte beeilen und sie überreden, uns gehen zu lassen?«
Jack Duggats Männer bezogen Wache an den Türen der Versammlungshalle. Einige Morphaner kamen nacheinander herein und setzten sich. Bill Groan und andere Ratsmitglieder der Pflanznation ließen sich auf den im Halbkreis aufgestellten Stühlen im hinteren Ende des Raums nieder.
»Wer seid ihr?«, fragte Bill Groan.
»Ich bin der Doktor«, sagte der Doktor.
»Sie sind ein Doktor?«, fragte Old Winnowner. »Wovon? Heilkunde? Medizin?«
»Von allem Möglichen«, sagte der Doktor.
Diese Antwort rief ein Gemurmel hervor. Der Rat beriet sich.
»Dies ist Amy Pond«, sagte der Doktor.
»Ein ehrenwerter morphanischer Name«, bemerkte Chaunce Plowrite.
»Danke«, sagte Amy, »glaube ich.«
»Ist sie deine Frau?«, fragte Old Winnowner.
»Oh nein!«, verwahrte sich der Doktor.
»Sie brauchen nicht so empört zu klingen! Ich könnte es sein!«, fauchte Amy ihn an. »Ich bin es aber nicht«, sagte sie zum Rat.
»Wir sind eigentlich Freunde«, sagte der Doktor. »Es ist ganz zwanglos. Wir stehen nicht auf Zeremonien, oder, Pond?«
»Fast nie«, sagte Amy.
»Aber dies ist ein formellerer Anlass«, fuhr der Doktor fort und richtete einen ausdrucksstarken, gelenkigen Zeigefinger auf Bill Groan. »Und Sie haben die Leitung dieser Gemeinschaft inne, richtig?«
»Es ist mir eine Ehre, seit acht Jahren Beside als Nursor Elekt des Rates zu dienen«, antwortete Bill Groan. »Es ist keine Bürde, die ich leichtnehme, wie diese Leute wissen.«
»Natürlich nicht, natürlich nicht!«, sagte der Doktor. »Und Nursor, so ein interessantes Wort! Aus dem Lateinischen, nutrire, nähren, hegen, aufziehen. Nursor wie im englischen nursery, einem Ort, wo Pflanzen und Tiere gezüchtet und aufgezogen werden.«
Die Ratsmitglieder begannen, angeregt miteinander zu reden.
Amy schob sich ganz dicht an den Doktor heran. »Was machen Sie da?«, flüsterte sie durch das starre Grinsen, mit dem sie den Rat adressierte.
»Bloß etwas Kontext herstellen«, erwiderte er. »Nursor Elekt. Das ist ein Titel von hohem Stellenwert. Ein Anführer. Der Kerl mit dem Bart.«
»Die haben alle Bärte, Doktor«, sagte Amy.
»Bleiben Sie fair – sie hat keinen!«
»Warten Sie mal!«, sagte Amy. »Die Berufsbezeichnung dieses Burschen leitet sich aus dem Lateinischen ab? Wie das denn?«
»Wie gewöhnlich.«
»Aber Rory hatte recht – das ist nicht Leadworth!«, wisperte sie. »Das ist nicht einmal die Erde! Wie können sie dann eine lateinische Bezeichnung für etwas haben?«
»Wo wir auch sind, es ist erdig«, sagte der Doktor. »Sehr erdig sogar. Meine Vermutung ist, dass es mit jedem verstreichenden Tag noch erdiger wird. Und diese Leute sind hochgradig menschlich.«
»Warum vergeuden wir Zeit mit diesem Geplauder?«, fragte Bel Flurrish mit einer Stimme, lauter als alle anderen in der Halle. Es wurde still im Raum. Sie erhob sich von ihrem Platz in der Versammlung und blitzte den Rat und die Besucher an.
»Mäßige dich, Arabel!«, ermahnte Bill Groan sie.
»So wahr Ratgeber mein Zeuge ist, Elekt«, erwiderte Bel, »ihr schwatzt nur, während uns die Zeit davonläuft. Warum stellt ihr ihnen nicht eine richtige Frage?«
»Oh, gute Idee!«, sagte der Doktor begeistert. »Ich komme gern zur Sache! Wie beispielsweise?«
Bel sah ihn finster an, nicht im Geringsten beeindruckt von seinem Charme.
»Wie beispielsweise die, wo ihr eigentlich herkommt? Ihr seid nicht aus Beside, von welcher Pflanznation kommt ihr also?«
Amy blickte den Doktor an. »Pflanznation?«, formte sie mit den Lippen.
Der Doktor zog ein Gesicht und zuckte auf etwas krampfhafte Art die Schultern.
»Das ist … schwer zu beantworten, Bel«, sagte er.
»Ach ja?«, entgegnete Bel. »Das hätte ich nicht gedacht. Es gibt nur drei Pflanznationen auf Danach, da fällt die Wahl nicht so schwer.«
»Ah«, sagte der Doktor. »Die nächste?«
»Na schön«, meinte Bel. »Was habt ihr mit meiner Schwester gemacht?«
»Ich denke, wir sollten versuchen, alles zu klären«, sagte der Doktor, wobei er die Hände mit einer sanften, besänftigenden Geste öffnete. Langsam drehte er sich um, sodass er nacheinander die Blicke aller Versammelten auf sich zog und jedem einen Moment seines beruhigenden Lächelns zukommen lassen konnte.
Er heftete den Blick auf Jack Duggat. Jack Duggat war ein großer Mann, der größte Morphaner in Beside, und die Hacke in seiner Faust war auch recht groß. Sie sah stabil genug aus, um einen Buckelwal damit aufzuspießen.
»Ich werde jetzt in meine Tasche greifen und etwas herausholen, in Ordnung?«, teilte der Doktor Jack mit.
Jack Duggat zögerte. Der Doktor begann, eine Hand in seine Tweedjacke zu schieben.
»Vorsichtig!«, flüsterte Amy.